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Jochen Graw

Genetik
6. Auflage
Genetik
Jochen Graw

Genetik
6., überarbeitete und aktualisierte Auflage

Mit 610 Abbildungen


Jochen Graw
Helmholtz-Zentrum München
Neuherberg, Deutschland

ISBN 978-3-662-44816-8 978-3-662-44817-5 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-44817-5

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sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Planung und Lektorat: Stefanie Wolf


Redaktion: Annette Heß
Einbandgestaltung: deblik Berlin
Einbandfoto: Sebastian Schreiter, Springer-Verlag

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

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V

Vorwort zur 6. Auflage

Die GENETIK hat sich in den letzten Jahren zu einem nen erstrecken? Oder die Bedeutung expandierender
der Standardwerke für den universitären Genetik- Mutationen?
Unterricht im deutschsprachigen Raum entwickelt,
und diese Tatsache hat den Verlag und auch mich Die technische Entwicklung beschleunigt sich weiter
ermutigt, den Weg weiterzugehen und eine neue, und treibt damit natürlich auch die Möglichkeiten
aktualisierte und überarbeitete Auflage vorzulegen. voran, Fragen zu beantworten, die zwar lange gestellt
Das Tempo, in dem die Genetik sich auf allen Feldern waren, aber methodisch nicht beantwortbar waren.
weiterentwickelt, ist atemberaubend – und das soll Ein Beispiel dafür sind die Sequenziertechniken, die
sich auch in dieser Auflage widerspiegeln. unter dem Stichwort »next generation sequencing« zu-
sammengefasst werden. Das bedeutet nicht nur eine
Eine der spannenden aktuellen Entwicklungen be- grundsätzliche Neuorientierung in der humangeneti-
trifft die Epigenetik: Dieser Teildisziplin ist jetzt ein schen Diagnostik, sondern hat auch in der »Archäo-
eigenes Kapitel gewidmet. Es sind viele Aspekte, die genetik« zur Klärung vieler Fragestellungen beigetra-
vorher an verschiedenen Stellen des Buches verstreut gen: Die Denisova-Menschen, die im Altai-Gebirge
waren, jetzt im Kapitel 8 unter einem gemeinsamen lebten, wurden alleine aufgrund ihrer DNA-Sequen-
Dach vereint, aktualisiert und deutlich ergänzt wor- zen als weitere menschliche Population neben den
den. So kamen in den früheren Auflagen die langen, Neandertalern und den modernen Menschen charak-
nicht-codierenden RNAs (lncRNAs) nur im Zusam- terisiert! Die entsprechenden neuen Technikboxen
menhang mit der Inaktivierung des X-Chromosoms zeigen, wie’s geht (die Technikboxen stehen in be-
und der genetischen Prägung (engl. imprinting) vor währter Weise am Ende der Kapitel und erläutern
– heute wissen wir, dass die Zahl der Gene für lncRNAs wichtige genetische Methoden).
die Zahl der Protein-codierenden Gene deutlich über-
steigt. Und so zeigt sich hier die Dynamik der Genetik Die neuen Methoden des »Editierens« des Genoms
in besonderem Maße: Was gestern noch ein »ungesi- machen es erstmals möglich, die DNA gezielt zu ver-
chertes Konzept« oder »spekulativer Ausblick« war, ändern, ohne dass Vektoren in die Zellen eingeführt
gehört heute schon zum Grundwissen. werden müssen. Die »Zauberworte« der neuen Tech-
niken heißen Zinkfinger-Nuklease, TALENs und
Die Genetik geht immer auf ’s Ganze: Ziel ist der CRISPR/Cas – auch diesen Methoden sind neue
ganze Organismus - die ganze Pflanze oder das ganze Technikboxen gewidmet. Allerdings ergeben sich aus
Tier. Deswegen gibt es auch einen neuen Abschnitt der Anwendung dieser Techniken nicht nur neue
bei den Modellorganismen: die Ratte. Die Ratte war Möglichkeiten in der experimentellen Genetik zur
lange Zeit in vielen Teilbereichen der biomedizini- Funktionsanalyse von Genen sowie in der Züchtungs-
schen Wissenschaften ein beliebter Modellorganis- technik zum Optimieren von Nutzpflanzen und
mus und ist durch die besseren Möglichkeiten der -tieren, sondern es ist zu erwarten, dass sie auch in der
Mausgenetik etwas in den Hintergrund gedrängt wor- Humangenetik eingesetzt werden. Von ersten der-
den. Jetzt hat sich aber der genetische Werkzeugkas- artigen Versuchen in China wurde Ende April 2015
ten für die Ratte deutlich verbessert, und sie beginnt berichtet – allerdings zunächst »nur«, um die Me-
allmählich, ihre frühere Rolle als Modellorganismus thode zu optimieren (Liang et al. (2015) Protein Cell
wieder zurückzugewinnen. Damit wird aber auch 6:363–372). Auch hier gilt der Satz aus Dürrenmatts
deutlich: Genetik braucht das ganze Tier – Zellkultu- Die Physiker: »Alles Denkbare wird einmal gedacht.
ren sind für Biochemie und Zellbiologie durchaus Jetzt oder in der Zukunft.«
vernünftige Modelle, aber wenn es um die Auswir-
kungen einer Keimbahnmutation geht, dann müssen Bleiben wir aber in der Gegenwart: Mit dieser Auflage
wir das ganze Tier (oder die ganze Pflanze) betrach- hat sich der Verlag das ehrgeizige Ziel gesetzt, dass
ten, denn selten hat eine Mutation nur in einem Ge- das Buch als E-Book auf allen Endgeräten in gleich
webe pathologische Konsequenzen. Und manchmal guter Weise zu lesen sein soll – auf dem PC wie auf
ist es noch komplexer: Dieselbe Mutation kann in dem Reader als auch auf dem Smartphone. Deshalb
einem Gewebe einen dominanten Phänotyp haben mussten die alten größeren Symbole weichen – die
und in einem anderen einen rezessiven, oder das »Eule« (für eher noch ungesicherte Aussagen) und die
komplexe Zusammenspiel mehrerer Gene ist für eine »Blüte« (für besonders wichtige Experimente), um
pathologische Situation verantwortlich – wie will man neuen kleineren E-Book-Symbolen Platz zu machen.
das in der Zellkultur untersuchen? Oder epigeneti- Die »Blüte« konnte verkleinert in eine mobil kompa-
sche Phänomene, die sich über mehrere Generatio- tible Form (C) übernommen werden, aber statt der
VI Vorwort zur 6. Auflage

*
»Eule« gibt es jetzt eine »erhobene Hand« ( ), und
die Zusammenfassungen am Ende eines Abschnitts
Nach der 5. Auflage habe ich Verbesserungsvorschlä-
ge und Kommentare aus allen Bereichen der »commu-
sind an dem » >«-Zeichen erkennbar. nity« erhalten, die nach Maßgabe der Möglichkeiten
umgesetzt wurden. Ich wünsche auch der 6. Auflage
Mein besonderer Dank gebührt dem bewährten der GENETIK, dass sie weiterhin erfolgreich verwen-
Team, das auch dieses Mal wesentlich dazu beigetra- det wird – und Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser,
gen hat, dass dieses Buch erscheinen konnte: in erster wünsche ich, dass Sie dadurch den Zugang zu einem
Linie Stefanie Wolf von der Lehrbuchabteilung des faszinierenden Gebiet der Biologie finden mögen.
Springer-Verlages und Annette Heß, die das gründ-
liche Lektorat besorgte; Detlef Maedje war von Seiten Jochen Graw
des Springer-Verlages für die Herstellung (und das Neuherberg/Unterschleißheim, im Mai 2015
neue Layout) verantwortlich. Tim Reichenthaler
(lr-werbeagentur) hat viele der neuen Bilder reprodu-
ziert, und die Produktion lag dieses Mal in den Hän-
den von Peter Grumbach (Fotosatz-Service Köhler
GmbH). Schließlich gilt mein Dank auch den vielen
Fachkolleginnen und -kollegen, die mich mit Rat und
Tat, Bildern und Vorschlägen für gute Formulierun-
gen sowie inhaltlichen Hinweisen unterstützt haben.
VII

Vorwort zur 5. Auflage

»Gründlich, solide, humorfrei«, so beschrieb ein Re- In meinen Dank schließe ich auch die Personen ein,
zensent die letzte (4.) Auflage der GENETIK. Ich neh- die ganz wesentlich zum Gelingen dieser Auflage bei-
me das als ein Kompliment (wenn man »humorfrei« getragen haben. Dazu gehören in erster Linie Stefanie
mit »sachlich« übersetzt), denn genauso war das Buch Wolf von der Lehrbuchabteilung des Springer-Verlags
konzipiert ‒ und offensichtlich wurde das auch so ver- sowie das gründliche Lektorat von Annette Heß, aber
standen. Vor dem Hintergrund des rasanten Fort- auch die gewissenhafte Erstellung des Stichwortver-
schritts der modernen molekularen Genetik habe ich zeichnisses durch Dr. Sabine Herold und die Produk-
mich deshalb gerne entschlossen, eine wiederum tion durch Tim Reichenthaler (lr-werbeagentur).
stark aktualisierte 5. Auflage herauszubringen. Dabei Schließlich gilt mein Dank auch den vielen Fach-
habe ich das bewährte Grundkonzept beibehalten, kolleginnen und -kollegen, die mich mit Rat und Tat,
um so einen Eindruck von der Breite der Genetik zu Bildern und Vorschlägen für gute Formulierungen
vermitteln. Entsprechend wurden im Gesamtaufbau sowie inhaltlichen Hinweisen unterstützt haben.
nur geringfügige Umstellungen vorgenommen: So
wurde ein (Unter-)Kapitel zu den wichtigsten Modell- Ein Lehrbuch kann immer nur die historisch gewach-
organismen der Genetik hinzugefügt (Kapitel 5.4); sene und damit die aktuelle Summe des Wissens
das frühere Kapitel über die Zukunft der Genetik eines Fachs darstellen (und davon vieles auch nur
wurde dagegen weitgehend in den übrigen Text inte- exemplarisch). Insofern bin ich mir natürlich dessen
griert und durch ein neues Abschluss-Kapitel »Gene- bewusst, dass manche Kolleginnen und Kollegen die
tik und Anthropologie« ersetzt. Auf diesem Gebiet eine oder andere Facette ihres jeweiligen Spezial-
erwarte ich (ebenso wie in dem Bereich der Verhal- gebiets vermissen werden. Auf der anderen Seite ist
tens- und Neurogenetik, Kapitel 13) in den nächsten insbesondere die moderne Genetik eine sehr dynami-
Jahren Ergebnisse, die unser Bild vom Menschen ver- sche Disziplin, sodass manches, was heute noch als
ändern können. »ungesichertes Konzept« oder »spekulativer Aus-
blick« gilt (das ist die Definition der »Eulen« in die-
Im Wesentlichen unverändert bleibt die Vielfältigkeit sem Buch), morgen schon zum Grundwissen gehören
der Lernhilfen und der grafischen Gestaltung mit kann. Insofern spiegelt auch diese Auflage eine Mo-
einem Überblick am Anfang eines Kapitels, mit Merk- mentaufnahme aus dem Frühjahr 2010 wider – und
sätzen, Blüten und Eulen zwischendurch sowie den ich bin gespannt darauf, was uns die nächsten Jahre an
Kernaussagen am Ende eines Kapitels sowie mit den neuen und spektakulären Erkenntnissen der Genetik
Technik-Boxen, die eine kurze Einführung in tech- bescheren werden. Selbstverständlich bin ich immer
nisch-methodische Aspekte geben. offen und dankbar für weitere Verbesserungsvor-
schläge und Kommentare aus allen Bereichen der
Gründlich verändert und aktualisiert wurde in dieser community und wünsche auch der 5. Auflage der
Auflage das Bildmaterial. Dabei spielte die Überle- GENETIK, dass sie weiterhin erfolgreich verwendet
gung eine wichtige Rolle, den Dozenten aussagekräf- wird – und Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser,
tige Abbildungen für den Unterricht zur Verfügung wünsche ich, dass Sie dadurch den Zugang zu einem
stellen zu können. An dieser Stelle sei daher allen Kol- faszinierenden Fach finden mögen.
leginnen und Kollegen sowie denjenigen Verlagen
gedankt, die ihr Bildmaterial kostenlos zur Verfügung Jochen Graw
gestellt haben; die entsprechenden Verweise sind bei Neuherberg/Unterschleißheim, im April 2010
den jeweiligen Bildern direkt zu finden. Nur so wurde
auch für diese Auflage ein günstiger Preis möglich.
Der aufmerksamen Leserin (und natürlich auch dem
aufmerksamen Leser) wird es dabei nicht entgehen,
dass einige renommierte Verlage nicht zu finden sind.
Dies ist der jeweiligen Verlagspolitik geschuldet, die
eine kostenfreie Weitergabe in der elektronischen und
gedruckten Form leider nicht möglich machte.
IX

Vorwort zur 4. Auflage

Nach drei erfolgreichen Auflagen der von Wolfgang durch gen-technisch veränderte Pflanzen und Tiere
Hennig begründeten GENETIK hat mich der Sprin- in der Landwirtschaft (und den verarbeitenden Be-
ger-Verlag gebeten, eine aktualisierte 4. Auflage zu trieben) erinnern, sondern auch an die Fragen zur
erstellen. Ich habe diese Herausforderung gerne ange- conditio humana, den Bedingungen, unter denen wir
nommen, weil ich in meinen Vorlesungen immer das Menschen uns in der Vergangenheit entwickelt haben
Gefühl hatte, dass das Fach Genetik besonders dann und wohin wir uns entwickeln können. Das schließt
gut vermittelt werden kann, wenn man die verschie- nicht nur die mögliche Beantwortung der Frage ein,
denen Teildisziplinen in einen engen Zusammenhang welchen Weg die ersten Menschen aus Afrika heraus
stellt. So wächst zwar das Wissen in unserem Fachge- eingeschlagen haben (war das »die Vertreibung aus
biet derzeit explosionsartig, aber gerade darum treten dem Paradies«?). Wir können auch nicht bei der Frage
viele Phänomene klarer hervor. Cytologische, mor- nach der Individualität (Stichwort hier: genetischer
phologische oder auch formale Argumente bekom- Fingerabdruck) oder bei der Frage der genetischen
men plötzlich einen molekularbiologischen Unterbau Diagnostik und Therapie stehen bleiben, sondern be-
und lassen sich leichter verstehen. kommen zunehmend auch den Bereich der geneti-
schen Bedingungen unseres Verhaltens in den Blick.
Wie Wolfgang Hennig in seinem Vorwort zur 1. Auf- Erstaunlicherweise finden wir auch hier beim Men-
lage schrieb, ist es schwierig, als Einzelautor geneti- schen ähnliche Genkaskaden wie bei den »üblichen
sche Fragestellungen vollständig darzustellen. Den- Modellsystemen« Drosophila und der Maus. Das gilt
noch ist es mir wichtig, den Studenten der Biologie im sowohl für Grundzüge des Lernens und des Gedächt-
Grund- und Hauptstudium (oder wie es im Rahmen nisses, für Angst- und Suchtverhalten als auch für
des Bologna-Prozesses jetzt heißt: in den Bachelor- neurodegenerative Erkrankungen. In vielen Fällen
und Master-Studiengängen) auch einen Eindruck von beginnen wir gerade, solche Mechanismen als kom-
der Breite der Genetik zu vermitteln. Ich habe deshalb plexe genetische Modelle zu beschreiben. Wenn wir
den historischen Bezug sehr knapp gehalten und die uns der molekularen Grundlagen, Bedingungen und
Genetik zunächst einmal von der molekularen Seite Grenzen unseres Verhaltens immer bewusster wer-
her entwickelt. Es folgt dann die Einbindung in die den, zeigt das aber auch, dass unsere Freiheit nicht
zellulären Strukturen der Pro- und Eukaryoten, so unbegrenzt ist, sondern sich »nur« im Rahmen vorge-
dass die formalen Aspekte (auch die der Popula- gebener Möglichkeiten entfalten kann – »Freiheit als
tionsgenetik) vor der molekularbiologischen Grund- Einsicht in die Notwendigkeit«? Ich erwarte daher in
lage (und auch mit dem molekularbiologischen den nächsten Jahren intensive Diskussionen darüber,
methodischen Repertoire) leichter zu verstehen und was Pädagogik und Psychiatrie leisten können (und
zu bearbeiten sind. Die als Genomforschung in den sollen).
letzten Jahren massiv vorangetriebenen Aspekte der
modernen Genetik haben große Auswirkungen auf Damit möchte ich schließlich noch einen Aspekt auf-
unser Wissen in den Bereichen der Entwicklungs- greifen, der in den letzten Wochen vor Drucklegung
und Humangenetik. Weitere Modellsysteme haben des Buches die Debatte der Feuilletons verschiedener
sich mit neuen Techniken etabliert (z. B. Arabidopsis, renommierter deutscher Zeitungen beherrscht hat,
der Zebrafisch und die Maus) und sind aus der mo- nämlich die Frage nach dem »intelligenten Designer«
dernen genetischen Forschung nicht mehr wegzuden- – oder ob nicht die ganze Darwin’sche Abstammungs-
ken. Dem trägt die neue Auflage deutlicher als bisher lehre auf den Müllhaufen der Geschichte zu schmei-
Rechnung. Im Wesentlichen unverändert bleibt die ßen und durch die biblische Schöpfungsgeschichte zu
Vielfältigkeit der Lernhilfen und der graphischen Ge- ersetzen sei. Dem muss natürlich im Vorwort eines
staltung mit einem Überblick am Anfang eines Kapi- Genetik-Lehrbuches insofern widersprochen werden,
tels, mit Merksätzen, Blüten und Eulen zwischen- als in den Naturwissenschaften – und die Genetik
durch sowie den Kernaussagen am Ende eines Kapi- gehört hier zweifellos dazu – die »Arbeitshypothese
tels und den Technik-Boxen, die eine kurze Einfüh- Gott« nicht vorkommt. Das hat nun nichts damit
rung in technisch-methodische Aspekte geben. zu tun, dass alle Naturwissenschaftler gottlos seien,
Allerdings wurden auch hier die Inhalte gründlich sondern es ist »nur« eine methodische Beschrän-
aktualisiert. kung  auf messbare und reproduzierbare Parameter.
Dennoch gelingt es mit diesem »beschränkten« An-
Die Erkenntnisse der modernen Genetik wirken sich satz, eine Vielzahl von Mechanismen plausibel zu
zunehmend auf unseren Alltag aus. Ich möchte daher verstehen und zu begründen – Mechanismen, die
nicht nur an die Fragen zur Lebensmittelherstellung eben vor 2000 Jahren noch unverstanden waren.
X Vorwort zur 4. Auflage

Genauso gibt es heute noch offene Fragen, die viel- Dieses Buch ist in vielen Bereichen eine Moment-
leicht erst bei der nächsten Auflage der GENETIK aufnahme aus dem Sommer 2005. Ich bin immer
beantwortet werden können – z. B., ob tatsächlich offen und dankbar für weitere Verbesserungsvor-
Mutationen in einem Gen (hier FOXP2) für die Aus- schläge und Kommentare aus allen Bereichen der
prägung von Sprache verantwortlich sind, oder splice- »community« und wünsche der 4. Auflage der
Varianten in einem anderen Gen (hier: fruitless bei GENETIK, dass sie weiterhin erfolgreich verwendet
Drosophila) für die geschlechtsspezifische Ausprä- wird und den Lesern den Zugang zu einem faszinie-
gung des Balzverhaltens. renden Fach ermöglicht.

Ich möchte dieses Vorwort nicht schließen, ohne den Jochen Graw
Personen meinen Dank abzustatten, die zum Gelin- Neuherberg/Unterschleißheim, im Juli 2005
gen nicht unwesentlich beigetragen haben. Dazu ge-
hören natürlich in erster Linie die Mitarbeiterinnen
der Lehrbuchabteilung des Springer-Verlages, Iris
Lasch-Petersmann, Stefanie Wolf und Elke Werner
sowie in den Anfängen Manuela Kratz; dazu gehört
auch das gründliche Lektorat von Bettina Holzhei-
mer. Herr Bernd Reichenthaler (ProEdit) hat es ver-
standen, auch die letzten »last minute« Ergänzungen
noch einzuarbeiten. Ebenso dankbar bin ich Dr.
Christine Schreiber (BIOspektrum/Elsevier) und be-
sonders Dr. Tanita Casci (Redaktion Nature Reviews
Genetics), die mich bei der Suche nach Bildern tat-
kräftig unterstützt haben. Schließlich gilt mein Dank
den vielen Fachkolleginnen und -kollegen, die mir
mit Rat und Tat, Bildern und Vorschlägen für gute
Formulierungen zur Seite gestanden sind.
XI

Vorwort zur 3. Auflage

Die schnelle Entwicklung der Biologie in den letzten Ich habe mich, ausgehend von solchen Überlegungen,
Jahrzehnten findet keine Parallele in der Geschichte in dieser neu bearbeiteten Auflage bemüht, wichtige
der Naturwissenschaften. Die Genetik hat an dieser neue Befunde einzuarbeiten, ohne in viele Details der
Entwicklung einen maßgeblichen Anteil. Es ist sicher- neu erkannten molekularen Mechanismen einzudrin-
lich für jeden Biologen faszinierend, diese Entwick- gen. Manche Bewertungen haben sich geändert und
lung miterleben zu können. Gleichzeitig kann man »Schleiereulen« haben ihre Nistplätze verloren oder
sich aber auch eines Gefühls der Hilflosigkeit nicht neue gefunden.
ganz erwehren, wenn man versucht, diese Entwick-
lungen in eine Form zu bringen, die es gestattet, das Erneut haben mich viele Kollegen mit Hinweisen,
Fachgebiet in der Ausbildung von Studenten sach- Kommentaren und Material unterstützt. Ihnen gilt
gemäß und in sinnvoller Weise darzustellen. Die Not- mein besonderer Dank! Ich hoffe, daß die Genetik
wendigkeit der Beschränkung auf die Darstellung von auch in dieser Auflage wieder positiv aufgenommen
Grundprinzipien wird stets ausgeprägter, und es er- wird.
fordert ständige kritische Reflektion, was man über-
haupt in den akademischen Unterricht einbeziehen Wolfgang Hennig
will. Ein Lehrbuch soll dazu dienen, der/dem Studie- Shanghai, Oktober 2001
renden einen Zugang zu seinem Fach dadurch zu
schaffen, daß es ihr/ihm ermöglicht, sich mit den
Grundlagen vertraut zu machen, die es schließlich
gestatten, tiefer in Spezialgebiete des Faches einzu-
dringen. Dennoch erwartet man, auch neue Entwick-
lung zumindest angedeutet zu finden und häufig ge-
brauchte Fachbegriffe wiederzufinden. Grenzen hier-
für lassen sich heute nur noch willkürlich ziehen.
XIII

Vorwort zur 2. Auflage

Die freundliche Aufnahme eines Lehrbuches durch Ich hoffe, daß die »Genetik« weiterhin gern gebraucht
die Benutzer ruft bei einem Autor eine besondere wird, und ich bin weiterhin für jeden Kommentar, vor
Motivation für Bemühungen zur Verbesserung her- allem auch von studentischer Seite, sehr dankbar.
vor. In einem Fach, das sich so schnell entwickelt wie
die Genetik, bringt das aber auch besondere Probleme Wolfgang Hennig
mit sich: Eine Neuauflage müßte eigentlich teilweise Mainz, Januar 1998
neu geschrieben werden. Das ist aus vielerlei Grün-
den schwierig, wenn nicht unmöglich: Der Autor
wäre in diesem Falle außerstande, noch anderes zu
tun als sich ständig mit Teilgebieten des Lehrbuches
zu beschäften. So bleibt nur ein Kompromiß möglich.
Für die 2. Auflage habe ich eine gründliche Überar-
beitung und Korrektur vorgenommen. Das Kapitel
»Humangenetik« habe ich aktualisiert und in diesem
Zusammenhang Kapitel zum Human-Genom-Pro-
jekt und zur Gentechnologie hinzugefügt.

Ich bin allen, die mich auf Fehler aufmerksam ge-


macht haben und die mir Anregungen und Hinweise
gegeben haben, zu Dank verpflichtet. Nicht alle Vor-
schläge habe ich berücksichtigen können, und ich
habe mich auch nicht allen Änderungsvorschlägen
zuwenden wollen – ganz abgesehen von sachlich fal-
schen Änderungsvorschlägen (ein Beispiel, das wie-
derholt kritisiert wurde: es muß richtig Promoter
heißen, n-i-c-h-t Promotor!). Ein Grundlagen-Lehr-
buch kann einen bestimmten Rahmen nicht über-
schreiten, wenn es dem Leser Einblicke in Basiswissen
zu allen Teilgebieten der Genetik vermitteln soll. Eine
wesentliche Umfangserweiterung der »Genetik« ist
aus der Sicht des Einzelautors auch nicht erstrebens-
wert. Es liegt mir aber daran festzustellen, daß der
Verlag allen Vorschlägen zur Gestaltung von meiner
Seite her sehr positiv gegenübersteht.
XV

Vorwort zur 1. Auflage

Dieses Lehrbuch ist aus meiner Genetik-Grundvorle- Um von Beginn an den Zugang zur Fachliteratur zu
sung entstanden und reflektiert deren Struktur, wie erleichtern, habe ich im Text durchgehend für alle
sie sich im Laufe mehrerer Jahre aufgrund der Erfah- wichtigen Fachbegriffe die jeweilige englische Ter-
rung in Prüfungen und durch Gespräche mit Studen- minologie angeführt. Zudem sind häufig geeignete
ten entwickelt hat. Hauptanliegen ist es mir stets ge- deutsche Begriffe nicht verfügbar. In solchen Fällen
wesen, molekulare und klassische genetische und habe ich grundsätzlich die englische Terminologie
cytologische Gesichtspunkte soweit wie irgend mög- verwendet. Ich finde beispielsweise durch nichts ge-
lich zu integrieren. Die Entwicklung der Genetik bie- rechtfertigt, den Begriff »single copy DNA« durch
tet hierzu immer bessere Möglichkeiten. Die Frage, ob eine so abstruse »Übersetzung« wie »unikale DNA«,
der Genetik-Unterricht auf der klassischen Genetik der man gelegentlich begegnet, zu ersetzen. Für Fach-
oder auf den Kenntnissen der Molekulargenetik auf- begriffe habe ich im Glossar deren sprachlichen Ur-
bauen soll, wird damit zum Teil gegenstandslos. Der sprung und seine Bedeutung vermerkt, um damit das
sinnvolle Zugang zur Genetik ergibt sich in meinen Verständnis der Begriffe zu erleichtern.
Augen von selbst: Der logische Einstieg in das Denk-
gebäude der Genetik ist am einfachsten, wenn man Die Frage, ob es sinnvoll ist, die Namen von Forschern
deren historischer Entwicklung folgt. Wie wäre auf anzuführen, wurde von mir positiv beantwortet: Es
der molekularen Ebene zu erkennen, ob DNA-Verän- sind Menschen, die die entscheidenden Beobachtun-
derungen sich im Phänotyp auswirken? Die Aufklä- gen gemacht haben oder Wesentliches zu unserem
rung elementarer Mechanismen der Frühentwicklung Verständnis beigetragen haben. Warum sollten sie
bei Drosophila in den letzten Jahren hat für jeden nicht genannt werden? In Einzelfällen wird diese Zu-
deutlich werden lassen, daß der Bezug zum Phänotyp, ordnung vielleicht nicht immer der wissenschaftli-
also der Morphologie, die entscheidende Rolle für chen Prioriät entsprechen, aber ich hoffe, daß diese
den Zugang zu den wesentlichen biologischen Frage- sich als Ausnahmen erweisen. Wo irgend möglich,
stellungen spielt. habe ich mich bemüht, mir eine Einsicht in die Origi-
nallite ratur zu verschaffen. Die Angabe der Lebens-
Für einen einzelnen Autor ist es heute wohl unmög- daten der Forscher soll es dem Leser erleichtern,
lich, in einem Grundlehrbuch der Genetik eine Voll- Parallelitäten in der Forschungsgeschichte der Gene-
ständigkeit in der Darstellung der Fragestellungen tik zu erkennen und die Befunde historisch einzuord-
anzustreben. Ich habe es als mein Ziel angesehen, nen. Umgekehrt habe ich Daten der Veröffentlichung
grundlegende Mechanismen, deren Verständnis un- bewußt überall da weggelassen, wo diese zur histori-
abdingbar ist, an geeigneten Beispielen darzustellen. schen Einordnung nicht notwendig sind.
Deren Besprechung ergibt sich oft aus einem allge-
meineren biologischen Zusammenhang. Ich habe Die starke Verwobenheit der Genetik mit anderen
mich daher nicht unbedingt von der Vorstellung lei- biologischen Disziplinen führt zwangsläufig zu der
ten lassen, daß zusammengehörige Themen auch an Situation, daß ein umfassendes Genetiklehrbuch,
einer Stelle besprochen werden müssen. Ein Beispiel schon durch die damit verbundene zeitliche Belas-
dafür ist das Kapitel 5 über Steuerung der Genfunk- tung, kaum noch von einem Einzelnen zu schreiben
tion auf chromosomalem Niveau, das mir als Ein- ist. Wenn ich dieses Wagnis dennoch unternommen
führung dieser Problematik wichtig erschien, dessen habe, dann in der Hoffnung, daß es dadurch gelingt,
molekulare Grundlagen aber erst später ausgeführt eine möglichst einheitliche Konzeption in der Wahl
werden. Mein Bemühen war es daher auch, durch und Darstellung der Inhalte sowie in der didaktischen
ausführliche Querverweise die Erarbeitung einer zu- Behandlung zu verwirklichen. Es muß dabei zuge-
sammenhängenden Sicht zu erleichtern. standen sein, daß Schwerpunkte nach persönlichen
Gesichtspunkten gesetzen werden. Dieses selektive
Ich habe in diesem ersten Ansatz darauf verzichtet, Lehrprinzip entspricht dem Konzept, das Wagen-
Fragen der Verhaltensgenetik und der Evolutionsfor- schein unter dem Begriff »exemplarisches Lehren«
schung einzubeziehen. Im allgemeinen sind diese vorgestellt hat und das künftig auch in der universitä-
dem Fortgeschrittenenstudium zuzuordnen und hät- ren Ausbildung wohl die einzige Lösung angesichts
ten den Rahmen des vorliegenden Bandes damit der Fülle des Stoffes bleibt. In diesem Zusammenhang
überschritten. Die Populationsgenetik ist nur in sehr war ich immer wieder versucht, Ausflüge in die allge-
kurzer Form angesprochen, da hier das sehr über- meine Biologie zu unternehmen. Das aber ist nur ein
sichtliche deutschsprachige Lehrbuch von D. Sperlich Zeichen dafür, wie Genetik heute eigentlich zu ver-
zur Verfügung steht. stehen ist, nämlich als allgemeine Biologie.
XVI Vorwort zur 1. Auflage

Für alle Verbesserungsvorschläge, Hinweise auf Feh- Dietrich Arndt (BGA Berlin), David Bazett-Jones
ler und Anregungen, insbesondere auch von jenen, (Calgary), Hans Becker (Heidelberg), Wolfgang Beer-
denen dieses Buch in erster Linie helfen soll, sich in mann (Tübingen), Ann Beyer (Baltimore), Harald
der immer komplexeren Wissenschaft der Genetik Biessmann (Irvine), W. Burkart (BfS Salzgitter), Wer-
zurechtzufinden – den Studenten der Biologie – wer- ner Buselmaier (Heidelberg), B.M. Cattanach (Oxon),
de ich besonders dankbar sein. Kommentare von mei- P. Colman (Melbourne), Thomas Cremer (Heidel-
nen Studenten während der Entstehung des Buches berg), Christine Dabauvalle (Würzburg), Tara Devi
haben bereits einen Niederschlag gefunden. Insbe- (Delhi), John Doebley (St. Paul), William C. Earn-
sondere sind auch didaktische Elemente wie z. B. die shaw (Baltimore), Jan-Erik Edström (Lund), Hans
Technikboxen, das Glossar, die Zusammenfassung Erni (Luzern), Elvira Finke (BGA Berlin), H. Frank
der Kapitel in Kernaussagen und die Hervorhebungen (Tübingen), Joseph G. Gall (Baltimore), Walter
durch die Piktogramme auf Anregungen von Studen- Gehring (Basel), Susan Gerbi (Providence), David
ten entstanden. Meine positiven Erfahrungen im Glover (London), H. K. Goswami (Bhopal), Caspar
Grundunterricht mit ausführlichen Illustrationen der Grond (Heidelberg), Rudolf Hagemann (Halle), Bar-
behandelten Problematik haben mich veranlaßt, den bara Hamkalo (Irvine), Daniel L. Hartl (Boston),
vorliegenden Text so sorgfältig und vollständig wie Martin Heisenberg (Würzburg), Daniele Hernandez-
möglich durch Abbildungen und Tabellen zu unter- Verdun (Paris), W. Hilscher (Neuss), Ch. Holderegger
stützen. Die erschöpfenden Legenden sollen den Text (Zürich), Joel Huberman (Buffalo), Peter Huijser
ergänzen und die Erarbeitung spezieller Punkte an- (Köln), Bernard John (Caldicot), Eberhard Kalt-
hand der Abbildungen ermöglichen. Ebenso sind in schmidt (Lüneburg), A. Kleinschmidt (Mainz),
einigen der Tabellen die experimentellen Schritte aus- R. Koopman (Nijmegen), Christian Krause (Berlin),
geführt (z. B. bei den Mendelschen Regeln). Zur Er- Peter Lawrence (Cambridge), Ruth Lehmann (Cam-
leichterung der Handhabung des Textes und zur Er- bridge), Maria Leptin (Tübingen), Markus Lezzi
höhung seiner Übersichtlichkeit habe ich Beispiele (Zürich), John Lucchesi (Atlanta), Alfred Maelicke
und Experimente durch ein Blütenpiktogramm (es (Mainz), Oscar L. Miller, Jr. (Charlottesville), Peter
handelt sich um die Blüte einer Walderdbeere) ge- Moens (Toronto), Christiane Nüsslein-Volhard (Tü-
kennzeichnet. Textbereiche, in denen Fragen erörtert, bingen), B. A. Oostra (Leiden), J. B. Rattner (Calgary),
ungelöste Probleme vorgestellt oder mehr spekulative Georg Redei (Columbia), Wolf Reik (Cambridge),
Aussagen gemacht werden, sind durch das Pikto- Ulrich Scheer (Würzburg), H. Schuhmacher (Braun-
gramm der Schleiereule hervorgehoben. schweig), Heinz Schwarz (Tübingen), Uli Schwarz
(Tübingen), Dieter Schweizer (Wien), Dominik
Ich hoffe, daß die Einarbeitung der didaktischer Ele- Smeets (Nijmegen), Günter Steinbrück (Tübingen),
mente das Buch auch für Biologielehrer zum Nach- S. Takayama (Tokio), Diethard Tautz (München),
schlagen und zur Anregung geeignet macht. Der Herbert Taylor (Tallahassee), William Theurkauf
schnelle Fortschritt der Genetik zwingt zur ergänzen- (Stony Brook), Michael Trendelenburg (Heidelberg),
den Information bereits kurze Zeit nach Beendigung E. Trifanov (Rehovot), Friedrich Vogel (Heidelberg),
der universitären Ausbildung. Weiter hoffe ich, daß in Peter Vogt (Heidelberg), Eric Weinberg (Philadel-
dieser Hinsicht auch das abschließende Kapitel, das phia), Dieter von Wettstein (Kopenhagen), H. Win-
sich mit Fragen der Gentechnologie beschäftigt, be- king (Lübeck) und Ute Wolf (BGA Berlin).
sondere Aufmerksamkeit findet, selbst wenn es bei
Erscheinen des Buches teilweise bereits überholt sein Nach vieljähriger Unterbrechung hat sich Herr Ober-
mag. studiendirektor B. Gotthardt, Berlin, noch einmal die
Mühe gemacht, meine Altsprachenkenntnisse (im
Viele Kollegen haben mir mit Rat und Vorschlägen Glossar) zu überprüfen und zu ergänzen. Auch ihm
sowie durch Material zur Verfügung gestanden. Ihnen möchte ich an dieser Stelle nochmals herzlich danken.
gilt mein herzlicher Dank. Wilfried Janning (Müns- Im Verlag bin ich Frau Anne C. Repnow und Frau
ter), Erwin Schmidt (Mainz), Rolf Nöthiger (Zürich), Manuela C. Wolf für die ausgezeichnete, für beide
Klaus Rajewsky und Matthias Cramer (Köln), Tho- Seiten unerwartet lange Zusammenarbeit und die
mas Börner (Berlin), Peter Huijser (Köln), Klaus vielfachen Hilfen sehr zum Dank verpflichtet. Frau
Cichutek (Frankfurt), Johannes Löwer (Frankfurt), Isolde Gundermann hat das Projekt herstellerisch be-
Koos Miedema (Nijmegen) und Ron Hochstenbach treut. Auch meinen vielen, sehr diskreten Gestal-
(Nijmegen) haben Teile des Textes kritisch gelesen tungswünschen haben sie stets positiv gegenüberge-
und wichtige Vorschläge zur Änderung und Ergän- standen, und sie haben durch Gestaltungsvorschläge
zung gemacht. Frau Seipp (Heidelberg) hat den ersten viel zur endgültigen Form des Buches beigetragen.
Teil des Manuskriptes mit viel Sorgfalt kommentiert. Insbesondere die didaktischen Elemente im Text ha-
Weiterhin möchte ich für Materialien und Hilfe dan- ben erst durch diese Kommunikation ihre endgültige
ken: Nicole Angelier (Paris), Rudi Appels (Canberra), Gestalt gefunden. Frau Christiane von Solodkoff hat
XVII
Vorwort zur 1. Auflage

die computergraphische Überarbeitung der Abbil-


dungen ausgeführt.

Ein besonderes Anliegen ist mir die Feststellung, daß


die Zusammenarbeit mit Sibylle Erni (Luzern) bei der
Anfertigung der Abbildungen ein besonders motivie-
render Teil der Arbeit an diesem Buch war. Sie hat in
vielen Fällen eigene Vorschläge zur Anordnung und
Ausführung verwirklicht und Fehler in meinen Vor-
lagen aufgespürt. Ihr gilt mein besonders herzlicher
Dank für ihren Einsatz, ihre Ausdauer und ihre Sorg-
falt. Ihre Zusage, die Illustrationen auszuführen, hat
meinen Entschluß zur Arbeit an diesem Buch ent-
scheidend beeinflußt.

Wolfgang Hennig
Kranenburg, September 1994
XIX

Hinweise zum Gebrauch und zur didaktischen Konzeption

Vielfältige Lernhilfen und die optische Gestaltung dieses Lehrbuches bieten dem Leser die Möglichkeit, sich
dem komplexen Stoffgebiet Genetik auf verschiedene Weise bzw. auf verschiedenen Leseebenen zu nähern.
Für den optimalen Gebrauch – sowohl zum intensiven Studium als auch zur schnellen Information über Teil-
bereiche – sollen die didaktischen Elemente und die Gliederung des Buches hier erläutert werden.

Jedes Hauptkapitel wird durch eine inhaltlich charak-


teristische Abbildung eröffnet, die das Interesse am
Thema wecken und zum Weiterlesen motivieren soll.

Überblick Es folgt eine Zusammenfassung des Kapitelinhaltes in


einer sehr allgemein gehaltenen Form. Durch die fort-
Dieses Kapitel ist ein Versuch, sich der Frage nach der laufende Lektüre dieser Abschnitte kann ein guter
conditio humana von der genetischen Seite zu nähern.
Überblick über die Teilprobleme der Genetik erhalten
Der Blick des Genetikers wird dabei notwendigerweise
etwas eingeschränkt sein, da er sich im Wesentlichen
werden. Das erleichtert es auch, Zusammenhänge
auf das beschränkt, was seine Thematik ist: die Beob- über die Kapitel hinweg zu erkennen. Die allgemeine
achtung der Veränderung des Erbmaterials in der Zeit, Form soll das Interesse an der Detailinformation
aber auch in verschiedenen geographischen Bereichen. wecken.

> Die Fragestellungen der Genetik betreffen die Aufklärung Innerhalb der Kapitel sind kurze Zusammenfassun-
der Regeln und Mechanismen der Vererbung. Die Genetik gen der wichtigsten behandelten Punkte hervorgeho-
hat aber heute auch das Ziel, die Unterschiede in der
ben, damit sie auf den ersten Blick erkennbar sind.
genetischen Ausstattung verschiedener Organismen funk-
tionell zu erklären. Diese Merksätze sollen die systematische Erarbeitung
des Stoffes erleichtern. Sie eignen sich insbesondere
auch zum schnellen Wiederholen.

Die Gesamtheit der genetischen Informationen fasst Fachbegriffe sind, ebenso wie die Hauptstichworte
man unter dem Begriff Genom zusammen. des jeweiligen Textabschnitts, durch halbfetten Druck
hervorgehoben und bilden eine Art roten Faden
durch das Buch. Dies trägt zur Übersichtlichkeit und
besseren Gliederung des Lehrstoffes bei.

C Durch ein einfaches Beispiel wird uns verdeutlicht, dass Beispiele, die den theoretischen Hintergrund erläu-
die Variabilität der Erscheinungsformen bestimmten Gesetz- tern oder die Erarbeitung einer Fragestellung erleich-
mäßigkeiten gehorcht: Trotz aller Vielfalt in der Individuali-
tern sollen, sind im Textbereich durch eine Blüte
tät verschiedener Menschen ist der Mensch als einheitliche
Organismengruppe deutlich gegenüber allen anderen Orga-
gekennzeichnet und erlauben so ein schnelles Auf-
nismengruppen abgegrenzt. Stark abweichende Gestalt- finden.
formen, wie sie beispielsweise bei fehlerhafter Embryonal-
entwicklung auftreten können, sind im Allgemeinen nicht
lebensfähig.

* Um zu überprüfen, ob die Greifvögel und Eulen und die


einzelnen Unterarten jeweils monophyletische Gruppen bil-
Abweichend von üblichen Lehrbuchdarstellungen
sind in den Text bisweilen auch ungesicherte Kon-
den (d. h. eine Abstammungsgemeinschaft mit einem ge-
zepte oder Vorstellungen oder auch weitgehend spe-
meinsamen Vorfahren darstellen), wurden jeweils ein Gen
der Mitochondrien und eines aus der Kern-DNA sequenziert. kulative Ausblicke sowie offene Fragestellungen
aufgenommen. Sie werden durch das Symbol einer
Hand angezeigt, das auf die Grenzen des gegenwärti-
gen Wissens aufmerksam machen soll.
XX Hinweise zum Gebrauch und zur didaktischen Konzeption

. Abb. 1.2 a Johann Gregor Mendel (Augustinerpater und Abbildungslegenden sind so gehalten, dass Abbil-
Begründer der modernen Genetik, 1822–1884). b James Watson dungen auch ohne Rückgriffe auf den Text verständ-
und Francis Crick vor dem DNA-Modell
lich sind. Sie enthalten bisweilen auch Einzelheiten,
die im Text nicht erwähnt werden, für ein tiefer gehen-
des Studium jedoch notwendig sind. Der fortlaufende
Zusammenhang des Textes wird dadurch besser ge-
wahrt, ohne durch allzu viele Teilaspekte zu unüber-
sichtlich zu werden.

. Tab. 1.1 Kurze Geschichte der Genetik


Tabellen wurden überall dort eingesetzt, wo es erfor-
derlich erschien, Zahlenmaterial oder andere Daten
Jahr Ereignis zum besseren Verständnis besonders übersichtlich
1866 Mendel veröffentlicht seine Schrift Versuche über und prägnant darzustellen oder zum Nachschlagen
Pflanzenhybriden zusammenzufassen.
1871 Miescher entdeckt Nukleinsäuren

Kernaussagen Jedes Kapitel schließt mit einer Aufzählung von Kern-


5 Die Genetik beschreibt die Regeln und Mechanis- aussagen, die den Inhalt des Kapitels nochmals in
men der Vererbung und erklärt funktionell die konkreten Punkten zusammenfassen. Es soll hier-
Unterschiede in der genetischen Ausstattung ver- durch erleichtert werden, nach der Bearbeitung des
schiedener Organismen. Kapitels zu prüfen, ob die wesentlichen Gesichts-
punkte des Kapitels erfasst worden sind.

Übungsfragen am Ende eines Kapitels sollen zum


Übungsfragen kritischen Lesen ermuntern und ein Verständnis für
1. Erläutern Sie die Bedeutung der Fusion zweier wichtige Begriffe und Zusammenhänge entwickeln.
Chromosomen der Affen zum Chromosom 2 des Um das Spicken zu vermeiden, finden sich die Ant-
Menschen für die Evolutionslinie des Menschen.
worten am Ende des Buches im Serviceteil.
2. Erläutern Sie die genetischen Argumente der
Out-of-Africa-Hypothese.

Die Literaturübersicht am Kapitelende soll es einer-


seits erleichtern, wichtige Originalarbeiten aufzufin-
den, andererseits aber auch Hinweise auf jüngere Re-
views oder Originalarbeiten geben, die zur Vertiefung
des Studiums von Teilaspekten geeignet sind. Eine
Vollständigkeit ist nicht angestrebt.

Technikbox 1 Methoden der Genetik werden in getrennten Technik-


boxen dargestellt, auf die im Text verwiesen wird. Sie
Isolierung genomischer DNA sind in unterschiedlichen Zusammenhängen wichtig.
Anwendung: Genomische DNA ist Ausgangsmaterial Eine Übersicht über die Technikboxen ist im An-
für viele genetische Verfahren: Klonierung von DNA-
Fragmenten, Southern-Blot-Analyse, PCR-Analyserung.
schluss an das Inhaltsverzeichnis gegeben, sodass ein
Methode: DNA liegt im Zellkern als extrem langes, aber Überblick über die wichtigsten methodischen An-
sehr dünnes Fadenmolekül vor. sätze so leicht möglich ist.

Im Glossar sind die wichtigsten Fachbegriffe zusam-


mengestellt und kurz in ihrem sprachlichen Ursprung
erklärt. Es folgt oft ein Verweis auf die Textstelle, an
der der Begriff fachlich erläutert bzw. eine Definition
gegeben wird. Dieses Verfahren erscheint besser ge-
eignet als eine kurzgefasste Wiederholung. Es erlaubt
eine schnelle Orientierung über wesentliche Begriffe
und ihre Bedeutung.
Das Sachverzeichnis ist bewusst sehr ausführlich ge-
halten und soll das Lehrbuch auch zum Nachschlagen
geeignet machen. Die zahlreichen Querverweise im
laufenden Text dienen dazu, besprochene Begriffe
und Fragen, die auch in anderem Zusammenhang re-
levant sind oder vertieft werden, schnell aufzufinden.
XXI

Inhaltsverzeichnis

1 Was ist Genetik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


1.1 Gegenstand der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.1.1 Kurzer Abriss der Geschichte der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.1.2 Das Genom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.3 Der Genbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.1.4 Nomenklatur-Regeln in der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.2 Konstanz und Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
1.2.1 Umweltbedingte Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.2.2 Genetisch bedingte Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.3 Theoriebildung in der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
1.4 Genetik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Technikbox 1: Isolierung genomischer DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Technikbox 2: Gelelektrophorese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

2 Molekulare Grundlagen der Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21


2.1 Funktion und Struktur der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.1.1 DNA als Träger der Erbinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.1.2 Chemische Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.1.3 Konfiguration der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.1.4 Physikalische Eigenschaften der Nukleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.2.1 Semikonservative Replikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.2.2 Mechanismen der Replikation bei Prokaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.2.3 Mechanismen der Replikation bei Eukaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Technikbox 3: Renaturierungskinetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Technikbox 4: Polymerasekettenreaktion (PCR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Technikbox 5: Markierung von DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Technikbox 6: Klassische DNA-Sequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Technikbox 7: Sequenzierung der nächsten Generation (next generation sequencing) . . . . . . . . . . . . . . . 53

3 Verwertung genetischer Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55


3.1 DNA, genetische Information und Informationsübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
3.2 Der genetische Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.2.1 Die Entschlüsselung des Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.2.2 Beweis der Colinearität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
3.2.3 Allgemeingültigkeit des Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
3.3 Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.3.1 Allgemeiner Mechanismus der Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.3.2 Transkription bei Prokaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.3.3 Transkription Protein-codierender Gene bei Eukaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.3.4 Reifung eukaryotischer mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
3.3.5 Spleißen eukaryotischer prä-mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.3.6 Editieren eukaryotischer mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
3.4 Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
3.4.1 Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3.4.2 Elongation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
3.4.3 Termination und Abbau der mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.5 RNA-codierende Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.5.1 5,8S-, 18S- und 28S-rRNA-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.5.2 5S-rRNA-Genfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
3.5.3 tRNA-Genfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
XXII Inhaltsverzeichnis

3.5.4 Katalytische RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100


Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Technikbox 8: Isolierung von mRNA, cDNA-Synthese und RACE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Technikbox 9: In-vitro-RNA-Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Technikbox 10: RNA-Sequenzierung der nächsten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

4 Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109


4.1 Bakterien als genetisches Modellsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
4.2 Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
4.2.1 F-Plasmid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
4.2.2 Andere Plasmide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
4.3 Bakteriophagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
4.3.1 Vermehrungszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
4.3.2 Bakteriophage λ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
4.3.3 Andere Bakteriophagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
4.4 Transformation und Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.4.1 Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.4.2 Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
4.5 Genstruktur und Genregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
4.5.1 Das lac-Operon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
4.5.2 Das Operonmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
4.5.3 Das trp-Operon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
4.5.4 RNA-codierende Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.5.5 Kommunikation in Bakterien: Quorum sensing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
4.6 Regulation im Genom des Phagen λ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
4.6.1 Regulation des lytischen Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
4.6.2 Regulation des lysogenen Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
4.6.3 DNA-Protein-Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Technikbox 11: Klonierung von DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Technikbox 12: Two-Hybrid-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Technikbox 13: Restriktionsanalyse von DNA und Southern-Blotting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Technikbox 14: Northern-Blotting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

5 Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165


5.1 Die eukaryotische Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
5.1.1 Die Entdeckung der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
5.1.2 Die Struktur der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
5.1.3 Chloroplasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
5.1.4 Mitochondrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
5.1.5 Der Zellkern und seine dynamische Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
5.2 Der Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
5.2.1 Kontrolle des Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
5.2.2 Verschiedene Wege zum programmierten Zelltod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
5.2.3 Genetik des Alterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
5.3 Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
5.3.1 Hefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
5.3.2 Der Schimmelpilz Neurospora crassa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
5.3.3 Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
5.3.4 Der Fadenwurm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
5.3.5 Die Taufliege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
5.3.6 Der Zebrafisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
5.3.7 Die Hausmaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
5.3.8 Die Ratte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
Technikbox 15: Autoradiographie an Geweben, Zellen und Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
XXIII
Inhaltsverzeichnis

6 Eukaryotische Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213


6.1 Das eukaryotische Chromosom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
6.1.1 Chromosomen als Träger der Erbanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
6.1.2 Morphologie der Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
6.1.3 Centromer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
6.1.4 Telomer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
6.2 Organisation der DNA im Chromosom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
6.2.1 Chromosomale Proteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
6.2.2 Nukleosomen und Chromatinstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
6.3 Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
6.3.1 Mitose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
6.3.2 Meiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
6.3.3 Rekombination bei Eukaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
6.3.4 Genkonversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
6.4 Variabilität der Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
6.4.1 Polytäne Chromosomen (Riesenchromosomen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
6.4.2 Lampenbürstenchromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
6.4.3 Überzählige und keimbahnlimitierte Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
6.4.4 Geschlechtschromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Technikbox 16: Chromosomenbänderung und chromosome painting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Technikbox 17: Homologe Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

7 Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261


7.1 Protein-codierende Gene (I): Einzelkopiegene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
7.1.1 Fibroin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
7.1.2 Proopiomelanocortin – ein polycistronisches Gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
7.1.3 Titin – ein Riesengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
7.2 Protein-codierende Gene (II): Multigenfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
7.2.1 Globin-Genfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
7.2.2 Histon-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
7.2.3 Tubulin-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
7.2.4 Kristallin-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
7.3 Regulation eukaryotischer Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
7.3.1 Promotor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
7.3.2 Transkriptionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
7.3.3 Enhancer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
7.3.4 Locus-Kontrollregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Technikbox 18: Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen (I): Gel-Retentions-Assay . . . . . . . . . . . . . 289
Technikbox 19: Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen (II): ChIP-chip und ChIP-Seq . . . . . . . . . . . 290

8 Epigenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
8.1 Chromatin und epigenetische Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
8.1.1 Euchromatin und Heterochromatin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
8.1.2 Methylierung der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
8.1.3 Modifikation der Histone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
8.2 Regulatorische RNAs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
8.2.1 Mechanismen der RNA-Interferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
8.2.2 Kleine interferierende RNA (siRNA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
8.2.3 Mikro-RNA (miRNA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
8.2.4 Piwi-interagierende RNA (piRNA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
8.2.5 Viroide: kleine infektiöse RNA-Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
8.2.6 Lange, nicht-codierende RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
8.2.7 Das Geheimnis der Paramutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
8.3 Dosiskompensation der Geschlechtschromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
8.3.1 Dosiskompensation bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
XXIV Inhaltsverzeichnis

8.3.2 Dosiskompensation bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318


8.4 Epigenetik und genetische Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
8.4.1 Was ist genetische Prägung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
8.4.2 Mechanismen der genetischen Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
8.4.3 Genetische Prägung und Umweltfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Technikbox 20: RNAi: spezifische Inaktivierung von Transkripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
Technikbox 21: Genomweite Analyse von DNA-Methylierungsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

9 Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339


9.1 Transposons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
9.1.1 Prokaryotische Transposons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
9.1.2 Eukaryotische Transposons (mit terminalen invertierten Wiederholungseinheiten) . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
9.2 Retroviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
9.2.1 Genomstruktur von Retroviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
9.2.2 Humanes Immundefizienz-Virus (HIV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
9.2.3 Retroelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
9.2.4 Mobile Elemente in Introns der Gruppe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
9.3 Umlagerung von DNA-Fragmenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
9.3.1 Kerndualismus: Mikro- und Makronuklei in einer Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
9.3.2 Chromatinelimination und -diminution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
9.3.3 DNA-Amplifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
9.3.4 Wechsel des Paarungstyps bei Hefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
9.3.5 Oberflächenantigene von Trypanosoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
9.4 Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
9.4.1 Funktion des Immunsystems der Säuger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
9.4.2 Immunglobulin-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
9.4.3 Klassenwechsel, Hypermutation und Genkonversion bei Immunglobulin-Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
Technikbox 22: Verwendung von Balancer-Chromosomen (Drosophila) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
Technikbox 23: P-Element-Mutagenese (Drosophila) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Technikbox 24: Enhancer-Trap-Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398

10 Veränderungen im Genom: Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399


10.1 Klassifikation von Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
10.2 Chromosomenmutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
10.2.1 Numerische Chromosomenaberrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
10.2.2 Polyploidie in der Pflanzenevolution und Pflanzenzucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
10.2.3 Strukturelle Chromosomenaberrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410
10.3 Spontane Punktmutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
10.3.1 Fehler bei Replikation und Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
10.3.2 Spontane Basenveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
10.3.3 Dynamische Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
10.4 Induzierte Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
10.4.1 Mutationen durch ultraviolette Strahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
10.4.2 Mutagenität ionisierender Strahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
10.4.3 Chemische Mutagenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424
10.5 Mutagenität und Mutationsraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
10.5.1 Mutagenitätstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
10.5.2 Mutationsraten und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
10.6 Reparaturmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
10.6.1 Reparatur UV-induzierter DNA-Schäden durch Photolyasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
10.6.2 Exzisionsreparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
10.6.3 Fehlpaarungsreparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
10.6.4 Homologe Rekombinationsreparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
10.6.5 Nicht-homologe Verbindung von DNA-Enden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
10.6.6 SOS-Rekombinationsreparatur oder postreplikative Reparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
XXV
Inhaltsverzeichnis

10.7 Ortsspezifische Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446


10.7.1 Gentechnische Modifikationen von Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
10.7.2 Gentechnische Modifikationen von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
Technikbox 25: SSCP-Analyse (single strand conformation polymorphism-Analyse) . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Technikbox 26: Transgene Mäuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
Technikbox 27: Geninaktivierung bei Mäusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458

11 Formalgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
11.1 Grundregeln der Vererbung: die Mendel’schen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461
11.2 Statistische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
11.2.1 Mathematische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
11.2.2 Die χ2-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
11.3.1 Unvollständige Dominanz und Codominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
11.3.2 Multiple Allelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
11.3.3 Der Ausprägungsgrad von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
11.3.4 Polygene Vererbung – Genetik quantitativer Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481
11.3.5 Pleiotropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
11.4.1 Geschlechtsgebundene Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
11.4.2 Kopplung von Merkmalen auf autosomalen Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
11.4.3 Klassische Dreipunkt-Kreuzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
11.4.4 Moderne genomweite Kartierung mit Mikrosatelliten- und SNP-Markern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
11.4.5 Kartierung von quantitativen Merkmalen und Modifikator-Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496
11.5 Populationsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
11.5.1 Hardy-Weinberg-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
11.5.2 Genetische Zufallsveränderungen (random drift) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502
11.5.3 Natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
11.5.4 Migration und Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
11.6 Evolutionsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
11.6.1 Der letzte gemeinsame Vorfahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
11.6.2 Genetische Aspekte der Artbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
Technikbox 28: Kartierung genetischer Merkmale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
Technikbox 29: Immunologische Nachweismethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

12 Entwicklungsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525
12.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
12.2 Entwicklungsgenetik der Pflanze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
12.2.1 Musterbildung in der frühen Embryogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
12.2.2 Wurzel-, Spross- und Blattentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
12.2.3 Blütenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534
12.3 Entwicklungsgenetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
12.3.1 Embryonalentwicklung von C. elegans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
12.3.2 Organentwicklung bei C. elegans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544
12.4 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
12.4.1 Keimbahnentwicklung bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
12.4.2 Der frühe Embryo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
12.4.3 Ausbildung der anterior-posterioren Körperachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549
12.4.4 Ausbildung der dorso-ventralen Körperachse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
12.4.5 Segmentierung bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
12.4.6 Imaginalscheiben, Metamorphose und Organentwicklung bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
12.5 Entwicklungsgenetik bei Fischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
12.5.1 Allgemeine Embryonalentwicklung des Zebrafisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
12.5.2 Frühe Embryonalentwicklung des Zebrafisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567
12.5.3 Organentwicklung bei Zebrafischen: Herz und Auge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
XXVI Inhaltsverzeichnis

12.6 Entwicklungsgenetik bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570


12.6.1 Embryonalentwicklung von Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
12.6.2 Entwicklung von Zwillingen beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
12.6.3 Teratogene Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
12.6.4 Organentwicklung bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
12.6.5 Keimzellentwicklung und Geschlechtsdeterminierung bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
12.7 Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
12.7.1 Totipotenz von Zellkernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
12.7.2 Embryonale Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
12.7.3 Somatische Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
Technikbox 30: In-situ-Hybridisierung von Nukleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
Technikbox 31: Morpholinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594

13 Genetik menschlicher Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595


13.1 Methoden der Humangenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
13.1.1 Molekulare Diagnostik, Familienberatung und Reihenuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598
13.1.2 Zwillingsforschung und Geschwisterpaar-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
13.1.3 Stammbaumforschung und Kartierung von Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
13.1.4 Genetische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609
13.2 Chromosomenanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
13.2.1 Numerische Chromosomenanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
13.2.2 Strukturelle Chromosomenanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615
13.3 Monogene Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616
13.3.1 Autosomal-rezessive Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
13.3.2 Autosomal-dominante Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
13.3.3 X-chromosomale Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
13.3.4 Y-chromosomale Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
13.3.5 Mitochondriale Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636
13.4 Komplexe Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
13.4.1 Gene und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
13.4.2 Asthma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
13.4.3 Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
13.5 Genbasierte Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
13.5.1 Gentechnische Aspekte bei der Herstellung von Medikamenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
13.5.2 Pharmakogenetik, Pharmakogenomik und personalisierte Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
13.5.3 Somatische Gentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657
13.5.4 Genetik und Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
Technikbox 32: Differenzielle Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
Technikbox 33: Gezieltes Editieren von Genomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664

14 Verhaltens- und Neurogenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667


14.1 Visuelles System und endogene Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
14.1.1 Genetik des visuellen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
14.1.2 Zugverhalten bei Vögeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
14.1.3 Zirkadiane Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
14.1.4 Schlafstörungen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683
14.2 Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
14.2.1 Lernverhalten von Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
14.2.2 Lernverhalten bei Mäusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
14.2.3 Kognitive Störungen bei Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
14.3 Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
14.3.1 Angst und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
14.3.2 Suchtkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699
14.3.3 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
14.4 Neurologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
XXVII
Inhaltsverzeichnis

14.4.1 Rett-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710


14.4.2 Migräne und Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
14.4.3 Autismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
14.5 Neurodegenerative Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717
14.5.1 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718
14.5.2 Alzheimer’sche Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
14.5.3 Parkinson’sche Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
Technikbox 34: In-vivo-Reportergen: das grün-fluoreszierende Protein (GFP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
Technikbox 35: Mikroarrays und DNA-Chips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734

15 Genetik und Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737


15.1 Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738
15.1.1 Menschen und Affen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739
15.1.2 Out of Africa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
15.1.3 Neandertaler: ausgerottet oder assimiliert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752
15.1.4 Die Unterschiedlichkeit moderner Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
15.1.5 Die bunte Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764
15.2 Der Mensch und sein Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768
15.2.1 Evolution des menschlichen Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768
15.2.2 Genetische Aspekte zur Evolution der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
15.2.3 Genetische Aspekte zu aggressivem Verhalten des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777
15.2.4 Genetische Aspekte der Geruchswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
15.2.5 Genetische Aspekte des Bewusstseins am Beispiel der Sehbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
15.3 Quo vadis, Homo sapiens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791
Antworten zu den Übungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792
Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799
Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
XXIX

Übersicht über die Technikboxen

Technikbox 1:
Isolierung genomischer DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Technikbox 2:
Gelelektrophorese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Technikbox 3:
Renaturierungskinetik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Technikbox 4:
Polymerasekettenreaktion (PCR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
Technikbox 5:
Markierung von DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Technikbox 6:
Klassische DNA-Sequenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Technikbox 7:
Sequenzierung der nächsten Generation (next generation sequencing) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Technikbox 8:
Isolierung von mRNA, cDNA-Synthese und RACE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Technikbox 9:
In-vitro-RNA-Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Technikbox 10:
RNA-Sequenzierung der nächsten Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Technikbox 11:
Klonierung von DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Technikbox 12:
Two-Hybrid-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Technikbox 13:
Restriktionsanalyse von DNA und Southern-Blotting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Technikbox 14:
Northern-Blotting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Technikbox 15:
Autoradiographie an Geweben, Zellen und Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
Technikbox 16:
Chromosomenbänderung und chromosome painting . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Technikbox 17:
Homologe Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
Technikbox 18:
Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen (I): Gel-Retentions-Assay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Technikbox 19:
Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen (II): ChIP-chip und ChIP-Seq . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
Technikbox 20:
RNAi: spezifische Inaktivierung von Transkripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
Technikbox 21:
Genomweite Analyse von DNA-Methylierungsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Technikbox 22:
Verwendung von Balancer-Chromosomen (Drosophila) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396
Technikbox 23:
P-Element-Mutagenese (Drosophila) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397
Technikbox 24:
Enhancer-Trap-Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
Technikbox 25:
SSCP-Analyse (single strand conformation polymorphism-Analyse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456
Technikbox 26:
Transgene Mäuse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
XXX Übersicht über die Technikboxen

Technikbox 27:
Geninaktivierung bei Mäusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458
Technikbox 28:
Kartierung genetischer Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
Technikbox 29:
Immunologische Nachweismethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
Technikbox 30:
In-situ-Hybridisierung von Nukleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593
Technikbox 31:
Morpholinos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594
Technikbox 32:
Differenzielle Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
Technikbox 33:
Gezieltes Editieren von Genomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
Technikbox 34:
In-vivo-Reportergen: das grün-fluoreszierende Protein (GFP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
Technikbox 35:
Mikroarrays und DNA-Chips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
1 1

Was ist Genetik?

Assyrisches Relief aus der Zeit Assurnassipal des Zweiten (883–859 v. Chr.). Assyrer beim künstlichen Bestäuben von
Dattelpalmen. (Abguss im Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung, Gatersleben; Foto: U. Wobus,
Gatersleben)

1.1 Gegenstand der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2


1.1.1 Kurzer Abriss der Geschichte der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.1.2 Das Genom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1.3 Der Genbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
1.1.4 Nomenklatur-Regeln in der Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.2 Konstanz und Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8


1.2.1 Umweltbedingte Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1.2.2 Genetisch bedingte Variabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

1.3 Theoriebildung in der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1.4 Genetik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
2 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

Überblick
1
Vergleicht man verschiedene Organismen mit- ren (genauer: Desoxyribonukleinsäure) wur- ser Formulierung wird deutlich, dass die Frage
einander, lassen sich zwei wichtige biologische den schon im Jahr 1871 von Friedrich Miescher »Was ist ein Gen?« auch heute noch nur unge-
Eigenschaften erkennen: Einerseits unterschei- isoliert, ohne dass damals ihre Bedeutung als nau beantwortet werden kann. War es zu-
den sich Organismen in ihrer Gestalt so deut- Träger der Erbinformation erkannt wurde. Die nächst eine »Einheit«, die die Information für
lich voneinander, dass sie in verschiedene sys- molekulare Genetik beginnt mit der Charakte- bestimmte Eigenschaften zum Inhalt hatte, so
tematische Gruppen eingeteilt werden. Die risierung der Desoxyribonukleinsäure als Dop- konkretisierte sich das in der Blütezeit der bio-
wesentlichen Unterschiede zwischen diesen pelhelix durch Watson und Crick im Jahr 1953. chemisch orientierten Genetik (etwa in den
Gruppen sind offensichtlich erblich festgelegt, Diese Struktur ergab sofort Hinweise auf den 1960er- und 1970er-Jahren) in der griffigen
da sie sich mehr oder weniger unverändert auf Mechanismus ihrer Verdoppelung (Replika- Formel »ein Gen – ein Enzym«. Aufgrund heu-
die folgenden Generationen übertragen. An- tion) bei der Zellteilung. In der Folgezeit tiger Kenntnisse wissen wir aber, dass die
dererseits unterscheiden sich aber auch die wurde in vielen Labors untersucht, wie die mRNA vieler Gene nach der Transkription noch
einzelnen Individuen innerhalb einer Organis- Information abgelesen wird: Die Information vielfältig verändert wird und damit oft nicht
mengruppe voneinander. Diese Unterschiede wird zunächst in eine einzelsträngige Form nur für ein einziges Protein oder Enzym co-
reflektieren kleinere Variationen in der geneti- umgeschrieben (Transkription) und danach in diert. Verschiedene regulatorische Elemente
schen Gesamtausstattung und entsprechend Proteine übersetzt (Translation). Die Veröffent- oberhalb und unterhalb der codierenden Regi-
unterschiedliche Antworten auf Umweltreize. lichung der Gesamtheit aller menschlichen onen sind für die richtige zeitlich-räumliche
Die Frage nach der individuellen Variabilität Erbanlagen (Genom) durch weltweite For- Ausprägung eines Gens wesentlich verant-
lässt sich experimentell überprüfen und ist die schergruppen im Jahr 2004 markiert einen wortlich. Diese Regionen werden im Allgemei-
Grundlage genetischer Forschung. weiteren Höhepunkt genetischer Forschung. nen neben der eigentlichen codierenden Regi-
Die Genetik wurde durch die Untersu- Die Genome höherer Organismen unter- on zu einem Gen dazugezählt. Durch die Ent-
chungen des Augustinerpaters Gregor Mendel scheiden sich im DNA-Gehalt sehr. Das liegt deckung vielfältiger regulatorischer Funktio-
in der Mitte des 19. Jahrhunderts begründet. zum großen Teil an den Unterschieden in der nen von kleinen RNA-Molekülen wird der
Zwar wurden die Chromosomen im Jahr 1888 Menge von Wiederholungssequenzen und we- Genbegriff heute wieder erweitert.
von Heinrich Wilhelm Waldeyer als Bestandtei- niger an den Unterschieden in der Zahl Infor-
le des Zellkerns erkannt, aber die Nukleinsäu- mations-codierender Einheiten (Gene). An die-

1.1 Gegenstand der Genetik lich ausgefallen, natürlich auch in Abhängigkeit von den zur
Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten. So stellte man
Der Begriff Genetik ist aus dem Griechischen γενετική τέχνη sich noch im 17. Jahrhundert vor, dass eine der Geschlechtszellen
(sprich: genetiké téchne) hergeleitet und lässt sich am treffends- – Samen- oder Eizelle – den gesamten Organismus in voll-
ten mit »Wissenschaft von der Erzeugung« übersetzen. Der Be- endeter, aber natürlich stark verkleinerter Form enthielte. Einen
griff »Genetik« wurde 1905 von William Bateson geprägt (zitiert solchen Homunculus, den man im menschlichen Sperma damals
nach Haynes 1998). Die Fragestellungen der Genetik gehen zwar zu erkennen glaubte, zeigt . Abb. 1.1.
von der Aufklärung der Regeln und Mechanismen der Verer- Das Wissen um die Vererbung von Eigenschaften ist aber
bung aus, haben aber heute darüber hinaus auch das Ziel, die keine Erfindung der Neuzeit. Wahrscheinlich haben bereits die
Unterschiede in der genetischen Ausstattung verschiedener frühesten Kulturen, die Land- und Ackerbau betrieben haben,
Organismen funktionell zu erklären (funktionelle Genomfor- ihren Vorteil aus der Erkenntnis gezogen, dass bestimmte
schung); eine besondere Dynamik gewinnt die Genetik heute nützliche Eigenschaften durch Züchtung von Pflanzen und
aus der Möglichkeit, auch das Erbgut bereits ausgestorbener Ar- Tieren, also durch Vererbung, über Generationen hinweg er-
ten zu untersuchen (Evolutionsgenetik; 7 Kap. 15). Damit steht halten bleiben können. Die meisten unserer Haustiere haben
die Genetik heute im Schnittpunkt anderer biologischer Diszi- ihre Eigenschaften erst in jahrhundertelanger Züchtung erhal-
plinen (wie Zellbiologie, Entwicklungsbiologie oder Molekular- ten, und ein beträchtlicher Teil unserer wichtigsten Kultur-
biologie) und beeinflusst mit ihren methodischen Ansätzen diese pflanzen stammt von den Ackerbau betreibenden Indianern
Bereiche. Als universelle biologische Disziplin findet sie außer- Nord- und Mittelamerikas, aus asiatischen Anbaugebieten so-
dem in allen Organismenklassen Anwendung, bei Mikroorga- wie  dem Mittelmeerraum (Vavilov 1928). Zeugnisse davon
nismen (z. B. Bakterien und Hefen) genauso wie bei Pflanzen, finden sich etwa in der assyrischen Darstellung von Gärt-
Tieren und Menschen. Gerade in den letzten Jahren war die nern,  die  Dattelpalmen bestäuben (siehe Foto am Anfang des
Genetik wesentlich daran beteiligt, neue Technologien zu ent- Kapitels).
wickeln, die unter den Stichworten der Gen- bzw. Biotechnologie Die gleiche Bestäubungstechnik hat es 2500 Jahre später
zusammengefasst werden können. Gregor Mendel (1822–1884; . Abb. 1.2a) ermöglicht, die
Grundregeln der Vererbung zu verstehen. Er hat erkannt, dass
einzelne Eigenschaften gesetzmäßig vererbt werden (7  Abschn.
1.1.1 Kurzer Abriss der Geschichte der Genetik 11.1); sein Vortrag vor dem Naturforschenden Verein in Brünn
(1865, publiziert 1866) blieb aber lange Zeit unbeachtet. Erst im
Die Fragen nach dem »Woher« und »Wohin« gehören sicherlich Jahr 1900 wurden die Arbeiten Mendels durch Carl Correns,
zu den Grundkonstanten des menschlichen Wesens. Allerdings Hugo de Vries und Erich von Tschermak-Seysenegg wieder-
sind die Antworten darauf zu verschiedenen Zeiten unterschied- entdeckt.
1.1 · Gegenstand der Genetik
3 1
Mechanismen der Vererbung haben Walter S. Sutton (1903) und
Theodor Boveri (1904) in der Chromosomentheorie der Ver-
erbung zusammengefasst. Sie besagt, dass sich die materiellen
Träger der Vererbung im Zellkern (lat. nucleus) befinden; die »an-
färbbaren Kernkörperchen« werden seit 1888 als Chromosomen
bezeichnet (Heinrich Wilhelm Waldeyer); sie werden in 7 Kap. 6
ausführlich besprochen (siehe aber auch Vererbung der Chloro-
plasten und Mitochondrien, 7 Abschn. 5.1.3 und 7 Abschn. 5.1.4).
Ein erster, sehr abstrakter Genbegriff wurde von Wilhelm
Johannsen 1909 geprägt und beschrieb zunächst nicht viel mehr
als eine vererbbare Eigenschaft (ein »Etwas«), ohne dafür eine
materielle Basis zu kennen. In der Zeit zwischen 1910 und 1915
konnte Thomas Hunt Morgan (1866–1945) durch seine Arbeiten
an der Taufliege Drosophila zeigen, dass Gene in linearer Weise
auf Chromosomen angeordnet sind. Er entdeckte dabei die ge-
schlechtsgekoppelte Vererbung bei Drosophila und beschrieb das
Phänomen der Rekombination von Chromosomen (7 Abschn.
6.3.3), womit er die relativen Positionen verschiedener Gene auf
Drosophila-Chromosomen feststellen konnte (Nobelpreis 1933).
Sein Schüler Hermann Joseph Muller (1890–1967) setzte die
Arbeiten an Drosophila fort und erkannte zunächst die Mög-
lichkeiten spontaner Veränderungen des Erbguts (Mutationen;
7 Kap. 10); später induzierte er Mutationen durch Röntgenstrah-
len (Nobelpreis 1956). Die verschiedenen (mutierten) Formen
eines Gens werden als Allele bezeichnet.
Aus Zellkernen isolierte und charakterisierte Friedrich
Miescher (1871) in seinem Labor im Tübinger Schloss die Des-
oxyribonukleinsäure als chemische Substanz (Abk.: DNS; es hat
sich aber auch im Deutschen inzwischen die englische Variante
»DNA« [für deoxyribonucleic acid] als Abkürzung durchgesetzt).
Die zweite wichtige Nukleinsäure, die Ribonukleinsäure (RNS;
. Abb. 1.1 Homunculus, den man früher im engl. Abk.: RNA, für ribonucleic acid), wurde 1891 von Albrecht
menschlichen Sperma zu sehen glaubte;
Zeichnung von Hartsoeker aus seinem Essay de
Kossel isoliert (dafür erhielt er 1910 den Nobelpreis für Medi-
dioptrique (1694). (Nach Hilscher 1999) zin). Es blieb aber dennoch lange Zeit unklar, ob Proteine oder
Nukleinsäuren die Träger der Erbinformation sind. Erst durch
die Arbeiten von Oswald Theodore Avery (1877–1955) konnte
C An der Wiederentdeckung der Mendel’schen Gesetze war diese Frage anhand von Transformationsexperimenten an Pneu-
aber offensichtlich auch der Bruder von Erich von Tschermak- mokokken geklärt werden. Die Strukturanalyse der DNA als
Seysenegg, Armin, wesentlich beteiligt, auch wenn das aus Doppelhelix durch James Watson, Francis Crick und Maurice
den veröffentlichten Publikationen nicht hervorgeht. Neuere Wilkins im Jahr 1953 schließt diese Frühphase der modernen
Untersuchungen des Briefwechsels der beiden Brüder zeigen Genetik ab (. Abb. 1.2b); ihre Arbeiten wurden 1962 mit dem
aber deutlich, dass vor allem statistische Analysen von Armin Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.
durchgeführt wurden; Armin von Tschermak-Seysenegg war Die DNA ist ein langes, fadenförmiges, spiralisiertes Doppel-
Physiologe und ab 1906 Inhaber des Lehrstuhls für Physio- molekül, wobei jede Hälfte aus einem Grundgerüst aus sich
logie an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Es ist abwechselnden Zucker- und Phosphat-Resten aufgebaut ist. Ver-
also anzunehmen, dass auch physiologisches Gedankengut bunden sind die beiden Grundgerüste durch organische Basen;
in die Interpretation der Mendel’schen Wiederentdeckung die Reihenfolge (Sequenz) dieser Basen beinhaltet die eigentliche
eingeflossen ist. Außerdem geht aus dem Briefwechsel her- genetische Information. Dieser Aufbau lässt intuitiv erahnen,
vor, dass alle vier Wiederentdecker Mendels untereinander wie die DNA bei der Zellteilung verdoppelt wird (Replikation;
Kontakt hatten, sodass also nicht von einer »unabhängigen« 7 Abschn. 2.2): Dabei trennen sich die beiden Hälften, und an
Wiederentdeckung gesprochen werden kann (Simunek et al. jedem dieser Elternstränge wird ein spiegelbildlicher neuer
2011). Strang synthetisiert – womit dann aus einer Doppelhelix zwei
identische neue Helices werden. Diese semikonservative Form
Die Auswirkungen von Veränderungen in den erblichen Eigen- der Replikation wurde durch die eleganten Experimente von
schaften auf ganze Populationen beschrieben dann Godfrey Matthew Meselson und Franklin W. Stahl im Jahr 1958 auch
Harold Hardy und Wilhelm Robert Weinberg 1908 in dem tatsächlich bestätigt. In der Folgezeit wurde in vielen Labors
nach ihnen benannten Gesetz (7 Abschn. 11.5.1). Die zellulären untersucht, wie die Information der DNA abgelesen wird: Die
4 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

a b

. Abb. 1.2 a Johann Gregor Mendel (Augustinerpater und Begründer der modernen Genetik, 1822–1884). b James Watson und Francis Crick vor dem
DNA-Modell

Information wird zunächst in mRNA (engl. messenger RNA; rase chain reaction, PCR) durch Kary Mullis im Jahr 1986 er-
dt. Boten-RNA) umgeschrieben (Transkription) und danach möglichte die Vervielfältigung von DNA außerhalb von Zellen
in Proteine übersetzt (Translation). Diese Übersetzungsregeln und revolutionierte damit die molekulare Genetik; Mullis erhielt
von der DNA/RNA-Sprache (Nukleotidsequenz) in die Sprache dafür 1993 den Nobelpreis für Chemie.
der Proteine (Aminosäuresequenz) wird als »genetischer Code« In der Mitte der 1970er-Jahre wurden durch Allan Maxam
bezeichnet (7 Abschn. 3.2); er wurde in den 1960er-Jahren durch und Walter Gilbert (1977) sowie Frederick Sanger (1977) ver-
Marshall Nirenberg, Heinrich Matthaei und Severo Ochoa schiedene Methoden entwickelt, um die Reihenfolge (Sequenz)
geknackt (Martin et al. 1962; Nirenberg erhielt dafür 1968 der Basen in der DNA zu ermitteln; Gilbert und Sanger erhielten
den Nobelpreis für Medizin). Lange Zeit galt die Richtung des dafür 1980 den Nobelpreis für Chemie. Die rasche Entwicklung
Informationsflusses (DNA → RNA → Protein) als »Einbahn- der Technik der DNA-Sequenzierung und die Einführung von
straße«. Dieses »zentrale Dogma der Genetik« wurde 1970 um- automatisierten Verfahren ließ es Ende der 1980er-Jahre möglich
gestoßen, als David Baltimore über das Enzym Reverse Tran- erscheinen, die gesamten Erbanlagen (Genom) von Organismen
skriptase (aus RNA-Tumorviren) berichtete, das in der Lage ist, und sogar das menschliche Genom zu sequenzieren. In den USA
anhand einer RNA-Matrize DNA zu synthetisieren. Baltimore wurden das Department of Energy und die National Institutes of
erhielt dafür 1975 (im Alter von erst 37 Jahren) den Nobelpreis Health damit beauftragt, in drei 5-Jahresplänen von 1990 bis
für Medizin. 2005 das Humangenomprojekt durchzuführen. Aus der ameri-
Ein weiterer Meilenstein in der Genetik war 1967 die Ent- kanischen Initiative entwickelte sich ein weltweites Netz von Ge-
deckung von Enzymen, die die DNA an spezifischen Stellen nomforschern, die zunächst die Genome von Mikroorganismen
schneiden können (Restriktionsenzyme; Nobelpreis für Medizin sequenzierten. 1995 konnte die DNA des ersten Bakteriums
1978 an Werner Arber, Daniel Nathans und Hamilton Smith) – (Haemophilus influenzae) vollständig sequenziert werden. Den
mit Ligasen lassen sich DNA-Bruchstücke wieder verbinden. Für vorläufigen Höhepunkt erreichte die Initiative, als im Jahr 2001
diese Entdeckung und die Herstellung der ersten »Hybrid-DNA« zeitgleich die akademischen Institute (International Human
aus verschiedenen Organismen erhielt Paul Berg 1980 den Genom Consortium) und die private Firma Celera Genetics
Nobelpreis für Chemie. Ohne diese Befunde wäre in der Folge (Venter et al. 2001) einen ersten Entwurf für das menschliche
die Klonierung von Genen nicht möglich gewesen – über die Genom publizierten; die endgültige Sequenz wurde 2004 durch
erste künstliche Herstellung eines Plasmids, eines extrachromoso- das Internationale Humangenom-Sequenzierungskonsortium
malen DNA-Elementes von Bakterien (7 Abschn. 4.2), wurde von publiziert. Aber auch diese »endgültige« Sequenz enthält »nur«
Stanley Cohen, Annie Chang und Herbert Boyer 1973 berichtet. 99 % des Genoms; die Fehlerrate beträgt 1:100.000. Mit neuarti-
Die Entwicklung der Polymerasekettenreaktion (engl. polyme- gen Technologien (next generation sequencing) ist die vollständi-
1.1 · Gegenstand der Genetik
5 1
ge Sequenzierung des Genoms eines Säugetiers (auch des Men- disziplin – auch wegen ihrer Nähe zur Medizin – herauszuheben
schen) heute jedoch schon innerhalb weniger Tage möglich. und die wichtigsten Aspekte in einem eigenen Kapitel anzuspre-

*Die erstmalige Herstellung eines bakteriellen Genoms durch


vollständige chemische Synthese im Jahr 2010 durch die
chen (7 Kap. 13). Besonders interessant ist die Verhaltens- und
Neurogenetik, die in den letzten Jahren dank eines verbreiterten
Methodenspektrums sehr große Fortschritte gemacht hat (bei
Gruppe von Craig Venter stellt einen Meilenstein in der Syn-
Würmern, Fliegen und Mäusen – und zunehmend auch beim
thetischen Biologie dar. Die chemisch synthetisierte DNA
Menschen); sie wird in 7  Kap. 14 vorgestellt. Im Schlusskapitel
enthält »Wasserzeichen«, um die künstlich hergestellte DNA
(7  Kap. 15) sollen einige Aspekte zum Thema »Genetik und
von ihrer biologischen Vorlage zu unterscheiden. Der neue
Anthropologie« diskutiert werden.
Organismus (JCVI-syn1.0) hat die erwarteten phänotypi-
schen Eigenschaften und ist in der Lage, sich selbst zu repli-
zieren (Gibson et al. 2010).
1.1.2 Das Genom
> Die Fragestellungen der Genetik betreffen die Aufklärung
Die Gesamtheit der genetischen Informationen, die in einem
der Regeln und Mechanismen der Vererbung. Die Genetik
Virus, einer Bakterien- oder Protozoenzelle bzw. in der Keim-
hat aber heute auch das Ziel, die Unterschiede in der
zelle eines mehrzelligen Organismus enthalten ist, fasst man
genetischen Ausstattung verschiedener Organismen funk-
unter dem Begriff Genom zusammen. Das Genom von Organis-
tionell zu erklären. Die moderne Genetik beginnt mit
men mit einem Zellkern (Eukaryoten) unterscheidet sich in
den Arbeiten Gregor Mendels in der Mitte des 19. Jahr-
seiner Größe erheblich von dem prokaryotischer Organismen,
hunderts. Es folgte die Chromosomentheorie der Verer-
die keinen Zellkern besitzen. Besonders große Eukaryotengeno-
bung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Aufklärung der
me erreichen einen DNA-Gehalt, der um Größenordnungen
DNA-Doppelhelix-Struktur im Jahr 1953 durch Watson,
über demjenigen einer E.  coli-Zelle liegt (. Abb. 1.3). Das ist
Crick und Wilkins sowie die Entschlüsselung des mensch-
zunächst nicht besonders überraschend, da wir davon ausgehen,
lichen Genoms im Jahr 2004.
dass eukaryotische Organismen im Allgemeinen viel mannig-
Die rasante Entwicklung der Genetik in den vergangenen 100 faltiger und komplexer in ihren biologischen Funktionen sind
bis 150 Jahren hat natürlich auch zu verschiedenen Subdiszipli- als Prokaryoten. Die . Abb. 1.3 zeigt aber auch, dass die Genom-
nen geführt. Als Erstes müssen wir dabei die klassische Genetik größe nicht unbedingt mit einem höheren Komplexitätsgrad
nennen, die sowohl die Grundelemente der Vererbung (und korreliert: So weisen Salamander, manche Pflanzen, Farne und
deren materielle und räumliche Manifestation) erforscht als auch Moose einen höheren DNA-Gehalt auf als Säuger. Aber auch
die Mechanismen der Verteilung des Erbmaterials bei der Zell- innerhalb der verschiedenen Organismengruppen sind große
teilung (wobei hier schon wieder die Abgrenzung zur Cytogene- Variationsbreiten hinsichtlich der Genomgrößen zu beobachten.
tik schwierig wird, die sich vor allem mit der Untersuchung der So umfasst das Genom des Pufferfisches Fugu etwa 400  Mb
Chromosomen beschäftigt). Die klassische Genetik ist in vielen (Megabasen = 106 Basen), des Medaka-Fisches 700 Mb und des
Bereichen sehr mathematisch-statistisch orientiert; die meisten Zebrafisches 1,5 Gb (Gigabasen = 109 Basen).
dieser Aspekte werden im Kapitel Formalgenetik (7 Kap. 11) be-
sprochen. Methodisch ähnlich ist die Populationsgenetik
(7 Abschn. 11.5). Sie umfasst Erkenntnisse von genetischen Re-
*Umgekehrt könnte man zunächst einmal die Frage stellen,
wie viel DNA für die Existenz komplexer Organismen
geln, die für Gruppen von Individuen gelten, und wie sie sich auf mindestens erforderlich ist. Am einfachsten erscheint eine
die Zusammensetzung und die Evolution der Organismen aus- Antwort auf diese Frage, wenn man von der Anzahl der
wirken. Gene ausgeht, die notwendig ist, um einen Organismus ent-
Die molekulare Genetik untersucht die biochemischen stehen zu lassen, dessen Komplexität größer ist als die eines
Grundlagen der Vererbung. Sie will wissen, wie das Erbmaterial Einzellers. Die Genetik hat diese Fragen inzwischen weit-
molekular aufgebaut ist und wie es in einer Zelle und im Ge- gehend beantworten können, nicht zuletzt auch durch das
samtorganismus seine Funktion ausübt. Diese Aspekte sind Humangenomprojekt, das sich nicht nur zum Ziel gesetzt
Schwerpunkte der ersten Kapitel des Buches. Fragen, die sich auf hatte, das menschliche Erbgut zu entschlüsseln. Dabei
die genetischen Mechanismen der Zelldifferenzierung und der wurden auch die Genome einer ganzen Reihe von Modell-
Embryonalentwicklung von Organismen beziehen, werden der organismen sequenziert: So kam man bei Drosophila auf
Entwicklungsgenetik (7 Kap. 12) zugerechnet. Unter Epigene- eine Zahl von etwa 14.000 Genen, was gut mit Annahmen
tik (7 Kap. 8) hat man ursprünglich die Interpretation des Geno- übereinstimmt, die man aus den Mutagenese-Experimenten
typs zu einem bestimmten Phänotyp während der Embryonal- an Drosophila gewonnen hatte. Umgekehrt waren die ur-
entwicklung verstanden (Waddington 1940). Heute verstehen sprünglichen Schätzungen für die Zahl der menschlichen
wir darunter dauerhafte Veränderungen von Genaktivitäten, die Gene mit weit mehr als 100.000 viel zu hoch angesetzt. Man
über Generationen von Zellen (oder Organismen) hinweg auf- geht heute davon aus, dass das menschliche Genom etwa
rechterhalten werden, ohne dass die DNA selbst verändert wird. 30.000 Gene enthält. Es ist damit ähnlich groß wie die
Die Methoden in der Humangenetik unterscheiden sich in Genome der Maus, der Ratte und des Pufferfisches Fugu,
mancherlei Hinsicht von denen, die an Tieren und Pflanzen er- deren Genome ebenfalls sequenziert sind. Haben die
probt und gängig sind, daher ist es sicherlich sinnvoll, diese Teil- Genome der Säugetiere auch in etwa die gleiche Größen-
6 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

. Abb. 1.3 Es ist die Genomgröße verschiedener


1 Organismengruppen gezeigt. Dabei wird offen-
sichtlich, dass kein Zusammenhang zwischen der
Genomgröße und dem Komplexitätsgrad der
jeweiligen Organismengruppe besteht. Aus prak-
tischen Gründen sind Bakteriophagen und Viren
nicht dargestellt; ihre Genomgrößen liegen in der
Größenordnung von 103 bis 105 Basenpaaren.
Die Angabe erfolgt als C-Wert (in Pikogramm [pg]
DNA pro Zellkern) und bezieht sich auf den ein-
fachen (haploiden) Chromosomensatz. Zur Umrech-
nung in die heute übliche Angabe in Basenpaaren
(bp) gilt: 1 pg = 0,96 × 109 bp. (Nach Gregory 2005,
mit freundlicher Genehmigung der Nature Publish-
ing Group)

1012

ordnung von ca. 3 Gb, so umfasst das Genom von Fugu mal die Definition eines Gens als ein codierender Abschnitt ver-
etwa nur 15 % des Säugergenoms, das entspricht etwa nünftig (Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese). Die weitere Aufklä-
400 Mb. Das liegt daran, dass bei Fugu viele Wiederholungs- rung der molekularen Eigenschaften bestimmter DNA-Sequen-
sequenzen (repetitive Elemente) fehlen, die bei Säugetieren zen hat uns jedoch eine große Vielfalt der Eigenschaften von
vorhanden sind. Genen vor Augen geführt, die über die reine Protein-codierende
Funktion hinausgeht.
> Die Gesamtheit aller Erbinformationen wird als Genom Versuchen wir auf der Basis heutiger Kenntnisse genauer zu
bezeichnet. Während in Prokaryoten die Genomgröße umreißen, was wir unter einem Gen verstehen, so geraten wir
mit der Anzahl vorhandener Gene direkt in Beziehung sehr schnell in Schwierigkeiten. Relativ leicht zu treffen ist die
steht, besteht bei Eukaryoten eine große Diskrepanz Entscheidung, dass solche DNA-Sequenzen, die die codierenden
zwischen der Genomgröße und der Anzahl der bei ihnen Abschnitte flankieren und die zur Regulation erforderlich sind,
gefundenen Gene. Eukaryotische Genome sind in ihrem als Teil des jeweiligen Gens zu betrachten sind. Wie aber steht es
DNA-Gehalt wenigstens 10- bis 100-mal größer als auf- mit Regionen, die vielleicht Tausende von Basenpaaren oberhalb
grund der Anzahl der Gene zu erwarten wäre, da sie eine oder unterhalb eines Gens liegen, dessen Regulation aber mit
Vielzahl von repetitiven Elementen enthalten. beeinflussen?
Und wie verhält es sich bei gemeinsam regulierten und sehr
ähnlichen Genen, die auf dem Chromosom dicht beieinander
1.1.3 Der Genbegriff liegen? Am Beispiel der Globin-Gene (7 Abschn. 7.2.1), die als
Genfamilie bezeichnet werden, werden wir sehen, dass sie
Unser bisheriger Weg durch die Geschichte der Genetik hat uns zwar unzweifelhaft ein gemeinsames Merkmal beeinflussen,
stufenweise von der Entdeckung diskreter erblicher Merkmale nämlich die Synthese von Hämoglobin. Ebenso unzweifelhaft
durch Gregor Mendel über die Lokalisation der Gene in linearer sind aber die einzelnen Globin-Gene als voneinander getrennte
Folge auf den Chromosomen bis zur Aufklärung der moleku- Funktionseinheiten anzusehen, selbst wenn es sich, wie bei den
laren Identität derjenigen chemischen Verbindung geführt, zwei α-Globin-Genen des Menschen, um identische DNA-Se-
die für die Vererbung verantwortlich ist, nämlich der DNA. Die quenzen mit identischer Regulation handelt.
Abschnitte der DNA, die vor allem die Informationen für die Wir haben oben gesehen, dass in der Regel die Information
Aminosäuresequenz eines Proteins enthalten, werden als »codie- der DNA zuerst in mRNA übersetzt wird, bevor ein Protein ge-
rende« Abschnitte bezeichnet. Insofern erschien zunächst ein- bildet wird. Allerdings wird die mRNA schrittweise fertiggestellt
1.1 · Gegenstand der Genetik
7 1
und kann dabei mannigfaltigen Veränderungen unterworfen Es ist leicht zu sehen, dass ein allgemein verbindlicher Gen-
werden (7 Abschn. 3.3.4 und 7 Abschn. 3.3.5), sodass aus einem begriff, der die unterschiedlichen Eigenschaften des erblichen
Gen durchaus mehrere, sehr verschiedene Proteine entstehen Materials in ein einheitliches und leicht zu handhabendes
können. Auch hier greift die Definition »ein Gen – ein Enzym« Schema integriert, heute nicht mehr formuliert werden kann.
zu kurz. Die praktische Verwendung des Genbegriffs ist in Dennoch hat der Begriff des Gens seine Bedeutung in der Praxis
diesem Fall häufig historisch geprägt und von der Funktion der nicht verloren. Man wird den Begriff »Gen« jedoch jeweils sehr
gebildeten Proteine/Enzyme abhängig. gezielt im Kontext eines gerade zur Diskussion stehenden gene-
Wir werden bei der detaillierten Betrachtung von Bakterien, tischen Systems verwenden müssen, um ihn mit konkreten
aber auch von Mitochondrien der Eukaryoten und teilweise auch molekularen Vorstellungen füllen zu können. Dazu gehört, dass
bei dem Kerngenom von Eukaryoten sehen, dass die Informa- man den Begriff »Gen« in der Regel mit einer zusätzlichen Erklä-
tionen für verschiedene Proteine auf der DNA nicht immer rung versieht, z. B. ein »Protein-codierendes Gen«.
strikt getrennt sind, sondern auch teilweise überlappen bzw. auf
> Ein Gen ist durch seinen Platz auf dem Chromosom
den beiden gegenläufigen DNA-Strängen eines Chromosoms
definiert. Bestandteil eines Gens sind die Bereiche, die
unterschiedlich angeordnet sein können. In all diesen Fällen
gleichsinnig transkribiert werden, sowie die unmittel-
betrachten wir die Funktionseinheit jeweils als ein Gen und
bar oberhalb liegenden, zugehörenden Promotor-
sprechen entsprechend von »überlappenden Genen«, wobei die
Bereiche (7 Abschn. 4.5 und 7 Abschn. 7.3); das schließt
Leserichtung (»vorwärts« bzw. »rückwärts«) zusätzlich unter-
Spleißvariationen (7 Abschn. 3.3.5) und RNA-codierende
schieden werden kann.
Gene (7 Abschn. 3.5 und 7 Abschn. 8.2) mit ein.
Neben den Genen, die für Proteine codieren, gibt es aber
auch noch solche, die für funktionell wichtige RNA-Moleküle
codieren. Wir werden dafür im weiteren Verlauf viele Beispiele
kennenlernen; hier sei zunächst nur auf die Transfer-RNA 1.1.4 Nomenklatur-Regeln in der Genetik
(tRNA) und die ribosomale RNA (rRNA) hingewiesen (bei der
rRNA werden die Moleküle aufgrund ihrer Größe unterschie- In der Genetik hat sich in den letzten mehr als 100 Jahren – wie
den; aus historischen Gründen wird dabei die Svedberg-Ein- in jeder anderen wissenschaftlichen Disziplin – eine gemeinsame
heit  »S« verwendet, die eine Sedimentationskonstante aus der Sprache entwickelt, die das gegenseitige Verständnis erleichtern
Ultrazentrifugation darstellt). Beide Gruppen erfüllen wichtige und vereinfachen soll. Dabei ist allerdings die Gemeinsamkeit
Funktionen bei der Proteinsynthese (Translation, 7 Abschn. 3.4). der Sprache und Symbole oft in einzelnen »Untergruppen« grö-
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob wir etwa ßer als in der Gesamtheit der Genetik. Wir werden die Spezial-
die Hunderte oder Tausende von 5S-rRNA-Transkriptionsein- systeme der Nomenklatur bei den jeweiligen Modellorganismen
heiten als ein Gen oder als mehrere Gene betrachten wollen im Detail betrachten (7  Abschn. 5.3) und uns hier auf einige
(7 Abschn. 3.5.2). Der Ausfall einzelner solcher Transkriptions- allgemeine Prinzipien beschränken.
einheiten würde die Zellfunktionen nicht beeinträchtigen und Es hat sich in der Genetik eingebürgert, sich auf einen Wild-
damit zu keinem sichtbaren Effekt führen, den wir fordern müss- typ zu beziehen. Dazu dient die Wildform eines Organismus
ten, wenn wir die Korrelation Gen–Merkmal erhalten wollen, oder eine weitverbreitete Kulturform mit möglichst wenigen ge-
wie sie nach Mendel angebracht wäre. (Die Anzahl der 5S-rRNA- netischen Modifikationen, die zur Ausbildung von Krankheiten
Kopien im Genom dürfte im Übrigen durch normale zelluläre führen. Der Begriff »normal« sollte im genetischen Kontext ver-
Prozesse ohnehin ständigen Schwankungen unterworfen sein; mieden werden; mögliche Gegensatzbegriffe wie »unnormal«
7 Abschn. 3.5.1). oder »abnormal« beinhalten Abwertungen, die in Zeiten des
Weitere Probleme für die Anwendung des klassischen Gen- Nationalsozialismus das Entstehen des Holocaust erleichtert
begriffs werden durch die Frage aufgeworfen, ob man die ein- haben. In der Genetik verwenden wir stattdessen die Begriffe
zelnen Transkriptionseinheiten der rDNA in Eukaryoten, die »Variante« oder »Mutante« für Organismen, die nicht dem Wild-
ja meistens für drei einzelne RNA-Moleküle codieren, als Gene typ entsprechen. Als Symbol für die Wildtyp-Form eines Gens
betrachten möchte oder ob man jedes dieser Moleküle als eigenes wird oft das »+«-Zeichen verwendet.
Gen ansehen will. Sicherlich könnte man argumentieren, dass sie Eukaryotische Organismen haben in der Regel einen doppel-
vielleicht aus einem ursprünglichen Molekül hervorgegangen ten Chromosomensatz: einen mütterlichen und einen väter-
sind und dass lediglich die Weiterentwicklung der Funktion im lichen. Daraus ergibt sich, dass jedes Gen doppelt vorkommt
Ribosom zu einer Aufspaltung in mehrere (Teil-)Moleküle ge- (Ausnahmen: die meisten Gene auf den Geschlechtschromo-
führt hat. Dass solche Prozesse der Unterteilung von Genen noch somen der meisten männlichen Organismen; für Details und
weiter fortschreiten können, sehen wir am Beispiel der geteilten weitere Ausnahmen siehe 7  Abschn. 8.3.2). Wenn beide Gene
28S-rRNA von Insekten (7  Abschn. 3.5), die zunächst in zwei identisch sind, ist der entsprechende Organismus homozygot;
Hälften geschnitten, dann aber durch Basenpaarung wieder zu sind die Gene unterschiedlich, sprechen wir von heterozygoten
einer funktionellen Einheit zusammengefügt wird. Ein neues Organismen. In der oben eingeführten Nomenklatur für einen
Kapitel eröffnete in diesem Zusammenhang das Auffinden von Wildtyp schreiben wir deshalb »+/+« für Träger eines homo-
»kleinen« RNA-Molekülen, die oft als Gegenstrang-Sequenzen zygoten Merkmals. Bei Trägern heterozygoter Merkmale müssen
zu anderen Genen auftreten und deren Expression dauerhaft wir unterscheiden, ob sich das veränderte Merkmal beim Phäno-
modulieren (7 Abschn. 8.2). typ (d. h. im äußeren Erscheinungsbild) ausprägt oder nicht. Im
8 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

ersten Fall sprechen wir von einem dominanten Merkmal, das 1.2 Konstanz und Variabilität
1 in seiner allgemeinen Form mit einem Großbuchstaben darge-
stellt wird, also »A/+«. Wenn sich das Merkmal im heterozygoten Die Vielfalt der Erscheinungsformen der Organismen ist eine
Zustand nicht ausprägt, handelt es sich um ein rezessives Merk- Eigenschaft der Natur, die wir als selbstverständliche Grund-
mal, das allgemein durch einen kleingeschriebenen Buchstaben erscheinung des Lebens ansehen. Für den Biologen stellt diese
symbolisiert wird, also »a/+«. Die entsprechenden homozygoten Mannigfaltigkeit oder Variabilität der Formen und Eigenschaf-
Formen werden als »A/A« bzw. »a/a« bezeichnet, wobei das müt- ten von Organismen jedoch die Frage nach deren Ursachen. Wir
terliche Allel vorne und das väterliche Allel hinten steht. Häufig möchten verstehen, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Variabili-
findet sich auch die Darstellung als Bruch, wobei in diesem Fall tät hervorgerufen wird und wie ihre Weitergabe an nachfolgende
das mütterliche Allel im Zähler und das väterliche Allel im Nen- Generationen möglich wird. Man könnte zunächst vermuten,
ner steht; die Bruchdarstellung ist aber drucktechnisch aufwen- dass die Entstehung dieser Mannigfaltigkeit dem Zufall unter-
diger und daher nicht mehr so verbreitet. liegt. Bei näherer Betrachtung erkennen wir jedoch, dass be-
Etwas unübersichtlicher wird die Situation, wenn wir spezi- stimmte Grenzen der Variabilität einer Eigenschaft innerhalb der
elle Gene betrachten. Üblicherweise werden bei eukaryotischen Mannigfaltigkeit der Individuen gewöhnlich nicht überschritten
Organismen, die vom Wildtyp abweichen, Genbezeichnungen werden.
vergeben, die den Phänotyp beschreiben (so wurden beispiels-
weise Mäuse mit kleinen Augen als »small eye« [engl.] bezeich- C Durch ein einfaches Beispiel wird uns verdeutlicht, dass
die Variabilität der Erscheinungsformen bestimmten Gesetz-
net). Die Gensymbole bestehen dann in der Regel aus drei oder
mäßigkeiten gehorcht: Trotz aller Vielfalt in der Individuali-
vier Buchstaben, die kursiv gesetzt werden – in unserem Beispiel
tät verschiedener Menschen ist der Mensch als einheitliche
Sey; der Großbuchstabe deutet darauf hin, dass es sich um eine
Organismengruppe deutlich gegenüber allen anderen Orga-
dominante Mutation handelt. Nachdem die zugehörige Mutation
nismengruppen abgegrenzt. Stark abweichende Gestalt-
im Pax6-Gen aufgeklärt wurde (7  Abschn. 12.6.4), wird dieses
formen, wie sie beispielsweise bei fehlerhafter Embryonal-
bestimmte Allel als Pax6Sey bezeichnet; die Allelbezeichnung
entwicklung auftreten können, sind im Allgemeinen nicht
wird also entsprechend hochgestellt. Als Allelbezeichnungen
lebensfähig; Beispiele dazu werden in 7 Abschn. 12.6 und
können weiterhin verschiedene andere Parameter verwendet
7 Kap. 13 diskutiert.
werden; häufig finden wir auch die betroffenen Aminosäuren
und die Stelle ihres Austauschs. Heterozygote und homozygote Die Natur hat somit einerseits Mannigfaltigkeit entwickelt, diese
Mutanten können durch die Darstellung des entsprechenden aber zugleich bestimmten Gesetzen und Eingrenzungen unter-
zweiten Allels dargestellt werden, also Pax6Sey/+ (heterozygot) worfen. Für die Existenz solcher Gesetze, die die Entstehung von
und Pax6Sey/Sey (homozygot). Allerdings variiert dieses System Mannigfaltigkeit in den Formen und Eigenschaften von Lebe-
etwas von Organismus zu Organismus, so werden beispielsweise wesen kontrollieren, spricht, dass viele dieser Formen und Eigen-
die Gene des Menschen immer mit Großbuchstaben angegeben schaften nicht willkürlich auftreten, sondern dass sie von den
(in unserem Beispiel also PAX6). Die Details werden bei den je- Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden. Ihre Ent-
weiligen Modellorganismen im 7 Abschn. 5.3 erörtert. stehung und Ausbildung ist also an biologische Eigenschaften
Bei Bakterien und Viren ist das System etwas einfacher. gebunden, die zwischen aufeinanderfolgenden Generationen
Hier gilt als Wildtyp-Stamm die jeweils prototrophe Form; von Organismen erhalten bleiben. Wie wir bei genauerer Be-
die auxotrophen Mutanten werden entsprechend mit einem trachtung erkennen, werden sie in bestimmter Weise verteilt.
hochgestellten Minuszeichen versehen, also lac bzw lac−. Ein Das Verständnis dieser biologischen Eigenschaften und der Ge-
ähnliches System findet übrigens auch bei den eukaryotischen setzmäßigkeiten, die ihrer Verteilung in aufeinanderfolgenden
Hefen Verwendung (weitere Beispiele werden in 7  Kap. 4 und Generationen zugrunde liegen, ist Gegenstand der Genetik. Das
7 Abschn. 9.2 besprochen). Verständnis dieser Gesetze setzt notwendigerweise die Unter-
scheidung der Einzelelemente, die diese Mannigfaltigkeit be-
> Bei Mikroorganismen wird die jeweils prototrophe Form
stimmen, voraus und erfordert daher die Erforschung ihrer Ei-
als Wildtyp bezeichnet; bei höheren Eukaryoten bezieht
genschaften und Ursachen.
man sich auf die jeweilige Wildform eines Organismus.
Wenn wir davon ausgehen, dass Variabilität eine Grunder-
Erbliche Abweichungen vom Wildtyp sind Mutanten. Gen-
scheinung der erblichen Eigenschaften der Organismen ist, gilt
symbole bestehen aus wenigen Buchstaben mit oder
es, experimentelle Ansatzpunkte für die Untersuchung dieser
ohne Zahlen und werden kursiv gesetzt. Für die meisten
erblichen Grundlage der Variabilität zu finden. Hierfür ist es ent-
Organismen haben sich spezielle Nomenklatur-Regeln
scheidend, dass es gelingt, ein Untersuchungsmaterial zu finden,
entwickelt.
dessen erbliche Eigenschaften so einheitlich wie möglich sind.
Mithilfe eines solchen Materials lassen sich dann nicht nur diese
verschiedenen Eigenschaften als solche gegeneinander abgren-
zen, sondern auch diejenigen Einflüsse auf die Ausprägung ge-
netischer Anlagen erkennen und analysieren, die durch die Um-
welt verursacht werden.
1.2 · Konstanz und Variabilität
9 1
C Dass es solche Umwelteinflüsse geben muss, ist leicht zu > Vegetative Vermehrung bedeutet Vermehrung ohne
erkennen: Ziehen wir eine Pflanze bei Dunkelheit aus einem vorangehende sexuelle Prozesse. Das genetische Material
Samen, so wird sie allenfalls schwach grün werden. Erst eines Organismus bleibt dadurch im Prinzip unverändert
wenn wir sie dem Licht aussetzen, bildet sich eine ausrei- erhalten, sodass die Individuen, die durch vegetative Fort-
chende Menge Chlorophyll, sodass die Pflanze ihre normale pflanzung entstanden sind, genetisch völlig gleich sind.
grüne Farbe erhält. Die Umgebungsparameter bestimmen Man bezeichnet sie als Klone.
also, ob die individuelle Pflanze von ihrer prinzipiellen gene-
tischen Fähigkeit, Chlorophyll zu bilden, Gebrauch macht Hat man auf einem dieser Wege genetisch einheitliches Unter-
oder nicht. suchungsmaterial bereitgestellt, können Experimente mit dem
Ziel ausgeführt werden, zu ermitteln, inwieweit einerseits Um-
Diese Beobachtung macht uns deutlich, dass wir bei der Erfor- welteinflüsse oder andererseits genetische Faktoren einzelne
schung der Vererbung zwei Aspekte grundsätzlich auseinander- Eigenschaften der betreffenden Organismen bestimmen.
halten müssen: einerseits die Ausstattung eines Organismus mit Eine wichtige Voraussetzung für solche Versuche ist die
bestimmten erblichen Eigenschaften und andererseits sein tat- Fähigkeit des Versuchsmaterials, in sehr unterschiedlichen Um-
sächliches Erscheinungsbild, das durch diese erblichen Eigen- weltbedingungen überhaupt existieren zu können. Unter diesem
schaften in einer bestimmten Umgebung hervorgerufen wird. Gesichtspunkt hat sich in der Vergangenheit die Schafgarbe
Wir umschreiben diese beiden verschiedenen Aspekte demge- (Achillea millefolium, Compositae) als geeignet erwiesen, aber
mäß auch durch zwei verschiedene wissenschaftliche Begriffe: auch Fingerkrautarten (Potentilla, Rosaceae) wurden ausgiebig
Die Gesamtheit der erblichen Eigenschaften eines Organismus untersucht. Betrachten wir Pflanzenpopulationen derselben Art
nennen wir den Genotyp, sein tatsächliches Erscheinungsbild in verschiedenen Biotopen, so wird schnell deutlich, dass sich
aber den Phänotyp. Individuen der einen Population oft sehr erheblich, vor allem in
ihrer Größe, von denen anderer Populationen unterscheiden.
> Wir unterscheiden zwischen dem Erscheinungsbild eines
Organismus und seiner genetischen Veranlagung. Das Er- C Studien dieser Art wurden in Nordamerika durch Jens
scheinungsbild wird in der Genetik als Phänotyp eines Indi- Clausen und Mitarbeiter Ende der 1940er-Jahre durchge-
viduums bezeichnet. Die Gesamtheit aller erblichen Eigen- führt. Sie dokumentierten eindringlich, dass die mittlere
schaften eines Organismus bezeichnet man als Genotyp. Größe von Achillea lanulosa stark mit dem jeweiligen Biotop
korreliert. Die mittlere Größe der Pflanzen in den niedrige-
ren, der kalifornischen Küste näher gelegenen Regionen der
Sierra Nevada, etwa bei Mather (1400 m Höhe) im Bereich
1.2.1 Umweltbedingte Variabilität
des Koniferengürtels, liegt bei 75 cm. Pflanzen, die in den
extremeren Milieubedingungen der subalpinen Tuolumne
Die Lebewesen, an denen man den Einfluss der Umwelt auf den
Meadows (2600 m Höhe) oder des hochalpinen Big-Horn-
Phänotyp relativ leicht erforschen kann, sind Pflanzen. Bei ihnen
Sees (3350 m Höhe) wachsen, werden im Mittel nur 15–20 cm
ist eine vegetative Fortpflanzung meist sehr einfach zu erzielen.
hoch. Man ist versucht, die Ursache für die geringe Größe
Da vegetative Fortpflanzung keinerlei Veränderungen des gene-
in den ungünstigen Wachstumsbedingungen des alpinen
tischen Materials einschließt, sind alle Individuen, die auf diesem
Biotops zu sehen. Interessanterweise ist es aber gerade die
Wege erzeugt werden, genetisch identisch. Dadurch kann Varia-
genetisch bedingte Fähigkeit, solche schwachen Wuchs-
bilität, die durch genetische Mechanismen erzeugt wird, aus-
formen unter Extrembedingungen zu bilden, die es den
geschlossen werden, sodass ausschließlich umweltbedingte
Pflanzen gestattet, sich in einer Umgebung noch zu vermeh-
Variabilität sichtbar wird.
ren, in der andere Pflanzen gar nicht mehr existieren kön-
Vegetative Vermehrung von Pflanzen kann auf zweierlei Art
nen. Die geringe Größe hat sowohl den Vorteil eines geringe-
erfolgen:
ren Nährstoffbedarfs als auch den besserer Widerstands-
4 Am einfachsten ist vegetative Vermehrung durch die
fähigkeit gegen ungünstige Klimaeinflüsse. Zudem wird da-
Teilung von Wurzelstöcken oder durch Stecklinge zu er-
durch die Wachstumsphase bis zur Fortpflanzungsreife
reichen. Man kultiviert Teile einer Pflanze, etwa einen
verkürzt. Dieser Gesichtspunkt ist besonders wichtig, da
Seitentrieb, bis er Wurzeln geschlagen hat, oder eine Wur-
die Vegetationsperiode in den betreffenden Biotopen sehr
zel, bis sie weitere Triebe erzeugt hat. Somit stehen weitere
kurz ist.
Abkömmlinge desselben Genotyps zur Verfügung.
4 Einen alternativen Weg bieten Kulturmethoden, die es uns Aufgrund der geschilderten Beobachtungen lässt sich auch die
gestatten, aus Einzelzellen (oder aus Protoplasten) ganze Frage stellen, ob die verschiedenen Pflanzenpopulationen sich
Pflanzen zu ziehen. Auch in diesem Fall verfügt man mit genetisch so voneinander unterscheiden, dass der für ein Biotop
allen Individuen, die auf diese Weise von einem gemein- jeweils charakteristische Größenbereich erblich festgelegt ist.
samen Ausgangsindividuum erhalten wurden, über ein ge- Eine Antwort auf diese Frage können wir erhalten, wenn wir
netisch einheitliches Material. vegetativ vermehrte Nachkommen, also genetisch identische
Individuen, der verschiedenen Pflanzenpopulationen auf die un-
Man bezeichnet genetisch identische Pflanzen, die auf einem terschiedlichen Biotope verteilen und ihr Wachstum verfolgen.
dieser Wege entstanden sind, als Klone. Wir erkennen, dass sich das Wachstum der vegetativ vermehrten
10 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

Pflanzen dem der Populationen in dem entsprechenden Biotop Grenzen in der Variabilität der Ausprägung bestimmter
1 vollständig anpasst. Die Größe der Pflanzen ist somit weit- Eigenschaften gibt es für alle Merkmale. Diese Grenzen sind
gehend  umweltbedingt, nicht aber genetisch fixiert. Wir kön- genetisch festgelegt und werden durch die Gesamtheit der
nen  aus  diesen Beobachtungen ableiten, dass erbliche Eigen- erblichen Eigenschaften mitbestimmt. Die Fähigkeit eines be-
schaften  einen Bereich festlegen, in dem Variabilität möglich stimmten Genotyps, auf seine Umgebung in unterschiedlicher
ist. So ist eine optimale Anpassung an die jeweiligen Bedingun- Weise zu reagieren, bezeichnen wir als die Reaktionsnorm eines
gen gewährleistet. Dass es hierfür jedoch Grenzen gibt, wird Genotyps. Die Reaktionsnorm beschreibt die Variationsbrei-
deutlich,  wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es offenbar te  des Phänotyps, die einem bestimmten Genotyp unter
prinzipielle Maximal- und Minimalgrößen gibt, durch die die unterschiedlichen Umweltbedingungen zur Verfügung steht. Sie
Variabilität eingegrenzt wird: Eine Schafgarbe erreicht weder beschreibt also gewissermaßen die »Möglichkeiten« eines Geno-
die Größe einer Sequoia, noch bleibt sie in der Entwicklung typs, sich an die Umgebungsbedingungen anzupassen. Ist der
bei der Größe eines Lebermooses stehen. Die jeweiligen Um- Phänotyp nicht mehr mit den Anforderungen der Umwelt in
weltbedingungen bestimmen aus diesem insgesamt möglichen Übereinstimmung zu bringen, ist der Organismus nicht mehr
Größenspektrum einen jeweils biotopspezifischen Variabilitäts- existenzfähig.
bereich. Wir können unsere Erkenntnisse aus diesen Versuchen also
zusammenfassen: Die Ausprägung von Eigenschaften wird in
> Erbliche Eigenschaften bestimmen im Zusammenwirken
erheblichem Ausmaß von den Umgebungsbedingungen be-
mit den jeweils gegebenen Umweltfaktoren den Phänotyp.
stimmt. Wir bezeichnen – im Gegensatz zur genetischen Varia-
Ein Vergleich der Wachstumseigenschaften der verschiedenen bilität – eine umweltbedingte Variante auch als Modifikation.
Individuen, die durch vegetative Vermehrung entstehen, also
> Die Interaktion zwischen Umwelt und Genotyp ist ein
genetisch identisch sind, gestattet uns noch einen weiteren wich-
allgemeines Phänomen, das alle Organismen betrifft und
tigen Schluss: Wir können aus der Größe der Pflanze in einem
den Phänotyp der Individuen mit prägt. Die umwelt-
Biotop keine Rückschlüsse auf die zu erwartende relative Größe
bedingten Variationen von Merkmalen werden auch als
in einem anderen Biotop ziehen. Es gibt somit keine »beste«
Modifikationen bezeichnet.
genetische Konstitution, sondern die speziellen Eigenschaften
kommen, zumindest im Größenwachstum, durch ein komplexes Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass wir aufgrund des
Zusammenspiel von Erbanlagen und Umweltbedingungen zu- Phänotyps eines einzelnen Organismus nicht entscheiden kön-
stande. Wenn wir uns also fragen, ob wir durch eine geeignete nen, ob eine vorwiegend erblich oder eine vorwiegend umwelt-
Zusammenstellung von Genen eine »ideale« Pflanze experimen- beeinflusste Eigenschaft vorliegt. Vielmehr kann eine solche
tell erzeugen könnten, so müssen wir feststellen, dass es diese Entscheidung nur durch eine genetische Analyse verwandter
»ideale« Pflanze gar nicht gibt, da jedes Individuum seine Eigen- Individuen – beim Menschen also z. B. durch Analyse eines Fa-
schaften stets in einer bestimmten Umgebung, also biotopspe- milienstammbaums – getroffen werden. Der Grund für diese
zifisch, entwickelt. Die Bedingungen dieser Umgebung aber Schwierigkeiten ist darin zu suchen, dass Merkmale, die gewöhn-
können wir, wenn überhaupt, dann nur im Rahmen der allge- lich genetisch bedingt sind, unter bestimmten Umständen durch
meinen Eigenschaften eines Biotops festlegen. Milieueinflüsse imitiert werden können. Man spricht in diesem
Fall von einer Phänokopie; im Kontext evolutionärer Prozesse
> Es gibt keine »beste« genetische Konstitution, da
spricht man auch von Konvergenz.
der Phänotyp durch ein komplexes Zusammenspiel von
Dieses Problem wird auch bei der modernen Taxonomie
Genotyp und Umweltbedingungen entsteht.
deutlich. Wurden früher Verwandtschaftsbeziehungen zwischen
verschiedenen Arten aufgrund von äußeren Merkmalen herge-
stellt, so zeigt es sich heute, dass die dadurch getroffenen Zuord-
1.2.2 Genetisch bedingte Variabilität nungen nicht immer stimmen müssen. Klarheit bringt in vielen
Fällen eine DNA-Sequenzanalyse.
Der grundlegende Einfluss der Umweltbedingungen auf das
Größenwachstum wirft die Frage auf, inwieweit andere Eigen-
schaften einem gleich starken Einfluss der Umgebung unterwor-
*Um zu überprüfen, ob die Greifvögel und Eulen und die
einzelnen Unterarten jeweils monophyletische Gruppen bil-
fen sind. Zur Beantwortung dieser Frage können wir nochmals den (d. h. eine Abstammungsgemeinschaft mit einem ge-
auf nordamerikanische Feldstudien, dieses Mal am Fingerkraut meinsamen Vorfahren darstellen), wurden jeweils ein Gen
(Potentilla), zurückgreifen. Vergleichen wir die verschiedenen der Mitochondrien und eines aus der Kern-DNA sequenziert.
Wachstumsformen, etwa der Blätter, in den unterschiedlichen Entsprechend den Erwartungen zeigte sich dadurch, dass
Biotopen, so erkennen wir, dass – abgesehen von unterschied- jeweils die Familien der Falken, Habichtsartigen, Neuwelt-
licher Größe – die Blattform von Pflanzen gleicher genetischer geier, Fischadler und Eulen monophyletische Gruppen
Konstitution in den unterschiedlichsten Biotopen sehr ähnlich bilden, ohne allerdings näher miteinander verwandt zu sein.
bleibt, obwohl sie zwischen Pflanzen unterschiedlichen Geno- Falken und Eulen bilden unabhängige Gruppen ohne nähe-
typs beträchtlich variiert. Das Ausmaß der Umweltabhängigkeit re Verwandtschaft zu den eigentlichen Greifvögeln. Man
in der Ausprägung einer Eigenschaft ist also für verschiedene vermutet, dass sich die Ähnlichkeiten in ihrer Lebensweise
Eigenschaften unterschiedlich groß. auf Konvergenz zurückführen lassen (Storch et al. 2007).
1.3 · Theoriebildung in der Biologie
11 1
> Phänokopien sind umweltbedingte, nicht erbliche
Nachahmungen von Phänotypen, die durch bestimmte
erbliche Konstitutionen (Vorhandensein bestimmter
Allele) hervorgerufen werden.

Dank moderner genetischer Methoden können wir heute wesent-


lich detailliertere Aussagen über die molekularen Hintergründe
genetischer Variabilität machen. Dadurch identifizieren und cha-
rakterisieren wir Gene, die für die unterschiedliche Form und
Größe der Blätter, der Blütendauer oder auch für die Farbe der
Früchte verantwortlich sind (. Abb. 1.4). Häufig unterscheiden
sich die entsprechenden Gene der verschiedenen Formen von
Wildpflanzen nur an wenigen Stellen; wir sprechen dann von
Polymorphismen. Wir beginnen zu verstehen, wie Pflanzen auf
ihre Umwelt reagieren, d. h. auf abiotische Signale wie Licht, Tem-
a
peratur, Wind, Feuchtigkeit, Verfügbarkeit von Wasser und Nähr-
stoffen, aber auch auf biotische Signale wie Krankheitserreger
oder Konkurrenten. Häufig stellt man dabei fest, dass es sich nicht
um die Auswirkungen von Veränderungen in einem einzigen Gen
handelt, sondern dass eine größere oder kleinere Gruppe von Ge-
nen an der Veränderung solcher quantitativer Merkmale beteiligt
ist. So hängt die Geschwindigkeit der Blütenbildung bei der
Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana; 7  Abschn. 5.3.3) von
mindestens 14 Genen ab (für eine schöne Übersicht dazu siehe
Alonso-Blanco et al. 2005). Wir werden solche Phänomene an b
verschiedenen Stellen des Buches besprechen, z.  B. unter eher
formalen Aspekten in 7 Kap. 11 (7 Abschn. 11.3.4 und 7 Abschn. . Abb. 1.4 Es sind Variationen wild lebender Formen der Ackerschmal-
11.4.5); entwicklungsgenetische Gesichtspunkte werden in 7 Kap. wand (Arabidopsis thaliana) dargestellt. a Verschiedene Arabidopsis-Formen
unterscheiden sich hinsichtlich der Länge ihrer vegetativen Phase (oder
12 betrachtet (für Pflanzen besonders in 7 Abschn. 12.2). Human-
Blütezeit), der Wachstumsrate, der Morphologie der Rosette oder der
genetische Gesichtspunkte werden beispielsweise im Rahmen der Morphologie des Blütenstands. b Weitere Variationsmöglichkeiten gibt es
genetischen Epidemiologie besprochen (7 Abschn. 13.1.4). hinsichtlich der Größe, Form, Kerbung und Haardichte der Blätter und

*Anpassung
Variabilität ist aber nicht nur die Voraussetzung für die
einer Organismengruppe an sich verändernde
des Blattstils. (Alonso-Blanco et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung
von UBC-Press)

Umweltbedingungen, sondern auch Voraussetzung für die


Entwicklung neuer, unabhängiger Arten. Durch zufällige
Maßstab – im täglichen Laboralltag ist aber die Herangehens-
Veränderungen im Erbgut entstehen für einzelne Individuen
weise im Prinzip genauso. Die Beantwortung der Fragen erfolgt
neue Möglichkeiten, die sich je nach Selektionsdruck auch
entweder durch ein systematisch-methodisches Vorgehen (wie
durchsetzen können. Wir werden diese Aspekte in einigen
im Humangenomprojekt) oder aber auch durch individuelle In-
späteren Kapiteln ausführlich erörtern, z. B. unter dem
tuition, wie wir es häufig im Labor erleben.
Stichwort »Populationsgenetik« (7 Abschn. 11.5) oder im
Intuition ergibt sich aus der Fülle des zur Verfügung stehen-
7 Kap. 15 über die Evolution des Menschen.
den Wissens und der Erfahrungen und besteht im Wesentlichen
darin, aus einer großen Zahl möglicher experimenteller Ansätze
> Ein Polymorphismus bezeichnet das gleichzeitige
denjenigen auszuwählen, der am schnellsten zum Erfolg führt.
Vorkommen von zwei oder mehreren Allelen eines Gens
Allerdings ersetzt Intuition kein Experiment, sondern ist viel-
in einer Population mit jeweiligen Häufigkeiten, die
mehr eine Anleitung zur Entwicklung methodischer Konzepte.
nicht allein durch wiederholte Mutationen erklärt werden
Nach Mahner und Bunge (2000) können wir zehn Punkte
können. Polymorphismen sind wichtige Grundlagen gene-
einer allgemeinen wissenschaftlichen Methode formulieren:
tischer Vielfalt und Variabilität.
4 Finde ein Problem bzw. eine Fragestellung.
4 Formuliere die Fragestellung klar und eindeutig.
4 Suche nach Informationen, Methoden oder Instrumenten,
1.3 Theoriebildung in der Biologie die zur Beantwortung der Fragestellung relevant sein können.
4 Versuche, das Problem mithilfe der gesammelten Mittel zu
Biologische Forschung – und damit auch genetische Forschung lösen.
– ist dadurch charakterisiert, dass Probleme gelöst und Wissens- 4 Erfinde neue Ideen (Hypothesen, Theorien oder Methoden),
lücken geschlossen werden sollen. Das schon erwähnte Human- produziere neue empirische Daten oder entwerfe neue
genomprojekt ist dafür ein hervorragendes Beispiel im globalen Experimente, um das Problem zu lösen.
12 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

4 Beantworte die Fragestellung mit den jetzt neu vorhandenen


1 Mitteln.
4 Leite Folgerungen aus der bisherigen Antwort ab. Experimentelles Hypothese Systemmodell
4 Prüfe die vorgeschlagene Lösung (bei einer Hypothese: Design
Prüfe, ob Vorhersagen tatsächlich eintreffen. Bei neuen
Genauer Plan Experimentelles
Daten: Welche Konsequenzen hat es für das bereits vor- des Experiments Modell
handene Wissen? Bei einer neuen Methode: Prüfe ihren
möglichen Gebrauch oder Missbrauch). Ablehnung
4 Korrigiere eine fehlerhafte Lösung durch Wiederholung der Messung
Annahme
Simulation
Schritte 1 bis 8.
4 Untersuche die Wirkung der Lösung auf das bestehende
Hintergrundwissen und formuliere neue Fragestellungen, . Abb. 1.5 Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien auf biologische
die sich daraus ergeben. Fragestellungen. Aufgrund von Beobachtungen und ihrer Analyse lässt sich
eine Hypothese generieren, die zu einem Systemmodell führt, einer
quantitativen Beschreibung des Systems und seiner Komponenten sowie
Ein derartiges Vorgehen ist ein allgemein wissenschaftliches
entsprechender Wechselwirkungen. Um die Hypothese zu testen, wird in
Konzept, das auf alle Untersuchungen angewandt werden kann das System in kontrollierter Weise eingegriffen und die Veränderungen
und sollte – unabhängig von den jeweiligen Spezialdisziplinen. gemessen. Die Ideen, Annahmen und möglicherweise weitere Hypothesen
Es gilt in der Biologie, und es gilt auch in der Genetik. sind Bestandteil des experimentellen Designs. Die Messergebnisse, die auf-
Ein Kernelement der oben dargestellten »10 Punkte« ist die grund des experimentellen Ablaufplans erhalten werden, werden mit der
Vorhersage (Erwartungswert, Simulation) verglichen. Das führt entspre-
Hypothesenbildung; Hypothesen sind überlegt (d.  h. mit dem
chend zu einer Annahme oder Ablehnung der jeweiligen Hypothese. (Nach
bisherigen Wissen vereinbar), explizit formuliert und vor allem Levin 2009, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
prüfbar. Wenn eines dieser Merkmale nicht zutrifft, sprechen wir
von einer Pseudohypothese. Hypothesen können auf verschiede-
nen Wegen generiert werden: als das Buch Darwins, zumal sie wesentlich weniger umfang-
4 durch Verallgemeinerungen aus gesammelten Daten; reiche Dokumentationen zu den entwickelten Ideen über die
4 durch Assoziation oder Korrelation verschiedener Variab- Abstammung der Organismen enthalten.
len, wobei hier statistische Methoden zur Absicherung ver- Diese gleichzeitige Entwicklung ähnlicher Vorstellungen ver-
wendet werden müssen; anschaulicht uns ein allgemeines Phänomen wissenschaftlicher
4 durch Ähnlichkeiten und Analogien; Theorien: Fundamentale neue Vorstellungen reifen in der Wis-
4 durch »Neuerfindung«: Die Hypothese geht dabei über die senschaft allmählich heran und werden oft gleichzeitig für meh-
verfügbaren Daten hinaus – sie ist transempirisch. rere Forscher greifbar. Sie beruhen auf den Ergebnissen und
Einsichten, die im Laufe der Zeit durch viele Wissenschaftler
Hypothesen variieren in Umfang und Tiefe; wir können aber vor gesammelt worden sind. Schließlich gelingt es dann, solche Ein-
allem phänomenologische und mechanismische Hypothesen sichten, die oft mit bestehenden Vorstellungen nicht mehr in
unterscheiden. Dabei bleiben phänomenologische Hypothesen Übereinstimmung zu bringen sind, in ein neuartiges Konzept
oft an der Oberfläche, wohingegen mechanismische Hypothesen umzusetzen.
Prozesse zu beschreiben versuchen, die die Beobachtungen er- Die Weiterentwicklung wissenschaftlicher Einsichten beruht
klären. Diese Prozesse können physikalischer, chemischer oder auf der Formulierung neuer Hypothesen. Wie wir oben gesehen
biotischer Natur sein. Für die Anerkennung eines Mechanismus haben, wird eine Hypothese aus einer Anzahl von Beobachtun-
in der Wissenschaft gilt, dass er materiell, gesetzmäßig und prüf- gen und aus deren Analyse formuliert. Eine solche Hypothese
bar ist. Das wird deutlich, wenn wir uns die entsprechenden stellt noch keine endgültig gesicherte Einsicht dar, sondern formt
Gegensätze betrachten: immateriell, wundersam, okkult. Wir zunächst nur die Grundlage, bestimmte Beobachtungen im Rah-
müssen uns aber dessen bewusst bleiben, dass jede Erkenntnis men eines übergreifenden Konzeptes zu verstehen. Die weitere
und jeder Vorschlag prinzipiell verbessert werden kann – es gibt wissenschaftliche Arbeit besteht nunmehr darin, diese Hypo-
also kein abgeschlossenes und für immer gültiges Weltbild. these zu untermauern oder zu widerlegen (. Abb. 1.5). Gelingt
Der erste Forscher, der ein geschlossenes Konzept entwickel- es, weitere wichtige Argumente für die Gültigkeit dieser Hypo-
te, das die Evolution von Organismen auf der Grundlage ihrer these zu finden, so wird diese gegebenenfalls zu einer Theorie.
Erbeigenschaften zu erklären versuchte, war Charles Darwin Unter einer Theorie verstehen wir eine nach allen wissenschaft-
(1809–1882). Auf der Grundlage seiner umfangreichen Studien, lichen Vorstellungen gut gesicherte Vorstellung zu einem be-
die er auf seiner Weltreise mit dem Schiff Beagle durchführte, stimmten Phänomen.
schlug er vor, dass sich alle Organismen im Laufe der Evolution So haben wir im Laufe der Besprechung der Eigenschaften
aus gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben. Er formulierte des genetischen Materials gesehen, dass die Hypothese, dass
damit in seinem Buch On the origin of species by natural selection, Chromosomen die Träger der erblichen Eigenschaften eines
das 1859 erschien, die Deszendenztheorie oder Abstammungs- Organismus sind, vor allem durch die Analyse von Geschlechts-
lehre. Ein anderer Forscher, Alfred Russel Wallace (1823–1913), chromosomen zu einer gesicherten Vorstellung, der Chromoso-
war etwa gleichzeitig zu ähnlichen Vorstellungen gelangt. Seine mentheorie der Vererbung, entwickelt wurde (7 Abschn. 6.1.1).
wissenschaftlichen Studien sind jedoch weniger beachtet worden Die Tatsache, dass auch cytoplasmatische Elemente wie Mito-
1.3 · Theoriebildung in der Biologie
13 1
chondrien und Plastiden Erbinformation enthalten, widerlegt
(falsifiziert) die Chromosomentheorie der Vererbung nicht, son-
dern erweitert sie allenfalls, wenn wir nicht überhaupt davon
ausgehen wollen, dass nach unseren heute gebräuchlichen Vor-
stellungen auch Mitochondrien und Plastiden im Prinzip ein
»Chromosom« besitzen. Unabhängig davon stellt jedoch die
Einsicht, dass solche cytoplasmatischen Organellen ebenfalls
Erbinformationen an die Nachkommen vermitteln können, eine
Erweiterung der ursprünglichen Vorstellungen der Chromoso-
mentheorie der Vererbung dar.

*Müssen wir noch mit mehr »Erweiterungen« der klassischen


Genetik rechnen? Schon Mitte der 1950er-Jahre beschrieb
R. A. Brink bei Maiskörnern verschiedene Färbemuster, die als
Punktierung bzw. Marmorierung bekannt sind und mit der
Bildung von Anthocyan zu tun haben. Bei bestimmten Kreu-
zungen der Maispflanzen wurden jedoch die Mendel’schen
Regeln (7 Abschn. 11.1) über den zu erwartenden Anteil der
jeweiligen Färbungen verletzt, ohne dass zunächst eine plau-
sible Erklärung gefunden werden konnte. Ähnliche Phäno-
mene wurden in der Folgezeit auch bei einigen Phänotypen
von anderen Pflanzen, aber auch bei Tieren und dem Men-
schen berichtet. Seit 1968 wird dafür der Begriff »Paramuta-
tion« verwendet, wobei zunächst kein plausibler Mechanis-
mus identifiziert werden konnte. Dachte man früher an
»springende Gene« (Transposons, 7 Abschn. 9.1), so werden
heute eher nicht-codierende RNA-Moleküle (7 Abschn. 8.2)
und andere epigenetische Prozesse (7 Abschn. 8.4) vermutet . Abb. 1.6 Fotografie von Charles Darwin (1809–1882) im Alter von
(für einen hervorragenden Überblick siehe Chandler 2007). 51 Jahren und sein erster Entwurf für einen phylogenetischen Baum (1837)
mit dem hinzugefügten Kommentar »I think«. (Nach Kutschera 2009, mit
Die von Darwin (. Abb. 1.6) formulierte Deszendenztheorie ist freundlicher Genehmigung von Springer)
heute von den Biologen als Grundlage unserer Vorstellungen
über die Evolution anerkannt. Sie enthält zwar die Erklärung,
> Aus Beobachtungen und ihrer Analyse werden Hypothe-
dass Organismen durch bestimmte evolutionäre Mechanismen
sen über Wirkungszusammenhänge formuliert, die experi-
entstehen, aber viele Einzelheiten solcher Mechanismen sind
mentell überprüft werden können. Diese Überprüfung
noch ungeklärt. Zur Bewertung der Leistung Darwins muss man
kann zur Bestätigung der Hypothese führen, sodass diese
übrigens berücksichtigen, dass Mendels Regeln der Vererbung zu
zu einer Theorie weiterentwickelt werden kann. Bei der ex-
dem Zeitpunkt, an dem Darwins Buch veröffentlicht wurde,
perimentellen Ablehnung einer Hypothese muss der pos-
noch nicht einmal publiziert, geschweige denn allgemein be-
tulierte Zusammenhang neu formuliert werden.
kannt waren. Bei Kenntnis der Mendel’schen Untersuchungen
hätte Darwin wichtige Gesichtspunkte der Erklärung von Evo- Die moderne Genetik bietet in der Tat vielfältige Ansätze zum
lutionsmechanismen deutlicher formulieren können. So hatte besseren Verständnis evolutionärer Prozesse. Dazu tragen vor
Darwin zur Erklärung der Evolution die Selektion als wichtigen allem die Hochdurchsatzmethoden bei, die nicht nur eine schnel-
Mechanismus erkannt, ohne jedoch konkret begründen zu le Sequenzierung ganzer Genome und damit den vielfältigen
können, was die materielle Basis der Selektion sein könnte. Na- Vergleich von DNA-Sequenzen ermöglichen, sondern auch Un-
türlich beruht diese Vorstellung von der Selektion als wichtigem tersuchungen der Genprodukte (vor allem der mRNA) und ihrer
Evolutionsmechanismus auf der Beobachtung von Variabilität (relativen) Häufigkeiten in verschiedenen Organismen erlauben;
innerhalb von Populationen von Organismen. Die Ursachen für das gilt für Bakterien in gleicher Weise wie für Säugetiere. Eben-
diese Variabilität waren ihm jedoch nicht bekannt, und es war so schließt es die Entwicklung neuer Arten ein (7 Abschn. 11.6.2);
unklar, wie diese Variabilität entstehen kann. wir werden dies im Hinblick auf die Evolution des Menschen in
Die Beobachtung von phänotypischer Variabilität von Orga- 7  Kap. 15 ausführlich besprechen. Des Weiteren ermöglicht die
nismen erweist sich somit wiederum als ein wichtiges Grund- moderne Genetik die Entwicklung genetischer Netzwerke in
element wissenschaftlicher Erkenntnis. Sie ermöglichte es nicht Bakterien. Ein Beispiel zeigt . Abb. 1.7: Eine zufällige (spontane)
nur, die formalen Regeln der Vererbung zu ergründen (7 Kap. 11), Mutation trifft ein zentrales Gen des Netzwerks, was dazu führt,
die Grundlagen der Veränderungen des genetischen Materials zu dass sich an vielen Stellen die relativen Mengen der mRNA ande-
erkennen (7  Kap. 9 und 7  Kap. 10) und Entwicklungsvorgänge rer Gene ändern. In späteren Generationen treten in anderen
aufzuklären (7 Kap. 12), sondern sie ist auch ein wichtiges Mittel, Genen weitere, spontane Mutationen auf, die zu erneuten Ände-
um evolutionäre Prozesse zu verstehen. rungen im Expressionsmuster vieler Gene führen. Wenn man die
14 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

. Abb. 1.7 In vivo-Evolution regulatorischer Netz-


1 werke. Das Netzwerk ist in der Ursprungskolonie
hierarchisch organisiert; die dunkelblauen Kreise
stellen zentrale Gene dar, die untergeordnete regu-
latorische Gene oder Zielgene kontrollieren. Die
Expressionsstärken sind als grüne Kurven dargestellt.
In den frühen Schritten der Evolution tritt eine
Mutation (gelber Pfeil) im zentralen Gen auf (roter
Kreis), was zu einer Veränderung der Expressions-
stärken in vielen Genen führt (rote Kurven). In späte-
ren Phasen der Evolution treten Mutationen in
weiteren Genen auf, die als Kompensation der Muta-
tion in der frühen Phase wirken, sodass am Ende
das ursprüngliche Expressionsmuster wiederherge-
stellt ist. (Nach Hindré et al. 2012, mit freundlicher
Genehmigung der Nature Publishing Group)

Daten genauer betrachtet, stellt man fest, dass das neue Expres- überlebt, alle anderen wären ausgestorben. Solche Flaschen-
sionsmuster der Ausgangssituation stark ähnelt. halseffekte hat es in der menschlichen Evolution häufiger ge-
geben, und wir können heute die Spuren davon beobachten
C Ein interessanter Aspekt der ständig weiter gehenden Evolu- (7 Abschn. 15.1).
tion ist die Entdeckung der HIV/AIDS-Resistenz bei einigen
Menschen. Ursache dafür ist eine Mutation in einem Gen, das
für ein Oberflächenprotein von T-Zellen codiert (CCR5; es 1.4 Genetik und Gesellschaft
codiert für einen Chemokin-Rezeptor). Bei diesen Menschen
fehlen 32 Basenpaare (bp) in diesem Gen; dadurch wird ver- Die Geschichte der Genetik (. Tab. 1.1) ist aber auch nicht frei
hindert, dass das HI-Virus an die T-Zellen binden kann. Die von schwerwiegenden Irrtümern – vor allem, wenn sich »Zeit-
Mutation ist vor über 5000 Jahren in Nordeuropa entstanden geist« mit genetischem Teilwissen verbindet. Dazu gehört die
und hatte für ihre Träger zunächst keine Bedeutung – weder Einführung des Begriffs Eugenik in die allgemeine Diskussion
im Guten noch im Schlechten. Die Häufigkeit beträgt etwa durch Francis Galton (1883; . Abb. 1.8). Galton trat für eine
16 % in der nordeuropäischen Bevölkerung und nimmt nach gezielte Kontrolle der Vererbung beim Menschen ein; er hat da-
Süden hin ab (für eine interessante Übersicht siehe Novembre bei »negative« (präventive) und »positive« Eugenik unterschie-
und Han 2012). Erst durch das Auftreten des HI-Virus beka- den. Die »negative« Eugenik will die erbliche Weitergabe von
men diese Menschen einen Selektionsvorteil: Sie überleben Allelen vermeiden, die Erbkrankheiten verursachen. Damit soll
eine HIV-Infektion. Man kann sich natürlich gut vorstellen, eine angebliche »Verschlechterung des menschlichen Genpools«
dass bei einer schlechteren medizinischen Versorgung als verhindert werden. Dieser Aspekt wird durch eine »positive«
heute diese Mutation zu einem »Flaschenhalseffekt« geführt Eugenik ergänzt, durch die die Weitergabe günstiger Allele
hätte – es hätten nur die Individuen mit dieser Mutation unterstützt wird, um dadurch den menschlichen Genpool zu
1.4 · Genetik und Gesellschaft
15 1

. Tab. 1.1 Kurze Geschichte der Genetik

Jahr Ereignis

1866 Mendel veröffentlicht seine Schrift Versuche über


Pflanzenhybriden

1871 Miescher entdeckt Nukleinsäuren

1883 Galton prägt den Begriff »Eugenik«

1903–1904 Begründung der Chromosomentheorie durch Boveri


und Sutton

1908 Gesetz über Konstanz der Allelverhältnisse in


idealen Populationen (Hardy und Weinberg)

1910–1915 Morgan beschreibt die lineare Anordnung von


Genen auf Chromosomen

1926 Muller induziert Mutationen durch Röntgenstrahlen

1944 Avery erkennt die DNA als materiellen Träger der


Erbinformation

1953 Beschreibung der DNA als Doppelhelix durch


Watson, Crick und Wilkins
. Abb. 1.8 Francis Galton (1822–1911), Begründer der Eugenik
1958 Beweis für die semikonservative Replikation der
DNA durch Meselson und Stahl

1961–1969 Entschlüsselung des genetischen Codes durch


Überlegung zu genetischer Auslese und »Verbesserungsversu-
Nirenberg, Matthaei und Ochoa
chen« des menschlichen Erbguts durch eine Gentherapie über
1967 Arber entdeckt Restriktionsenzyme die Keimbahn muss sich heute vor dem Hintergrund des Holo-
1973 Erste Klonierung eines Plasmids durch Boyer, Chang caust, des Rassenwahns und der Vernichtung »lebensunwerten«
und Cohen Lebens rechtfertigen.
1975 Konferenz von Asilomar zu Moratorium in der Heute haben wir mit der stark verfeinerten molekularen
Gentechnik Diagnostik ein Instrument in der Hand, das die Erkennung
1977 DNA-Sequenzierung nach Sanger
von Erbkrankheiten schon sehr früh in der Entwicklung eines
Embryos ermöglicht – und damit auch die Diagnostik von
1985 Entwicklung der Polymerasekettenreaktion durch
schwerwiegenden Erbkrankheiten. Das hat dazu geführt, dass in
Mullis
Zypern und Sardinien fast keine Kinder mit Thalassämien mehr
1988 Leder und Stewart erhalten Patent für transgene geboren werden, und in New York ist die Tay-Sachs-Krankheit
Maus
unter der jüdischen Bevölkerung osteuropäischer Herkunft
1990 Start des Humangenomprojekts ebenfalls deutlich zurückgegangen. Der wesentliche Unterschied
1995 Veröffentlichung der kompletten Sequenz des zu den eugenischen Aktivitäten in der ersten Hälfte des 20. Jahr-
Genoms von Haemophilus influenzae hunderts besteht aber in drei Punkten:
2004 Veröffentlichung des menschlichen Genoms
4 in der Freiwilligkeit der Teilnahme an den Untersuchungen,
(endgültige Form, 99 %) 4 der individuellen Interpretation der Ergebnisse und
4 der freien Entscheidung über mögliche Konsequenzen.
2005 Hochdurchsatz-Sequenzierungen der »nächsten
Generation« (next generation sequencing)
Eine sehr lesenswerte Darstellung dieser (und anderer Beispiele
2010 Herstellung einer Bakterienzelle, die durch ein
der Geschichte der Genetik) findet sich bei Knippers (2012).
chemisch synthetisiertes Genom kontrolliert wird
Die Kenntnis des menschlichen Genoms im Allgemeinen
und die rasante Entwicklung der Sequenziertechniken (Technik-
»verbessern«. Der Missbrauch dieses Begriffs durch die Natio- boxen 6 und 7) machen es heute möglich, vollständige Sequen-
nalsozialisten unter Verwendung biologisch falscher Argumente zen individueller menschlicher Genome innerhalb kurzer Zeit
hat Eugenik verständlicherweise nachhaltig diskreditiert. Die und zu relativ geringen Preisen zu erhalten. Damit verbunden ist
deutsche Gesellschaft für Humangenetik und die Gesellschaft für einerseits die Hoffnung, noch mehr genetisch bedingte Erkran-
Genetik haben anlässlich des 75. Jahrestages der Verkündigung kungen frühzeitig(er) zu erkennen und damit überhaupt oder
des »Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses« 2008 besser als bisher behandeln zu können. Diese individuellen
eine (Mit-)Schuld der Humangenetik am Zustandekommen und Sequenzierungen sind auch Voraussetzungen für eine individu-
der Durchführung dieses Gesetzes (z. B. als Gutachter bei »Erb- alisierte (oder personalisierte) Therapie (7 Abschn. 13.5.2) – statt
gesundheitsgerichten«) eingeräumt. Eine lesenswerte Darstel- der bisherigen Therapieformen, die sich eher an »Durch-
lung des Geistes dieser Zeit findet sich bei Hoßfeld (2014). Jede schnittspatienten« orientieren. Demgegenüber steht die Angst
16 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

den, und so verbindet sich die Erinnerung an den Widerstand


1 mit den Namen Hans Stubbe, Gustav Becker und Kurt Mothers,
die alle an der Martin-Luther-Universität in Halle lehrten und
darüber hinaus in leitenden Positionen an den Instituten für
Pflanzenzucht in Quedlinburg (heute Julius Kühn-Institut (JKI),
Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen) und dem Zentral-
institut für Genetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben
(heute Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzen-
forschung) tätig waren. Eine lesenswerte Darstellung dazu wurde
2002 von Rudolf Hagemann publiziert.
Anfang der 1970er-Jahre begann eine intensive Auseinander-
setzung um das, was wir heute unter »Gentechnik« zusammen-
fassen. Es zeichnete sich damals ab, dass man DNA im Reagenz-
glas neu kombinieren (»rekombinante DNA«) und auf verschie-
dene Organismen übertragen kann. Den führenden Forschern,
. Abb. 1.9 Nikolai Iwanowitsch Wawilow (links, 1887–1943), zusammen darunter Paul Berg (. Abb. 1.10), war durchaus bewusst, dass ein
mit William Bateson (rechts, 1861–1926) solches Vorgehen ein Wagnis war, und so verlangten sie im Jahr
1974, zunächst alle Experimente mit rekombinanter DNA von
Viren, Toxin- oder Resistenzgenen auszusetzen. Dieses Morato-
vor dem »gläsernen Menschen« und einem entsprechenden rium kam zwar nicht zustande, aber man einigte sich 1975 auf
Missbrauch durch Versicherungen, Arbeitgeber etc. Eine weitere der »Konferenz von Asilomar« (Berg et al. 1975) darauf, in Ver-
Befürchtung ist, bei einer Krankheitsdiagnose in der Schwanger- bindung mit staatlichen Sicherheitsbehörden genaue Regeln auf-
schaft einer möglichen »Selektion« durch Abtreibung nicht mehr zustellen, an die sich Forscher bei Experimenten mit rekombi-
ausweichen zu können. Diesen unterschiedlichen Erwartungen nanter DNA zu halten hatten. Daraus entwickelten sich auf der
versucht das Gendiagnostik-Gesetz aus dem Jahr 2010 Rechnung Ebene der OECD (Organisation for Economic Co-operation and
zu tragen (zu Details siehe 7 Abschn. 13.1.1). Development; Organisation für wissenschaftliche Zusammen-
Auch ein weiteres dunkles Kapitel der Genetik muss erwähnt arbeit und Entwicklung) gemeinsame Richtlinien, die später
werden, nämlich die Konsequenz aus der Herrschaft des Agro- in allen industrialisierten Ländern in entsprechende Gesetze
nomen Trofim Denisowich Lyssenko (1898–1976) in der Sowjet- mit einheitlichen Sicherheitsstandards umgesetzt wurden; in
union der 1930er- und 1940er-Jahre. Er war ein heftiger Verfech- Deutschland ist es das Gentechnik-Gesetz (GenTG).
ter der These von der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften, Im Zentrum des Gentechnik-Gesetzes steht der Umgang mit
wie sie von Jean-Baptiste Lamarck (1744–1829) in seinen Schrif- gentechnisch veränderten Organismen (7 Abschn. 10.7). Es wird
ten (1809) als Vorläufer der Darwin’schen Evolutionstheorie pro- dabei versucht, den Interessen der Forschung, der Anwendung
pagiert wurde. Ging es zunächst nur um die dringend notwen- der Gentechnik in der Medizin und in der Landwirtschaft sowie
dige Verbesserung der Pflanzenzucht, so wurde unter Lyssenkos dem Schutz der Bevölkerung vor möglichen Gefährdungen in
Führung die Genetik in der Sowjetunion bald als eine »schädli- gleicher Weise Rechnung zu tragen. Danach darf mit gentech-
che Perversion der Wissenschaft« bezeichnet, die »die Bemühun- nisch veränderten Organismen nur in angemeldeten bzw. geneh-
gen der sowjetischen Forscher behindert, die Tier- und Pflanzen- migten Anlagen umgegangen werden. Die technischen Anforde-
welt zu verändern« (zitiert nach Soyfer 2001). Mithilfe Stalins rungen an die entsprechenden Labors richten sich nach den
wurde diese Schule nach dem Ende des 2. Weltkrieges in der Sicherheitsrisiken, mit denen zu rechnen ist. Die meisten Labors
Sowjetunion und allen Staaten des damaligen Warschauer Paktes fallen in die Sicherheitsstufe 1 (S1: keine Gefahr für Mensch und
(auch in der DDR) durchgesetzt. Genetische Forschung wurde Umwelt) – hier gelten in der Regel die üblichen Standards für
verboten, Labore geschlossen und unbequeme Wissenschaftler mikrobiologische Arbeiten. Daneben gibt es aber auch Anlagen,
entlassen und ihr Werk verdammt. Eines der prominenten Opfer in denen beispielsweise mit der DNA von Viren umgegangen
der Lyssenko’schen Politik war der Genetiker Nikolai Iwano- wird, sodass entsprechend höhere Anforderungen an die Labor-
witsch Wawilow (1887–1943; andere Schreibweise: Vavilov; sicherheit zu stellen sind. Die Einordnung in die vier Sicherheits-
. Abb. 1.9), der durch sein »Gesetz der homologen Reihen« be- stufen erfolgt in Deutschland durch die Zentrale Kommission für
kannt geworden war. Dieses Gesetz ermöglichte die Vorhersage Biologische Sicherheit, deren Mitglieder vom Bundesministe-
noch unbekannter Pflanzenformen und führte in den 1920er- rium für Ernährung, Verbraucherschutz und Landwirtschaft
Jahren zu erfolgreichen Neuzüchtungen. Wawilow starb 1943 im berufen werden. Ein besonders umstrittenes Thema ist in
Gefängnis von Saratow. Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 dau- Deutschland der Anbau gentechnisch veränderter Nutzpflanzen
erte es noch bis 1962, bis Lyssenkos wissenschaftliche Fehler und (siehe dazu speziell 7 Abschn. 10.7.1).
Fälschungen offengelegt und er von Chruschtschow entlassen In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach
wurde. möglichen Erfinderrechten an Genen: Lassen sich Gene paten-
In der früheren DDR wurden in den 1950er-Jahren viele ge- tieren? Lange Zeit galten isolierte Gene als chemische Verbin-
netische Lehrstühle mit Anhängern des Lyssenkoismus besetzt. dungen, und ihre Isolierung aus der natürlichen Umgebung
Allerdings konnte dies nicht flächendeckend durchgesetzt wer- konnte Gegenstand eines patentrechtlichen Schutzes sein. Wie
1.4 · Genetik und Gesellschaft
17 1

a b

. Abb. 1.10 a Die Organisatoren der Asilomar-Konferenz 1975: Maxine Singer, Norton Zinder, Sydney Brenner und Paul Berg (v. l. n. r.). b Joseph Sambrook
(links) zusammen mit David Baltimore (rechts). (Mit freundlicher Genehmigung der Nationalen Akademie der Wissenschaften, USA)

wir aber schon gesehen haben, sind die Isolierung und Cha- Kernaussagen
rakterisierung von Gensequenzen heute Routineverfahren. Das 5 Die Genetik beschreibt die Regeln und Mechanismen
deutsche Patentgesetz sieht daher vor, dass in der Anmeldung der Vererbung und erklärt funktionell die Unterschiede in der
eines Patents die von der Sequenz erfüllte Funktion beschrieben genetischen Ausstattung verschiedener Organismen.
sein muss; die gewerbliche Anwendung von Gensequenzen kann 5 Die moderne Genetik beginnt mit den Arbeiten Gregor
dann auch in der Verwendung als diagnostisches Verfahren be- Mendels in der Mitte des 19. Jahrhunderts und hat innerhalb
stehen. Und genau an solchen Punkten entzündet sich heute der von etwas mehr als 100 Jahren mit der Entschlüsselung des
Streit, inwieweit Gensequenzen »Erfindungen« (und damit pa- menschlichen Genoms 2004 ihren (vorläufigen) Höhepunkt
tentierbar) sind oder vielmehr nur eine »Entdeckung« darstellen erreicht.
(die nicht patentierbar ist, weil man das Material in der Natur 5 Die Gesamtheit aller Erbinformationen wird als Genom be-
vorfindet). Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung um zeichnet.
Gene, die für einige Formen des erblichen Brustkrebses verant- 5 In Prokaryoten steht die Genomgröße mit der Anzahl vor-
wortlich sind (7 Abschn. 13.4.1), die Gene BRCA1 und BRCA2 handener Gene direkt in Beziehung.
(engl. breast cancer). So können die Entwicklungen neuer Test- 5 Bei Eukaryoten besteht eine große Diskrepanz zwischen
verfahren, die die Sequenz dieser Gene verwenden (oder Teile der Genomgröße und der Anzahl ihrer Gene. Ursache ist eine
daraus), durch die entsprechenden vorhandenen Patente verhin- Vielzahl von repetitiven Elementen.
dert werden (Barton 2006). Diese Situation erscheint in der Tat 5 Ein Gen ist durch seinen Platz auf dem Chromosom definiert.
nicht angemessen und behindert außerdem den technologischen 5 Bestandteil eines Gens sind die codierenden Bereiche, die
Fortschritt (bzw. fördert die Entwicklung anderer Testverfahren, gleichsinnig transkribiert werden, sowie die oberhalb liegen-
die aber vielleicht nicht dieselbe statistische Aussagekraft haben). den zugehörenden regulatorischen Bereiche.
Aus genetischer Sicht ist es sicherlich wünschenswert, dass die 5 Der Phänotyp ist das Erscheinungsbild eines Organismus,
allgemeine Verwendung von DNA-Sequenzen ohne patentrecht- der Genotyp ist die Gesamtheit aller seiner genetischen Eigen-
lichen Schutz auskommt. schaften. Im Zusammenwirken mit Umwelteinflüssen definiert
der Genotyp den Phänotyp; vom Phänotyp kann nicht auf den
> Die Genetik ist eine Wissenschaft, die an vielen Stellen Genotyp zurückgeschlossen werden.
unmittelbare Auswirkungen auf den einzelnen Menschen 5 Vegetative Vermehrung bedeutet Vermehrung ohne voran-
und auf die Gesellschaft insgesamt hat. Sie ist damit gehende sexuelle Prozesse, sodass das genetische Material
in besonderer Weise den Wandlungen gesellschaftlicher unverändert bleibt. Die entstehenden Individuen sind iden-
Werte und ihren jeweiligen gesetzlichen Normierungen tisch (Klone).
unterworfen. Genetiker haben aber auch umgekehrt eine 5 Biologische Variabilität kann genetische und umweltbedingte
besondere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft Ursachen haben.
im Hinblick auf die Möglichkeiten und ethischen Be- 5 Umwelteinflüsse können genetische Effekte imitieren
schränkungen ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse. (Phänokopie).
18 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

1 Übungsfragen
1. Beschreiben Sie den Unterschied zwischen 4. Was verstehen wir unter der »Chromo- 6. Können wir erworbene Eigenschaften ver-
Genotyp und Phänotyp. somentheorie der Vererbung«? erben?
2. Warum ist es so schwierig, ein Gen zu 5. Wieso eröffnete die Charakterisierung der
definieren? DNA als Doppelhelix unmittelbar eine Er-
3. Was sind Allele? klärung für ihre Verdopplung (Replikation)?

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Technikbox
19 1

Technikbox 1

Isolierung genomischer DNA

Anwendung: Genomische DNA ist Ausgangs- genzien die Zellmembranen aufgeschlossen. mit Alkohol (zum Entfernen von Salzresten)
material für viele genetische Verfahren: Wichtig ist die Anwesenheit eines Komplex- kann DNA getrocknet und aufbewahrt wer-
Klonierung von DNA-Fragmenten, Southern- bildners (z. B. EDTA) für zweiwertige Kationen den; die Lagerung erfolgt üblicherweise in
Blot-Analyse, PCR-Analyse, Kartierung. wie Mg2+ und Mn2+, die nukleolytische Enzy- »TE-Puffer« (benannt nach seinen Hauptbe-
Methode: DNA liegt im Zellkern als extrem me aktivieren können. Durch EDTA werden standteilen Tris und EDTA: 10 mM Tris-HCl,
langes, aber sehr dünnes Fadenmolekül vor. diese Kationen aus der Lösung entfernt und 1 mM EDTA, pH 8,0).
Aufgrund dieser physikalischen Labilität Nukleasen dadurch inaktiviert. Proteine Da Phenol und Chloroform gesundheits-
führen hohe Temperaturen und extreme pH- werden durch Zugabe eines proteolytischen schädliche Arbeitsstoffe sind, dürfen sie nur
Bedingungen zur Denaturierung oder Prä- Enzyms (Proteinase K) abgebaut, das selbst unter einem Abzug verwendet werden; man
zipitation. Besonders durch Scherkräfte (z. B. unter den gegebenen Reaktionsbedingungen hat daher Methoden entwickelt, die diesen
beim Pipettieren) entstehen Strangbrüche, (schwach alkalisch, EDTA, Detergens) noch ak- »klassischen« Schritt vermeiden. Dazu wurden
sodass üblicherweise nur Fragmente von DNA tiv ist und sich schließlich selbst abbaut, wenn säulenchromatographische Verfahren entwi-
gewonnen werden; Fragmentlängen von kein anderes Substrat mehr vorhanden ist. ckelt, die Silikatoberflächen verwenden oder
ca. 50 kb reichen aber für die meisten moleku- Für die Gewinnung reiner DNA werden auf der Ionenaustausch-Chromatographie ba-
largenetischen Arbeiten völlig aus. Proteinreste und Abbauprodukte durch Aus- sieren. Je nach Extraktionsvolumen sind die
Durch milde Extraktionsbedingungen schütteln mit Phenol abgetrennt; Phenolrück- benötigten Säulen sehr klein und können mit
(schwach alkalischer Puffer) kann aus Zellen stände werden durch Ausschütteln mit Chloro- kleinen Reaktionsgefäßen eingesetzt werden.
(Gewebeteile, Blut, kleine Organismen) hoch- form entfernt (Spuren von Phenol können spä- Da bei der DNA-Isolierung oft ein hoher
reine und biologisch aktive DNA gewonnen tere Analysen mit Restriktionsenzymen stö- Durchsatz mit gleich bleibender Qualität erfor-
werden. Dabei werden durch vorsichtiges ren!). DNA kann durch Alkohol (Ethanol, derlich ist, werden bereits viele automatisierte
Homogenisieren und Zusatz ionischer Deter- Isopropanol) gefällt werden; nach »Waschen« Verfahren angeboten.
20 Kapitel 1 · Was ist Genetik?

Technikbox 2
1
Gelelektrophorese

Anwendung: Auftrennung von Makromole- die Pulsfeld-Elektrophorese erlangt, mit deren Reorientierung bei wechselnder Feldrichtung
külen nach unterschiedlichen physikochemi- Hilfe es möglich ist, sehr große doppelsträngige befähigt, die Poren eines Agarosegels zu
schen Kriterien. DNA-Moleküle nach ihrer Größe zu fraktionie- durchwandern.
Voraussetzungen ∙ Materialien: Elektropho- ren. Am häufigsten erfolgt eine Trennung nach Gelelektrophorese kann mit Techniken
rese macht von der Eigenschaft geladener Molekulargewicht oder Konformation. kombiniert werden, in denen elektrophoretisch
Substanzen Gebrauch, in einem elektrischen Methode: Die Elektrophorese erfolgt in elek- aufgetrennte Nukleinsäuren auf Membranfilter
Feld zu dem Pol zu wandern, der ihrer Ladung trischen Feldern, die in einer Elektrophorese- übertragen werden und auf diese Weise weite-
entgegengesetzt ist. Die Ladung von Substan- kammer zwischen Elektroden erzeugt werden. ren molekularen Analysen wie Hybridisierungs-
zen lässt sich durch geeignete Umgebungsbe- Je nach dem Anwendungsbereich werden ge- experimenten zugeführt werden können (siehe
dingungen festlegen (z. B. pH-Wert des Puffers). ringe (15–150 V) oder auch sehr hohe Span- Southern- und Northern-Blotting, 7 Technik-
Die Wanderungsgeschwindigkeit im elektri- nungen (2000 V) benötigt, um eine Trennung box 13 und 7 Technikbox 14). Die Größen der
schen Feld wird nicht nur von der Ladungs- von Makromolekülen zu erreichen. Die Dicke untersuchten Makromoleküle werden im Allge-
stärke bestimmt, sondern auch von der Konfor- des Trägermaterials variiert, je nach Anwen- meinen durch ihre elektrophoretische Mobilität
mation der ladungstragenden Moleküle und dung, zwischen 1/10 mm und etwa 6–8 mm. im Vergleich zu Markermolekülen bekannter
von den molekularen Eigenschaften des Elek- Für analytische Anwendungen, zu denen auch Größe angegeben. DNA wird in Basenpaaren
trophoresesystems (z. B. Porenweite des Träger- die frühen Formen der DNA-Sequenzanalyse (bp) oder Kilobasenpaaren (kb) angegeben,
materials). Die elektrophoretische Trennung zählen, genügt es, sehr geringe Materialmen- RNA mit der Anzahl ihrer Basen.
von Makromolekülen erfolgt in geeigneten Puf- gen aufzutrennen, sodass an die Kapazität des Beachte: Ethidiumbromid ist als Lösung (1 %)
fersystemen in einem Trägermedium, das zur Trägermaterials keine hohen Anforderungen gesundheitsschädlich und wirkt mutagen
Stabilisierung des Puffersystems, aber auch zur gestellt werden. Die DNA wird nach der Elek- (. Abb. 10.29b). Deshalb ist Hautkontakt mit
Festlegung des Trennungsbereichs der Molekü- trophorese durch Ethidiumbromid angefärbt Ethidiumbromid zu vermeiden, und es sind
le dient. Als Trägermaterialien dienen vor allem und unter UV-Licht sichtbar gemacht. geeignete Handschuhe zu tragen. Wässrige
Polyacrylamide unterschiedlicher Konzentra- Mittels der Pulsfeld-Elektrophoresetechnik Ethidiumbromid-haltige Abfälle dürfen erst
tion (ca. 3–20 %) und unterschiedlichen Vernet- kann die vollständige DNA ganzer Hefechro- nach Inaktivierung des Ethidiumbromids über
zungsgrades. Hierin werden vor allem kürzere mosomen voneinander getrennt werden. Die Aktivkohle entsorgt werden. Unschädliche
DNA-Fragmente, aber auch RNA, nach Größe Technik beruht darauf, dass in bestimmten Alternativen zu Ethidiumbromid sind z. B. Ben-
oder Ladung fraktioniert. Für DNA- und RNA- Zeitintervallen während der Elektrophorese zimidazol-Derivate oder EvaGreenp, die ent-
Trennungen werden vorzugsweise Agarosegele die Feldrichtung wechselt. Hierdurch werden sprechend als Fluoreszenzfarbstoffe eingesetzt
(0,8–4 %) verwendet. Besondere Bedeutung hat selbst sehr große DNA-Moleküle durch ihre werden können.

Beispiel für eine horizontale Agarosegelelektropho-


rese von DNA. Das Gel wird in ein elektrisches Feld
gebracht, und die DNA wird in Taschen im Agarose-
gel gefüllt (links). Aufgrund der negativen Ladung
der DNA wandern die Restriktionsfragmente zur
Anode. Rechts wird die Auftrennung der Restrik-
tionsfragmente nach Größe gezeigt. Die weitere
Analyse dieser Gele erfolgt z. B. durch Southern-
Blotting und Hybridisierung (7 Technikbox 13).
21 2

Molekulare Grundlagen
der Vererbung

Das Gemälde »Laokoon 1977« von Hans Erni könnte als Voraussicht der Fragen gesehen werden, die sich durch die
Fortschritte der Molekularbiologie stellen. Es drückt aber auch die Abhängigkeit des Menschen von seinem gene-
tischen Material aus. (Mit freundlicher Genehmigung von H. Erni, Luzern)

2.1 Funktion und Struktur der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22


2.1.1 DNA als Träger der Erbinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
2.1.2 Chemische Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.1.3 Konfiguration der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.1.4 Physikalische Eigenschaften der Nukleinsäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

2.2 Die Verdoppelung der DNA (Replikation) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31


2.2.1 Semikonservative Replikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
2.2.2 Mechanismen der Replikation bei Prokaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
2.2.3 Mechanismen der Replikation bei Eukaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
22 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

Überblick

Bestimmte erbliche Eigenschaften können Stränge der Doppelhelix werden durch Wasser- des Chromosoms), so kann an jedem der
durch Infektion von Mäusen mit abgetöteten stoffbrücken zwischen den Basen zusammen- beiden Stränge ein neuer, komplementärer
2 Erregern übertragen werden. Die chemische gehalten. Bei dieser Verknüpfung der Basen Strang synthetisiert werden, da seine Struktur
Analyse der übertragenen Substanz zeigte, durch Wasserstoffbrücken bestehen nur zwei durch die Basenfolge in dem alten Strang
dass es sich um Desoxyribonukleinsäure (DNA) verschiedene Möglichkeiten: Es kann entweder vollständig festgelegt ist. Man bezeichnet
handelt. Der chemische Aufbau der DNA ist Guanin mit Cytosin oder Adenin mit Thymin diesen Vorgang der Verdoppelung der DNA als
sehr einfach. Sie besteht aus einem Rückgrat verbunden werden. Man bezeichnet solche Replikation. Durch Replikation entsteht eine
aus Zuckermolekülen (Desoxyribose), die miteinander verbundenen Basen als Basen- zweite DNA-Doppelhelix. Während einer Zell-
durch Phosphodiesterbrücken miteinander paare und die durch Basenpaare verknüpften teilung können die beiden Chromatiden auf
verknüpft sind. An der Desoxyribose befinden DNA-Stränge als komplementäre Stränge. die Tochterzellen verteilt werden, und die
sich heterozyklische Basen. Insgesamt gibt Zur konstanten Weitergabe des Erbmate- Kontinuität des genetischen Materials ist da-
es in der DNA nur vier verschiedene Basen rials muss sich die DNA identisch duplizieren mit gesichert. Da bei der Replikation in beiden
(Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin). können. Aufgrund ihrer Struktur ist die DNA neu gebildeten DNA-Doppelhelices jeweils ein
Die DNA kommt in Form einer Doppelhelix hierzu sehr einfach in der Lage. Trennen sich Strang der ursprünglichen DNA-Doppelhelix
vor, die aus zwei antiparallel umeinander ge- die beiden Stränge der Doppelhelix einer erhalten bleibt, wird die Replikation als semi-
wundenen Strängen besteht. Die beiden DNA- Chromatide (nicht unterteilbare Längseinheit konservativ bezeichnet.

2.1 Funktion und Struktur der DNA rials: »For purpose of study, the typical example of transformation
chosen as a working model was the one with which we have had
2.1.1 DNA als Träger der Erbinformation most experience and which consequently seemed best suited for
analysis« (Avery et al. 1944). Das entscheidende Ergebnis dieser
Der Eindruck, dass das Geheimnis der chemischen Grundlage Versuche war der Befund, dass proteolytische Enzyme (Trypsin,
der Vererbung in den Proteinen zu suchen sei, beherrschte noch Chymotrypsin) und Ribonuklease keinen Effekt auf die Trans-
in den 1930er-Jahren die Vorstellungen der Forscher. Dennoch formationsfähigkeit ausübten, wohl aber Desoxyribonuklease (in
gehen die grundlegenden experimentellen Befunde, die die der Originalpublikation als »desoxyribonucleodepolymerase« be-
Grundlage zur Identifikation der DNA als Träger der erblichen zeichnet). Die physikochemischen Untersuchungen der trans-
Eigenschaften bilden, bereits in die 1920er-Jahre zurück. formierenden Substanz in der Ultrazentrifuge, durch Elektro-
Frederick Griffith hatte beobachtet, dass bestimmte Bakterien- phorese und durch Messungen des Absorptionsspektrums gaben
stämme imstande waren, erbliche Eigenschaften an andere zusätzliche Hinweise auf den Desoxyribonukleinsäure-Charak-
Bakterienstämme mit ursprünglich abweichenden Eigenschaften ter dieser Verbindung. So konnten kaum mehr Zweifel bestehen,
zu übertragen. Für diese Untersuchungen hatte er Streptococcus dass DNA die biologisch aktive Verbindung für die Transforma-
pneumoniae (auch als Pneumococcus pneumoniae bezeichnet) tion der Pneumokokken ist.
verwendet, den Erreger der Lungenentzündung. Manche Strep- Dennoch blieb die eigentliche Basis der biologischen Funk-
tococcus-Stämme formen auf dem Kulturmedium große, eben- tion von DNA noch immer unverstanden, und zu ihrer Erklä-
mäßige Bakterienkolonien und werden daher als infektiöse rung bedurfte man des von Watson und Crick vorgestellten
S-Stämme (S für engl. smooth) bezeichnet. Subkutane Infek- Strukturmodells der DNA-Doppelhelix. Avery und seine Mit-
tionen von Mäusen mit diesen Erregerstämmen führen zum Tod arbeiter beschreiben am Schluss der Diskussion ihrer Versuchs-
der Mäuse. Hingegen zeigen Infektionen mit nicht infektiösen ergebnisse, in bemerkenswerter Zurückhaltung, die Konsequen-
R-Stämmen keine letalen Folgen; diese bilden auf Kulturmedium zen aus ihren Befunden folgendermaßen: »If the results of the
kleinere, raue Kolonien (R für engl. rough). Auch durch Hitze present study on the chemical nature of the transforming principle
inaktivierte S-Stämme erzeugen keine Infektionen. Mischt man are confirmed, then nucleic acids must be regarded as possessing
jedoch hitzeinaktivierte S-Stämme und lebende R-Stämme und biological specificity the chemical basis of which is as yet undeter-
infiziert damit eine Maus, so stirbt diese an den Folgen einer mined« (Avery et al. 1944).
Infektion. Man bezeichnet diesen Vorgang als Transformation: Unterstützt wurde die Interpretation der Daten von Avery
Die hitzeinaktivierten infektiösen Bakterien transformieren die durch spätere Experimente, die Alfred Hershey und Martha
nicht infektiösen R-Stämme und erzeugen infektiöse Bakterien, Chase (1951) ausführten. Infiziert man Bakterien mit Bakterio-
indem sie eine zunächst unbekannte Substanz auf die nicht in- phagen (7 Abschn. 4.3), deren Hüllproteine mit 35S und deren
fektiösen Bakterien übertragen. Die Ursache für diese Trans- DNA mit 32P markiert ist, so findet man, dass im Wesentlichen
formation blieb zunächst unbekannt, bis Oswald Avery, Colin 32P-markiertes Material in die Bakterienzellen gelangt, während

MacLeod und Maclyn McCarthy 1944 die entscheidenden Expe- die 35S-Markierung an den Bakterienzellwänden zurückbleibt.
rimente ausführten. Sie behandelten die infektiösen hitzeinakti- Da Stoffwechsel und Vermehrung der Bakteriophagen in der
vierten Bakterienstämme mit verschiedenen Enzymen, um auf Zelle erfolgen, muss die DNA die maßgebliche chemische Kom-
diese Weise zu testen, durch welche chemischen Verbindungen ponente der Bakteriophagen sein, nicht aber das Protein.
die Transformation ausgelöst wird. Die Begründung Averys für
die Wahl des experimentellen Systems erinnert auffallend an
Mendels Motivation für die Wahl seines Untersuchungsmate-
2.1 · Funktion und Struktur der DNA
23 2
> Die Erkenntnis, dass DNA die Erbinformation enthält, kennzeichnet: die kleine und die große Furche (engl. minor bzw.
beruht auf Experimenten, die zeigen, dass DNA imstande major groove). Diese Furchen spielen eine wichtige Rolle für die
ist, erbliche Eigenschaften einer bakteriellen Donorzelle Interaktion der DNA mit Eiweißmolekülen zur Verpackung der
auf eine genetisch andersgeartete bakterielle Rezeptor- DNA im Chromosom, aber auch für die Bindung regulatorischer
zelle zu übertragen. Proteinmoleküle (7 Abschn. 3.3, 7 Abschn. 4.6.3 und 7 Abschn.
7.3.2). Vor allem die große Furche ist bedeutsam, da in ihr die
Basenpaare in ihrer sequenzspezifischen Struktur zur Außen-
2.1.2 Chemische Zusammensetzung seite der Doppelhelix hin exponiert werden.
Das Watson-Crick-Modell der DNA-Doppelhelix enthält als
Die chemischen Verbindungen, die die Träger der Erbinforma- biologisch wichtigstes Strukturelement die Bildung von
tion sind, wurden schon 1871 durch Friedrich Miescher in Basenpaaren durch Wasserstoffbrücken zwischen komplemen-
seinem Labor im Keller des Tübinger Schlosses entdeckt. tären Basen (. Abb. 2.3). Die Basenpaarung erfolgt jeweils
Miescher untersuchte die Bestandteile von Eiter, den er aus Ver- zwischen der Amino- und der Keto-Form des Adenin (A) und
bandsmaterial isolierte, das er aus der Tübinger chirurgischen Thymin (T) oder zwischen Cytosin (C) und Guanin (G). Damit
Klinik erhielt. Dabei entdeckte er als wesentlichen Bestandteil waren auch die einige Jahre vorher von Erwin Chargaff auf-
des Eiters eine Substanz, die er Nuklein nannte. Ähnliche Verbin- gestellten Regeln der konstanten Proportionen erklärt. Sie be-
dungen fand er im Sperma von Lachsen, aber sein Interesse sagen im Wesentlichen, dass in allen DNA-Molekülen die Zahl
wandte sich bald wieder den Eiweißmolekülen zu. Das Nuklein der A- und T-Moleküle gleich ist sowie entsprechend die Zahl der
bezeichnen wir heute als Nukleinsäure. Nukleinsäuren erschie- G- und C-Moleküle (A:T = G:C = 1); entsprechend ist auch die
nen Miescher als zu einförmig in ihrer chemischen Zusammen- Summe gleich (A + G = T + C).
setzung, da sie im Wesentlichen große Anteile an Phosphat Da Adenin und Thymin durch zwei Wasserstoffbrücken mit-
enthielten. Diese Einförmigkeit konnte sein Interesse nicht er- einander verbunden sind, Guanin und Cytosin aber durch drei,
wecken. Erst im Laufe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist die Doppelhelix in AT-reichen DNA-Abschnitten weniger
wurden die Bestandteile der Nukleinsäuren und ihr molekularer stabil als in GC-reichen Abschnitten. Diese physikalische Eigen-
Aufbau genauer analysiert. Als Hauptkomponenten erkannte schaft kann auch zur experimentellen Bestimmung des mittleren
man in allen Nukleinsäuren vier heterozyklische organische Basengehalts der DNA ausgenutzt werden (. Abb. 2.7, . Abb. 2.8
Basen – Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin – oder, alternativ und . Abb. 2.9). Für die Stabilität der Doppelhelix ist jedoch
zum Thymin, das zu diesem nahe verwandte Uracil. Diese Basen nicht allein die Energie der Wasserstoffbrückenbindungen ent-
sind seitlich an eine Kette von Ribose- oder Desoxyribosemole- scheidend, sondern auch die molekulare Interaktion zwischen
külen gebunden, die untereinander durch Phosphodiesterbin- den Basen (Van-der-Waals-Kräfte).
dungen miteinander verknüpft sind (. Abb. 2.1). Man unter-
> Träger der Erbinformationen sind die Nukleinsäuren. Es
schied daher Desoxyribose-haltige Nukleinsäuren, die die Be-
handelt sich hierbei um hochmolekulare lineare Ketten-
zeichnung Desoxyribonukleinsäure (DNS oder DNA vom engl.
moleküle, die durch ein Zucker-Phosphat-Grundgerüst
deoxyribonucleic acid) erhielten, von den Ribose-haltigen Nu-
gebildet werden. In den meisten Organismen ist die Des-
kleinsäuren, Ribonukleinsäure (RNS oder RNA vom engl. ribo-
oxyribose die Zuckerkomponente der Nukleinsäuren des
nucleic acid) genannt. Ein wichtiger, aber zunächst in seiner
Erbmaterials, die daher als Desoxyribonukleinsäure (DNA)
eigentlichen Bedeutung nicht wahrgenommener Befund war die
bezeichnet wird.
annähernd äquimolare Menge der organischen Basen. Erwin
An den Zuckermolekülen befinden sich heterozyklische
Chargaff erkannte 1951, dass nur jeweils zwei Basen, nämlich
Purin- oder Pyrimidinbasen. Durch Wasserstoffbrücken-
Guanin und Cytosin einerseits und Adenin und Thymin ande-
bindungen zwischen zwei Basen (Guanin und Cytosin bzw.
rerseits in der DNA in genau äquimolaren Mengen vorhanden
Adenin und Thymin) können zwei DNA-Ketten miteinan-
sind. Diese grundlegenden chemischen Eigenschaften, zusam-
der in Wechselwirkung treten und eine schraubenförmige
men mit röntgenspektrometrischen Daten der Struktur kristal-
Doppelhelix mit einer tieferen und einer flacheren Furche
lisierter DNA-Moleküle, die einen helixartigen Aufbau der Mo-
an ihrer Außenseite bilden.
leküle als einfachste Interpretation anzeigten, waren entschei-
dend für das Verständnis der grundlegenden Struktur von DNA-
Molekülen. Sie erlaubten es James Watson und Francis Crick
(1953a, b), ein Strukturmodell für die DNA zu entwerfen, das es 2.1.3 Konfiguration der DNA
ermöglicht, die grundlegenden Eigenschaften und Funktionen
des genetischen Materials aller Lebewesen von der molekularen DNA-Doppelhelices können in mehreren strukturellen Konfigu-
Seite her zu verstehen. rationen vorliegen, die von der Basenfolge und den Ionenbedin-
Die DNA ist nach diesem Modell aus zwei antiparallelen Nu- gungen im Lösungsmittel abhängig sind. Die von Watson und
kleinsäuresträngen aufgebaut, die in einer rechtsgewundenen Crick vorgeschlagene Konformation wird als B-Konfiguration
Spirale miteinander verwunden sind und durch Wasserstoff- (B-Konformation) bezeichnet. Alternative Strukturen sind die
brückenbindungen der Basen zusammengehalten werden A- und die Z-Konfiguration (A- und Z-Konformation); die wich-
(. Abb. 2.2). Diese Struktur wird als DNA-Doppelhelix bezeich- tigsten physikalischen Eigenschaften dieser drei Konformatio-
net. In ihrer äußeren Form ist sie durch zwei Vertiefungen ge- nen sind in . Tab. 2.1 zusammengefasst. Die A-Konfiguration
24 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

c d

. Abb. 2.1 Aufbau der DNA und RNA. a Bausteine der Nukleinsäure sind die Nukleotide, die aus einer Base (hier: Adenin), einem Zucker (hier: 2-Desoxy-D-
Ribose) und einem Phosphatrest bestehen. Die Base ist über eine N-glykosidische Bindung mit dem 1’-C des Zuckers verbunden. Die Verbindung aus Base
und Zucker wird als Nukleosid bezeichnet (hier: Adenosin). Der Phosphatrest ist als Ester mit dem 5’-C des Zuckers verbunden; die dargestellte Verbindung
heißt Adenosin-5’-monophosphat. b Die Nukleinsäuren werden entsprechend dem Zuckerbaustein als Ribonukleinsäuren (bei Verwendung der D-Ribose;
Abk. RNA) oder Desoxyribonukleinsäuren (bei Verwendung der 2-Desoxy-D-Ribose; Abk. DNA) bezeichnet. Die Zuckerbausteine unterscheiden sich durch
die Anwesenheit (D-Ribose) oder Abwesenheit (Desoxyribose) einer OH-Gruppe am 2’-C. Die Nummerierung der einzelnen C-Atome im Ring ist angegeben.
c Die Basen sind entweder die Purine Adenin (A) bzw. Guanin (G) oder die Pyrimidine Cytosin (C) bzw. Thymin (T). Bei der RNA tritt Uracil (U) an die Stelle
von Thymin. Die Nummerierung der einzelnen C-Atome im Ring ist angegeben. Die entsprechenden Nukleoside werden als Adenosin, Guanosin, Cytidin,
Thymidin oder Uridin bezeichnet. d Über 5’ൺ3’-Phosphodiesterbindungen am Zucker verbundene Nukleotide bilden die Makromoleküle der DNA bzw. RNA.
Verschiedene DNA- bzw. RNA-Moleküle unterscheiden sich durch die Folge der organischen Basen (Sequenz). (d nach Löffler und Petrides 2003, mit freund-
licher Genehmigung von Springer)
2.1 · Funktion und Struktur der DNA
25 2

. Abb. 2.3 Wasserstoffbrücken bei der Basenpaarung in der DNA. Be-


stimmte Basen (A und T in DNA bzw. A und U in RNA sowie G und C) können
sich durch die Ausbildung von Wasserstoffbrücken paaren (rote Linien).
Durch die Paarung solcher komplementärer Basen entstehen doppelsträn-
gige Nukleinsäuren, die die Form einer Doppelhelix annehmen

. Tab. 2.1 Physikochemische Eigenschaften der DNA

Konfiguration

A B Z

Windungs- Rechts Rechts Links


richtung

Doppelhelix Ø 2,55 nm 2,37 nm 1,85 nm

Basenpaare pro ~ 11 ~ 10 ~ 12
Helixwindunga

Länge pro ~ 2,9 nm ~ 3,4 nm ~ 4,4 nm


Helixwindunga
. Abb. 2.2 Strukturmodell der DNA-Doppelhelix zum Zeitpunkt der Ver- Windung 33,6° 35,9° 60°
doppelung (Replikation). Eine Windung der Doppelhelix der B-Konformation zwischen Basen-
mit etwa 10 Basenpaaren benötigt etwa 3,4 nm, während der Durchmesser paaren
der Doppelhelix etwa 2 nm beträgt. Die große und kleine Furche (major
Basenneigung 19° –1,2° –9°
groove und minor groove) sind angegeben. Die beiden DNA-Einzelstränge
zur Helixachse
weisen eine entgegengesetzte Orientierung auf (Pfeilköpfe und Angabe der
freien endständigen 5’-OH- bzw. 3’-OH-Gruppen der Desoxyribose) Propellertwist 18° 16° ~ 0°

Helixachse läuft Große Furche Basen Kleine Furche


durch
erhält man vor allem bei hohen Salzkonzentrationen oder in
Große Furche Eng, tief Breit Sehr klein, flach
stark dehydratisiertem Zustand; es erscheint daher zweifelhaft,
ob sie unter biologischen Bedingungen vorkommt. Sie unter- Kleine Furche Breit, flach Eng Sehr eng, tief
scheidet sich von der B-Konfiguration dadurch, dass die Basen Glykosylbindung Anti Anti Anti (Pyrimidine),
nicht mehr senkrecht zur Achse der Doppelhelix angeordnet, syn (Purine)
sondern um etwa 19° gegen die Horizontale gedreht sind. Zu-
Nach Dickerson et al. 1983, Nelson und Cox (2009)
gleich beträgt die Anzahl der Basenpaare je Windung der Dop- arundungsbedingte Ungenauigkeiten möglich
pelhelix 11 statt der 10 Basenpaare, die die B-Konfiguration
kennzeichnen. Diese Veränderungen in der Struktur bedingen
eine Vergrößerung des Durchmessers der Doppelhelix auf
2,55 nm anstatt der 2,37 nm, die in der B-Konfiguration gefun-
26 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

2
Adenin

Thymin

a b A-Form B-Form Z-Form c


. Abb. 2.4 DNA in A, B- und Z-Konformation. a In der rechtsdrehenden B-Konformation verbindet eine gleichmäßige Linie die Phosphatgruppen; die große
und die kleine Furche sind deutlich ausgeprägt (Pfeile). b Raumfüllende Modelle der A-, B- und Z-Form der DNA. Diese Formen können in Abhängigkeit des
Hydratationszustandes und der Ionenstärke der Umgebung beobachtet werden. Die Unregelmäßigkeit des DNA-Grundgerüsts in der linksdrehenden Z-Kon-
formation ist offensichtlich. Hier ist die Furche tief und erreicht die Helixachse. c Ansicht eines DNA-Moleküls (15 bp) mit dem Übergang zwischen der links-
drehenden Z-Form und der rechtsdrehenden B-Form. Zwei Basen an der Übergangsstelle sind aus dem Stapel der Basen herausgedrückt (Adenin und Thy-
min, Pfeile). Die weiße Linie verbindet die einzelnen Phosphatreste der DNA-Kette. O: rot; N: blau; P: gelb; C: grau. (a, b nach Bergethon 2010, mit freundlicher
Genehmigung von Springer; c nach Ha et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

den werden. Die Anordnung der Basenpaare ist übrigens auch in B- und Z-Form kristallisiert (Ha et al. 2005). Dabei zeigte sich,
der B-Konfiguration nicht strikt in der gleichen Ebene orientiert, dass zwei Basen aus der Helix herausragen und damit für
sondern die Ebenen können geringfügig gegeneinander gedreht verschiedene Modifikationen besonders leicht zugänglich sind
sein. Hieraus resultieren durch weitere Verschiebungen in der (. Abb. 2.4c).
Basenanordnung und des Zucker-Phosphat-Rückgrats sequenz- Unter den üblichen physiologischen Bedingungen ist die
spezifische Unregelmäßigkeiten in der Doppelhelix. B-Form energetisch begünstigt. Allerdings wird die Z-Form
In allen bisher beschriebenen Strukturformen der DNA ist nicht nur durch die oben erwähnten GC-haltigen Sequenzen
die Doppelhelix rechtsgewunden, d. h. sie ist im Uhrzeigersinn stabilisiert, sondern auch durch Anlagerungen von Kationen
gedreht, unabhängig davon, ob man von oben oder von unten wie Spermin und Spermidin, die Methylierung des Cytosin-
auf das korkenzieherartig gedrehte Molekül schaut. Eine Links- Restes sowie besondere Formen der negativen Überspiralisie-
drehung hingegen findet man bei der Z-DNA-Konfiguration rung (engl. supercoiling). Eine besondere biologische Bedeutung
(. Abb. 2.4). Der Name Z-DNA leitet sich von der Zick- der Z-DNA blieb aber lange unklar; heute erscheint es jedoch
Zack-Struktur (engl. zigzag) ab, die die Phosphatgruppen an als gesichert, dass die Z-Form eine wichtige Rolle in der Trans-
der Außenseite der Doppelhelix bilden, wenn man sie sich kription spielt (7 Abschn. 3.3). Es gibt offensichtlich in vielen
untereinander verbunden vorstellt. Bei der B-DNA hingegen Genen definierbare Sequenzelemente (engl. Z-DNA forming
zeigen sie sich in einer glatten, schneckenartig um die Doppel- regions, ZDR), die die Ausbildung von Z-DNA in der Nähe des
helix gewundenen Linie. Z-DNA kann entstehen, wenn Pyri- Transkriptionsstartpunktes begünstigen. Weiterhin wurde in
midin- und Purinbasen in einem Strang miteinander abwech- der Folge eine Reihe von Proteinen identifiziert, die spezifisch
seln, z. B. also viele GCGCGCGC-Wiederholungen. Auch in an DNA in der Z-Form binden. Das bekannteste ist ADAR1,
dieser Form stehen die Basenpaare nicht senkrecht zur Achse eine Adenosin-Desaminase (engl. adenosine deaminase, RNA-
der Doppelhelix, sondern in einem Winkel von 9°. Der Abstand specific), die eine spezifische Funktion beim Editieren von
der Basen voneinander ist noch größer als in der A-Konfigura- RNA-Molekülen ausübt (7 Abschn. 3.3.6). Die Bindung an die
tion und beträgt 12 Basen pro Helixwindung. Eine volle Win- Z-DNA erfolgt dabei über eine spezifische Z-DNA-Bindungs-
dung erfordert 4,56 nm, und der Durchmesser beträgt nur domäne der Proteine. Auch manche Virus-Proteine verfügen
1,85 nm, das Molekül ist also länger und dünner. Die Struktur über eine Z-DNA-Bindungsdomäne, die damit an offene Trans-
der Z-DNA ist somit viel gestreckter als die der B-DNA. Das hat kriptionsstartpunkte binden und so die Transkription zellulärer
auch zur Folge, dass die große Furche beinahe völlig zugunsten Gene abschalten können. Hier eröffnen sich neue Möglichkeiten
einer relativ tiefen kleinen Furche verschwindet. 26 Jahre nach einer antiviralen Therapie.
der ersten Beschreibung der Z-DNA durch Wang und seine
Mitarbeiter (1979) wurde der Übergangsbereich zwischen der
2.1 · Funktion und Struktur der DNA
27 2
. Abb. 2.5 Besonders Wiederholungssequenzen
Voraus-
Struktur Konformation setzungen Sequenz neigen zu Anordnungen, die nicht der üblichen B-Kon-
formation entsprechen. Haarnadelstrukturen entstehen
durch direkte Wiederholungssequenzen (N in der
direkte Sequenz: jede Base). Wiederholungen der Sequenz CGG
Haarnadel- Wieder- CNGCNGCNG
CNGCNGCNG bilden besonders stabile Haarnadelstrukturen aus.
struktur holungen
AT-reiche Regionen (z. B. am Startpunkt der DNA-Replika-
tion) können sich leicht öffnen und werden als Ent-
windungselemente bezeichnet. Tetraplexe bilden sich
DNA- AT-reiche AT T C TAT T C T
Entwindungs- an G-reichen Sequenzen und führen zu einem stabilen
Regionen TAAGATAAGA G-Quartett aus vier DNA-Strängen. Eine Dreifachhelix
element
kann leicht durch lange Stränge spiegelbildlicher Wieder-
G G holungen von Purin-Pyrimidin-Sequenzen gebildet
G G werden (R: Purine, A oder G; Y: Pyrimidine, T oder C); die
G G Einzelstrang
CGGCGGCGG Wiederholung von GAA-TTC ist häufig an der Regulation
Tetraplex G G Oligo-G-
G G Bereiche GCCGCCGCC der Genexpression beteiligt. Klebrige DNA wird durch
G G sehr lange GAA-TTC-Wiederholungseinheiten hervorge-
rufen und führt zu einer sehr stabilen hantelförmigen
Struktur, die auch durch Erhitzen auf 80 °C nicht aufge-
RY spiegel- brochen werden kann. (Nach Wells et al. 2005, mit freund-
Dreifach- bildliche GAAGA AGAAG licher Genehmigung der Autoren)
helix Wieder- C T TC T TC T TC
holungen

2 GA-reiche
Abschnitte GAAGAAGAAG
Klebrige DNA direkte CTTCTTCTT
Wieder-
holungen

*Esnichtwurde eine Reihe weiterer DNA-Strukturen beobachtet, die


der üblichen B-Konformation entsprechen (. Abb. 2.5).
können (. Abb. 2.6). Man hat solche DNA-Sequenzen aufgrund
ihrer besonderen elektrophoretischen Eigenschaften entdeckt.
Schon 1957 wurde von einer DNA berichtet, die aus einer Sie wandert nämlich bei der elektrophoretischen Trennung im
Dreifachhelix besteht; besonderes Sequenzmerkmal sind hier Gel langsamer als es ihrer eigentlichen Größe entspricht. Das ist
sehr lange Bereiche von spiegelbildlichen Wiederholungs- auf die veränderte sterische Struktur des DNA-Moleküls zurück-
einheiten, die abwechselnd aus Purinen und Pyrimidinen ge- zuführen, die die Wanderung durch die Poren eines Gels behin-
bildet werden. Weitere mögliche Formen sind Haarnadel- dert. Die Biegung der Doppelhelix in eine kurvenförmige Gestalt
strukturen, Entwindungselemente, Tetraplexe und hantelför- wird durch die Basenfolge verursacht. Bestimmte Basenfolgen
mige klebrige DNA-Strukturen. Es gibt inzwischen zahlreiche führen zu einer Änderung der Drehung der Basenpaare gegen-
Hinweise darauf, dass diese Strukturen an verschiedenen einander, da sonst sterisch unzulässige Überlappungen ent-
genetischen Prozessen beteiligt sind, z. B. der Regulation der stehen. Diese Drehung der Basen führt zu einer Abweichung von
Replikation (7 Abschn. 2.2), Transkription (7 Abschn. 3.3) der B-Konfiguration, die an den Übergangsstellen einen Knick
und Rekombination (7 Abschn. 4.4.2 und 7 Abschn. 6.3.3), (engl. kink) in der Richtung der Doppelhelix und damit eine Ab-
aber auch häufig zu Instabilitäten der DNA führen, die sich als weichung ihrer Längsachse von der vorherigen Richtung ver-
Mutationen manifestieren können (7 Kap. 10). Eine lesens- ursacht. Insbesondere AA-Dinukleotide induzieren eine gebo-
werte aktuelle Übersicht über diese Phänomene geben Bacolla gene DNA-Struktur, wobei die Biegung in einer Ebene liegt,
und Wells (2009). wenn sie in regelmäßigen Abständen relativ zur Doppelhelixwin-
dung (z. B. alle 10 bis 11 Basenpaare) auftreten. Ähnliche Effekte
> Die DNA-Doppelhelix kann in unterschiedlichen Struktur-
werden noch für bestimmte andere Dinukleotide (z. B. AG oder
formen vorliegen. Normalerweise bildet sie die rechts-
GA) beobachtet, aber auch längere Sequenzeinheiten können
gewundene B-Konfiguration aus. Bei bestimmten Basen-
Richtungsveränderungen bedingen.
folgen und in bestimmten Stoffwechselsituationen kann
Die funktionelle biologische Bedeutung solcher gebo-
sie jedoch eine linksgewundene Z-Konfiguration an-
genen DNA-Doppelhelices ist bisher nicht sehr gut verstanden.
nehmen. Das hat strukturelle Konsequenzen, da die
Es gibt Hinweise darauf, dass sie wesentliche Bedeutung für
Doppelhelix in einen gestreckteren Zustand übergeht und
die Bindung (bzw. Verhinderung der Bindung) bestimmter
die Vertiefungen an der Außenseite der Doppelhelix ihre
Proteine haben. Dementsprechend hat man auch beobachtet,
Struktur verändern.
dass gebogene DNA-Bereiche Einfluss auf die Transkription
Besonderes Interesse findet auch die Eigenschaft der DNA, kur- (7 Abschn. 3.3) und Rekombination (7 Abschn. 4.4.2 und 7 Abschn.
venförmige Molekülbereiche (engl. curved DNA) ausbilden zu 6.3.3) ausüben können.
28 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

hang mit der zellulären Funktion der DNA Bedeutung gewinnen


C: (7 Abschn. 7.3).
10,5° per Das Strukturmodell der DNA-Doppelhelix (.  Abb.  2.2)
10 bp
2 88,6° per
lässt erkennen, dass der Außenbereich der Doppelhelix sehr
wesentlich durch das Phosphodiester-Zucker-Rückgrat der DNA
104 bp
bestimmt wird. Der hohe Gehalt an negativ geladenen Phos-
phatgruppen, die nicht durch entsprechende positive Ladungen
kompensiert werden, verleiht der DNA eine stark negative
Gesamtladung. Diese physikalische Eigenschaft wird uns in Zu-
Kontrolle S: sammenhang mit der Art der Verpackung der DNA im Zellkern
6,9° per 14,1° per noch näher interessieren (7 Abschn. 6.2.2).
10 bp 10 bp Ein besonders wichtiger Aspekt der Struktur der DNA-Dop-
27,2° per 141,2° per pelhelix ist deren Aufbau aus zwei antiparallel orientierten
104 bp 104 bp
Einzelsträngen. Dem DNA-Modell können wir entnehmen,
dass im Phosphat-Zucker-Rückgrat der DNA-Ketten die ein-
zelnen Desoxyribosemoleküle durch Phosphodiesterbrücken
zwischen ihrer 3’-OH-Gruppe und der 5’-OH-Gruppe des fol-
genden Desoxyribosemoleküls miteinander verbunden sind
(. Abb. 2.1d). Hierdurch entsteht eine Asymmetrie innerhalb der
DNA-Kette, die zu einer 3’→5’-Orientierung der Desoxyribose-
moleküle führt. Das Schema in . Abb. 2.2 lässt auch erkennen,
dass die miteinander zur Doppelhelix vereinigten DNA-Ketten
gegenläufig, also antiparallel angeordnet sind: Der 3’→5’-Orien-
. Abb. 2.6 Gebogene DNA-Struktur (curved DNA). DNA-Moleküle mit tierung des einen Strangs steht eine 5’→3’-Orientierung des
einer Länge von 104 bp werden hinsichtlich ihrer Krümmung verglichen: anderen Strangs gegenüber. Diese strukturelle Eigenschaft der
Alle Moleküle bestehen aus 10-maligen Wiederholungen einer Sequenz, Doppelhelix muss uns deutlich vor Augen stehen, da sie wichtige
wobei an den Positionen 21, 42, 63 und 84 jeweils einzelne Basenpaare ein- biologische Konsequenzen hat, die später im Einzelnen erörtert
gefügt wurden, um so eine 10,5-bp-Wiederholung zu erhalten (Kontrolle:
werden.
GCGAATTCGC, C: GCAAAAAAGC, S: GCGAAAAAAC). In Abhängigkeit von
der Sequenz wird eine deutliche Krümmung der DNA erzielt. Rot: Adenosin; > Die beiden gepaarten Nukleinsäurestränge sind in
blau: Thymidin; gelb: Guanosin; grün: Cytidin. (Nach Strahs und Schlick
entgegengesetzter Richtung orientiert, haben also den
2000, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
Charakter antiparalleler Ketten.

*Aufgrund ihrer vielfältigen strukturellen Variabilität entwickelt


sich die DNA zu einem idealen Molekül in der Nanotechnolo- 2.1.4 Physikalische Eigenschaften
gie. Genetiker und Biochemiker haben DNA-Sequenzen und der Nukleinsäuren
Strukturen mit neuen funktionellen Eigenschaften entdeckt,
die die Expression bestimmter Gene verhindern oder Makro- In den 1950er-Jahren hatte man festgestellt, dass die DNA-Dop-
moleküle bei sehr niedrigen Konzentrationen entdecken pelhelix nicht nur denaturiert – also in Einzelstränge zerlegt –
können. Physikochemiker und Computerspezialisten können werden kann, sondern dass sich DNA-Einzelstränge unter ge-
starre DNA-Strukturen konstruieren, die als Gerüst für den eigneten Ionen- und Temperaturbedingungen wieder zu einer
Aufbau von Material im molekularen Maßstab dienen; sie Doppelhelix vereinigen können. Man bezeichnet diesen Vorgang
können einfache DNA-Rechenmaschinen bauen, Diagnostik- als Renaturierung oder Reassoziation. Die durch Renaturierung
Automaten und DNA-Motoren. Die Verbindung des biolo- gebildeten Moleküle nennt man auch Hybridmoleküle, und man
gischen und technischen Fortschritts eröffnet ein großes bezeichnet den Vorgang der Doppelstrangbildung als Hybridi-
Potenzial für die Elektronik sowie für therapeutische und dia- sierung. Der Begriff Hybridmolekül soll im Folgenden auf alle
gnostische Anwendungen (Saccà und Niemeyer 2012). durch Hybridisierung bzw. Renaturierung erhaltenen Doppel-
strangmoleküle angewandt werden, unabhängig davon, ob die
> DNA erweist sich trotz ihrer einförmigen chemischen
Doppelstränge den Ausgangsmolekülen entsprechen oder nicht.
Struktur als ein sehr flexibles Molekül, dessen spezifische
Solche Hybridmoleküle können also aus vollständig komple-
Struktureigenschaften innerhalb kleiner Bereiche des
mentären DNA- und RNA-Einzelsträngen oder aus zwei kom-
Makromoleküls durch bestimmte Basenfolgen verändert
plementären RNA-Strängen gebildet werden, oder sie können
werden können.
auch aus Nukleinsäuresträngen entstehen, die nicht vollständig
Bereits aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass die komplementär sind. In den Hybriddoppelsträngen befinden sich
DNA-Doppelhelix bei genauerer Betrachtung keine einförmige, dann ungepaarte Abschnitte – man spricht von Fehlpaarungen
wenig differenzierte Struktur ist, sondern einer Vielfalt von (engl. mismatching). Einen solchen Doppelstrang nennt man
Strukturveränderungen unterliegen kann, die im Zusammen- auch eine Heteroduplex.
2.1 · Funktion und Struktur der DNA
29 2
. Abb. 2.7 Schmelzkurve von DNA. a Doppel-
100 strängige Nukleinsäuren können durch Erhit-
zung in Einzelstränge aufgeschmolzen werden.
Die Temperatur, bei der 50 % der Moleküle
80
als Einzelstrang vorliegen, ist der Schmelzpunkt
(Tm). b Der Schmelzpunkt ist vom GC-Gehalt
70
% Doppelstrang

der Nukleinsäuren abhängig. Außerdem


60 schmelzen RNA/RNA-Doppelstränge bei höhe-

% G+C
rer Temperatur als sequenzgleiche DNA/
50 DNA-Doppelstränge. DNA/RNA-Hybridstränge
liegen in ihrer Schmelztemperatur zwischen
40 der von Doppelstrang-DNA und -RNA. (Nach
Marmur und Doty 1962, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)
20
20

70 80 90 100
a Temperatur (°C) b Temperatur (°C)

Da die Stabilität der Doppelhelix durch die Basenpaarung Für das Verständnis der allgemeinen Struktur des eukaryo-
bedingt ist, sind solche ungenau zusammengefügten Hetero- tischen Genoms haben Renaturierungsversuche mit geno-
duplexstränge weniger stabil als vollständig gepaarte Moleküle. mischer DNA eine grundlegende Rolle gespielt. Von ausschlag-
Die Stabilität eines Doppelstrangs kann beispielsweise durch gebender Bedeutung war die Erkenntnis, dass die Kinetik der
thermische Denaturierung ermittelt werden, da der Verlauf der Bildung von Doppelhelices aus Einzelsträngen Information über
temperaturabhängigen Denaturierung neben der Basenzusam- die Komplexität eines Genoms, also letztlich über die Anzahl
mensetzung von der Stabilität der Doppelhelix, also vom Anteil unterschiedlicher DNA-Sequenzen, geben kann. Wie wir sehen
gepaarter und ungepaarter Basenpaare abhängig ist. Messen werden, unterscheidet sich die so ermittelte Komplexität eines
kann man Denaturierung durch Photometrie im Bereich des Genoms mitunter erheblich von der tatsächlichen Größe des
Absorptionsmaximums von Nukleinsäuren, das bei 260 nm liegt. Genoms in Nukleotiden, wie man sie aus der photometrisch oder
Die Absorption von doppelsträngigen Nukleinsäuren ist bei ei- anderweitig ermittelten DNA-Menge im haploiden Genom (ein-
ner Wellenlänge von 260 nm niedriger als die von Einzelsträn- facher Chromosomensatz) errechnen kann. Man spricht daher
gen. Aus einer thermischen Schmelzkurve (. Abb. 2.7) kann man auch von kinetischer Komplexität eines Genoms (im Gegensatz
daher Rückschlüsse auf die Genauigkeit der Basenpaarung von zur Genomgröße, die stets die Menge von DNA im haploiden
Doppelsträngen erhalten, die in einem Hybridisierungsexperi- Genom angibt).
ment gebildet wurden. Je größer der Anteil ungepaarter Basen- Die Bildung einer DNA-Doppelhelix aus Einzelsträngen folgt
paare ist, desto niedriger ist der Schmelzpunkt – die Temperatur, der Kinetik einer bimolekularen chemischen Reaktion (Reak-
bei der 50 % der Doppelstränge geschmolzen sind. tion 2. Ordnung), ist also konzentrations- und zeitabhängig. In
der Reaktionsgleichung
> Einzelstrang-DNA lässt sich durch Basenpaarung kom-
plementärer Stränge zur Doppelhelix renaturieren.
Solche Hybridmoleküle können auch aus nicht vollständig
komplementären DNA-Molekülen entstehen und weisen
bedeutet k2 die Reaktionskonstante, die ein wichtiger Parameter
dann ungepaarte Abschnitte auf. Die entstandenen
für die Berechnung der kinetischen Komplexität einer DNA ist.
Doppelstränge werden in solchen Fällen als Heteroduplex
Die Molarität von Nukleotiden in der Einzelstrangnukleinsäure
bezeichnet. Das Ausmaß der Fehlpaarungen lässt sich
wird durch c angegeben, und t ist die Zeit in Sekunden. Wenn
durch Analyse der thermischen Schmelzeigenschaften
man die Reaktionsgleichung in folgender Weise umformt, kann
der Doppelhelix ermitteln, da die Doppelhelix mit einem
man ihre grafische Auswertung vereinfachen:
zunehmenden Anteil ungepaarter Regionen instabiler
wird.

Die Möglichkeit der Hybridisierung von Nukleinsäuren hat


eine zentrale Bedeutung für die Aufklärung der Genomstruktur, In . Abb. 2.8 ist die Reaktionskinetik auf der Grundlage dieser
für die Analyse von Genen, ihrer Feinstruktur und ihrer Loka- Gleichung als Prozentsatz der Renaturierung in Abhängigkeit
lisation im Genom erlangt. Ein beachtlicher Teil moderner vom Produkt aus der Anfangskonzentration c0 (von Nukleotiden
gentechnologischer Methodik macht Gebrauch von der Grund- in M × l–1 in den Nukleinsäureeinzelsträngen) und der Zeit t
eigenschaft der Nukleinsäuren, sich in komplementären Ab- (in s) in einer semilogarithmischen Grafik dargestellt. Der Vor-
schnitten zu Hybriden oder sogar in Tripelhelixstrukturen zu teil dieser Darstellungsweise ist, dass Reaktionskinetiken ohne
vereinigen. eine Korrektur für unterschiedliche Anfangskonzentrationen
30 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

100%
90%
80%
2 70%

Einzelsträngige DNA
60%
50%
a
40% b
30%
20%
. Abb. 2.8 Renaturierungskinetik der DNA. Diese Darstellung des Verlaufs
einer chemischen Reaktion 2. Ordnung wird als c0t-Kurve (gesprochen cot) 10% c
bezeichnet. Sie ermöglicht den direkten Vergleich der Reaktionskinetiken
0%
verschiedener DNA-Proben, da in der Darstellung Unterschiede in der Reak- -6 -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 6
tionszeit und DNA-Konzentration (durch die Bildung des Produktes aus log EC0t
Anfangskonzentration der denaturierten Nukleotide [c0] und Zeit [t]) nicht
zur Geltung kommen. Im c0t1/2-Punkt sind 50 % der Nukleotide zu Doppel- . Abb. 2.9 Eine c0t-Kurve von genomischer DNA der Küchenzwiebel
strängen renaturiert. Unterschiede verschiedener DNA-Proben im c0t1/2-Wert (Allium cepa). Die Analyse der DNA-Renaturierungskinetiken ist eine
zeigen direkt den Unterschied in der Komplexität der DNA an. Abweichun- wichtige analytische Methode, um schnell einen Überblick über die Kom-
gen vom sigmoiden Kurvenverlauf, wie er für die ideale Reaktion 2. Ordnung plexität eines Genoms zu erhalten. Dazu wird die DNA in Fragmente von
charakteristisch ist, zeigen die Zusammensetzung der DNA-Probe aus ~ 300 bp gespalten, anschließend mit Hitze denaturiert und durch lang-
mehreren Fraktionen unterschiedlicher kinetischer Komplexität an, d. h. sie sames Abkühlen wieder renaturiert. Die hier dargestellte Renaturierungs-
deuten auf das Vorhandensein repetitiver DNA-Sequenzen in der DNA-Probe kinetik lässt den Schluss zu, dass das Genom der Zwiebel aus vier Kom-
ponenten besteht: zunächst palindromische DNA, die sich unabhängig
von der DNA-Konzentration zurückfaltet (etwa 7,2 %), und außerdem
Fragmente, die nicht reagieren (9,3 %). Drei Komponenten können aber
von Einzelsträngen direkt vergleichbar sind, da sich Anfangs- genauer unterschieden werden und sind in den Einzelkurven a–c dar-
konzentration und Reaktionszeit umgekehrt proportional zu- gestellt: (a) hochrepetitive Sequenzen (Anteil: 41,2 %), (b) mittelrepetitive
Sequenzen (36,4 %) und (c) Einzelkopiesequenzen (5,9 %), die im Wesent-
einander verhalten und somit durch die Darstellung des Pro- lichen den codierenden Anteil enthalten. (Nach Stack und Comings 1979,
duktes beide Größen als variable Einzelparameter in der Grafik mit freundlicher Genehmigung von Springer)
eliminiert sind. Aus . Abb. 2.8 ist auch zu erkennen, dass mit-
hilfe des c0 × t-Wertes, bei dem die Hälfte der Einzelstränge zum
Doppelstrang reassoziiert ist (genannt c0t1/2-Wert), die relative aktionskurven verschiedener DNA-Fraktionen, deren Einzel-
kinetische Komplexität eines Genoms beschrieben werden kann. sequenzen mit jeweils spezifischer und unterschiedlicher
Hat man mehrere Reaktionskinetiken unter gleichen Bedin- Häufigkeit im haploiden Genom vorhanden sind. Die detaillier-
gungen (Ionenstärke, Temperatur, Länge der renaturierenden te Untersuchung dieser unterschiedlichen DNA-Fraktionen hat
Stränge) ermittelt, so kann man durch Vergleich der c0t1/2-Werte tief gehende Einblicke in die Organisation des eukaryotischen
der verschiedenen Reaktionskinetiken direkte Informationen Genoms vermittelt.
über die relativen kinetischen Komplexitäten der untersuchten Einige wichtige Gesichtspunkte der Zusammensetzung des
Genome erhalten. Genoms aus Fraktionen mit unterschiedlicher Wiederholungs-
häufigkeit lassen sich direkt aus den Reaktionskinetiken ablesen.
> Die Bildung einer Doppelhelix aus komplementären
So ist festzustellen, dass in praktisch allen untersuchten Geno-
Nukleinsäureeinzelsträngen erfolgt reaktionskinetisch
men neben repetitiven DNA-Sequenzen auch nicht wiederholte
als bimolekulare Reaktion. Sie ist damit von der
Einzelkopiesequenzen (engl. unique sequences) vorkommen.
Konzentration der komplementären Stränge und der
Die Reaktionskinetiken verdeutlichen weiterhin, dass jeder un-
Reaktionszeit abhängig. Das gestattet es, durch Messung
tersuchte Organismus ein ihm eigentümliches Muster repeti-
der Renaturierungskinetik Aufschlüsse über die Kom-
tiver Sequenzen besitzt. Obwohl im Allgemeinen die Regel gilt,
plexität der renaturierenden Nukleinsäuresequenzen
dass bei steigender Genomgröße auch der Anteil repetitiver
zu erhalten.
Sequenzen steigt, kann das im Einzelfall nicht zutreffen. Über die
Ein historisches Beispiel für die genomische DNA der Zwiebel Häufigkeitsverteilungen verschiedener repetitiver DNA-Frak-
(Allium cepa) gibt . Abb. 2.9. Dabei fällt auf, dass der Reaktions- tionen lassen sich selbst bei nahe verwandten Arten keine Vor-
verlauf nicht einer einfachen sigmoiden Kurve folgt. Vielmehr hersagen machen, da sie sehr starken Veränderungen unterwor-
verläuft er flacher – oder sogar in mehreren Stufen. Dieses Reak- fen sind.
tionsverhalten ist damit zu erklären, dass ein Teil der DNA-Se-
quenzen im haploiden Genom nicht nur einmal, sondern mehr- > Das Genom von Eukaryoten zeichnet sich durch den Besitz
fach vorhanden ist. Diese mehrfach vorhandenen DNA-Se- von Einzelkopie-DNA-Sequenzen und von repetitiven
quenzen wurden repetitive DNA-Sequenzen genannt (oder DNA-Sequenzen aus. Der Anteil beider Arten von Sequen-
Wiederholungssequenzen; engl. repetitive oder repeated DNA). zen ist starken Schwankungen unterworfen und variiert
Der Reaktionsverlauf erklärt sich aus der Überlagerung der Re- selbst zwischen nahe verwandten Arten.
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
31 2
2.2 Die Verdoppelung der DNA schen Kennzeichnung des DNA-Einzelstrangs, der nach dem
(Replikation) Watson-Crick-Modell während der Replikation neu synthetisiert
wird, nach zwei Verdopplungsrunden die Hälfte der DNA-Mole-
Die Befunde von Avery und seinen Mitarbeitern sowie von küle diese chemischen Markierungen enthalten müsste, während
Hershey und Chase (7 Abschn. 2.1.1) gaben eindeutige Hinweise die andere Hälfte völlig frei von solchen Markierungen sein sollte
darauf, dass nicht Proteine, sondern DNA die für die Vererbung (. Abb. 2.10a). Zur chemischen Markierung von DNA während
verantwortliche chemische Verbindung ist. Fragt man nun nach der Neusynthese erweist sich der Gebrauch des schweren Stick-
der biologischen Bedeutung der DNA, so bietet es sich an, nach stoffisotops 15N geeignet, da es in Form von 15NH4Cl dem Kul-
einer zentralen Eigenschaft des Erbmaterials zu fragen: Es muss turmedium beigefügt werden kann und dann in die heterozykli-
sich im Zusammenhang mit Zellteilungen identisch verdoppeln schen Basen der DNA eingebaut wird. Die Schwimmdichte (engl.
können, um zu gewährleisten, dass alle nachfolgenden Genera- buoyant density) der DNA wird hierdurch erhöht. Meselson und
tionen von Zellen mit der gleichen Erbinformation ausgestattet Stahl haben sich dieses Verfahren zunutze gemacht und Bakte-
werden. Die Fähigkeit zur identischen Verdoppelung des Erb- rien zunächst für 14 Generationen in einem 15N-Medium wach-
materials muss daher als eine seiner entscheidenden Grund- sen lassen, sodass die bakterielle DNA mit diesem Stickstoffiso-
eigenschaften angesehen werden. top gesättigt war. Nun wurde das Medium ausgewechselt, und die
Das Watson-Crick-Modell der DNA-Doppelhelix ist mit Bakterien wurden in einem Medium weiter gezüchtet, das einen
einer solchen Eigenschaft voll in Einklang zu bringen, wie beide Überschuss an 14NH4Cl sowie 14N-haltige Basen enthielt, sodass
Autoren selbst herausgestellt haben: »We have recently proposed bei allen weiteren Replikationsrunden der DNA nur noch 14N-
a structure for the salt of deoxyribonucleic acid which, if correct, haltige Basen in die DNA eingebaut wurden. Entscheidend für
immediately suggests a mechanism for its selfduplication« (Watson die weitere Analyse war nun, dass man 15N- und 14N-haltige
und Crick 1953a). Trennen sich die beiden DNA-Stränge der DNA-Stränge aufgrund des Dichteunterschieds der N-Isotope
Doppelhelix durch Aufhebung der Basenpaarungen, so kann durch Dichtegradienten-Gleichgewichtszentrifugation vonei-
jeder der beiden Stränge als Matrize (engl. template) für die nander trennen und somit ihre relativen Mengen innerhalb der
Synthese eines neuen komplementären Strangs dienen, sodass Gesamt-DNA ermitteln kann.
nach der Neubildung beider komplementärer Stränge zwei neue, Führt man eine solche Analyse nach einer Generation
strukturell aber völlig identische DNA-Doppelhelices vorliegen. Wachstum in 14N-haltigem Medium durch, so findet man, dass
Durch die genau festgelegten Möglichkeiten der Basenpaarung, die Doppelhelix im Gleichgewichtsgradienten eine Schwimm-
nach denen sich ein Thymin jeweils nur mit einem Adenin und dichte besitzt, die einen Mittelwert zwischen der Dichte völlig
ein Guanin stets nur mit einem Cytosin paaren kann, ist auch die 14N-markierter DNA und völlig 15N-markierter DNA darstellt

Abfolge der Basen in den neu synthetisierten Strängen identisch. (. Abb. 2.10b). In diesem Fall müssen also die Hälfte der Basen
Da nach diesem Modell jeweils einer der beiden Stränge der das schwerere Isotop, die andere Hälfte das leichtere Isotop be-
DNA-Doppelhelix bereits vorhanden ist, der andere aber neu sitzen. Nach einer weiteren Generation Wachstum der Bakterien
gebildet wird, spricht man von einer semikonservativen Repli- im 14N-haltigen Medium weist nur noch eine Hälfte der DNA die
kation der DNA. mittlere Dichte auf, während die andere Hälfte durch eine nied-
rige Dichte gekennzeichnet ist. Diese Beobachtungen sind nur
> Die Struktur der DNA lässt erkennen, dass ihre Verdoppe-
mit der Erklärung vereinbar, dass alle neu synthetisierten DNA-
lung durch Neusynthese jeweils eines neuen, komplemen-
Stränge das 14N-Isotop tragen und mit jeweils einem der alten
tären Strangs an jedem der beiden vorhandenen Stränge
(15N-haltigen) DNA-Stränge gepaart sind. Meselson und Stahl
der Doppelhelix erfolgt. Dieser Vorgang wird als semikon-
(1958) haben ihre Ergebnisse in den folgenden drei Schlüssen
servative Replikation bezeichnet.
zusammengefasst:
4 »The nitrogen of a DNA molecule is divided equally between
two subunits which remain intact through many
2.2.1 Semikonservative Replikation generations.«
4 »Following replication, each daughter molecule has received
Experimentell wurde das Modell einer semikonservativen Repli- one parental subunit.«
kation der DNA auf zwei Ebenen bestätigt. An bakterieller DNA 4 »The replicative act results in a molecular doubling.«
demonstrierten Matthew Meselson und Franklin W. Stahl 1958
den semikonservativen Charakter der Replikation mittels ana- Die Wissenschaftler kamen also zu dem Schluss, dass die Ergeb-
lytischer Ultrazentrifugationstechniken. Ein Jahr zuvor stellte nisse der gegenwärtigen Experimente genau mit den Erwartun-
Herbert Taylor cytologische Untersuchungsbefunde vor, die er gen aus dem Watson-Crick-Modell für DNA-Replikation über-
an Pflanzenzellen erhalten hatte, aus denen er den gleichen einstimmen (»The results of the present experiments are in exact
Schluss der semikonservativen Replikation der DNA in eukaryo- accord with the expectations of the Watson-Crick model for DNA
tischen Zellen zog. Beide Befunde sollen im Folgenden in ihren duplication«).
Einzelheiten besprochen werden. Einen ganz ähnlichen Ansatzpunkt zur Beantwortung der
Die Experimente von Meselson und Stahl wurden an dem Frage, wie die Duplikation des genetischen Materials verläuft,
Bakterium Escherichia coli durchgeführt. Grundlage dieser Ex- wählte Herbert Taylor 1957 in seinen Experimenten. Im Unter-
perimente war die Überlegung, dass bei einer geeigneten chemi- schied zu Meselson und Stahl, deren Versuche biophysikalischer
32 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

a bietet eine Auflösung, die ausreichend ist, um den Einbau


radioaktiver DNA-Vorstufen innerhalb einer einzelnen  Chro-
matide der Chromosomen zu lokalisieren (Chromatiden sind
2 Halb-Chromosomen nach der Verdoppelung im Zellzyklus;
7 Abschn. 6.3.1). Besonders geeignet ist für derartige Versuche
3H-Thymidin, da es ausschließlich in DNA eingebaut wird und

diese damit spezifisch markiert. Lässt man Zellen in Medium mit


radioaktivem Thymidin wachsen, so findet man Radioaktivität
ausschließlich in neu replizierter DNA der Chromosomen.
Die Versuche von Taylor entsprechen damit weitgehend denen
von Meselson und Stahl: Es werden zunächst markierte Vorstufen
während der Replikation in die DNA eingebaut (bei Meselson und
Stahl 15N, bei Taylor 3H), und anschließend wird deren Verteilung
(bei Meselson und Stahl durch Gleichgewichtszentrifugation von
isolierter DNA in der Ultrazentrifuge, bei Taylor durch Autoradio-
graphie von Chromosomen) in anschließenden Replikations-
b zyklen der DNA in nicht markierten Medien untersucht. Während
Meselson und Stahl von DNA-Doppelhelices ausgingen, die durch
kontinuierliches Wachstum in markiertem Medium durchgehend
15N-markiert waren, erlaubte Taylor die 3H-Markierung während

der Phase des Zellzyklus (7 Abschn. 6.3), in dem die DNA ver-
doppelt wird. Das gestattet es, bereits nach einer weiteren Replika-
tion in nicht radioaktivem Kulturmedium Hinweise auf die Art
der Replikation zu erhalten.
Die Ergebnisse Taylors sind in . Abb. 2.11 schematisch
zusammengefasst. Man beobachtet nach der Replikation in
3H-Thymidin-haltigem Medium in der folgenden Metaphase

zunächst ausschließlich vollständig markierte Chromatiden.


Bereits nach einer weiteren Phase der DNA-Replikation in un-
markiertem Medium findet man, dass alle Chromosomen eine
unmarkierte und eine markierte Chromatide besitzen. Nach
einer weiteren Replikationsrunde ist die Hälfte der Chromo-
somen in beiden Chromatiden unmarkiert, während die andere
Hälfte der Chromosomen jeweils eine markierte Chromatide
aufweist. Diese Beobachtungen Taylors und seiner Mitarbeiter
lassen sich völlig auf der Basis des Watson-Crick-Modells der
DNA-Doppelhelix erklären, wenn man annimmt, dass jede
. Abb. 2.10 Nachweis der semikonservativen Replikation der DNA durch Chromatide aus einer einzigen DNA-Doppelhelix besteht.
Meselson und Stahl. a Schema der semikonservativen Replikation. Jeder
Diese Frage war zur Zeit der Experimente Taylors sehr um-
der beiden Tochter-Doppelstränge sollte einen vollständigen, aus dem Aus-
gangs-Doppelstrang übernommenen Strang (schwarz) enthalten sowie stritten, da viele Wissenschaftler aufgrund cytologischer Beob-
einen zweiten, neu synthetisierten Strang (rot). In der 1. Generation beträgt achtungen annahmen, dass Chromatiden aus mehreren durch-
das Verhältnis 1:1, in der 2. Generation 1:4. b Analyse der Auftrennung von gehenden Längseinheiten bestehen. Die Experimente Taylors
DNA in der analytischen Ultrazentrifuge. Die Schwimmdichte der DNA schließen eine solche Chromatidenstruktur zwar nicht grund-
steigt mit dem Anteil an 15N-markierten Nukleotiden. Markiert man DNA,
sätzlich aus, erfordern jedoch für eine solche Erklärung kom-
die 15N-Isotope enthält, über einen oder mehrere Replikationszyklen mit
14N-haltigen Nukleotiden, so werden die 15N-Anteile der Markierung stufen- plizierte zusätzliche Annahmen über die Struktur und Verteilung
weise verdrängt und die Schwimmdichte der DNA wird geringer. Die Abbil- von Längselementen der Chromatiden. Damit wurden die Beob-
dung zeigt die quantitative densitometrische Auswertung dieser Experi- achtungen Taylors zugleich ein starkes Argument für die An-
mente mit Angabe der Anzahl der Zellgenerationen, über die Replikation in sicht, dass eine Chromatide aus einer einzelnen DNA-Doppelhe-
14N-Nukleotide-haltigem Medium erfolgte. (a nach Munk 2001, mit freund-
lix besteht. Diese Annahme wurde durch viskosimetrische Mes-
licher Genehmigung von Springer; b nach Meselson und Stahl 1958, mit
freundlicher Genehmigung der Autoren) sungen an DNA von Drosophila unterstützt. DNA-Moleküle
können in einer Länge isoliert werden, die der Länge einer DNA-
Doppelhelix in einer Chromatide entspricht. Heute ist die An-
Natur waren, führte Taylor seine Versuche unter Verwendung sicht allgemein akzeptiert, dass eine Chromatide aus einer durch-
cytologischer Methoden an Wurzelzellen der Pflanze Bellevalia gehenden, kovalent geschlossenen DNA-Doppelhelix besteht.
romana (auch Hyacinthus romanus, Hyazinthe) durch. Als wich-
tige neue cytologische Methode war gerade die Autoradio- > Jede Chromatide besteht aus einer DNA-Doppelhelix. Die
graphie  verfügbar geworden (7 Technikbox 15). Diese Technik Doppelhelix ist damit das Grundelement der Chromosomen.
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
33 2
a Semikonservative Replikation: b

G1-Phase

Metaphase

Metaphase des
folgenden
Zellzyklus

. Abb. 2.11 Nachweis der semikonservativen Replikation der DNA durch Taylor und Mitarbeiter (1957) an Chromosomen der Hyazinthe (Bellevalia romana).
Mithilfe von 3H-Thymidin wird eine spezifische radioaktive Markierung der DNA erreicht, die im Autoradiogramm leicht zu lokalisieren ist. Lässt man Zellen
für einen Zellzyklus in 3H-Thymidin-haltigem Medium wachsen, so wird die radioaktive Vorstufe während der S-Phase in die DNA eingebaut. a Betrachtet
man die Metaphasechromosomen in der ersten folgenden Mitose, so findet man ausschließlich einheitlich radioaktiv markierte Chromatiden. Durch Behand-
lung mit Colchicin erreicht man, dass die beiden Chromatiden eines duplizierten Chromosoms im Centromerbereich zusammenhängen bleiben. Nach
einem weiteren Zellzyklus, der in nicht radioaktivem Medium durchlaufen wurde, zeigen die Chromatiden eine Differenzierung hinsichtlich der radioaktiven
Markierung. Eine der Chromatiden ist, wie nach dem ersten Zellzyklus, radioaktiv; die andere bleibt jedoch unmarkiert. b Bei einer weiteren Verdoppelung
in nicht radioaktivem Medium trennen sich diese Stränge, sodass eine unmarkierte und eine halbmarkierte Doppelhelix gebildet werden. (Nach Taylor et al.
1957, mit freundlicher Genehmigung der Autoren)

Die Versuche von Taylor, Meselson und Stahl lieferten den Be- können bzw. eine Rotation steuern (Topoisomerasen und
weis für die semikonservative Replikation der DNA in Zellen, Helikasen, . Tab. 2.2). Hinzu kommen weitere, weitaus
wie sie nach dem Watson-Crick-Modell als Vermehrungsmecha- schwieriger zu beantwortende Fragen: Aus der klassischen
nismus der DNA vorausgesagt worden war. Dieser semikonser- Cytologie geht hervor, dass DNA ausschließlich im Zellkern
vative Replikationsmechanismus stellt sicher, dass die Struktur vorhanden ist – hier liegt sie aber nicht als isoliertes Molekül
der Doppelhelix, und damit des Erbmaterials, vollständig erhal- vor, sondern ist in den Chromosomen mit Proteinen ver-
ten bleibt und auf folgende Zellgenerationen – und damit auch bunden. Wie verhalten sich diese Proteine – oder die
auf neue Organismen – übertragen werden kann. Chromosomen überhaupt – während der Replikation?

*Wenn die beschriebenen Experimente uns auch zeigen,


nach welchem Grundprinzip DNA identisch repliziert wer-
Es hat sich in der Folge gezeigt, dass die molekularen Mechanis-
men in Pro- und Eukaryoten im Prinzip vergleichbar sind: In
den kann, so gewähren sie uns doch noch keinen Einblick in beiden Fällen erfolgt die Replikation ausgehend von einem Start-
den tatsächlichen molekularen Verlauf der Replikation der punkt (engl. origin of replication) nach beiden Richtungen (bidi-
DNA in der Zelle. Man muss sich nur vor Augen führen, dass rektional). Bei E. coli ist das Chromosom ringförmig und besitzt
in einigen Organismen, z. B. bei Bakterien und manchen nur einen einzigen Replikationsstartpunkt; bei Eukaryoten sind
Viren, die DNA als ringförmiges, kovalent geschlossenes Mo- verschiedene Startpunkte über das Chromosom verteilt. Die an
lekül vorliegt oder dass in anderen Fällen die Gesamtmenge der Replikation beteiligten Enzyme und zusätzlichen Faktoren
an DNA im Genom, also die in einer einzelnen Zelle vor- sind bei Pro- und Eukaryoten sehr ähnlich; das Grundprinzip ist
handene Menge an DNA, eine Länge von einem Meter über- in . Abb. 2.12 dargestellt. Besonders fünf Aspekte sind für alle
schreiten kann, wenn man annimmt, dass die DNA ein ein- Replikationsprozesse wesentlich:
ziges kovalentes Molekül darstellt. Selbst wenn es sich bei 4 Grundsätzlich fügen die Enzyme, die einen DNA-Strang
Eukaryoten um kürzere Moleküle handelt, wie wir schon aus auf der Grundlage der Basenkomplementarität in
unserer Kenntnis der Existenz mehrerer Chromosomen einen zweiten, komplementären Strang kopieren können
innerhalb eines Zellkerns ableiten können, bleiben grund- (DNA-Polymerasen), die Nukleotide bei der DNA-Synthese
legende Fragen bestehen. Eine dieser Fragen bezieht sich ausschließlich an das 3’-OH-Ende des wachsenden Strangs
beispielsweise auf einen physikochemischen Gesichtspunkt: an. Damit ist ein Wachstum nur in 5’→3’-Richtung möglich.
Wie können sich die Doppelstränge der DNA im Chromo- Die Nukleotide liegen dabei als energiereiche Triphosphate
som während der Replikation voneinander trennen, obwohl vor (dNTPs: Desoxyribonukleotidtriphosphate); bei der
hierzu doch eine kontinuierliche Drehbewegung der Synthese werden zwei Phosphatreste als Pyrophosphat
Doppelhelix erforderlich wäre? Dieser Gesichtspunkt hat in abgespalten. Die freigesetzte Energie wird dazu verwendet,
der frühen Diskussion der Frage nach dem Replikationsme- die Phosphodiesterbindungen des Zucker-Phosphat-
chanismus eine wichtige Rolle gespielt. Wir können ihn heu- Grundgerüstes herzustellen.
te beantworten, da wir wissen, dass im Chromosom Enzyme 4 Bei der Besprechung der molekularen Struktur der DNA-
vorhanden sind, die die DNA öffnen und wieder schließen Doppelhelix haben wir gesehen, dass die Basenpaarung zu
34 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

. Tab. 2.2 Replikationsproteine in Pro- und Eukaryoten

Funktion Prokaryoten Eukaryoten


2
Erkennung der Startsequenz DnaA (1 Untereinheit) ORC (6 Untereinheiten)
Beladende Helikase DnaC (1 Untereinheit) CDC6 (1 Untereinheit)
Replikative Helikase DnaB (1 Untereinheit) MCM (6 Untereinheiten)
Topoisomerase Typ I und Typ II, Gyrase Typ I und Typ II
Einzelstrang-bindendes Protein SSB (1 Untereinheit) RP-A (3 Untereinheiten)
Primase DnaG (1 Untereinheit) Pol α/Primase (4 Untereinheiten)
Polymerase/Exonuklease Polymerase III (3 Untereinheiten) Pol δ (3–4 Untereinheiten), Pol ε (5 Untereinheiten)
Klammerlader γ-Komplex (5 Untereinheiten) RF-C (5 Untereinheiten)
Klammer β-Untereinheit PCNA
Entfernen der Primer Polymerase I; RNase H FEN-1, RNase H
Reifung des Folgestrangs DNA-Ligase (NAD-abhängig) DNA-Ligase I (ATP-abhängig)

Nach Kelman 2000; Erläuterung der Abkürzungen im Text

einer antiparallelen Anordnung beider DNA-Einzelstränge mithilfe einer DNA-Ligase kovalent miteinander verknüpft
führt (. Abb. 2.2). Das führt zu Problemen bei der Neusyn- werden. Die Teilfragmente werden nach ihren Entdeckern
these beider DNA-Stränge, wenn diese am gleichen Initia- Okazaki-Fragmente genannt (Okazaki und Okazaki 1969).
tionspunkt beginnt (. Abb. 2.12). Einer der beiden Stränge 4 DNA-Polymerasen können keinen neuen DNA-Strang
kann dann nicht kontinuierlich synthetisiert werden. Es ohne einen bereits vorhandenen Startpunkt herstellen.
werden in diesem Fall kleine Teilstücke von weniger als 1000 Als Startpunkte können DNA- oder RNA-Sequenzen
Nukleotiden Länge synthetisiert, die nach ihrer Synthese dienen, die aufgrund ihrer Basenkomplementarität an den
zu replizierenden DNA-Einzelstrang gebunden sind.
Man bezeichnet solche Startsequenzen als Primer. Während
der Replikation werden durch eine RNA-Polymerase (auch
Primase genannt) zunächst kurze RNA-Primer erzeugt,
die nur etwa 4 bis 12 Nukleotide lang sind. An diesen
RNA-Primern kann dann die DNA-Polymerase ansetzen
und einen fortlaufenden DNA-Strang synthetisieren.
4 Aus . Abb. 2.12 ist erkennbar, dass zur Neusynthese der
Doppelstrang der DNA über einen gewissen Abstand
hinweg geöffnet werden muss. An diesen Prozessen sind
Helikasen und Topoisomerasen beteiligt. In die sich öff-
nende Replikationsgabel hinein kann ein DNA-Strang in
5’→3’-Richtung kontinuierlich synthetisiert werden. Er wird
als Leitstrang (engl. leading strand) bezeichnet. Der Gegen-
strang, der in der Form von Okazaki-Fragmenten synthe-
tisiert wird, wird Folgestrang (engl. lagging strand) genannt.
Es entstehen auf diese Weise zwei Replikationsgabeln (engl.
replication forks), die zur Bildung von Replikationsaugen
oder -blasen (engl. replication bubble) führen. Solche Repli-
. Abb. 2.12 Molekularer Mechanismus der DNA-Replikation. Die Initiation kationsaugen lassen sich elektronenmikroskopisch an repli-
der DNA-Synthese erfolgt im Replikationsursprung und verläuft zunächst
zierender DNA demonstrieren (. Abb. 2.13).
nur in 5’ൺ3’-Orientierung (Leitstrang; engl. leading strand) am 3’ൺ5’-Strang
der Doppelhelix (oben). Aus der Abbildung ist ersichtlich, dass die Synthese
4 Ein für die Erörterung der Mutationsmechanismen
des komplementären DNA-Strangs (Folgestrang, engl. lagging strand) zu- (7 Abschn. 10.2) wichtiger Gesichtspunkt ist die Fehlerrate,
nächst in Teilstücken (Okazaki-Fragmenten) erfolgt. Es bildet sich die Repli- mit der DNA-Polymerasen Nukleotide in die neu syntheti-
kationsblase mit zwei Replikationsgabeln (Mitte). Unten ist ein Ausschnitt sierten DNA-Stränge einbauen. Die Fehlerhäufigkeit liegt
des Folgestrangs gezeigt, der Einzelheiten des Replikationsvorgangs er-
bei 10−5 bis 10−6. Sie würde damit zu Veränderungen von
kennen lässt. Die Initiation der Replikation dieses Strangs erfordert Primer-
RNA-Moleküle (Quadrate), die vor der Ligation der neu synthetisierten
Nukleotiden in einem großen Teil der replizierenden Gene
Okazaki-Fragmente nukleolytisch entfernt werden. Anschließend werden führen. Durch Reparaturmechanismen (7 Abschn. 10.6)
die Okazaki-Fragmente mithilfe einer Ligase (Kreise) ligiert sinkt jedoch die effektive Fehlerrate auf 10−9 bis 10−11.
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
35 2

. Abb. 2.13 Replikation der DNA in Kernen des zellulären Blastoderms von
Drosophila melanogaster. Die Replikationsblase ist deutlich zu erkennen.
Die angrenzenden Replikationsstartpunkte sind noch nicht aktiviert. Die
DNA ist mit Nukleosomen bedeckt. (Nach McKnight und Miller 1977, mit
freundlicher Genehmigung von Elsevier)

> Die Replikationsenzyme, DNA-Polymerasen, können nur


in 5’ൺ3’-Richtung Nukleotide anfügen. Deshalb muss b
einer der beiden DNA-Stränge in kleineren Teilsequenzen,
den Okazaki-Fragmenten, synthetisiert werden. Da die
DNA-Polymerase zur DNA-Synthese ein 3’-OH-Ende als
Startpunkt benötigt, wird am 5’ൺ3’-Strang zunächst ein
RNA-Primer synthetisiert, an dessen 3’-Ende die DNA-
Polymerase die DNA-Synthese beginnt. Teilfragmente von
etwa 1000 Nukleotiden werden dann, nach Abbau der
RNA durch die Polymerase-eigene 3’ൺ5’-Exonuklease-
Aktivität, kovalent aneinander gebunden.

Ein grundsätzliches topologisches Problem der DNA-Replikation


ergibt sich aus ihrer Helixstruktur. Wenn mit fortschreitender
Replikation die Helix entspiralisiert wird, geht dies nur, indem
immer wieder Brüche in die Helix eingeführt werden, um so ein
Verdrillen (engl. supercoiling) zu vermeiden. Die dafür zustän-
c
digen Enzyme werden als Topoisomerasen bezeichnet und in
zwei Klassen (I und II) unterteilt. Topoisomerase I ist in der Lage, . Abb. 2.14 DNA-Topologie und Topoisomerase. a Die Entspiralisierung
die Windungszahl der DNA um eins zu erhöhen, während Topo- der DNA erzeugt eine Verspannung der Helix, die durch DNA-Topoisomera-
isomerase II diese Zahl um zwei reduziert (. Abb. 2.14). sen aufgelöst wird. b Die verschiedenen Klassen der Topoisomerasen. c Der
katalytische Zyklus der Topoisomerasen vom Typ I: Das Enzym bindet an die
In . Abb. 2.14a ist ein DNA-Fragment zusammen mit einer
DNA, die nukleophile Reaktion des Tyrosins im reaktiven Zentrum führt zur
gerade replizierenden Region dargestellt (Replikationsauge), und Spaltung des DNA-Rückgrats. Nach der Entspannung verknüpft das Enzym
die Replikationsmaschinerie an der Replikationsgabel ist durch die DNA-Enden erneut und löst sich ab. (Nach Leppard und Champoux
ein Stäbchen zwischen den beiden frisch synthetisierten DNA- 2005, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
36 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

Strängen symbolisiert. Die topologischen Konsequenzen einer kritischen Schritt der DNA-Replikation, den Zusammenbau des
voranschreitenden Replikationsgabel und die Funktionen der »Orisoms« (Protein-oriC-Komplex), präzise zu regulieren.
Topoisomerasen hängen nun davon ab, ob die Replikations- Obwohl Orisomen in den meisten Bakterien vorkommen, stam-
2 maschinerie im zellulären Raum rotieren kann. men unsere Kenntnisse überwiegend aus dem bakteriellen
Stellen wir uns vor, dass das Stäbchen nicht um die Helix- Modellsystem Escherichia coli (E. coli). Eine Übersicht über die
achse der noch nicht replizierten DNA vor der Replikationsgabel Initiationsphase der bakteriellen Replikation gibt . Abb. 2.15.
rotiert (der Replikationsapparat kann an die Membran gebunden In der Initiationsphase wird um den Replikationsstartpunkt
und daher immobilisiert sein). In dem Maße, wie die Replika- herum eine kleine Blase entspiralisierter DNA gebildet, das
tionsgabel voranschreitet, zwingt das Stäbchen die helikalen Replikationsauge. Der oriC des ringförmigen E. coli-Chromo-
Windungen der DNA vor sich in einen immer kürzeren Bereich, soms besteht aus 245 bp. Die Trennung der beiden Doppel-
und die DNA wird überdreht oder positiv supercoiled. Hinter der stränge beginnt in einer AT-reichen Region, die schon dadurch
Replikationsgabel wird das Replikationsauge immer größer. eine gewisse Instabilität aufweist; sie enthält dreimal die Se-
Wenn dagegen das Stäbchen rotieren kann, können die positiven quenz 5’-GATCTATTATTT-3’. In unmittelbarer Nähe zu dieser
»Supercoils« vor der Replikationsgabel auf die Region hinter der AT-reichen Region befinden sich die klassischen Erkennungs-
Gabel verteilt werden, was zu einer Zwischendrehung der repli- sequenzen für das DnaA-Protein (5’-TTATNCACA-3’), die
zierten DNA führt und/oder zu einem Überdrehen der unrepli- insgesamt fünfmal vorkommen und als DnaA- oder R-Boxen
zierten DNA hinter der Replikationsgabel. bezeichnet werden. Trotz der geringen Sequenzunterschiede
Ein weiteres Problem tritt auf, wenn sich zwei aufeinander zu- hat das DnaA-Protein unterschiedliche Affinitäten zu den ein-
bewegende Replikationsgabeln vereinigen. In dem Maße, in dem zelnen Boxen. Das »aktive« DnaA-Protein (im Komplex mit
das parentale, unreplizierte DNA-Fragment immer kürzer wird, ATP) bindet mit geringerer Affinität an die AT-reiche Region
müssen Topoisomerasen die endgültige Trennung der beiden oberhalb der DnaA-Boxen. Wenn diese Region durch andere
neu replizierten Stränge vornehmen: entweder eine Topoiso- Komponenten entspiralisiert wird, stabilisiert sich die Bindung
merase II mit einem Schnitt durch beide Einzelstränge oder eine von DnaA durch dessen hohe Affinität an die einzelsträngige
Topoisomerase I mit einem Schnitt des Einzelstrangs an der Ver- DNA. Für die Umwandlung des Initiations- in den offenen
bindung des Einzelstrangs mit dem Doppelstrang. Komplex ist eine Mindestmenge von DnaA-Protein notwendig.
Der Mechanismus der katalytischen Wirkung beider Topo- Elektronenmikroskopische Untersuchungen zeigen, dass etwa
isomerasen ist unterschiedlich. Topoisomerase I löst die Phos- 20 bis 30 DnaA-Monomere an einem aktiven Replikations-
phodiesterbindung nur eines DNA-Strangs und lässt den zwei- komplex beteiligt sind. Die Bindung von »aktivem« DnaA an
ten, nicht unterbrochenen Strang den geöffneten Strang durch- die DnaA-Boxen ist dann der erste Schritt beim Zusammenbau
queren; dabei bleibt sie selbst an die offenen Enden kovalent des Initiationskomplexes und erfolgt mit hoher Affinität. Zu
gebunden. Danach wird der unterbrochene Strang wieder ge- diesem Initiationskomplex gehören auch DnaB, eine E. coli-Heli-
schlossen, sodass die Windungszahl nunmehr um eins erhöht ist. kase, sowie weitere Hilfsproteine und Kontrollfaktoren. Offen-
Topoisomerase II hingegen induziert einen Doppelstrangbruch sichtlich erlauben auch die abgestuften Affinitäten und Ko-
und verschiebt die Doppelhelix durch sich selbst, um sie dann operationseffekte durch andere Mitglieder des Komplexes eine
wieder kovalent zu schließen (. Abb. 2.14b). präzise Regulation.
Nach den gemeinsamen Aspekten der DNA-Replikation Die doppelsträngige Region des Initiationskomplexes um-
bei Pro- und Eukaryoten (siehe auch . Tab. 2.2) sollen nun die fasst zunächst etwa 28 bp. Wenn Einzelstrang-bindende Proteine
spezifischen Eigenheiten diskutiert werden. (engl. single-stranded DNA-binding proteins, SSB) anwesend sind,
vergrößert sich diese Region auf 44 bis 46 bp. Da Einzelstrang-
> Aus der Helixstruktur der DNA ergibt sich ein grundsätz-
DNA, die mit SSB bedeckt ist, ein schlechtes Substrat für die
liches topologisches Problem der DNA-Replikation:
DnaB-Helikase ist, müssen die SSBs mithilfe des DnaA-Proteins
Wenn mit fortschreitender Replikation die Helix entspi-
»aufgeladen« werden. Dieser Ladekomplex enthält zwei Doppel-
ralisiert wird, geht dies nur, indem immer wieder Brüche
hexamere von DnaB und des eigentlichen »Ladeproteins« DnaC,
in die Helix eingeführt werden, um so ein Verdrillen
jeweils ein Doppelhexamer für jede Replikationsgabel. DnaC
zu vermeiden. Die dafür zuständigen Enzyme werden
verlässt den Komplex unmittelbar nach oder schon während des
als Topoisomerasen bezeichnet.
Ladevorgangs. Das dabei hydrolysierte ATP aktiviert die Helika-
se-Aktivität des DnaB-Proteins. Dabei rutschen die DnaB-Hexa-
mere in 5’→3’-Richtung weiter und vergrößern das Replikations-
2.2.2 Mechanismen der Replikation auge auf etwa 65 bp. Die Primase tritt zu dem Initiations-
bei Prokaryoten komplex  hinzu und synthetisiert die Primer für die beiden
Leitstränge.
Bakterien müssen ihre Genome kopieren, bevor sie sich in zwei Nun kann die Gleitklammer der Polymerase (engl. sliding
Tochterzellen teilen können. Jeder Zellzyklus startet an einer be- clamp), ein ringförmiges Dimer der β-Untereinheit der DNA-
stimmten chromosomalen Region, die als oriC bezeichnet wird Polymerase III, auf die startbereite Matrize aufgeladen werden.
(engl. chromosomal replication origin). Fehler beim Start der Dadurch wird die intrinsische ATPase-Aktivität des DnaA-Pro-
Replikation führen zu suboptimalem Bakterienwachstum – da- teins aktiviert. Durch ATP-Hydrolyse wird das »aktive« DnaA-
her ist es für Bakterien von besonderer Bedeutung, diesen ersten Protein wieder inaktiviert und die Bildung weiterer Initiations-
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
37 2
komplexe verhindert. Der jetzt vorliegende Gesamtkomplex aus
DNA und Proteinfaktoren wird auch als »Replisom« bezeichnet
(. Abb. 2.15).
Nach der Initiationsphase tritt die DNA-Replikation in die
Elongationsphase ein. Dabei wird der Leitstrang kontinuierlich
synthetisiert, wohingegen der Folgestrang diskontinuierlich
unter Bildung der Okazaki-Fragmente synthetisiert wird. Eine
Übersicht über die dabei ablaufenden zyklischen Prozesse und
die vielfältigen Cofaktoren gibt . Abb. 2.16.

C In verschiedenen genetischen Ansätzen ist es gelungen, die


Faktoren zu identifizieren, die für die bakterielle Replikation
essenziell sind. Dazu wurden solche E. coli-Mutanten gesucht,
die in der DNA-Replikation offensichtlich Defizite aufweisen.
Eine typische Strategie isoliert dabei Mutanten, die nicht
mehr in der Lage sind, autonom replizierende, aber extra-
chromosomale DNA-Moleküle zu erhalten (z. B. ein Mini-F-
Plasmid, 7 Abschn. 4.2.1). Über 60 Mutanten wurden auf diese
Weise identifiziert und wichtige Faktoren wie die B-Unterein-
heit der Gyrase (gyrB), eine Untereinheit des HU-Proteins
(hupB) oder die RecD-Untereinheit des RecBCD-Enzyms (recD;
zur Übersicht siehe Kato 2005).

Bei E. coli sind fünf DNA-Polymerasen bekannt (DNA-Poly-


merase I–V). Viele DNA-Polymerasen besitzen zusätzliche Exo-
nuklease-Aktivitäten und können somit auch Nukleotide aus
einer Kette entfernen. Dabei entfernt die 5’→3’-Exonuklease die
RNA-Nukleotide des Primers, und die 3’→5’-Exonuklease besei-
tigt falsch gepaarte DNA-Nukleotide. Die DNA-Polymerase III
ist das Hauptenzym der Replikation, während die DNA-Poly-
merase I die RNA-Primer abbaut und danach die Lücken wieder
auffüllt. Polymerase I überwiegt mengenmäßig die übrigen
DNA-Polymerasen erheblich. In der Bakterienzelle sind etwa
300 bis 400 DNA-Polymerase-I-Moleküle vorhanden. Die Poly-
merase II ist mit etwa 40 Molekülen vertreten, während von der
DNA-Polymerase III nur etwa 10 Moleküle vorhanden sind. Die
DNA-Polymerasen II, IV und V sind auch an Reparaturmecha-
nismen beteiligt. Eine Übersicht über bakterielle DNA-Polyme-
rasen gibt . Tab. 2.3.

C Die DNA-Polymerase I wurde in den frühen 1950er-Jahren


vor allem durch Severo Ochoa und Arthur Kornberg durch
klassische biochemische Verfahren isoliert und charakteri-
siert; beide wurden für diese Arbeiten 1959 mit dem Nobel-
preis für Medizin ausgezeichnet. Als Kornberg jedoch 1957
seine beiden grundlegenden Manuskripte beim Journal of
Biological Chemistry eingereicht hatte, wurden sie zunächst
von den Gutachtern abgelehnt: »It is very doubtful that the
authors are entitled to speak of the enzymatic synthesis of DNA«;
»polymerase is a poor name«. Aufgrund des Einspruchs des . Abb. 2.15 Schematische Darstellung der Initiation der DNA-Replikation
Chefredakteurs konnten die Arbeiten aber 1958 erscheinen bei E. coli. Das aktivierte DnaA-Protein erkennt den Replikationsstartpunkt
(Lehmann et al. 1958, Bessmann et al. 1958). Heute wird die anhand der DnaA-Boxen und der oberhalb liegenden AT-reichen Sequen-
zen (HU: Histon-ähnliches DNA-Bindeprotein). Der Replikationsstartpunkt
DNA-Polymerase I auch als »Kornberg-Polymerase« bezeich-
wird im Bereich der AT-reichen Sequenzen aufgeschmolzen und die Helika-
net; sein Sohn Roger D. Kornberg erhielt 2006 den Nobelpreis sen geladen (je 2 DnaB- und DnaC-Komplexe aus je 6 Untereinheiten). Nach
für Chemie für die Strukturaufklärung der eukaryotischen einer Umorganisation der Helikasen wird die Primase zum Initiationskom-
RNA-Polymerase II. plex geladen. Das Priming erfolgt nach dem Beladen der Gleitklammer und
der ATP-Hydrolyse des aktivierten DnaA-Komplexes. Die Polymerase III be-
Ermittelt man die Replikationsgeschwindigkeit der DNA in ginnt zu arbeiten, und die Replikation läuft bidirektional ab. (Nach Messer
einem E. coli-Chromosom, so findet man, dass diese unabhän- 2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
38 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

. Abb. 2.16 Der Zyklus der DNA-Synthese am


Folgestrang. a Während die DNA-Polymerase
Okazaki-Fragmente am Folgestrang synthetisiert,
öffnet der Klammerlader eine neue Gleitklammer;
2 die Helikase bringt erneut eine Primase an die
Replikationsgabel, um die Synthese des nächsten
Fragments zu starten. b Nach der Synthese
der RNA-Primer verdrängt der Klammerlader die
Helikase und lädt die Gleitklammer auf die Ver-
bindung des neuen Primers mit der DNA-Matrize.
c Die Vollendung der Okazaki-Fragmente bewirkt
die Verlagerung der DNA-Polymerase an die neu
geladene Gleitklammer. d Die DNA-Polymerase
synthetisiert das neue Okazaki-Fragment und ver-
vollständigt damit den Zyklus. Die Entspiralisie-
rung an der Replikationsgabel und die Synthese
des Leitstrangs werden während des ganzen
Zyklus fortgesetzt. (Nach Langston und O’Donnell
2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

gig  von den Wachstumsbedingungen etwa 500 bis 1000 bp > Die bakterielle Replikation beginnt am oriC und benötigt
je Sekunde beträgt. Das wirft die Frage auf, wie ein Bakterium zunächst die Bindung des aktiven DnaA-Proteins, der
mit einer Chromosomenlänge von 4 × 106 bp bei bidirektio- DnaB- und DnaC-Proteine sowie Einzelstrang-bindender
naler  Replikation sich unter günstigen Bedingungen alle Proteine. Unter ATP-Verbrauch wird die DNA-Polymerase
20 min teilen kann, da die Replikation des Chromosoms etwa »aufgeladen« und die Replikation gestartet.
40 min beansprucht. Dieses Problem wird von der Zelle da-
durch  gelöst, dass die Initiationsfrequenz der Replikation am Als Besonderheit soll hier außerdem die DNA-Replikation von
Replikationsstartpunkt von der Wachstumsgeschwindigkeit Plasmiden (7 Abschn. 4.2) und Bakteriophagen (7 Abschn. 4.3).
gesteuert wird. Bei hoher Wachstumsgeschwindigkeit beginnt erwähnt werden, die nach dem Mechanismus des rolling circle
die Initiation einer neuen Replikationsrunde bereits vor Voll- (. Abb. 2.17) abläuft. Diese Form der DNA-Replikation ver-
endung der vorangehenden Replikation, sodass das Chromo- wendet eine ringförmig geschlossene DNA als Matrize. In der
som in diesem besonderen Fall mehr als zwei Replikationsgabeln Initiationsphase bindet ein sequenzspezifisches Initiatorprotein
besitzt. an eine hochkonservierte doppelsträngige Startsequenz. Diese

. Tab. 2.3 Hauptklassen prokaryotischer DNA-Polymerasen

Enzym Untereinheit (kDa) Funktion

Pol I 103 »Kornberg-Enzym«: Entfernung der RNA-Primer, Auffüllen der Lücke, Korrektur; 5’ൺ3’- und
3’ൺ5’-Exonuklease-Aktivitäta

Pol II 88 DNA-Reparatur; 3’ൺ5’-Exonuklease-Aktivität

Pol III α: 130 Katalytische Untereinheit

(Core) ε: 28 Korrektur; 3’ൺ5’-Exonuklease-Aktivität

τ: 71 Verbindung der Pol-III-Dimere

θ: 10 Funktion unbekannt

Pol IV 40 DNA-Reparatur

Pol V UmuC: 46 DNA-Reparatur


UmuD: 15

aDurch Behandlung mit der Protease Trypsin wird das Gesamtprotein in zwei Fragmente gespalten. Der C-terminale Teil enthält die 3’ൺ5’-Exo-
nuklease zusammen mit der DNA-Polymerase-Aktivität (»Klenow-Fragment«).
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
39 2
Bindung des Initiatorproteins ist verbunden mit der Einführung
eines Einzelstrangbruchs und der Ausbildung einer haarnadel-
a b c
förmigen Schleife als Terminationssignal. Das Initiatorprotein
wird kovalent über einen Tyrosin-Rest im aktiven Zentrum an
das freie 5’-Phosphat-Ende gebunden. Mithilfe einer Helikase
und stabilisierenden Einzelstrang-bindenden Proteinen wird ein
Stück DNA-Einzelstrang freigelegt, an dessen freien 3’-OH-Ende
die DNA-Polymerase III den Leitstrang synthetisiert, bis sie das
Terminationssignal erreicht (ca. 10 Basen vor der Schnittstelle).
d
Nach einer Serie verschiedener Schnitte und Neuverknüpfung
der einzelsträngigen DNA wird der zirkuläre Einzelstrang frei-
gesetzt und zum Doppelstrang vervollständigt. Dieser Prozess
benötigt die Bildung eines RNA-Primers mithilfe der RNA-Poly-
merase und nachfolgend die Verlängerung der Primer durch
e DNA-Polymerase I und III. Schließlich werden die freien Enden
verbunden und die gebildete DNA durch DNA-Gyrase in die
verdrillte (supercoiled) Form überführt. Im Gegensatz zur Repli-
kation einer Plasmid-DNA wird die Phagen-DNA häufig repli-
ziert, üblicherweise etwa 20-mal.

f g
2.2.3 Mechanismen der Replikation
bei Eukaryoten

h Die DNA-Replikation eukaryotischer Zellen ist wesentlich kom-


plexer als bei Prokaryoten, da bei Eukaryoten die Zellteilung
nicht nur mit dem Wachstum des jeweiligen Gesamtorganismus,
sondern auch mit gewebespezifischen Differenzierungsmustern
verbunden ist. Außerdem kommt aufgrund der chromosomalen
Organisation des eukaryotischen Genoms im Zellkern ein zu-
sätzlicher Komplexitätsgrad hinzu: Wie wir im 7 Abschn. 6.2.2 im
Detail besprechen werden, ist die DNA bei Eukaryoten um Pro-
teinkomplexe gewickelt, die im Wesentlichen aus Histon-
proteinen bestehen und als Nukleosomen bezeichnet werden.
. Abb. 2.17 Rolling circle-Replikation. a Doppelsträngige Form des
Replikons. b Das Initiationsprotein (IP), das zwei Tyrosin-Reste enthält (Y1
Dabei entsteht eine perlenschnurartige Struktur (. Abb. 6.12).
und Y2), bindet an einen Einzelstrangbruch und schmilzt die umgebende Die Replikation des Genoms findet auch nur in einer bestimmten
Region auf. c Nach dem Aufbau des Replisoms beginnt die 3’-Verlängerung Phase des Zellzyklus statt. Dieser ist in vier Schritte unterteilt, die
des Leitstrangs (rot). Das IP bleibt über seine beiden Tyrosin-Reste mit dem G1-, S-, G2- und M-Phase: Die erste Phase, G1 (eng. gap), beginnt
5’-Ende des verdrängten Leitstrangs verbunden (grün); der verdrängte Leit-
am Ende der Zellteilung und ist durch Zellwachstum ge-
strang ist mit Einzelstrang-Bindeproteinen bedeckt. d Wenn die Replika-
tionsgabel einen Zyklus der Replikation beendet hat, stoppt die Maschine-
kennzeichnet. Nachdem die G1-Phase abgeschlossen ist, wird
rie, nachdem der Leitstrang um ein kurzes Fragment bis zur Einzelstrang- die DNA in der S-Phase (S = Synthese) repliziert. Nach einer
bruchstelle verlängert wurde. Diese Verlängerung (schwarz) verdrängt die erneuten Wachstumsphase (G2) teilt sich die Zelle während
Verbindung zwischen dem alten (grün) und dem wachsenden (rot) Leit- der M-Phase (M = Mitose) in zwei Tochterzellen. Als Schalter
strang; Y2 spaltet diese Verbindung. e Eine Umesterung (Angriff der Phos-
zwischen den verschiedenen Phasen fungieren Cycline, Cyclin-
photyrosin-Bindung zwischen Y1 und dem 5’-Ende des Leitstrangs durch
das freigesetzte 3’-Ende des verdrängten Leitstrangs) verdrängt das IP, der
abhängige Kinasen (engl. cyclin-dependent kinases, CDKs) und
Leitstrang schließt sich und wird als einzelsträngiger DNA-Ring freigesetzt CDCs (engl. cell division cycle) (für Details des Zellzyklus
(grün). Das IP wird jetzt über das Y2 mit dem 5’-Ende des wachsenden Leit- 7 Abschn. 5.2).
strangs verbunden. Die Helikase (H) und das Polymerase-III-Holoenzym Eine naheliegende Frage bezüglich der eukaryotischen
(Pol) haben den Komplex verlassen. Die Schritte a–e verlaufen bei Phagen
DNA-Replikation ist, ob die DNA eines jeden Chromosoms in
und Plasmiden in gleicher Weise. f In Phagen wird jetzt der Replikations-
komplex wieder zusammengefügt und die 3’-Verlängerung des Leitstrangs
einem einzigen Schritt verdoppelt wird (vergleichbar dem
beginnt erneut. Dieser Schritt ist identisch mit c, außer dass das IP mit dem Mechanismus bei Prokaryoten) oder ob sie in Teilschritten
verdrängten Leitstrang über Y2 statt Y1 verbunden ist. g Im Plasmid ver- repliziert. Eine erste Antwort hierauf haben autoradiogra-
drängt das 5’-Ende des neuen Leitstrangs (der mit dem IP über Y2 [Unter- phische  Studien über das Replikationsverhalten von Chromo-
einheit B] verbunden ist) sein eigenes 3’-Ende, das dadurch von Y1 (Unter-
somen geben können. Antonio Lima-de-Faria erkannte schon
einheit A) gespalten werden kann. h Nach der Spaltung greift das freie
3’-OH-Ende des neuen Leitstrangs die Y2-DNA-Bindung an; diese Um-
1959, dass bestimmte Chromosomenabschnitte zu einem spä-
esterung bewirkt den Ringschluss des Leitstrangs und setzt das IP frei. teren Zeitpunkt replizieren als die übrigen Chromosomen-
(Nach Novick 1998, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier) bereiche.
40 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

2
b

. Abb. 2.18 Autoradiographische Demonstration von Replikationsstartpunkten in der DNA aus Kulturen menschlicher Zellen. In a und b sind die beiden
Enden der Replikationsgabeln sichtbar. Weitere Replikationsstartpunkte befinden sich innerhalb der Gabel. In c und d ist erkennbar, dass eine Initiation
der Replikation mehrfach innerhalb begrenzter DNA-Bereiche erfolgt ist. Der Längenmarker zeigt 50 μm an. (Aus Huberman und Tsai 1973, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)

> Eukaryotische Chromosomen replizieren nicht kontinuier- fische Unterschiede im Gebrauch von Replikationsstart-
lich von einem Ende zum anderen, sondern verschiedene punkten können wir in der Frühentwicklung von Drosophila
Chromosomenteilbereiche können zu unterschiedlichen finden (7 Abschn. 12.4). Nach der Befruchtung erfolgt im
Zeiten replizieren. Drosophila-Ei alle 10 min eine Kernteilung. Das Intervall
zwischen zwei Kernteilungen dient weitgehend der Replika-
C Spreitet man gereinigte DNA-Moleküle aus kurzzeitig mit tion des Genoms, die in etwa 5 min abgeschlossen sein
3H-Thymidin markierten menschlichen Zellen und führt an muss. Um dieses Ziel bei einer Replikationsgeschwindigkeit
solchen Präparaten eine Autoradiographie durch, so findet von etwa 2,6 kb je Minute zu erreichen, sind 20.000 bis
man DNA-Moleküle, die mit mehrfachen Unterbrechungen 50.000 Replikationsstartpunkte im Genom von Drosophila
radioaktiv markiert sind. Die Markierungsmuster weisen erforderlich. Diese werden in den frühen Kernteilungen
darauf hin, dass die Replikation der DNA an unterschied- wahrscheinlich alle verwendet und auch gleichzeitig akti-
lichen, voneinander getrennten Stellen beginnt und bidi- viert. Übereinstimmend damit wurde experimentell festge-
rektional verläuft, da die Radioaktivität häufig symmetrisch stellt, dass der mittlere Abstand der Replikationsstartpunkte
um zwei unmarkierte Mittelregionen angeordnet ist in der Frühentwicklung bei etwa 8 kb liegt. In anderen Zell-
(. Abb. 2.18). Die mittleren Abstände der Replikationsstart- typen von Drosophila ist dieser Abstand wesentlich größer
punkte betragen im Mittel deutlich über 100.000 Basen und liegt in Speicheldrüsen im Mittel bei etwa 30 kb.
(= 100 kb; 1 Kilobase [kb] = 1000 Basen) und könnten sogar
bei 500 kb liegen. Ein Genom muss Tausende von Replika- > Der Zeitpunkt des Replikationsbeginns an verschiedenen
tionseinheiten besitzen, selbst wenn diese im Mittel 500 kb eukaryotischen Replikationsstartpunkten kann gewebe-
lang sind. Ein haploides menschliches Genom (3 × 109 bp), spezifisch reguliert werden.
das innerhalb von etwa 8 h repliziert wird, sollte etwa
10.000 bis 20.000 Replikationsstartpunkte besitzen. Nachdem wir nun in der Frage der Zahl der Replikationsstart-
punkte einen der ersten wesentlichen Unterschiede zwischen
> Die Replikation der DNA beginnt an bestimmten Repli- der Replikation bei Bakterien (ein Replikationsstartpunkt) und
kationsstartpunkten und läuft von dort aus nach zwei höheren Zellen (mehrere Zehntausend Startpunkte) gesehen
Seiten. Es gibt in eukaryotischen Chromosomen Zehn- haben, wollen wir uns nun den molekularen Details der eukary-
tausende von DNA-Sequenzen, an denen die Replikation otischen DNA-Replikation zuwenden. Ähnlich wie bei Prokary-
zu unterschiedlichen Zeiten beginnen kann. oten finden wir eine Initiations-, Elongations- und Termina-
tionsphase.
*Esverhalten
gibt Anzeichen dafür, dass das differenzielle Replikations-
mit der Aktivität oder Inaktivität der betreffen-
Die Initiationsphase ist gekennzeichnet durch den Aufbau
des präreplikativen Komplexes an den entsprechenden Start-
den DNA-Region in dem jeweiligen Zelltyp korreliert sequenzen. Diese Startsequenzen wurden zunächst bei der
(7 Abschn. 6.4). Das würde bedeuten, dass der Beginn der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae als »autonom-replizieren-
Replikation an bestimmten Replikationsstartpunkten ge- de  Sequenzen« (ARS) beschrieben, da sie z. B. in künstlichen
webespezifisch reguliert wird. Ein Beispiel für gewebespezi- Chromosomen (engl. artificial chromosomes) ausreichen, um
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
41 2
DNA-Synthese zu erlauben. Die Länge der ARS-Regionen in
Hefen gleicht mit etwa 200 bp ungefähr der des Replikations-
starts von Bakterien. Obwohl man bestimmte konservierte Ele- ORC
mente in den ARS-Regionen gefunden hat, weichen diese doch
in der Mehrheit der Nukleotide voneinander ab, sodass man
insgesamt nur Consensussequenzen angeben kann. Schon bei
CDC6 CDT1 MCM2–7
einer anderen Hefe, Schizosaccharomyces pombe, sind die Se-
quenzen, die den Replikationsstart steuern, über 800 bis 1000 bp
verteilt. Die einzelnen Elemente umfassen etwa 20 bis 50 bp
und zeigen keine deutlichen Sequenzhomologien zu denen von
S. cerevisiae. Die Replikationsstartpunkte der Metazoa sind ins- Prä-RC
SLD2 SLD3
gesamt schlechter definiert und können sich über Tausende von P
Basenpaaren erstrecken. Das andere Extrem sind die Replika- P S-CDK
tionsstartpunkte der frühen Embryonen von Drosophila und MCM10 CDC45 GINS DDK
Xenopus, die offensichtlich kaum Sequenzspezifitäten zeigen, DPB11
vermutlich um eine besonders schnelle DNA-Replikation und
damit verbundene Zellteilung zu ermöglichen. CDC6 CDT1
Der Komplex, der den Replikationsstartpunkt erkennt (engl.
P
origin recognition complex, ORC) und als Initiator der Replika-
P
tion wirkt, besteht bei Eukaryoten aus sechs Einzelkomponenten P
(ORC1p→6p). Der ORC wurde zwar ursprünglich in S. cerevisiae
P
charakterisiert, aber Folgestudien zeigten, dass er in analoger P
Form auch in Drosophila, Xenopus und in menschlichen Zellen P
vorkommt. Der ORC bindet in der G1-Phase des Zellzyklus
(7 Abschn. 6.3.1) in ATP-abhängiger Weise an die AT-reichen
Regionen des Replikationsstarts, wobei er Einzelstrangbereiche RP-A DNA-Pol- PCNA, andere Proteine
von einer Größe von 80 bis 85 Basen bevorzugt. Die ORC-Bin- α-Primase DNA-Pol δ, ε des Replisoms
dung an das Chromatin ist nicht in allen Spezies vom Zellzyklus
abhängig. So bleibt der ORC bei Hefen und Drosophila zunächst
SLD2 SLD3 DPB11
an den Replikationsstart gebunden, bis er während der Mitose
vom Chromatin entfernt wird. P
Eine wichtige Rolle beim Zusammenbau des gesamten Ini-
tiationskomplexes spielt CDC6 (engl. cell division cycle): Es ist ein P
ATP-bindendes Protein, das während der G1-Phase kurz vor der Replisom
Initiation der DNA-Replikation exprimiert wird. Das Protein . Abb. 2.19 Die Initiation der DNA-Replikation bei Eukaryoten. Die Bil-
wird unmittelbar nach der Initiation der DNA-Replikation in dung des präreplikativen Komplexes (Prä-RC) findet vor der S-Phase statt:
der S-Phase wieder abgebaut. Man nimmt an, dass das CDC6- Die Aktivierung des Prä-RCs und die Initiation der Replikation benötigen
Protein – in Verbindung mit ORC – für die zeitliche Kontrolle die Aktivitäten von CDKs (Cyclin-abhängigen Kinasen) und DDK (DBF4-ab-
hängige CDC7-Kinase; DBF4: dumbbell former; CDC: cell division cycle).
der Initiationsphase verantwortlich und am Beladen des Initia-
Die Darstellung ist vereinfacht, und viele Proteine des Replisoms können
tionskomplexes mit der Helikase beteiligt ist. nicht gezeigt werden. CDT1: chromatin licensing and DNA replication
Der dritte Komplex, der für die Initiationsphase der eukaryo- factor 1; DPB11: DNA-Polymerase B (II); GINS: Go, Ichi, Nii und San: japanisch
tischen DNA-Replikation notwendig ist, wird als MCM (engl. für fünf, eins, zwei und drei; MCM: minichromosome maintenance; ORC:
minichromosome maintenance)-Komplex bezeichnet. Er besteht Komplex zur Erkennung des Replikationsursprungs (engl. origin recognition
complex); RP-A: Replikationsprotein A (Bindeprotein für DNA-Einzelstränge);
in allen Eukaryoten aus sechs Untereinheiten (MCM2–7). Einige
DNA-Pol-α-Primase: startet die DNA-Polymerase; DNA-Pol δ bzw. ε: fort-
der Untereinheiten des MCM-Komplexes haben ATP-abhängige schreitende DNA-Polymerasen; PCNA: Gleitklammer; SLD: synthetically
DNA-Helikase-Aktivitäten, DNA-abhängige ATPase-Aktivitä- lethal with Dpb11-1. (Nach Bryant und Aves 2011, mit freundlicher Geneh-
ten und die Fähigkeit, an einzelsträngige DNA zu binden. migung von Oxford University Press)
Der Zusammenbau des MCM-Proteins am Chromatin ist in
. Abb. 2.19 dargestellt: Er benötigt die koordinierte Funktion
von ORC und CDC6 sowie eines weiteren Proteins, CDT1 (engl. Nukleosomen (besonders Histon H3) in unmittelbarer Nachbar-
chromatin licensing and DNA replication factor 1). CDT1 bindet schaft von ARS ist offensichtlich für die Ausbildung des prärepli-
an den C-Terminus von CDC6 und beschleunigt die Bindung des kativen Komplexes notwendig. Nach der DNA-Replikation wird
MCM-Komplexes an Chromatin; Cdt1-Mutationen in S. pombe der MCM-Komplex übrigens wieder vom Zellkern ins Cytoplas-
führen zu einem Block der DNA-Replikation. Interessanterweise ma exportiert und wartet dort bis zur DNA-Replikation vor der
können ORC und CDC6 vom Chromatin entfernt werden, wenn nächsten Zellteilung, um dann erneut in den Zellkern transpor-
der MCM-Komplex am Chromatin gebunden ist, ohne dass tiert zu werden. Alle Komponenten dieses Systems (CDC6,
die DNA-Replikation beeinträchtigt wird. Die Anwesenheit von MCM und ORC) können durch CDKs phosphoryliert werden.
42 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

Dadurch werden zumindest einige Teilfunktionen des jeweiligen


Komplexes inaktiviert, sodass damit eine Wiederholung der
*Die Untersuchung der DNA-Replikation wird im Detail
meistens an bestimmten Modellorganismen durchgeführt.
Replikation im gleichen Zellzyklus verhindert wird (dies wird Die evolutionäre Auffächerung zeigt sich erst, wenn man
2 durch eine erhöhte Synthese von CDKs nach der DNA-Replika- die An- oder Abwesenheit bestimmter Gene bzw. der ent-
tion erreicht). Ein weiterer Zellzyklus-abhängiger Inhibitor der sprechenden Proteine in den verschiedenen Spezies unter-
DNA-Replikation ist Geminin. Es bindet an CDT1 und verhin- sucht. . Abb. 2.20 gibt einen Überblick über 59 Repli-
dert somit die Bildung des Initiationskomplexes. Sein Abbau am kationsproteine in 36 Eukaryoten von allen sechs Übergrup-
Ende der Mitose ist eine Voraussetzung für eine neue Runde der pen. 23 Proteine sind in allen untersuchten Spezies vor-
DNA-Replikation im nächsten Zellzyklus. handen; dazu kommen noch weitere 20 Proteine, die zwar in
Nach dem Öffnen und Entwinden der Doppelstrang-DNA allen sechs Übergruppen vorkommen, aber nicht notwen-
am Replikationsstartpunkt wird die DNA-Polymerase zu dem digerweise in jeder Spezies. Daraus folgt, dass 43 Proteine
entstehenden Replikationsauge geladen, um eine schnell voran- im »letzten gemeinsamen eukaryotischen Vorfahren« vor-
schreitende, bidirektionale DNA-Synthese zu ermöglichen. Die handen gewesen sein müssen – und daraus wird deutlich,
hohe Geschwindigkeit der DNA-Polymerase wird durch einen dass das minimale eukaryotische Replisom deutlich komple-
Faktor erreicht, der als »Gleitklammer« (engl. sliding clamp; wis- xer ist als das verwandte Replisom in Archaeen. Das be-
senschaftliche Bezeichnung: proliferating cell nuclear antigen, deutet, dass es in der frühen Phase der eukaryotischen Evo-
PCNA) die DNA umfasst und nach der Bindung der katalyti- lution eine Duplikation der Gene gegeben haben muss, die
schen Untereinheit der Polymerase diese an die DNA assoziiert. für die DNA-Replikation verantwortlich sind.
Da diese Gleitklammer selbst keine DNA-bindende Eigenschaft
hat, benötigt sie einen Hilfsfaktor (Klammerlader, engl. clamp Die Pol α (auch Primase genannt) beginnt nach ihrer Assoziation
loader), den Replikationsfaktor C, der selbst wieder aus fünf an den Initiationskomplex mit der Synthese kurzer RNA/DNA-
Untereinheiten aufgebaut ist (RF-C1→5). Zwei DNA-Polymera- Hybride, die zunächst aus ca. 10 RNA-Nukleotiden bestehen,
sen sind bei Eukaryoten in diesem Anfangsstadium essenziell: denen 20 bis 30 DNA-Nukleotide folgen. Dieses Oligonukleotid
Pol ε und Pol α. Dabei benötigt die Pol α die Pol ε, wohingegen wird dann von der Pol ε (oder auch δ) für die fortschreitende
der Einbau von Pol ε offensichtlich unabhängig von Pol α erfol- Elongation des Leit- und Folgestrangs genutzt (die Okazaki-
gen kann. Fragmente des Folgestrangs sind bei Eukaryoten etwa 200
Insgesamt sind am Aufbau des präreplikativen Komplexes 14 Basen lang). In Säugerzellen muss sich ein Initiationsereignis
Proteine beteiligt, davon können 10 ATP binden und hydrolysie- 4 × 104-mal am Leitstrang ereignen (das entspricht etwa der
ren. Vermutlich ist also die ATP-Bindung mit der Bildung der Zahl der Replikationsstartpunkte in Säugerzellen), aber es muss
Komplexe gekoppelt und die ATP-Hydrolyse mit deren Zerfall. sich jedes Mal an den Startstellen der Okazaki-Fragmente wie-
Es ist an dieser Stelle außerdem auf die Ähnlichkeit der Vorgänge derholen (ca. 2 × 107-mal in Säugerzellen).
bei E. coli hinzuweisen: Es gibt klare funktionelle Ähnlichkeiten Der Ersatz der Pol α/Primase durch die schneller voran-
zwischen DnaA und ORC, DnaC und CDC6/CDT1 und DnaB schreitende Pol δ ist abhängig von der RNA/DNA-Primersyn-
und MCM2–7. Allerdings ist der Übergang zur eigentlichen these durch Pol α und wird durch eine ATP-Veränderung des
Replikation bei Eukaryoten wesentlich komplexer als bei Pro- Replikationsfaktors C (RF-C) reguliert (unter weiterer Beteili-
karyoten. gung des Replikationsproteins A [RPA], eines Einzelstrang-Bin-
deproteins). Beide Polymerasen, α und δ, sind hervorragend für
> Eine zentrale Funktion bei der Kontrolle der DNA-Repli-
ihre Funktionen geeignet: Pol α/Primase kann die Synthese de
kation kommt dem ORC-Komplex zu, der von der frühen
novo initiieren, wohingegen die Pol δ (vor allem durch die Wech-
G1-Phase bis zur Mitose am Replikationsstartpunkt ge-
selwirkung mit PCNA) die Fähigkeit hat, lange DNA-Abschnitte
bunden ist. Er sorgt, im Zusammenwirken mit Proteinkina-
zu synthetisieren. Die vermutete Dimerisierung der Pol δ könnte
sen der Zellzykluskontrolle, für die Bildung eines prä-
bei der Koordination des Leit- und des Folgestrangs eine Rolle
replikativen Komplexes, der den Replikationsbeginn er-
spielen (ähnlich wie das Holoenzym der Polymerase III bei
möglicht. Die im präreplikativen Komplex enthaltenen
E. coli) und bei der Etablierung der asymmetrischen Replika-
MCM-Proteine werden im Laufe der S-Phase phospho-
tionsgabel wichtig sein, möglicherweise durch die Assoziation
ryliert und anschließend aus dem Chromatin entfernt. Im
der Pol α/Primase zu einer der beiden Hälften der dimeren Pol δ.
Laufe der G1-Phase wird der ORC-Komplex neu gebildet.
Eine Übersicht über die eukaryotischen DNA-Polymerasen gibt
Erst in der späten G1-Phase des folgenden Zellzyklus
. Tab. 2.4.
kommt es erneut zur Dephosphorylierung der MCM-Pro-
Während der DNA-Replikation wird der Leitstrang kontinu-
teine, die die erneute Bildung eines präreplikativen Kom-
ierlich repliziert, während der Folgestrang in der Form kurzer
plexes gestattet und somit eine neue Replikationsrunde
Okazaki-Fragmente synthetisiert wird. Um aus den Okazaki-
einleitet. Die Replikation ist damit eng an die Zellzyklus-
Fragmenten einen reifen Doppelstrang herzustellen, werden
regulation gebunden.
DNA-Ligase I, FEN-1 (engl. flap endonuclease, auch als »Reife-
faktor« bekannt) und RNase H benötigt.
Die Beendigung der Replikation erfolgt im Allgemeinen
zufällig zwischen den Replikationsstartpunkten. Allerdings wur-
de bei S. pombe beobachtet, dass es darüber hinaus auch spe-
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
43 2

a b

. Abb. 2.20 Verteilung der Proteine, die an der DNA-Replikation bei Eukaryoten beteiligt sind, auf die verschiedenen Übergruppen. Schwarze Punkte be-
deuten, dass diese Proteine in allen Spezies vorkommen; schwarz-weiße Punkte zeigen an, dass diese Proteine nur in manchen Spezies entdeckt wurden.
Weiße Punkte deuten Proteine an, die noch nicht beschrieben wurden. Replikationsproteine, die nur in Archaeen vorkommen, sind als schwarze Punkte in
der jeweils letzten Spalte gezeigt. a Proteine, die an der Initiation beteiligt sind: Gleitklammer und Klammerlader; MCM8, MCM9 und MCM-BP sind hier
nicht gezeigt, da sie in nur wenigen Spezies nicht gefunden wurden. b DNA-Synthese und assoziierte Proteine. Die DNA-Polymerase-Untereinheiten, die
mit »A« gekennzeichnet sind, und die Primase-Untereinheit PriS sind katalytisch aktiv. DNA-Pol ε-C und DNA-Pol ε-D bezeichnen die Untereinheiten Dpb3
und Dbp4. FACT: ermöglicht die Transkription im Chromatin (engl. facilitates chromatin transcription); FPC: Schutz der Replikationsgabel (engl. fork protec-
tion complex). (Nach Aves et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

zielle  »Terminator«-Sequenzen gibt. Das entsprechende Frag- turmechanismen sind die Nukleotid-Austausch-Reparatur (engl.
ment, das zunächst auf etwa 800 bp eingegrenzt werden konnte nucleotide excision repair) sowie die Reparatur falscher Basen-
(engl. replication termination site, RTS1), enthält ein Motiv aus paare (engl. mismatch repair) mit der Beteiligung der Poly-
~ 60 bp, das dreimal in voller Länge vorkommt und für die Be- merasen δ und ε. Doppelstrangbrüche werden mithilfe der Pol α/
endigung der Replikation essenziell ist. Insgesamt binden vier Primase und der Pol δ repariert, da hierbei die Bildung einer
Proteinfaktoren (swi1 und swi3 sowie rtf1 und rtf2) an RTS1. Die Struktur erforderlich ist, die einer Replikationsgabel ähnelt
SWI-Proteine gehören zu einer Familie von Proteinen, die bei (Details der Reparaturmechanismen werden in 7 Abschn. 10.6
Eukaryoten hochkonserviert sind und die in eine Vielzahl zellu- besprochen).
lärer Prozesse eingebunden sind, die alle am Chromatinumbau Ein besonderes Problem der eukaryotischen Replikation
beteiligt sind. Dazu gehört auch die Veränderung des Paa- ist die Bildung der Chromosomen-Enden (der Telomere).
rungstyps bei Hefen (7 Abschn. 9.3.4). Im Gegensatz zur Synthese des Leitstrangs, die bis zum Ende
Vor über 20 Jahren wurde die DNA-Polymerase β als Prototyp der chromosomalen DNA durchläuft, kann der komplemen-
für ein Reparaturenzym betrachtet. Es hat sich aber in der Folge- täre Folgestrang nicht bis zum Ende repliziert werden, da die
zeit gezeigt, dass die Pol β nur für einen Reparaturmechanismus, DNA-Polymerase nicht imstande ist, Nukleotide an 5’-Enden
nämlich den Austausch eines einzigen falschen Basenpaares, anzufügen. Die Synthese dieses Strangs muss daher über RNA-
verantwortlich ist (engl. basepair excision repair). Weitere Repara- Primersequenzen und Okazaki-Fragmente erfolgen. Es wäre
44 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

. Tab. 2.4 Klassen eukaryotischer DNA-Polymerasen

Enzym Untereinheit Gensymbol Chromosoma OMIMb Funktion (Krankheiten)


2 (kDa) (Mensch) (Mensch)

Pol α 180 POLA Xp22.11 312040 Katalytische Untereinheit

49 PRIM1 12q13 176635 Primase

58 PRIM2A 6p11.2 176636 Primase

Pol β 38 POLB 8p11.2 174760 DNA-Reparatur (Krebserkrankungen?)

Pol δ 124 POLD1 19q13.3 174761 DNA-Replikation/-Reparatur (Krebserkrankungen)

51 POLD2 7p13 600815 Regulatorische Untereinheit

66 POLD3 11q13.4 611415 Multimerisierung, Wechselwirkung mit PCNA

12 POLD4 11q13.2 611525 Protein-Protein-Wechselwirkung

Pol ε 261 POLE 12q24.3 174762 DNA-Reparatur

55 POLE2 14q21.3 602670 Multimerisierung

17 POLE3 9q32 607267 Protein-Protein-Wechselwirkung

12 POLE4 2p12 607269 Protein-Protein-Wechselwirkung

Pol γ 140 POLG 15q25 174763 Mitochondriale DNA-Replikation (Sterilität, Augenbeweg-


lichkeit, Alpers-Syndrom)

54 POLG2 17q23 604983 Prozessivität

Pol η 78 POLH 6p21.1 603968 DNA-Reparatur


(Xeroderma pigmentosum)

Pol ι 80 POLI 18q21.1 605252 DNA-Reparatur

Pol κ 99 POLK 5q13.3 605650 DNA-Reparatur

Pol λ 63 POLL 10q23 606343 DNA-Replikation/-Reparatur

Pol μ 55 POLM 7p13 606344 DNA-Replikation/-Reparatur

Pol θ 198 POLQ 3q13.33 604419 DNA-Polymerase

Pol σ 57 POLS 5p15 605198 Topoisomerase

Pol ζ 344 POLZ 6q21 602776 DNA-Reparatur

ahttp://www.genecards.org
bOMIM: Online Mendelian Inheritance in Man (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim); hier befindet sich eine Beschreibung der Krankheiten, die mit
Mutationen der jeweiligen Gene verbunden sind.

aber auch durchaus denkbar, dass am Ende der Chromosomen am überhängenden Einzelstrang DNA-Wiederholungs-
nur eine Einzelstrang-DNA vorhanden ist. Dies würde aber sequenzen (engl. repeats) an, deren Sequenzeigenschaften
Probleme bei der folgenden Replikation ergeben: Dieser Bereich durch die RNA der Telomerase festgelegt werden, also nicht
könnte überhaupt nicht mehr repliziert werden, sodass die Chro- vom Chromosom selbst. Sie sind im Allgemeinen GC-reich.
mosomen an einem Ende ständig kürzer werden würden. An diesen hinzugefügten Wiederholungssequenzen können
dann RNA-Primer synthetisiert werden, die ein Auffüllen des
C An Ciliaten-DNA (Tetrahymena) hat man zuerst erkannt, komplementären Strangs bis auf eine endständige kurze
wie solche Schwierigkeiten der DNA-Replikation umgangen Region gestatten.
werden. Es zeigte sich, dass die Enden aus einfachen Wieder-
holungselementen der DNA-Sequenz (engl. repeats) aufge- Heute wissen wir, dass verschiedene Organismen das Problem
baut sind, die zudem noch eine Besonderheit aufweisen: der Replikation am Ende des Chromosoms auf verschiedene
Das 3’-Ende des überhängenden Einzelstrangs ist durch Zu- Arten gelöst haben. Einen Überblick dazu gibt . Abb. 2.21. Da-
rückfaltung und intramolekulare Basenpaarung mit sich bei  spielt aber der oben dargestellte Mechanismus über eine
selbst gepaart. Die Replikation erfolgt mithilfe eines beson- Telomerase die wichtigste Rolle. Da die Länge der Telomeren
deren Enzyms, der Telomerase (engl. telomere terminal verschiedentlich mit Fragen des Alterns eines Organismus in
transferase). Dieses Enzym, das aus RNA und Proteinkom- Zusammenhang gebracht wird, wird die Replikation am
ponenten besteht, fügt dem Telomer nach dessen Öffnung Ende menschlicher Chromosomen mit besonderer Intensität
2.2 · Die Verdoppelung der DNA (Replikation)
45 2
RT . Abb. 2.21 Lösungen des Problems der Replikation an einem Ende.
a 5′ a In eukaryotischen Chromosomen werden die Enden (Telomere) im
RNA-Matrize
Wesentlichen durch die Aktivität des Enzyms Telomerase erhalten.
5′ 3′ Die Telomerase verlängert das 3’-Ende mithilfe einer Reversen Transkriptase
3′
(RT) und einer RNA-Matrize. b Zweiflüglige Insekten (Diptera) lösen das
RT
Problem der Replikation am Ende durch Retrotransposition. Dieser Mecha-
b genomische DNA
nismus ist dem Telomerase-Weg insoweit ähnlich, dass eine Reverse
AAAAA 5′
5′
3′ Transkriptase das 3’-Ende des Chromosoms als Startstelle für die DNA-Syn-
3′ these an einer RNA-Matrize benutzt. c Experimente an Telomerase-
defizienten Kluyveromyces lactis ergaben Hinweise auf eine rolling circle-
c
Replikation, wobei das 3’-Ende an einer extrachromosomalen, zirkulären
5′
Matrize verlängert wird. d In Saccharomyces cerevisiae-Stämmen, die
3′
3′ keine Telomerase enthalten, können Telomersequenzen durch einen Repa-
d raturmechanismus beibehalten werden (Bruch-induzierte Replikation
bzw. Rekombinations-abhängige Replikation, 7 Abschn. 10.6). Dabei be-
5′
3′ nutzt ein Telomer ein anderes Telomer als Matrize für die Verlängerung.
5′ 3′ e Die Bildung einer T-Schleife (engl. T-loop) erfolgt aufgrund terminaler
3′ Wiederholungssequenzen und Verlängerung des eingedrungenen
3’-Endes (hier ist nur die Verlängerung des 3’-Endes gezeigt; für Details siehe
e . Abb. 2.22). In allen Fällen benötigt die Verlängerung des 5’-Endes weitere
DNA-Synthese am Folgestrang. Die blauen Bereiche in a und b stellen die
RNA-Sequenzen dar, die durch die reverse Transkription an das Chromo-
5′ 3′ somen-Ende angefügt werden. (Nach de Lange 2004, mit freundlicher Ge-
5′
3′ nehmigung der Nature Publishing Group)

. Abb. 2.22 Mögliche Struktur des Replikationskomplexes am menschlichen Telomer. a Menschliche Telomere bestehen aus Bereichen (2–30 kb) doppel-
strängiger TTAGGG-Wiederholungen, die am 3’-Ende in einzelsträngige Überhänge von 100–200 Nukleotiden auslaufen. Diese DNA kann als eine T-Schleife
(T-loop) vorkommen, wobei der 3’-Überhang in den Doppelstrangbereich eindringt und an den TTAGGG-Wiederholungen eine Verdrängungsschleife bildet
(engl. displacement loop; D-loop). An diese einzelsträngige TTAGGG-Wiederholungssequenz bindet POT1 (engl. protection of telomers); außerdem sind zwei
Faktoren mit dem Komplex assoziiert, die die doppelsträngige Form der Wiederholungssequenz binden (engl. TTAGGG-repeat-binding factors; TRFs). b TRF1
und TRF2 verbinden sich mit weiteren Proteinen wie Tankyrase bzw. RAP1. Die primäre Aufgabe des TRF2-Komplexes (links) besteht darin, das Chromosomen-
Ende zu schützen; der TRF1-Komplex (rechts) spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation der Telomerase-abhängigen Reaktionen. ERCC1/XPF, RAD50, MRE11
und NBS1 sind Proteine, die bei DNA-Reparaturprozessen wichtig sind; TIN ist ein TRF-interagierender Faktor, PINX1 ein Telomerase-Inhibitor und WRN eine
Helikase, die beim Werner-Syndrom eine wichtige Rolle spielt. (Nach de Lange 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

erforscht. Hier kommt offensichtlich zusätzlich zu dem beschrie- > Chromosomen-Enden (Telomere) bringen besondere
benen Telomerase-Mechanismus noch die Ausbildung einer Probleme für eine vollständige Replikation mit sich. Um
»T-Schleife« (engl. T-loop) hinzu; dies erinnert an ähnliche Vor- einen allmählichen Verlust von Endsequenzen des
gänge während der Rekombination (7 Abschn. 6.3.3). Eine Über- Chromosoms zu verhindern, haben sich besondere Me-
sicht dazu zeigt . Abb. 2.22. Eine ausführliche Darstellung der chanismen herausgebildet, mit deren Hilfe Nukleotid-
Telomerstruktur bei Säugern findet sich im 7 Abschn. 6.1.4 sequenzen an die Chromosomen-Enden angefügt werden
(. Abb. 6.11). können, sodass diese ungekürzt erhalten bleiben.
46 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

Kernaussagen
5 Träger der Erbinformation in der Zelle sind die Nukleinsäuren, 5 Das Watson-Crick-Modell gestattet es, alle wichtigen Eigen-
wie sich durch Transformationsexperimente zeigen lässt. schaften des Erbmaterials aus einfachen chemischen Mecha-
2 5 Es gibt Ribonukleinsäuremoleküle (RNA) und Desoxyribo- nismen zu verstehen.
nukleinsäuremoleküle (DNA). 5 Die Replikation erfolgt durch ein komplexes Zusammenspiel
5 RNA kommt meist als Einzelstrang vor, wahrend DNA vor- von Proteinen unterschiedlicher Funktionen, und sie ist eng
wiegend als Doppelhelix vorliegt. mit den Regulationsmechanismen des Zellzyklus verknüpft.
5 DNA kann in unterschiedlichen Konformationen vorliegen. 5 Die DNA-Replikation ist mit häufigem Fehleinbau von Nukleo-
Trotz ihres sehr gleichförmigen Aufbaus weist sie eine große tiden verbunden. Reparaturprozesse sorgen schon während
Variabilität in Einzelheiten ihrer Struktur auf. der Replikation für die Beseitigung der meisten Fehler.

Übungsfragen
1. Die menschliche DNA (einfacher Chromo- 2. Warum ist es sinnvoll, die DNA-Replikation 4. Erklären sie den Unterschied der DNA-Syn-
somensatz) enthält 3,2 Mrd. Basenpaare. an den Zellzyklus zu koppeln? these am Leit- und Folgestrang sowie die
Berechnen Sie die Länge der menschlichen 3. Erklären Sie, warum wir mehr als einen Bildung von Okazaki-Fragmenten.
DNA-Doppelhelix (B-Konfiguration) Startpunkt der DNA-Replikation pro 5. Beschreiben Sie kurz das Problem der
unter Berücksichtigung der Angaben in Chromosom brauchen. DNA-Replikation an den Enden der Chro-
. Tab. 2.1 ohne Annahmen einer zusätz- mosomen (Telomerproblem).
lichen Verdrillungsstruktur.

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48 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

Technikbox 3

Renaturierungskinetik
2 Anwendung: Ermittlung der Anteile repetiti- Zeitintervallen kann eine Renaturierungskine- bei 260 nm nach Denaturierung bestimmt
ver DNA-Sequenzen und des Repetitionsgra- tik erstellt werden (. Abb. 2.8). Die Messung werden. Ein einfacherer Weg ist die photo-
des; Ermittlung der kinetischen Komplexität des Anteils renaturierter Moleküle kann auf metrische Bestimmung bei 260 nm (hier liegt
von DNA. unterschiedlichem Wege erfolgen. Häufig an- das Absorptionsmaximum von Nukleinsäuren).
Methode: DNA wird zunächst in Fragmente gewendet wurde anfangs die Trennung Diese erfolgt am zweckmäßigsten durch Auf-
möglichst einheitlicher Länge (vorzugsweise von Einzel- und Doppelstrangmolekülen nach nahme einer Schmelzkurve von DNA-Proben
um die 500 Nukleotide) geschert und anschlie- Bindung an Hydroxylapatit durch Elution mit in regelmäßigen Zeitintervallen. Die Schmelz-
ßend denaturiert. Die Einzelstrang-DNA wird Puffern unterschiedlicher Ionenstärken. Einzel- kurve der DNA lässt nicht nur den Anteil an
dann unter definierten Temperatur- und Ionen- und Doppelstrangmoleküle eluieren hierbei renaturierten Molekülen erkennen, sondern
bedingungen und in einer genau festgelegten getrennt. Ihre relativen Anteile können danach gibt auch Aufschluss über die Genauigkeit
Konzentration renaturiert. Durch Messung des durch Radioaktivitätsmessungen oder durch der Basenpaarungen in den renaturierten Mo-
Anteils renaturierter Moleküle in bestimmten Messung der optischen Dichte jeder Fraktion lekülen.

Die Renaturierung kann entweder zu Doppelsträngen mit vollständiger Basenpaarung führen, oder es entstehen unvollständig renaturierte
Moleküle. Entscheidend für die Art der Renaturierung sind die experimentellen Bedingungen (Ionenstärke, Temperatur) während der Renaturie-
rung und des darauffolgenden Waschens. Oft ist es wünschenswert, auch unvollständig gepaarte Heteroduplexmoleküle zu erhalten. In diesem
Fall kann man ähnliche DNA-Sequenzen mit teilweise abweichender Sequenz identifizieren (z. B. Gene aus evolutionär entfernteren Arten).
Technikbox
49 2

Technikbox 4

Polymerasekettenreaktion (PCR)

Anwendung: Vermehrung (Amplifikation) primer (in der Regel zwischen 45 und Primer notwendig, da sonst die Sequen-
eines bestimmten Nukleinsäurebereichs, der 60 °C) wird eine spezifische, komple- zierreaktion gleichzeitig an beiden
durch zwei Oligonukleotide begrenzt wird. mentäre Bindung der Primer an die Mat- Seiten startet; 7 Technikbox 6);
Voraussetzungen · Materialien: Die PCR (engl. rize ermöglicht (30 s). 5 Klonierung des Fragments (besonders
polymerase chain reaction) beruht auf der Fä- 5 Die DNA-Polymerase startet bei einer beliebt sind dabei Vektorsysteme, die
higkeit von DNA-Polymerasen einiger Organis- Temperatur von 72 °C und verlängert mithilfe einer DNA-Topoisomerase eine
men (z. B. Thermus aquaticus, Abk. Taq), Tem- den Primer in 5’ൺ3’-Orientierung (ca. direkte Klonierung des PCR-Fragments
peraturen von rund 100 °C auszuhalten. Damit 1 min pro 1000 bp). ermöglichen, ohne dass vorher eine
ist es möglich, nach dem Aufschmelzen dop- 5 Durch Erhitzen auf 95 °C (30 s) wird die Bearbeitung mit Restriktionsenzymen
pelsträngiger DNA mithilfe zweier spezifischer Reaktion gestoppt und die beiden DNA- erfolgt; 7 Technikbox 11).
Oligonukleotidprimer ein definiertes Fragment Stränge wieder getrennt.
zu synthetisieren. Durch die zyklische Wieder- Die PCR bietet eine Reihe von Variationsmög-
holung von Aufschmelzen und Synthese Man kann diesen Synthesezyklus viele Male lichkeiten. In der Regel kann sie nicht dazu
wird eine exponentielle Amplifikation des ge- wiederholen (in der Regel 25- bis 40-mal) verwendet werden, quantitative Aussagen
wünschten Fragments ermöglicht, sodass mit und erhält auf diese Weise große Mengen über die Menge der Matrize zu machen, da
extrem kleinen Mengen gearbeitet werden identischer Doppelstrangmoleküle, die durch durch die Vielzahl der Amplifikationsschritte
kann. Voraussetzung ist die Kenntnis der Bin- die beiden Primer begrenzt sind. Besonders die Unterschiede verwischt werden. Eine Mög-
desequenz für die Primer; die Sequenz des vorteilhaft an dieser Methode ist die Hitze- lichkeit ist jedoch die Real-Time-PCR: Dabei
Bereichs zwischen den Primern kann dabei un- stabilität der Taq-Polymerase; dadurch können wird die Bildung des entstehenden PCR-Pro-
bekannt sein. die aufeinanderfolgenden Denaturierungs- duktes während der Synthese gemessen, was
Methode: Der Reaktionsansatz enthält die und Hybridisierungsschritte einander abwech- z. B. durch die Verwendung von Farbstoffen
DNA-Matrize (in der Regel entweder genomi- seln, ohne dass zwischendurch neues Enzym möglich ist, die nur an doppelsträngige DNA
sche DNA oder cDNA), die hitzestabile DNA- beigefügt werden muss oder dass Reinigungs- binden. Die Real-Time-PCR hat einen hohen
Polymerase, die zwei spezifischen Primer so- schritte erforderlich sind. Stellenwert bei der Bestätigung von Ergeb-
wie alle vier Desoxynukleotidtriphosphate Die PCR kann für eine große Anzahl unter- nissen zur Untersuchung differenziell expri-
in einem geeigneten Puffer. Das übliche schiedlicher Aufgaben in der Molekulargenetik mierter Gene (z. B. aus Mikroarrays, 7 Technik-
Schema (siehe auch Abb.) sieht wie folgt aus: eingesetzt werden, z. B.: box 35). Diese Verfahren können jedoch nicht
5 Zunächst wird durch Erhitzen auf 95 °C 5 Größenbestimmung der Fragmente in in den konventionellen PCR-Geräten durchge-
die DNA aufgeschmolzen (30 s). der Gelelektrophorese (7 Technikbox 2); führt werden.
5 Durch Abkühlen auf die berechnete Bin- 5 Sequenzierung des Fragments (hier ist
dungstemperatur der Oligonukleotid- zunächst die Abtrennung der beiden

1 2 3 4

Die schematische Darstellung der PCR beginnt mit dem Aufschmelzen der DNA und der anschließenden spezifischen Anlagerung der Primer an
ihren jeweiligen Gegenstrang (1). Nach der Bindung der Primer startet die hitzestabile DNA-Polymerase (2). Der neue Zyklus beginnt mit dem er-
neuten Aufschmelzen der DNA (3), der Anlagerung der Primer und der erneuten Synthese des komplementären Strangs (4). Bei n Zyklen führt
dies zu einer 2n-fachen Vermehrung eines DNA-Fragments, dessen Enden durch die jeweiligen Primer definiert werden. Die Pfeilrichtung gibt die
3’ൺ5’-Orientierung der DNA-Stränge an; die blauen und roten Stränge sind die ursprünglich vorhandenen Stränge; die Primer sind grün dargestellt
und die neu synthetisierte DNA ist lila (hier ist die Orientierung jeweils 5’ൺ3’).
50 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

Technikbox 5

Markierung von DNA


2 Anwendung: Markierung von DNA für Hybridi- E. coli-DNA-Polymerase I unter der Verwen- mentären DNA-Strang in 5’ൺ3’-Richtung zu
sierungsexperimente. dung von markierten Nukleotidtriphosphaten synthetisieren. Hierzu ist, wie für jede Replika-
Methode: Die Markierung erfolgt mit markier- in einer in-vitro-Reparaturreaktion aufgefüllt. tion, ein Primer am neu zu synthetisierenden
ten Basenanaloga und ist auf unterschiedliche DNA-Polymerase I entfernt aufgrund ihrer Strang erforderlich. Als Primer verwendet man
Weise möglich: 5’ൺ3’-Exonuklease-Aktivität Nukleotide am hierzu meist eine Mischung von Hexanukleoti-
5 mit radioaktiven Isotopen (32P, 3H, 14C freien 3’-Ende des DNA-Strangs an der Stelle den (bisweilen auch längere Oligonukleotide)
oder 35S; z. B. 3H-Thymidin); des Einzelstrangbruchs und füllt den Einzel- mit einer zufälligen Basenfolge. Doppelsträn-
5 mit Nukleotiden, die modifiziert sind strang gleichzeitig in 5’ൺ3’-Richtung durch gige DNA wird zunächst denaturiert. Nach
und über spezifische Antikörper erkannt ihre Polymerase-Aktivität replikativ auf, sodass der Bindung dieser Oligonukleotide an die
werden können (z. B. das Thymidin-Ana- markierte Nukleotide in die DNA eingefügt Einzelstrang-DNA in einer Bindungsreaktion
logon Bromdesoxyuridin, BrdU); werden. Das Ausmaß der Markierung lässt sich (Annealing), die einer Hybridisierung gleicht,
5 mit Nukleotiden, deren Basen mit durch den Einsatz von DNase I verändern, mit fügt man in einem in-vitro-System markierte
Makromolekülen gekoppelt sind und deren Hilfe eine geeignete Anzahl von Einzel- Nukleotide und Klenow-Enzym hinzu. Das
die immunologisch nachgewiesen strangbrüchen in die DNA eingefügt werden Enzym initiiert die DNA-Synthese an den
werden können (z. B. Digoxigenin = DIG kann. Durch Veränderung der DNase-I-Konzen- Oligonukleotidprimern und synthetisiert unter
mit Anti-DIG-Antikörpern); tration lässt sich das Ausmaß der DNase-I-Wir- Verwendung der markierten Nukleotide einen
5 mit Nukleotiden, die über eine Komplex- kung leicht kontrollieren. neuen DNA-Strang. Da die Primersequenzen
bildung mit anderen Makromolekülen Random Priming. Eine höhere spezifische aus zufälligen Nukleotidsequenzen bestehen,
(z. B. Biotin mit Avidin oder Streptavidin) Aktivität der Markierung von DNA lässt sich binden sie in genügend kurzen Abständen
den Nachweis gestatten. durch Random Priming erzielen. Man macht (ca. alle 0,5–2 kb, je nach Primer) an die DNA,
hierbei von der Fähigkeit des Klenow-Frag- um eine vollständige Replikation aller DNA-
Nick Translation. In doppelsträngiger DNA ments von E. coli-DNA-Polymerase I Gebrauch, Bereiche zu garantieren.
vorhandene Einzelstrangbrüche werden durch an geprimter Einzelstrang-DNA einen komple-

DNA-Moleküle sind rot, die neu eingefügten


Stränge und die Primer blau dargestellt. Die
markierten Nukleotide sind durch blaue Kreise
angegeben.
Technikbox
51 2

Technikbox 6

Klassische DNA-Sequenzierung

Anwendung: Ermittlung der Nukleotidse- jedem einzelnen Reaktionsansatz der Ketten- (Dimethylsulfat: Methylierung von G) oder
quenz von DNA. abbruch jeweils nur nach einem spezifischen durch Schwächung der Glykosidbindung der
Methode: Zur Ermittlung der Nukleotid- Nukleotid (also nach einem A, G, C oder T). Basen depurinieren (mit Piperidin: A und G)
sequenz von DNA wurden im Wesentlichen Diese Reaktionsgemische werden getrennt und infolgedessen die DNA an der betreffen-
zunächst zwei Methoden entwickelt, die und in parallelen Positionen auf ein Polyacryl- den Stelle hydrolysieren oder Pyrimidinringe
Didesoxy-Kettenterminationsmethode (engl. amidgel aufgetragen und elektrophoretisch (C und T) öffnen (Hydrazin), sodass ebenfalls
chain termination method) von Sanger und die getrennt. Alle Reaktionsgemische enthalten Hydrolyse erfolgt. Bei stark alkalischem pH
Maxam-Gilbert-Methode, die auf chemischer neben den Didesoxynukleotiden ein radioaktiv (1,2 N NaOH) und hoher Temperatur (90 °C)
Degradation von DNA beruht. Heute wird vor- markiertes Nukleotid (z. B. 32P- oder 35S-mar- werden die Phosphodiesterbindungen nach A,
zugsweise die Sanger-Methode (Sanger et al. kiert). Man kann daher solche Gele autoradio- in geringerem Maße auch nach C, geöffnet.
1977) für Sequenzbestimmungen angewen- graphisch analysieren, wodurch die ver- Die Maxam-Gilbert-Methode bietet Vor-
det; die Pyrosequenzierung eignet sich beson- schiedenen Molekülgruppen im Film durch teile, wenn es darum geht, DNA-Protein-Inter-
ders für die automatisierte Sequenzierung kur- strahlungsinduzierte Schwärzungen sichtbar aktionen auf ihre Sequenzspezifität hin zu
zer Fragmente. Die »Sequenzierung der nächs- werden (7 Technikbox 15). Solche Autoradio- untersuchen. Bindet nämlich ein Proteinmole-
ten Generation« wird in der 7 Technikbox 7 gramme gestatten es, die Basensequenz der kül sequenzspezifisch an die DNA, so kann in
vorgestellt. DNA direkt abzulesen (. Abb. a, b). Moderne der betreffenden Region keine Spaltung der
Sanger-Methode (1977). Sie macht von der Sequenzierautomaten verwenden statt der DNA erfolgen. Im Sequenzgel werden daher
Möglichkeit Gebrauch, mithilfe von DNA-Poly- radioaktiv markierten Nukleotide solche, im Bindungsbereich des Proteins keine Mole-
merase an Einzelstrang-DNA von einem Primer die mit Fluoreszenzfarbstoffen markiert sind. küle sichtbar, die in diesem Sequenzbereich
aus einen neuen komplementären DNA-Strang Es können damit Leseweiten bis knapp gespalten worden sind. Auf diese Weise lassen
zu synthetisieren. Diese Synthese erfolgt in 1000 Basen erzielt werden (. Abb. c). sich Proteinbindungsstellen an der DNA mit
Gegenwart von Nukleotidtriphosphaten, de- Maxam-Gilbert-Methode (1977). Sie beruht großer Genauigkeit ermitteln.
nen in niedriger Konzentration Didesoxynukle- auf einer ganz anderen experimentellen Grund- Pyrosequenzierung. Diese Methode wurde
otide, d. h. Nukleotide, deren 3’-Hydroxylgrup- lage als die Sanger-Methode. Durch nukleo- 1996 von Pal Nyrén entwickelt und basiert wie
pe an der Desoxyribose fehlt, beigefügt sind. tidspezifische partielle chemische Spaltung der die Sanger-Methode auf dem Einbau neuer
Es kommt unter diesen Bedingungen zu DNA (z. B. hinter G, C, A + G, C + T oder vorzugs- Nukleotidtriphosphate durch die DNA-Poly-
einem Abbruch der DNA-Synthese, sobald ein weise A) werden in getrennten Reaktionen merase. Dabei wird als Nebenreaktion
Didesoxynukleotid in den neu synthetisierten DNA-Moleküle unterschiedlicher Länge er- Pyrophosphat (PPi) freigesetzt. Bei der Pyrose-
Strang eingebaut wird, da wegen der fehlen- zeugt, die jedoch am Ende jeweils das gleiche quenzierung nutzt man diese Nebenreaktion
den 3’-OH-Gruppe der Desoxyribose kein Nukleotid besitzen. Das andere Ende des Mole- als Nachweis, indem zunächst das Pyrophos-
weiteres Nukleotid angefügt werden kann. Der küls ist radioaktiv markiert, sodass wir, ver- phat durch die ATP-Sulfurylase zu Adenosintri-
Einbau von Didesoxynukleotiden erfolgt zu- gleichbar mit der Sanger-Methode, nach einer phosphat (ATP) umgesetzt wird. Das ATP treibt
fallsgemäß, sodass eine Mischung von neu elektrophoretischen Auftrennung der Moleküle eine Luciferase-Reaktion an, und die dadurch
synthetisierten DNA-Strängen unterschied- nach ihrer Größe und anschließender Auto- entstehenden Lichtblitze werden von einem
licher Länge entsteht. Der Größenbereich radiographie die Längen aller Moleküle feststel- Detektor erfasst. Da bei der Pyrosequenzie-
liegt zwischen einem und mehreren Hundert len können, die das gleiche Nukleotid am Ende rung kürzere Leseweiten als bei der Sanger-
Nukleotiden, die an den Primer (etwa 15–29 besitzen. Die Längen der Moleküle in den ver- Sequenzierung erzielt werden, wird diese
Nukleotide) angefügt werden. Diese werden schiedenen Teilreaktionen gestatten es wieder- Methode vorwiegend für SNP- und Mutations-
auf Polyacrylamidgelen nach ihrer Länge frak- um, die genaue Nukleotidsequenz aus dem analysen eingesetzt (Ronaghi et al. 1996).
tioniert. Führt man die DNA-Synthese in vier Autoradiogramm abzulesen.
getrennten Reaktionen durch, denen jeweils Zum chemischen Abbau der DNA dienen
ein anderes Didesoxynukleotid beigefügt wird verschiedene Agenzien, die die DNA entweder
(also ddA, ddG, ddC oder ddT), so erfolgt in an spezifischen Nukleotiden methylieren
52 Kapitel 2 · Molekulare Grundlagen der Vererbung

Template-DNA-Einzelstrang
2

DNA-Sequenzierung. a Es sind die DNA-Sequenz und die in den verschiedenen Reaktionen


entstehenden Einzelstränge gezeigt. Die Reaktionsgemische werden auf ein Sequenzgel auf-
gebracht, das nach Größentrennung der Nukleinsäureketten autoradiographiert wird (b).
b Ausschnitt aus einem DNA-Sequenzgel nach Sanger (Didesoxynukleotid-Methode). Die
Elektrophoreserichtung ist von oben nach unten, d. h. die Größe der Nukleotidketten nimmt
nach oben zu. In den vier Bahnen sind der Reihenfolge nach die Sequenzierungsgemische
mit Didesoxy-T (T), Didesoxy-C (C), Didesoxy-G (G) und Didesoxy-A (A) aufgetragen. Die radio-
aktiven Banden (durch 32P-markiertes dC hervorgerufen) zeigen daher in dieser Reihenfolge
Kettenabbrüche mit dem betreffenden Nukleotid an. Die stufenweise Folge der radioaktiven
Banden gibt daher die Folge der Nukleotide in der DNA wieder (rechts). Das 5Ȼ-Ende des
DNA-Strangs liegt unten. c Es ist ein Sequenzbeispiel gezeigt, das mit einem modernen
Sequenzierautomaten erhalten wurde. Der rote Pfeil weist auf eine heterozygote Base hin.
Diese Methode ist damit auch geeignet, in genomischer DNA heterozygote Träger von Punkt-
mutationen zu identifizieren.

c
Technikbox
53 2

Technikbox 7

Sequenzierung der nächsten Generation (next generation sequencing)

Anwendung: Parallelsequenzierung von leotiden pro Elektrophorese zufrieden, so muss- menten, an die sich die massive Parallel-
DNA-Fragmenten in Hochdurchsatzverfahren; ten es 10 Jahre später schon 1000 Nukleotide sequenzierung anschließt. Die Ergebnisse
geeignet zur Nachsequenzierung bekannter pro Lauf sein (Technikbox 6). Die »nächste Gene- werden dann zusammengesetzt und mit
Genome innerhalb von Tagen oder Wochen ration« der Sequenziertechnologie basiert dage- Daten in vorhandenen Datenbanken abgegli-
oder von Teilen daraus (Exom-Sequenzierung, gen auf ganz anderen Prinzipien, nämlich der chen, sodass neben der Technik des Sequen-
Transkriptom-Sequenzierung) oder zur schnel- parallelen Sequenzierung relativ kurzer DNA- zierens auch ein besonderer bioinformato-
len Neusequenzierung von Genomen ohne Fragmente. Mit dieser Methode ist es möglich, rischer Aufwand für diese Technologie not-
Klonierungsschritte. das gesamte Genom eines Organismus, auch wendig ist. Je nach verwendeter Technologie
Methode: Die Entwicklung von neuen Techno- des Menschen, in relativ kurzer Zeit (in Tagen beträgt die Datenmenge pro Lauf zwischen
logien zur Sequenzierung von DNA schreitet mit bzw. Wochen) vollständig zu sequenzieren. 600 MB und 200 GB.
enormer Geschwindigkeit voran. War man in Hauptmerkmale sind die räumliche Immo-
den 1980er-Jahren noch mit 100 oder 200 Nuk- bilisierung von Millionen kurzen DNA-Frag-

Exom-Sequenzierung Genom-Sequenzierung Transkriptom-Sequenzierung

AAAAA
TTTTT

AAAAA
TTTTT
Aufbrechen der DNA in
Selektion der
kleine Fragmente (~350 bp) Aufbrechen der mRNA;
mRNA
Bindung von Zufalls-Oligos

Anfügen von Adaptern über Synthese des


1. und 2. Strangs Anfügen von Adaptern über
»Reparatur« der Enden
»Reparatur« der Enden

Einfangen der Fragmente,


die Exons enthalten

Auswaschen der
freien DNA

Amplifikation und Amplifikation und


Sequenzierung Sequenzierung

Anordnung nach Datenbanken; Anordnung nach Datenbanken; Anordnung nach Datenbanken;


Aufrufen der Varianten; Aufrufen der Varianten; Aufrufen der Varianten;
Datenmenge ~10 GB Datenmenge ~150 GB Datenmenge ~10 GB

Die Abbildung gibt einen groben Überblick über die verschiedenen Anwendungsbereiche und Arbeitsabläufe beim Sequenzieren der nächsten
Generation. (Nach Bras et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
55 3

Verwertung genetischer
Informationen

Ribosomale Gene während der Transkription in Xenopus-Oocyten. Die Elektronenmikroskopie zeigt uns anschaulich
molekulare intrazelluläre Prozesse (Foto: O. L. Miller Jr., Charlottesville)

3.1 DNA, genetische Information und Informationsübertragung . . . . 57

3.2 Der genetische Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61


3.2.1 Die Entschlüsselung des Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
3.2.2 Beweis der Colinearität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
3.2.3 Allgemeingültigkeit des Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

3.3 Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.3.1 Allgemeiner Mechanismus der Transkription . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.3.2 Transkription bei Prokaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
3.3.3 Transkription Protein-codierender Gene bei Eukaryoten . . . . . . . . . . . . . 67
3.3.4 Reifung eukaryotischer mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
3.3.5 Spleißen eukaryotischer prä-mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.3.6 Editieren eukaryotischer mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
3.4 Translation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
3.4.1 Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
3.4.2 Elongation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
3.4.3 Termination und Abbau der mRNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

3.5 RNA-codierende Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88


3.5.1 5,8S-, 18S- und 28S-rRNA-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
3.5.2 5S-rRNA-Genfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
3.5.3 tRNA-Genfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
3.5.4 Katalytische RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
3.1 · DNA, genetische Information und Informationsübertragung
57 3

Überblick

Der bisher beschriebene einförmige Aufbau Basentripletts der DNA. Diese Triplettbasen- RNA (tRNA) in der von der mRNA festgelegten
der DNA steht in scheinbarem Widerspruch zu sequenz kann in der Zelle durch die Bildung Reihenfolge an die vorangehende Aminosäure
der großen Anzahl vielfältiger Informationen, entsprechender Proteine umgesetzt werden. geknüpft. Die tRNA erkennt ein Triplett in
die sie enthalten muss, wenn sie die Grund- Hierzu bedient sich die Zelle einer weiteren der mRNA mithilfe ihres Anticodons. Sie ist mit
lage von Vererbungsvorgängen darstellt. Die Nukleinsäure, der einzelsträngigen Boten-RNA der zugehörigen Aminosäure beladen, die
einzige Variabilität der DNA besteht in der (engl. messenger RNA, mRNA). Diese mRNA nun der wachsenden Polypeptidkette ange-
Folge von insgesamt vier unterschiedlichen wird an der DNA nach dem gleichen Duplika- fügt werden kann.
Basen. Diese Variabilität genügt jedoch, um tionsverfahren synthetisiert (Transkription), Die Ribosomen sind dabei eigentümliche
umfangreiche Information zu speichern, wenn das auch bei der Replikation zur Anwendung Zwitter – aufgebaut aus besonderen, eigenen
man annimmt, dass diese Information in Form kommt. Die mRNA repräsentiert jedoch nur (ribosomalen) RNA-Molekülen (rRNA) und
eines Codes vorliegt, der mehrere Basen als den einen der beiden DNA-Stränge, der als Proteinen. Sie erinnern an Frühformen des Le-
Codewort umfasst. Der in der DNA verwen- codierender (codogener) Strang bezeichnet bens, als es noch keine DNA gab und nur eine
dete genetische Code ist ein Triplettcode, der wird. »RNA-Welt« existierte. Auch die tRNAs gehören
jeweils eine Gruppe von drei aufeinander- Wie der Name besagt, dient die mRNA natürlich in diesen Zusammenhang, und
folgenden Basen enthält. Dieser Code ist für als Bote zur Übertragung der genetischen In- auch heute noch existieren RNA-Moleküle mit
alle Organismen nahezu identisch. formation ins Cytoplasma. Hier findet mit ihrer enzymatischen Eigenschaften: Ribozyme und
Die für die Zelle entscheidende Informa- Hilfe an den Ribosomen die Proteinsynthese RNA-Schalter, die wir am Ende des Kapitels
tion ist die Festlegung einer spezifischen (Translation) statt. Jedes Basentriplett definiert besprechen wollen.
Aminosäuresequenz in aufeinanderfolgenden eine Aminosäure. Sie wird von einer Transfer-

3.1 DNA, genetische Information is … the result of a specific form of metabolic activity, as one
und Informationsübertragung may conclude from the fact that such products have not only
a definite physical and morphological character, but also a definite
Alle bisher besprochenen Eigenschaften der DNA stehen in Ein- chemical character… In its physiological aspect, therefore, inheri-
klang mit den Anforderungen an eine chemische Verbindung, tance is the recurrence, in successive generations, of like forms
die die erbliche Information eines Organismus beherbergt. Den- of metabolism …«
noch haben wir eine entscheidende Frage bisher nicht gestellt: Entscheidende Fortschritte im Verständnis der Genwirkung
Welche molekulare Eigenschaft der DNA befähigt sie, die große wurden in den 1940er-Jahren gemacht. Hierbei waren vor allem
Vielfalt der Erscheinungsformen von Lebewesen in sich zu ver- genetische Studien biochemischer Prozesse am Schimmelpilz
gegenwärtigen? In der DNA-Struktur gibt es ja praktisch nur eine Neurospora von Bedeutung. Dieser Organismus ist für gene-
variable chemische Komponente: die an das gleichförmige tische Untersuchungen besonders geeignet, da sein Lebens-
Zucker-Phosphat-Rückgrat seitlich angefügte Base. Aber auch zyklus die genetischen Analysen aufgrund der Möglichkeit
die hierbei mögliche Variabilität erscheint uns zunächst, wie von Tetradenanalysen besonders vereinfacht (. Abb.  11.25).
schon Miescher vor mehr als 100 Jahren feststellte, sehr wenig G. W. Beadle und E. L. Tatum kamen 1941 bei der Untersuchung
geeignet, die Vielfalt lebender Erscheinungen zu erklären, da der mutagenen Effekte von Röntgenstrahlen auf den Stoff-
sich im Allgemeinen nur vier verschiedene Basen in der DNA wechsel zu der Erkenntnis, dass ein Gen für die Synthese ein-
miteinander abwechseln. Immerhin fällt uns die Vorstellung, zelner Stoffwechselkomponenten verantwortlich ist: »Inability to
dass nur vier unterschiedliche Einzelelemente eine sehr große synthesize vitamin B6 is apparently differentiated by a single gene
Menge unterschiedlichster Information verschlüsseln können, from the ability of the organism to elaborate this essential growth
heute viel leichter, da es uns aus der Informatik geläufig ist, dass substance.« Dieser Schluss beruhte auf den experimentellen Be-
schon zwei unterschiedliche Elemente – z. B. »0« und »1« – sehr funden, dass eine genetische Veränderung eines Gens zu einer
viel Information aufzunehmen vermögen, wenn sie in geeigneter Blockierung eines Stoffwechselweges führt, der aber durch die
Form gruppiert werden. Genau das ist durch die organischen Ergänzung des Zuchtmediums mit geeigneten Verbindungen
Basen in der DNA möglich: Durch die Vielfalt der Möglich- aufgehoben werden kann. Lesen wir die Interpretation der Effek-
keiten der Basenreihenfolge im DNA-Strang wird die zur Exis- te von Mutationen im Stoffwechsel der Augenfarbstoffe von Dro-
tenz eines Organismus erforderliche Information in der DNA sophila nach (. Abb. 11.15, . Tab. 11.7), so ist die Interpretation
festgelegt. dieser Befunde durch Beadle und Tatum naheliegend: Ein Gen
Die Beantwortung der Frage des Informationstransfers von codiert die Information zur Bildung von Enzymen, also von Pro-
der DNA als Informationsträger zur praktischen Verwertung teinmolekülen, die entscheidende katalytische Funktionen in
im zellulären Stoffwechsel ist etwas komplexer als es zunächst Stoffwechselprozessen ausüben. Die Experimente von Beadle
erschien. Prinzipielle Vorstellungen, in welcher Weise Gene in und Tatum führten daher zu der »Ein-Gen-ein-Enzym-Hypo-
der Zelle ihre Funktionen ausüben können, hatten sich bereits these«, die lange Zeit die Vorstellungen über die Funktion eines
gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt: Sie üben zentrale Gens bestimmt hat (. Abb. 3.1).
Aufgaben im Stoffwechsel der Zelle aus. Das kommt in den Die »Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese« wurde später auf eine
Worten E. B. Wilsons (1900) zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Ein-Gen-ein-Protein-Hypothese« erweitert. Im Prinzip hat
»The building of a definite cell-product, such as a muscle fibre, sich diese Form der Definition in vielerlei Hinsicht als zutreffend
a nerve process, a cilium, a pigment-granule, a zymogen-granule, erwiesen, wenn wir auch hierzu ergänzende Gesichtspunkte
58 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

wurden mit Ciliaten gefüttert, die man mit 32P radioaktiv mar-
kiert hatte. 2 bis 3 Tage nach dieser Fütterung wurden Zellkerne
der Amöben, die sich zu diesem Zeitpunkt als radioaktiv er-
wiesen, isoliert und in normale Amöben transplantiert, deren
eigenen Zellkern man zuvor entfernt hatte. Autoradiographische
Präparate, die man zu unterschiedlichen Zeiten nach der Kern-
3 transplantation anfertigte, ließen erkennen, dass die Radio-
aktivität zunächst für einige Stunden im Kern verbleibt, nach
12 h jedoch auch im Cytoplasma zu finden ist. Da die Be-
handlung  der Präparate mit Ribonuklease, einem Enzym, das
RNA abbaut, zu einem vollständigen Verlust der radioaktiven
Markierung führt, lässt dieses Experiment darauf schließen,
. Abb. 3.1 Das zentrale Dogma. Die genetische Information, die in der dass RNA sich zunächst im Kern befindet, dann aber ins Cyto-
DNA niedergelegt ist, wird durch die messenger-RNA (mRNA) als molekulare plasma übertritt: »The evidence presented shows that RNA is
Zwischenstufe an die Ribosomen übertragen, wo die Proteinsynthese an synthesized in the nucleus and that RNA, or at least a nucleus-
der mRNA erfolgt. In Eukaryoten sind die Orte der mRNA-Synthese und der modified precursor of RNA, is transmitted to the cytoplasm«
Proteinsynthese durch die Kernmembran getrennt, während in Prokaryoten
beides direkt an der DNA erfolgt. Der dogmatische Charakter ist allerdings
(Goldstein und Plaut 1955).
inzwischen verloren gegangen: RNA kann auch als Matrize zur DNA-Syn- In der Folge konnte experimentell untermauert werden (be-
these dienen (Reverse Transkriptase) sonders durch die RNA-Synthesehemmung mit Actinomycin D),
dass RNA ausschließlich an der DNA im Zellkern synthetisiert
und anschließend ins Cytoplasma transportiert wird. Damit war
berücksichtigen müssen, die erst nach näherer Betrachtung jedoch das Problem der Umsetzung der genetischen Information
der Struktur von Genen verständlich werden. Dazu gehören vor in Proteinmoleküle keinesfalls gelöst. Die genetische Informa-
allem die recht komplexen Formen der Regulation der Genak- tion war in der RNA nunmehr in ein – stoffwechselphysiologisch
tivität durch Promotoren und Enhancer (7 Abschn. 7.3) und die instabiles – Einzelstrangnukleinsäuremolekül verlagert, der
häufig sehr unterschiedlichen Spleißvarianten (7 Abschn. 3.3.5); Schritt zum Protein aber noch nicht erfolgt. Um diesen Schritt
in neuerer Zeit gewinnen aber auch kleine RNA-Moleküle eine nachvollziehen zu können, war zunächst die Erkenntnis von Be-
funktionelle Bedeutung (7 Abschn. 3.5 und 7 Abschn. 8.2). Diese deutung, dass zelluläre RNA aus drei Hauptkomponenten unter-
Aspekte nehmen einfachen Formulierungen als Erklärung des schiedlicher Eigenschaften und Stabilität besteht:
Begriffs »Gen« ihre Allgemeingültigkeit. ribosomale RNA (rRNA), Boten-RNA (engl. messenger RNA,
mRNA), Transfer-RNA (engl. transfer RNA, tRNA).
> Die ersten molekularen Einblicke in die Funktion von
Der Hauptanteil zellulärer RNA besteht aus Molekülen, die
Genen ließen erkennen, dass der Begriff »Gen« hinsicht-
in cytoplasmatischen Partikeln, den Ribosomen, enthalten sind.
lich seiner zellulären Funktion mit einem Enzym oder
Diese Moleküle werden daher ribosomale RNA (rRNA) genannt
allgemeiner mit einem Proteinmolekül in Beziehung ge-
und repräsentieren etwa 40 % des Gewichts eines Ribosoms
setzt werden kann. Diese einfache Formulierung ist heute
(7 Abschn. 3.4). In der Zelle sind etwa 85 % aller RNA-Moleküle
unvollständig.
rRNA. Ribosomen hatte Georg Palade in den 1950er-Jahren be-
Dieser wichtige Schritt im Verständnis der Funktion von Genen reits im Elektronenmikroskop und durch Zellfraktionierungen
wurde unmittelbar begleitet von der Frage nach der molekularen als wichtige Bestandteile des endoplasmatischen Reticulums
Verbindung zwischen der DNA-Sequenz eines Gens und der zu- (ER) identifiziert (7 Abschn. 5.1.1), wofür er 1974 mit dem
geordneten Proteinsequenz. Es war zunächst durchaus unklar, ob Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde. Ribosomale RNA
die Proteine nicht direkt im Zellkern synthetisiert werden und ist – im Vergleich zu den anderen RNA-Fraktionen der Zelle –
daher in einer direkten räumlichen Beziehung zur DNA-Sequenz stoffwechselphysiologisch relativ stabil und verteilt sich auf
stehen. wenige Größenklassen. Die ribosomale RNA ist ein wichtiges
Bereits in den 1940er- und 1950er-Jahren waren jedoch Struktur- und Funktionselement der Ribosomen. Heute wissen
zahlreiche Stoffwechseluntersuchungen am zweiten zellulären wir, dass es darüber hinaus noch weitere RNA-Klassen gibt, die
Nukleinsäuretyp, der Ribonukleinsäure (RNS, engl. ribonucleic sich vor allem durch eine besondere Kürze auszeichnen und
acid, RNA), durchgeführt worden. RNA ist als Zellbestandteil eine wichtige Rolle bei der Regulation von Genaktivitäten spielen
der DNA mengenmäßig weit überlegen, wird aber im Gegensatz (7 Abschn. 3.5 und 7 Abschn. 8.2).
zur DNA zum überwiegenden Teil im Cytoplasma gefunden. Der wichtigste Fortschritt im Verständnis der Informations-
Viele Experimente zeigten eine direkte Korrelation zwischen übertragung von der DNA auf Proteine wurde durch Experi-
intensiver Proteinsynthese und RNA-Synthese. Untersuchungen mente von Brenner, Jacob und Meselson (1961) am Bakteriopha-
der Markierungskinetik von RNA nach Pulsmarkierung mit gen T2 (7 Abschn. 4.3) gemacht. Untersuchungen der RNA-Syn-
radioaktivem Uridin ließen erkennen, dass RNA im Kern synthe- these führten zu der Einsicht, dass eine relativ instabile RNA-Frak-
tisiert wird, danach aber ins Cytoplasma gelangt. tion, die nicht mehr als 4 % der totalen zellulären RNA umfasst,
Besonders aufschlussreich waren Versuche von Lester Gold- die Information der DNA an die Ribosomen im Cytoplasma trägt,
stein und Walter Plaut (1955) an Amoeba proteus. Die Amöben um dort die Proteinsynthese zu ermöglichen. Entsprechend wur-
3.1 · DNA, genetische Information und Informationsübertragung
59 3

. Tab. 3.1 Genetischer Code (mit Ein-Buchstaben-Code für Aminosäuren)

2. Base

U C A G

U UUU Phe F UCU Ser S UAU Tyr Y UGU Cys C U

UUC Phe F UCC Ser S UAC Tyr Y UGC Cys C C

UUA Leu L UCA Ser S UAA Stopp UGA Stopp A

UUG Leu L UCG Ser S UAG Stopp UGG Trp W G

C CUU Leu L CCU Pro P CAU His H CGU Arg R U

CUC Leu L CCC Pro P CAC His H CGC Arg R C

CUA Leu L CCA Pro P CAA Gln Q CGA Arg R A


1. Base

3. Base
CUG Leu L CCG Pro P CAG Gln Q CGG Arg R G

A AUU Ileu I ACU Thr T AAU Asn N AGU Ser S U

AUC Ileu I ACC Thr T AAC Asn N AGC Ser S C

AUA Ileu I ACA Thr T AAA Lys K AGA Arg R A

AUG a Met M ACG Thr T AAG Lys K AGG Arg R G

G GUU Val V GCU Ala A GAU Asp D GGU Gly G U

GUC Val V GCC Ala A GAC Asp D GGC Gly G C

GUA Val V GCA Ala A GAA Glu E GGA Gly G A

GUG Val V GCG Ala A GAG Glu E GGG Gly G G

a wird auch als Startcodon verwendet

de diese RNA-Form als Boten-RNA bezeichnet (engl. messenger this particular RNA fraction functions as an intermediate carrier
RNA, mRNA). »It is a prediction of the hypothesis that the messen- of amino acids in protein synthesis« (Hoagland et al. 1958).
ger-RNA should be a simple copy of the gene, and its nucleotide Dieser Schluss fügt sich nahtlos an einen Vorschlag von
sequence should therefore correspond to that of the DNA… Ribo- Francis Crick an, nach dem die Umsetzung der in der DNA ent-
somes are non-specialized structures which synthesize, at a given haltenen Sequenzinformation in Proteinsequenzen mithilfe
time, the protein dictated by the messenger they happen to contain« eines Verbindungsmoleküls erfolgt, das einerseits spezifische
(Brenner et al. 1961) molekulare Interaktionen mit der mRNA eingehen kann, ande-
rerseits aber die Aminosäuren auf wachsende Polypeptidketten
> Das einem Gen zugeordnete Protein wird nicht am
überträgt, die durch die jeweilige RNA-Sequenz definiert werden
Chromosom direkt synthetisiert, sondern an einer einzel-
(. Tab. 3.1).
strängigen Nukleinsäure, der messenger-RNA, an den
Ribosomen im Cytoplasma der Zelle. > Die Übertragung der Information zur Synthese eines
bestimmten Proteins erfordert neben einem an der DNA
Wie aber wird die Nukleotidsequenz der mRNA in ein Protein-
synthetisierten mRNA-Molekül (Transkription) noch
molekül umgesetzt? Für das Verständnis der molekularen
zwei weitere RNA-Typen, die ribosomale RNA (rRNA) und
Grundlage dieses Prozesses ist ein weiterer Befund von Mahlon
die Transfer-RNA (tRNA). Die rRNA ist ein struktureller
B. Hoagland und Mitarbeitern aus dem Jahre 1958 Vorausset-
Bestandteil der Ribosomen; die tRNA ist ein Adaptermole-
zung. Neben ribosomaler RNA als Hauptkomponente zellulärer
kül, das durch spezifische molekulare Interaktion mit
RNA war die sogenannte lösliche RNA (engl. soluble RNA, sRNA),
der mRNA während der Proteinsynthese Aminosäuren in
heute allgemein Transfer-RNA (tRNA) genannt, als zweithäufigs-
der richtigen Folge aneinanderfügen kann (Translation).
te RNA-Fraktion der Zelle beschrieben worden. Mengenmäßig
umfasst sie etwa 5–10 % der gesamten RNA. Hoagland und seine Die weitere Untersuchung der tRNA, insbesondere ihre Se-
Mitarbeiter erkannten, dass an diese RNA, deren Länge nur etwa quenzanalyse durch Robert W. Holley und Mitarbeiter (1965),
80 Nukleotide beträgt, auf enzymatischem Wege Aminosäuren hat dieses Konzept bestätigt. Für jede der in Proteinen vor-
kovalent gekoppelt werden können. Diese Aminosäuren können kommenden 20 »klassischen« Aminosäuren (. Abb. 3.2a–c)
anschließend von der tRNA enzymatisch mittels Peptidbindun- gibt es in der Zelle eine oder mehrere spezifische tRNAs, die
gen an Proteine angehängt werden. »It is therefore suggested that den von Crick vorgeschlagenen Adaptermolekülen entsprechen
60 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

a Unpolare Seitenketten b Ungeladene polare Seitenketten


Glycin Alanin Prolin Serin Threonin Tyrosin
H H H H H H H H H H H H
O O O O O O
H N+ C C H N+ C C H N+ C C H N+ C C H N+ C C H N+ C C
O -
O -
O -
O H HC OH O O-
- -
H H H CH3 CH2 CH2 H CH2 H CH2
3 OH CH3
CH2
(Gly; G) (Ala; A) (Pro; P) (Ser; S) (Thr; T) (Tyr; Y)
OH
Valin Isoleucin Leucin
H H H H H H Asparagin Glutamin Cystein
O O O
H N+ C C H N+ C C H N+ C C H H H H H H
O- O- O- O O O
H CH H CH H CH2 H N+ C C H N+ C C H N+ C C
H3C CH3 H2C CH3 CH H CH2 O- H CH2 O-
H CH2 O-
H3C CH3 C NH2 CH2 SH
CH3
(Val; V) (Ile; I) (Leu; L) O C NH2
O
(Asn; N) (Gln; Q) (Cys; C)
Tryptophan Phenylalanin Methionin
H H H H H H
O O O
H N+ C C H N+ C C H N+ C C c Geladene polare Seitenketten
O - O -
O-
H CH2 H CH3 H CH2
Histidin Arginin Lysin
C CH CH2
H H H H H H
NH S CH3 O O O
N
H + C C N
H + C C N
H + C C
O -
O
-
O-
H CH2 H CH2 H CH2
H CH2 CH2
(Trp; W) (Phe; F) (Met; M) O N+ +
NH2 CH2 CH2
CH
H2N C NH CH2
HC N
d Seltene Aminosäuren H H H +
NH3
O
H N+ C C
Selenocystein Pyrrolysin (His; H) (Arg; R) (Lys; K)
H CH2 O-
H H CH2
O Asparaginsäure Glutaminsäure
H N+ C C CH2 H H H H
H CH2 O- O O
CH2 H N+ C C H N+ C C
SeH H N O -
O-
H CH2 H CH2
C O C O- CH2
C H H O C O-
H C C H N O
HH C C (Asp; D) (Glu; E)
(Sec; U) (Pyr; O) H H

. Abb. 3.2 Aminosäuren. a Aminosäuren mit unpolaren Seitenketten. b Aminosäuren mit polaren, aber ungeladenen Seitenketten. c Aminosäuren mit
positiv oder negativ geladenen, polaren Seitenketten. d Seltene Aminosäuren

(zur Struktur der tRNA siehe . Abb. 3.17). Jede tRNA erkennt membran ins Cytoplasma gelangt. Hier erfolgt nach Bindung
mithilfe einer jeweils spezifischen Basensequenz (Anticodon) der mRNA an Ribosomen die Synthese von Polypeptiden mit-
eine komplementäre Basensequenz (Codon) in der mRNA durch hilfe von tRNA-Molekülen, die mit einzelnen Aminosäuren be-
Basenpaarung. Auf diese Weise ist durch die mRNA eine be- laden sind.
stimmte Abfolge von Aminosäuren im Polypeptid festgelegt.
Damit ist der grundsätzliche Ablauf der Übertragung geneti- > Für jede der 20 »klassischen« Aminosäuren gibt es speziel-
scher Information von der DNA im Chromosom auf den Zell- le tRNAs, die mithilfe ihres Anticodons die entsprechen-
stoffwechsel durch die Synthese bestimmter Proteine erklärt: den Codons in der mRNA durch Basenpaarung erkennen.
An einem Strang der chromosomalen DNA wird ein RNA-Mo- Auf diese Weise können die in der DNA codierten Amino-
lekül synthetisiert, das als mRNA-Molekül durch die Kern- säuren aneinandergefügt werden.
3.2 · Der genetische Code
61 3
3.2 Der genetische Code schem Wege dadurch hergestellt werden konnten, dass die
Nukleotidsequenz, die durch Polynukleotidphosphorylase in
Die Aufklärung der grundsätzlichen Mechanismen der geneti- vitro erzeugt wird, genau den relativen molaren Verhältnissen
schen Informationsübertragung innerhalb der Zelle ließ noch der Ribonukleosiddiphosphate im Reaktionsgemisch entspricht.
eine Frage unbeantwortet: Wie ist die Information der Protein- Wesentliche Beiträge zur Bestätigung und Vervollständigung
sequenzen in der DNA verschlüsselt? Die Antwort lässt sich in des Codes lieferte auch die Gruppe um Gobind Khorana, die
vier Punkten zusammenfassen: Techniken zur gezielten Synthese längerer Ribonukleotidketten
4 Die genetische Information ist in der DNA in einem erarbeitet hatte, die dann im zellfreien E. coli-Proteinsynthese-
Triplettcode verschlüsselt, bei dem jeweils drei Basenpaare system auf ihre Codierungseigenschaften getestet werden konn-
(= ein Codon) der Nukleinsäure eine Aminosäure festlegen. ten (Nishimura et al. 1965).
4 Die verschiedenen Codons überlappen sich in der Eine wichtige alternative Technik, die von M. W. Nirenberg
Nukleinsäuresequenz nicht, sondern folgen, von einem be- und P. Leder 1964 entwickelt wurde, beruht auf der Fähigkeit von
stimmten Anfangspunkt ausgehend, ohne dazwischen Ribosomen, RNA-Trinukleotide – also im Prinzip ein Codon –
eingefügte Trennungszeichen (»kommafrei«) kontinuier- zu binden. Solche Ribosomen-RNA-Komplexe binden eine
lich aufeinander. tRNA mithilfe ihres Anticodons, das mit dem Codon am Ribo-
4 Der Code ist degeneriert, d. h. mehrere verschiedene som zur Basenpaarung befähigt ist. Trägt die tRNA eine (radio-
Codons können die gleiche Aminosäure identifizieren. aktiv markierte) Aminosäure (sie wird auch als Aminoacyl-tRNA
4 Der Code ist (im Prinzip) universell. bezeichnet), so lässt sich diese Codon-Anticodon-Bindung in
Filterbindungstests leicht demonstrieren, da Membranfilter
Die ersten drei dieser Eigenschaften des genetischen Codes keine freie tRNA, wohl aber Ribosomenkomplexe binden. Tests
waren von F. H. C. Crick, L. Barnett, S. Brenner und R. J. Watts- bestimmter synthetischer Codons mit verschiedenen Amino-
Tobin (1961) in einer zusammenfassenden Bewertung eigener acyl-tRNAs gestatteten es so, die Codon-Anticodon-Kombina-
Befunde und der Befunde anderer Autoren herausgestellt tionen mit bestimmten Aminosäuren zu korrelieren. Obwohl
worden. Die Aufklärung des Codes (. Tab. 3.1) in seinen De- auch durch diese Methodik eine vollständige Aufklärung des
tails beanspruchte, länger als von Crick und Kollegen erwartet genetischen Codes nicht gelang, waren schließlich doch etwa
(»… the genetic code may well be solved within a year«), mehrere 50 der 64 möglichen Tripletts bestimmten Aminosäuren zuge-
Jahre unter Einsatz verschiedenster Techniken. Wir wollen die ordnet. Aus diesen Daten konnte nunmehr die frühere Annahme
wesentlichen Schritte im Folgenden nachvollziehen, da sie eine bestätigt werden, dass der Code degeneriert ist, d. h. dass mehr
grundlegende Leistung der Molekulargenetik umreißen. als ein Triplett eine bestimmte Aminosäure codieren kann. An-
dererseits hatten die Versuche auch gezeigt, dass jedes Triplett
nur eine Aminosäure identifiziert.
3.2.1 Die Entschlüsselung des Codes Der genetische Code war somit, im Wesentlichen durch in-
vitro-Experimente, aufgeklärt. Die Voraussagen von Crick und
Der erste Schritt zur Entschlüsselung des Codes wurde durch Kollegen über die Eigenschaften des genetischen Codes, wie sie
Marshall W. Nirenberg und J. Heinrich Matthaei (1961) gemacht. zu Beginn dieses Kapitels aufgeführt sind, hatten sich bestätigt.
In einem zellfreien System aus E. coli synthetisierten sie in vitro Immerhin fehlten noch Bestätigungen dieses Konzeptes durch
Proteine und bewiesen, dass hierfür die Anwesenheit von mRNA geeignete biologische Experimente. Diese sollten nicht lange
erforderlich ist. Der entscheidende Befund aber war, dass ein auf sich warten lassen, und Teile des genetischen Codes wurden
synthetisches Polynukleotid, das nur aus Uridin besteht, die auf solchen Wegen bestätigt, lange bevor die Zuordnung aller
Synthese nur eines Polypeptids zur Folge hat, das ausschließlich Aminosäuren bekannt war. Allerdings ergaben diese biologi-
aus Phenylalanin aufgebaut ist. Die Synthese solcher Polynukleo- schen Experimente auch, dass – je nach untersuchtem Organis-
tide war mittels des Enzyms Polynukleotidphosphorylase mög- mus – die verschiedenen Codons unterschiedlich häufig benutzt
lich, das bei geeigneten Reaktionsbedingungen die Polymerisa- werden und dass auch die unterschiedlichen tRNAs in verschie-
tion von Ribonukleosiddiphosphaten zu Polyribonukleotiden dener Häufigkeit bzw. Konzentration in den Zellen vorliegen
unter Freisetzung von organischem Phosphat zu katalysieren bzw. synthetisiert werden.
vermag. Marianne Grunberg-Manago und Severo Ochoa hatten
> Der genetische Code wurde im Wesentlichen durch in-vitro-
dieses Enzym bereits 1955 entdeckt. Doppelstrang-RNA aus
Experimente aufgeklärt. Er hat den Charakter eines Triplett-
Poly(A)/Poly(U) führte ebenso wenig zur Synthese von Polypep-
codes, dessen Codons ohne Trennung aufeinander folgen,
tiden wie Zugabe von Nukleotiden oder Nukleosiden zum zell-
sich aber auch nicht überlappen. Der Code ist degeneriert,
freien System. Die Experimentatoren schlossen aus diesen Ver-
d. h. mehrere der aus den vier Basen möglichen Dreier-
suchen, dass eine Folge von drei Uracilbasen (also UUU in der
kombinationen identifizieren die gleiche der 20 klassischen
Sprache des Codes) das Codon für Phenylalanin in einer Poly-
Aminosäuren. Außerdem ist der Code bei allen Organismen
peptidkette ist: Das erste Codon war entschlüsselt. In der Folge
nahezu identisch.
konnten noch 1961 mittels derselben Technik Codons für 13
weitere Aminosäuren festgelegt werden, vorwiegend in der Zunächst muss jedoch noch ein allgemeiner Aspekt des gene-
Gruppe von Severo Ochoa. Hierbei war es von Bedeutung, dass tischen Codes (. Tab. 3.1) erörtert werden. Eine genauere Be-
unterschiedliche Polynukleotidkombinationen auf syntheti- trachtung der Zuordnung von Tripletts und Aminosäuren lässt
62 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

erkennen, dass die verschiedenen Tripletts, die als Folge der > Ein Vergleich der DNA-Sequenz eines Gens und der
Degeneration des Codes für eine bestimmte Aminosäure codie- Aminosäuresequenz des zugehörigen Proteins bewies die
ren, sich häufig nur in der letzten der drei Basen unterscheiden. Richtigkeit des genetischen Codes und die Colinearität,
Die Spezifität des Codes ist also vor allem in den ersten beiden d. h. die lineare Parallelität zwischen DNA- und Protein-
Basen zu suchen, während die letzte Base eine größere Freiheit sequenz.
besitzt. Diese Hypothese, die auch als Wobble-Hypothese be-
3 zeichnet wird, hat sich experimentell bestätigt: Eine bestimmte
tRNA kann verschiedene Codons erkennen, die für die gleiche 3.2.3 Allgemeingültigkeit des Codes
Aminosäure codieren.
Eine wichtige Frage bezüglich der Bedeutung des genetischen
> Der dritte Buchstabe des Codes ist nach der Wobble-
Codes betrifft seine allgemeine Gültigkeit: Ist er für alle Organis-
Hypothese flexibel und gewährt größere Freiheit bei der
men gültig, oder gibt es verschiedene Arten von genetischen
Erkennung durch die tRNA als die ersten beiden
Codes? Nach der Aufklärung des Codes herrschte zunächst für
Buchstaben.
längere Zeit die Überzeugung, dass der Code universell ist, also
für alle Organismen gültig ist. Erst später stellte sich heraus, dass
diese Regel der Allgemeingültigkeit in einigen Fällen durch-
3.2.2 Beweis der Colinearität brochen wird: In Mitochondrien von Hefen, Drosophila und
des Menschen wurden einige abweichende Codons gefunden
Zur Bestätigung der Eigenschaften des genetischen Codes (. Tab. 5.1). So codiert das Triplett UGA, das normalerweise eine
durch biologische Experimente haben sich Organismen mit sehr Termination der Translation verursacht, den Einbau von Trypto-
kleinem Genom als besonders geeignet erwiesen, da dies einen phan. In Hefemitochondrien codiert CUA Threonin statt Leucin.
leichteren Zugang zu bestimmten Genen gestattet. Besonders Bei Menschen ersetzt der mitochondriale Code für AUA das
beliebt waren daher Phagen (7 Abschn. 4.3) wie der Bakterio- normalerweise codierte Isoleucin durch Methionin; AGA und
phage T4, das Tabakmosaikvirus (TMV) und der Phage MS2, AGG bedeuten »Stopp« statt, wie normalerweise, Arginin; und
aber auch einzelne Gene von E. coli, beispielsweise die Trypto- bei Drosophila wird Serin statt Arginin durch AGA codiert.
phansynthetase. Sie wurde mit genetischen Techniken vor Neuerdings wurden Abweichungen vom universellen Code auch
allem durch Yankofsky und Spiegelman (1962) untersucht und in Kern-DNA von Ciliaten sowie im Genom von Prokaryoten
ergab eine Reihe von Argumenten für die Korrektheit des gene- (Mycoplasma) gefunden. Eine Übersicht über die Evolution des
tischen Codes. Insbesondere wurde durch diese Versuche auch genetischen Codes gibt . Abb. 3.3.
die Frage der »Colinearität« der Codierung zumindest indirekt Eine besondere Form des genetischen Codes wurde bei
beantwortet. Dieser Begriff bezieht sich auf die Art der Anord- manchen Proteinen des Redox-Stoffwechsels beobachtet: Diese
nung der Codons in einem Gen: Verläuft die Nukleotidsequenz enthalten Selenocystein (Sec). Dazu gehörten zunächst nur die
in der DNA und die zum gleichen Gen gehörige Aminosäurese- Enzyme Formatdehydrogenase bei E. coli und Glutathion-
quenz vollständig parallel? Mutationsexperimente sprachen für Peroxidase bei Maus und Mensch; inzwischen umfasst die
eine solche colineare Anordnung. Liste eine Reihe weiterer Enzyme (z. B. Thioredoxin-Reduk-
Der Phage MS2 vermehrt sich in E. coli-Zellen. Er besitzt als tasen,  Schilddrüsenhormon-Deiodinasen). Selenocystein
Genom ein Einzelstrang-RNA-Molekül von 3500 Nukleotiden, wird als 21. Aminosäure bezeichnet und durch den Gebrauch
das für drei Gene codiert. Eines davon ist zur Replikation des Stoppcodons UGA (in der DNA: TGA) codiert. Wenn das
des Phagengenoms erforderlich, es handelt sich also um ein UGA-Codon allerdings für Sec codiert, wird es durch eine
RNA-replizierendes Enzym. Das zweite Gen codiert für das Pro- spezifische tRNA erkannt, die sich in ihrer Struktur von den
tein A, das zur Ausbildung neuer Phagen erforderlich ist (engl. üblichen tRNAs an wichtigen Punkten unterscheidet. Diese
maturation protein). Das dritte Gen enthält die Information für tRNA ist zunächst mit Serin beladen, das dann in weiteren
das Hüllprotein des Phagen (engl. coat protein). Die Aufklärung Schritten an der tRNA zu Selenocystein modifiziert wird.
sowohl der Nukleotidsequenz als auch der Aminosäuresequenz Der spezielle Mechanismus für den Einbau von Sec und seine
dieses Gens für das Hüllprotein durch Henri Grosjean und geringe Verbreitung deuten darauf hin, dass er erst relativ spät
Walter Fiers (1982) ergab, dass die codierende RNA-Sequenz in der Evolution entstanden ist (für eine Übersicht siehe Turanov
387 Nukleotide, das Hüllprotein aber 129 Aminosäuren lang et al. 2011).
ist. Da innerhalb des Hüllproteins allen Aminosäuren das auf Allerdings ist die Evolution nicht bei 21 Aminosäuren stehen
der Grundlage des Codes erwartete Triplett in der Nukleotid- geblieben: Die 22. natürlich vorkommende Aminosäure ist
sequenz entsprach, wurde durch den Vergleich der beiden Se- Pyrrolysin (Pyl), das durch das Codon UAG (DNA: TAG) in
quenzen nicht nur die Richtigkeit des genetischen Codes be- verschiedenen Methylamin-Methyltransferase-Genen (MtmB,
stätigt, sondern auch die Colinearität zwischen DNA und MtbB, MttB) von einigen Archaebakterien (z. B. Methanosarcina
Protein bewiesen, d. h. die vollständige Parallelität der Nuklein- barkeri) codiert wird. Im Gegensatz zum oben beschriebenen
säure- und Proteinsequenzen. Zusätzlich wurde vor dem Codon Mechanismus für Sec gibt es für Pyl eine spezifische tRNA,
für die erste Aminosäure ein AUG-Triplett gefunden, das bereits die das Codon UAG als »sinnvoll« ansieht und Pyl einbaut. Die
aufgrund anderer Kriterien als Startcodon identifiziert worden Formeln der zwei seltenen Aminosäuren sind in . Abb. 3.2d
war. gezeigt.
3.2 · Der genetische Code
63 3

Pilze Kern-Codes Mitochondriale Codes Metazoa


Metazoa
viele Candida-Sp. 10 Vertebraten
c 12
viele Ascomyceten 11 Brachiostoma
Brachiostiomalanceolatum
lanceolatum
13 Brachiostoma
Brachiostiomafloridae
floridae
Grünalgen
Acetabularia 6 Urochordaten
a Hemichordaten
Batophora cestedi 4
3 5 Echinodermen
Ciliaten 2 Mollusken, Anneliden,
Zosterograptus sp. a Arthropoden, Nematoden
Naxelia sp. a 4 5 7 Plathelminten
Pseudomicrothorax dubius h Cnidarier
Calpoda sp. f Poriferen
Oligohymenophora a Chlorarachnion sp.
Litostomata Euglypha sp.
1
Nyctothecus ovalis h Pilze
Euplotes spp. b 2 Saccharomyces spp.
andere Spirotricha a 8 9
andere Hefen
Condylostoma magnum a 14 Chytriden
andere Heterotricha f andere Pilze
Karyorelictida Acanthamoeba castellani
Diplomonaden Rotalgen
andere Diplomonaden a Cyanidium sp.
Giardia spp. 1 Chondrus crispus

Firmicuten Standard- Grünpflanzen


Code Hydrodictyon reticulatum
Mycoplasma spp. g
f Pediastrum boryanum
Spiroplasma civi 15
Bacillus subtilis f Tetraedoron bitridens
Micrococcus spp. e d Scenedesmus quadricauda
14 Scenedesmus obliquus
a UAR Stopp
16 Coelastrum microporum
Gln e AUA Ile ?
Landpflanzen
b UGA Stopp Cys f UGA Stopp Trp
g CGG Arg
Alveolata
c CUG Leu Ser ? Plasmodium falciparum
d AGA Arg ? h UGA Stopp ? 1 Ciliaten
Stramenopila
1 UGA Stopp Trp 9 CGN Arg ? Thalassiosira costatum
1
2 AUA Ile Met 10 AGR ? Stopp Skeletonema costatum
3 AGR Arg Ser 11 AGA ? Gly andere Diatomeen
Eustigmatophyten,
4 AUA Met Ile 12 AGR Ser ? Xanthophyten, Phaeophyten
5 AAA Lys Asn 13 AGA ? Ser Haptophyten
6 AGR Ser Gly 14 UAG Stopp Leu Diacronema vlkianum
Pavlova lutheri
7 UAA Stopp Tyr 15 UAG Stopp Ala
Gephyrocapsa oceanica
8 CUN Leu Thr 16 UCA Ser Stopp Isochrysis galbana
1 Phaeocystis poucheti
R = A oder G N = A, C, G oder U Syracosphaera sp.
Cricosphaera roscoffensis
Mehrdeutigkeit des Codons
Euglenozoen
fragliche Genauigkeit der Veränderung Eugleniden
abgeleitete zweite Ordnung 1 Kinetoplastiden

. Abb. 3.3 Stammbaum der verschiedenen Variationen des genetischen Codes. Einzelne Veränderungen kommen unabhängig voneinander offensicht-
lich immer wieder in verschiedenen Gruppen vor. Die Beziehungen der einzelnen Veränderungen stammen aus verschiedenen Berechnungen, sodass
nur die Verzweigungspunkte wichtig sind, die Länge der jeweiligen Äste aber ohne Bedeutung bleibt. Schwarze Kreise deuten weitere Veränderungen in
Codons an, die vom Standard-Code abweichen. Rote Kreise weisen auf die Mehrdeutigkeit des Codons hin, wobei das Codon sowohl nach dem Standard-
Code als auch entsprechend der Angabe in der Abbildung übersetzt werden kann. Die gelben Kreise deuten an, dass sich die Zuordnung aufgrund neuer
Sequenzdaten nur auf eine oder wenige Spezies der Plathelminten bezieht. sp.: einzelne unspezifizierte Spezies; spp.: viele unspezifizierte Spezies.
(Nach Knight et al. 2001, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
64 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

*InCodejüngster Zeit wird daran gearbeitet, den genetischen


künstlich noch weiter auszudehnen und »unnatür-
kann leicht gefaltet werden, was ihre Verpackung in Proteine
zu kompakten Ribonukleoproteinpartikeln (RNP) erleichtert.
liche« Aminosäuren von Organismen (zunächst bevorzugt Solche Verpackungsmechanismen sind in Eukaryoten für den
Bakterien und Hefen) einbauen zu lassen. Das schon oben Transport der mRNA ins Cytoplasma besonders wichtig und
erwähnte Stoppcodon UAG (»amber«; DNA: TAG) wird bei dienen außerdem als Schutz gegen unerwünschten Abbau durch
diesen Organismengruppen am seltensten genutzt. Außer- nukleolytische (Nukleinsäure-spaltende) Enzyme.
3 dem gibt es in manchen E. coli-Stämmen amber-Suppressor-
> RNA unterscheidet sich von DNA durch ihre Einzelsträn-
tRNAs, die Substrate für endogene Aminoacyl-tRNA-
gigkeit, durch den Ersatz der Thyminbasen durch Uracil
Synthetasen sind und mit hoher Effizienz natürliche Amino-
und durch den Besitz von Ribose statt Desoxyribose im
säuren einbauen. Dieses Paar von tRNA und zugehöriger
Zucker-Phosphat-Rückgrat.
Synthetase kann so verändert werden, dass auch unnatür-
liche Aminosäuren eingebaut werden können, die vollstän-
dig neue Eigenschaften haben. Dies ermöglicht die Herstel-
lung von neuen therapeutischen Proteinen mit verbesserten 3.3.1 Allgemeiner Mechanismus
pharmakologischen Eigenschaften, von fluoreszierenden der Transkription
Proteinen als Sensoren für kleine Moleküle oder Protein-
Protein-Wechselwirkungen, von Proteinen, deren Aktivität Die Synthese der RNA, auch als Transkription bezeichnet, ist ein
durch Licht reguliert werden kann, oder von Biopolymeren hochkomplexer Prozess, der im Zentrum durch die RNA-Poly-
mit vollständig neuen Eigenschaften. Es handelt sich um merase geleistet wird. Diese enzymatische Aktivität wurde zuerst
eine erstaunlich vielfältige Methode, derer sich mehr und von Weiss und Gladstone (1959) in Zellkernen der Rattenleber
mehr Labors bedienen, um biologische Fragen zu klären beschrieben. Das Enzym war in der Lage, RNA in Abhängigkeit
oder biotechnologische Anwendungen zu etablieren von der Anwesenheit von DNA zu synthetisieren. Der Beweis
(Neumann 2012). dafür wurde durch Abbau der DNA durch DNase erbracht: Unter
diesen experimentellen Bedingungen war kein Einbau radio-
> Trotz der generellen Gültigkeit des genetischen Codes aktiver RNA-Vorstufen mehr möglich. Erst ein Jahr später wurde
gibt es in mitochondrialer DNA und nukleärer DNA einzel- in E. coli eine ähnliche enzymatische Aktivität beschrieben (Hur-
ner Organismengruppen Abweichungen durch Verän- witz et al. 1960, Stevens 1960). Damit wurde die universelle Rol-
derung der Bedeutung einzelner Codons. Das allgemeine le der RNA-Polymerase in der Transkription von Pro- und Euka-
Grundprinzip dokumentiert aber überzeugend die evolu- ryoten etabliert.
tionäre Zusammengehörigkeit aller Lebewesen. Die RNA-Polymerase katalysiert die Synthese eines RNA-
Moleküls in 5’→3’-Richtung durch Aneinanderfügen von Nuk-
leosidtriphosphaten, deren Reihenfolge durch die Basenkom-
3.3 Transkription plementarität mit dem DNA-Strang festgelegt ist. Wie auch bei
der Replikation wird jeweils das 5’-P eines neuen Nukleotids
Seit der Aufklärung des genetischen Codes sind wir in der mithilfe einer Phosphodiesterbindung an die 3’-OH-Gruppe des
Lage, die in der DNA verschlüsselte Information für die Struktur wachsenden RNA-Moleküls angefügt (. Abb. 3.4). Im Unter-
von Proteinmolekülen zu lesen. In der Zelle erfolgen das Ab- schied zur DNA-Replikation ist hierfür jedoch kein Primer erfor-
lesen  der Information und die Umsetzung in die entspre- derlich, sondern die RNA-Polymerase kann die RNA-Synthese
chenden Proteinmoleküle in mehreren Stufen. Der erste Schritt nach Bindung an eine dafür geeignete DNA-Sequenz, die als
hierbei ist die Synthese einer einzelsträngigen Boten-RNA Promotor bezeichnet wird (7 Abschn. 4.5 und 7 Abschn. 7.3),
(engl. messenger RNA, mRNA), die die Information der DNA direkt mit dem ersten Nukleotid beginnen. Allerdings erfolgt die
für die Proteinsynthesemaschinerie zugänglich macht. Die Syn- Initiation der Transkription stets mit der Hilfe von Proteinfak-
these von mRNA wird als Transkription bezeichnet. Der Aufbau toren, sodass diese praktisch die Funktion eines Nukleinsäure-
der mRNA entspricht dem der DNA, jedoch mit drei Unter- primers übernehmen. Erreicht die RNA-Polymerase ein anderes
schieden: in der DNA codiertes Signal, das Terminationssignal, so wird die
4 Anstatt der Desoxyribose enthält sie Ribose, RNA-Synthese beendet.
4 sie ist einzelsträngig, Damit unterscheidet sich die RNA-Polymerase in drei wich-
4 anstatt des Thymins wird die Base Uracil eingebaut. tigen Eigenschaften von DNA-Polymerasen:
4 Sie benötigt keinen Primer,
Diese Unterschiede zur DNA haben verschiedene Folgen für die 4 sie liest nur einen begrenzten, in der DNA selbst definierten
chemischen Eigenschaften, deren wichtigste ihre relativ große Abschnitt der DNA,
chemische Instabilität ist. Grund für diese Instabilität sind 4 und sie verfügt im Gegensatz zu DNA-Polymerasen über
die zwei Hydroxylgruppen in der Ribose, die aus energetischen keine Nuklease-Aktivität.
Gründen die Bildung von 2’→3’-Ring-Diestern des Phosphats
unterstützen, wobei die 3’→5’-Diesterbindung gelöst wird. RNA Als Endprodukt der RNA-Polymerase-Aktivität liegt ein Einzel-
hydrolysiert daher leichter als DNA. Durch ihren Einzelstrang- strangmolekül vor. Welcher DNA-Strang in RNA umgesetzt
charakter besitzt sie zudem eine hohe sterische Flexibilität und wird, ist durch Signalsequenzen in der DNA festgelegt.
3.3 · Transkription
65 3

freie Nukleotide 3.3.2 Transkription bei Prokaryoten


codierender Strang RNA-Polymerase
Prokaryoten besitzen nur eine RNA-Polymerase. Sie besteht aus
drei Proteinkomponenten, der α-, der β- und der β’-Untereinheit.
Zwei α-Untereinheiten formen zusammen mit je einem β- und
einem β’-Molekül das Core-Enzym, das zusammen mit dem
Matrizenstrang σ-Faktor das Holo-Enzym mit einem Molekulargewicht von
480 kDa bildet. Sowohl die RNA-Polymerase α als auch der
neu synthetisierte RNA σ-Faktor sind erforderlich, um die Promotorstrukturen zu erken-
nen, spezifisch daran zu binden und mit der Transkription zu
. Abb. 3.4 Schema der Transkription. Die RNA-Polymerase öffnet einen
beginnen (Initiationsphase).
kurzen Bereich der DNA für die Synthese des RNA-Moleküls am antisense-
Strang der DNA. Die RNA-Polymerase bedeckt dabei etwa 35 bp. Die Tran- Ging man ursprünglich davon aus, dass nur ein σ-Faktor
skriptionsblase besteht aus DNA-Einzelsträngen von etwa 15 Nukleotiden; existiert (σ70 mit einem Molekulargewicht von 70 kDa), so ken-
das DNA-RNA-Hybrid ist ungefähr 9 bp lang. Die RNA-Polymerase kata- nen wir heute sechs zusätzliche σ-Faktoren (σS, σ32, σE, σF, σfecI
lysiert den Einbau von Ribonukleotiden, die zu den DNA-Basen komple- und σ54). Alle diese σ-Faktoren können in mehreren Schritten an
mentär sind, und knüpft die Phosphodiesterbindung. Im Gegensatz zur
die Core-Polymerase binden. Die Bindung an den Promotor
DNA-Polymerase braucht die RNA-Polymerase keine Primer – es kann eine
RNA-Kette de novo an der DNA-Matrize starten. Das Enzym erzeugt vor führt zunächst zu einem »geschlossenen Komplex«, der durch
sich eine übermäßige Spiralisierung und hinter sich einen zu schwach lokales Aufschmelzen der DNA im Bereich des Transkriptions-
gewundenen DNA-Abschnitt (vgl. . Abb. 2.14). Beim Weiterwandern der starts in einen »offenen Komplex« umgewandelt wird und so die
Transkriptionsblase wird die RNA unter Rückbildung des DNA-Doppel- Transkription einleitet. Die Base, an der die Transkription startet
strangs aus der Hybridhelix verdrängt. Die RNA-Synthese erfolgt, wie
und die als erste in mRNA übersetzt wird, wird mit »+1« be-
die DNA-Synthese, stets in 5’ൺ3’-Richtung des wachsenden Moleküls.
(Nach Seyffert 2003, mit freundlicher Genehmigung von Springer) zeichnet; die Basen oberhalb des Transkriptionsstarts werden
entsprechend mit »−1« etc. bezeichnet; es gibt also keine Null.
Das Aufschmelzen der DNA im Bereich des Transkriptionsstarts
> Die Synthese von RNA erfolgt an der DNA durch RNA-Poly- findet im Bereich von −12 bis +4 statt. Ein typischer σ70-ab-
merase in ähnlicher Weise wie die Replikation durch hängiger Promotor enthält zwei konservierte Hexamersequen-
DNA-Polymerase. RNA-Polymerase liest jedoch nur Teil- zen etwa an den Positionen −10 (TATAAT; TATA- oder Pribnow-
bereiche eines einzelnen DNA-Strangs, die durch ein Box) und −35 (TTGACA), die von jeweils einer der vier Unter-
Startsignal (Promotor) und ein Endsignal (Terminations- einheiten des σ-Faktors erkannt werden (. Abb. 3.5). Andere
signal) gekennzeichnet sind. Sie benötigt, im Gegensatz σ-Faktoren sind für die Initiation der Transkription unter spezi-
zur DNA-Polymerase, keinen Nukleinsäureprimer. Eukary- fischen Umweltbedingungen verantwortlich (σ32 für Wachstum
oten besitzen im Gegensatz zu E. coli vier verschiedene oberhalb von 37 °C, σE für die Expression »extremer« Hitze-
RNA-Polymerasetypen, die spezifische RNA-Typen synthe- schockproteine, σS für Stressantworten).
tisieren. Die β-Untereinheit (151 kDa, verantwortliches Gen: rpoB)
wird als die hauptsächlich katalytische Untereinheit betrachtet.
Terminologie Sie bindet die Ribonukleosidtriphosphate (rNTPs) und bewirkt
Um Verwirrungen in der Terminologie zu vermeiden, ist es die Polymerisation der RNA-Kette. Die β-Untereinheit ist das An-
wichtig, sich die gebräuchlichen Begriffe deutlich vor Augen zu
führen:
4 Der DNA-Strang, der als Template (Matrize) für die Tran-
skription dient, wird als Gegenstrang (engl. antisense
strand) bezeichnet. Er wird in 3’→5’-Richtung abgelesen.
4 Die hieran durch Basenkomplementarität gebildete mRNA
wird in 5’→3’-Richtung synthetisiert (also antiparallel).
Wir nennen das entstehende mRNA-Molekül Sinn-Strang
(engl. sense strand). Die mRNA entspricht in ihrer Nukleo-
tidsequenz daher, abgesehen vom Ersatz des Thymins
durch Uracil, dem »Sinn-Strang« oder dem codierenden . Abb. 3.5 Wechselwirkungen zwischen dem RNA-Polymerase-Komplex
und Promotor-Elementen an einem Aktivator-unabhängigen Promotor.
Strang (engl. coding strand) der DNA, der normalerweise
Die Regionen 2 und 4 der σ-Untereinheit des RNA-Polymerase-Komplexes
nicht von der RNA-Polymerase gelesen wird. sind für die Erkennung der Hexamersequenzen an den Positionen −10 und
4 Wird vom Sinn-Strang der DNA ein RNA-Molekül synthe- −35 verantwortlich. Die α-Untereinheit der RNA-Polymerase besteht aus
tisiert, wird diese RNA als antisense-RNA bezeichnet. In zwei Domänen: Der N-Terminus (αNTD) bindet an die β/β’-Untereinheiten,
ihrer Sequenz entspricht sie dem antisense-Strang der DNA. wohingegen der C-Terminus (αCTD) mithilfe zusätzlicher spezifischer
Protein-DNA-Wechselwirkung mit Elementen oberhalb des Hexamers der
Solche antisense-RNA-Moleküle können nicht
Position −35 (UPE) die Bindung des RNA-Polymerase-Komplexes an den
nur in vitro für experimentelle Zwecke hergestellt werden, Promotor verstärkt. αNTD und αCTD sind flexibel verbunden. Der Pfeil
sondern spielen wichtige Rollen bei der Regulation von an Position +1 zeigt den Transkriptionsstart. (Nach Lloyd et al. 2001, mit
Genaktivitäten in der Zelle (7 Abschn. 8.2). freundlicher Genehmigung von Portland Press)
66 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

. Abb. 3.6 Aktivierung der Transkription durch


Wechselwirkungen der RNA-Polymerase mit Aktiva-
toren. a Der Aktivator (A, immer als Dimer gezeich-
net) bindet spezifisch einerseits an die Aktivator-
Bindestelle im Promotor und andererseits an die
C-terminale Domäne der RNA-Polymerase α (αCTD).
Dadurch wird die αCTD an die DNA herangeführt
3 und die Protein-DNA-Wechselwirkung am Promotor
verstärkt. b Der Aktivator geht eine spezifische
Wechselwirkung mit der Region 4 der σ-Untereinheit
a
ein. Dadurch wird der RNA-Polymerase-Komplex
stärker an den Promotor gebunden bzw. verstärkt
nachfolgende Schritte während der Transkription.
c Der Aktivator bindet spezifisch sowohl an αCTD
als auch an die Region 4 der σ-Untereinheit; beide
Wechselwirkungen verstärken die Transkription. Die
N-terminale Domäne (αNTD) der RNA-Polymerase α
bindet an die β/β’-Untereinheiten; der Pfeil an Posi-
tion +1 zeigt den Transkriptionsstart an. (Nach Lloyd
et al. 2001, mit freundlicher Genehmigung von Port-
b land Press)

griffsziel von Inhibitoren der Transkription wie Rifampicin und statt. Der Elongationskomplex ist stabil, wenn das Transkript
Streptolydigin. Im Gegensatz dazu ist die Funktion der β’-Unter- eine Länge von 9 bis 11 Basen erreicht hat. Für die Elongation
einheit (155 kDa, verantwortliches Gen: rpoC) noch nicht voll der RNA ist nur noch das Core-Enzym erforderlich. Allerdings
verstanden. Die β’-Untereinheit enthält viele positiv geladene wissen wir heute, dass die Elongation der Transkription kein
Aminosäuren, und es wird ihr daher eine unspezifische, DNA- monotoner Prozess ist, sondern dass die Elongationskomplexe
bindende Funktion zugeschrieben. in vielen verschiedenen Konformationszuständen existieren
Die α-Untereinheit (37 kDa, verantwortliches Gen: rpoA) ist können. Hilfsproteine wie NusA, NusG, GreA und GreB können
die einzige Untereinheit des Core-Enzyms, die als Dimer vor- diese unterschiedlichen Konformationen erkennen und die
kommt. Sie hat drei Funktionen: Verteilung innerhalb dieser Zustände modulieren. Im normalen
4 Initiation des Zusammenbaus des Core-Enzyms, Zustand ist das Core-Enzym langlebig und aktiv, sodass ca. 60 bis
4 Beitrag zur Erkennung der Promotorsequenzen, 80 Nukleotide pro Sekunde angefügt werden können. Dieser
4 Wechselwirkung mit Transkriptionsfaktoren (Initiation und Elongationskomplex ist sehr stabil und doch zugleich flexibel;
Anti-Terminatoren). das Konzept der Gleitklammer (engl. sliding clamp) in Analogie
zur DNA-Replikation ist zum Verständnis dieses Prozesses sehr
Die N-terminale Domäne der RNA-Polymerase α ist dabei für die hilfreich.
Dimerisierung verantwortlich, wohingegen die C-terminale Do- Die Elongation kann aber an bestimmen Stellen (»Pause«,
mäne für die Wechselwirkungen mit dem Promotor zuständig ist. »Ende«) oder unter bestimmten Umständen (Fehlpaarungen,
Verschiedene Möglichkeiten dieser Wechselwirkungen werden in Nachschubmangel von rNTPs) angehalten oder verlangsamt
. Abb. 3.6 gezeigt. Die Bindestellen der C-terminalen Domäne werden. Eine besondere Situation ergibt sich, wenn das entste-
der RNA-Polymerase α liegen oberhalb der Bindungsstellen für hende Transkript Haarnadelstrukturen (engl. hairpins) ausbilden
den σ-Faktor (zwischen −35 und −60). Ihre Consensussequenz ist kann. Dies führt unter Umständen zur vorzeitigen Beendigung
sehr A/T-reich (5’-NNAAAWWTWTTTTNNNAAANNN-3’; der Transkription (engl. attenuation).
W = A oder T, N = jede Base). Offensichtlich binden die zwei Die Beendigung der Transkription prokaryotischer Gene
C-terminalen Domänen etwas versetzt an diese Bindestelle. Ge- (Termination) wird entweder durch spezielle Terminations-
nauere Mechanismen zur Regulation prokaryotischer Genexpres- sequenzen (meist sehr GC-reiche, palindromische Sequenzen,
sion werden wir in 7 Abschn. 4.5 besprechen. die stabile Haarnadelstrukturen ausbilden können: intrinsische
Die Ablösung vom Promotor (engl. promoter clearance), Termination) oder durch die Anwesenheit des Terminations-
also der Übergang von der Initiationsphase in die Elongations- faktors ρ ermöglicht. Das ρ-abhängige Terminationssignal um-
phase, findet nach der Synthese der ersten Basen des Transkripts fasst etwa 200 Basen, wobei der 5’-Teil (ca. 40 Basen) noch zur
3.3 · Transkription
67 3
Wie immer bei solchen Prozessen können wir eine Initiations-
phase beschreiben, wobei regulatorische Elemente eine wichtige
Rolle spielen, und eine »Durchführungsphase«, bei der dann die
mRNA vollständig abgebaut wird. In E. coli wird der Abbau der
mRNA im Wesentlichen durch die RNase E durchgeführt, dafür
sollte das 5’-Ende der mRNA zugänglich sein. Der erste Schnitt
erfolgt üblicherweise in AU-reichen Regionen ohne größere
Sekundärstrukturen. Es ist darüber hinaus noch eine ganze Reihe
weiterer Proteine am mRNA-Abbau beteiligt; dazu gehören vor
allem Exoribonukleasen (Polynukleotidphosphorylase, PNPase;
RNase II; RNase R) und eine RNA-Helikase (RhlB). Die einzel-
nen Exoribonukleasen sind dabei teilweise redundant; allerdings
sind Mutationen im PNPase-Gen nicht lebensfähig. Diese Exo-
ribonukleasen führen noch nicht zu einem vollständigen Abbau
der mRNA, sondern lassen kurze Oligonukleotide übrig, die
noch 2 bis 5 Nukleotide umfassen. Diese kurzen Fragmente
. Abb. 3.7 Topologisches Modell von mRNA, die an den Terminations- werden dann durch eine Oligonuklease zu Mononukleotiden ab-
faktor ρ gebunden ist. Die äußere Form des hier dargestellten Terminations-
gebaut; Oligoribonukleasen sind spezifisch für sehr kurze Ketten
faktors ρ basiert auf einer 3D-Rekonstruktion elektronenmikroskopischer
Darstellungen. Die mRNA bindet spezifisch an die kontinuierliche Spalte an
(für einen Überblick siehe Deutscher 2006).
der oberen Peripherie. Das 3’-Ende der mRNA wird durch den Terminations-
faktor hindurchgeführt und endet an dessen aktivem Zentrum (hier nicht
dargestellt). (Nach Richardson 2002, mit freundlicher Genehmigung von 3.3.3 Transkription Protein-codierender Gene
Elsevier)
bei Eukaryoten

wachsenden RNA gehört. Es bildet keine oder nur geringe Se- Eukaryoten besitzen im Gegensatz zu den Prokaryoten vier ver-
kundärstrukturen aus und enthält einen hohen Anteil von Cyto- schiedene RNA-Polymerasen (I–IV). Die Nummerierung er-
sin-Resten; allerdings sind bisher keine Consensussequenzen folgte zunächst entsprechend der biochemischen Aufreinigung
erkennbar. Der ρ-Faktor ist eine RNA-abhängige Ribonukleosid- über eine DEAE-Sephadex-Säule: Die RNA-Polymerase I wurde
Triphosphatase und bindet als ringförmiges Hexamer (Moleku- schon bei niedriger Salzkonzentration eluiert, wohingegen die
largewicht der Monomeren je 46 kDa) an die RNA (es werden RNA-Polymerase III erst bei hoher Salzkonzentration eluiert
78 Basen gebunden). Der N-Terminus enthält dabei die RNA- werden konnte (Roeder und Rutter 1969). Die vierte RNA-Poly-
Bindungsdomäne, und der C-Terminus ist mit der Fähigkeit zur merase wurde erst kürzlich in Pflanzen beschrieben. RNA-Poly-
ATP-Hydrolyse assoziiert. Nach der Bindung an die RNA indu- merase II (und in geringerem Ausmaß auch Polymerase III) wur-
ziert die ATP-Spaltung Konformationsänderungen, die das Tran- de durch ihre Empfindlichkeit gegenüber α-Amanitin, dem Gift
skript  durch das Hexamer hindurchziehen (in 5’→3’-Richtung; des Grünen Knollenblätterpilzes (Amanita phalloides), charakte-
. Abb. 3.7) und so die RNA vom Elongationskomplex ablösen. risiert. RNA-Polymerase I und IV sind dagegen gegen α-Amanitin
Die ρ-Faktor-abhängige Termination ist für E. coli und einige unempfindlich; Polymerase I kann aber durch das Antibiotikum
andere Organismen essenziell und kann durch das Antibiotikum Actinomycin D gehemmt werden, gegen das wiederum RNA-
Bicyclomycin gehemmt werden. Allerdings gilt dies nicht für alle Polymerase II relativ unempfindlich ist.
Bakterien: Bacillus subtilis oder Staphylococcus aureus sind in ihrer Die verschiedenen RNA-Polymerasen unterscheiden sich
Transkriptionstermination nicht von einem ρ-Faktor abhängig. aber nicht nur hinsichtlich ihrer biochemischen Parameter,
sondern auch hinsichtlich ihrer funktionellen Charakteristika:
> Prokaryoten verfügen über eine einzige RNA-Polymerase.
RNA-Polymerase I ist primär an der Synthese der 18S- und
Sie besteht aus mehreren Untereinheiten, die das
25S-rRNA beteiligt, während RNA-Polymerase II die »klas-
Core-Enzym bilden. Zusammen mit dem σ-Faktor bildet
sische« mRNA Protein-codierender Gene transkribiert. Die
das Core-Enzym das Holo-Enzym. Die korrekte Erkennung
RNA-Polymerase III ist für die Synthese der zellulären 5S-rRNA
des Promotors erfolgt durch die C-terminale Domäne der
und der tRNA verantwortlich. Die kürzlich entdeckte RNA-Po-
RNA-Polymerase α und den σ-Faktor. Nach der Initiation
lymerase IV ist dagegen für die Bildung der siRNA verantwort-
ist nur noch das Core-Enzym zur Elongation der RNA er-
lich (engl. small interfering RNA; für weitere Details siehe
forderlich. Die Termination erfolgt durch GC-reiche,
7 Abschn. 3.5, 7.3 und 7 Abschn. 8.2).
Palindrom-haltige Terminatorsequenzen oder mithilfe
Wir wollen uns hier auf die Transkription Protein-codieren-
des Terminationsfaktors ρ.
der Gene durch die RNA-Polymerase II beschränken. Im Gegen-
Neben dem Aufbau der mRNA ist auch deren Abbau ein wichti- satz zur bakteriellen RNA-Polymerase kann RNA-Polymerase II
ger Bestandteil des gesamten RNA-Metabolismus. Der schnelle ohne zusätzliche Proteinmoleküle nicht an DNA binden. Solche
Abbau von mRNA ist im Übrigen auch zur Regulation von Gen- für die Polymerasebindung essenziellen Proteine werden Tran-
aktivitäten wichtig, nämlich um eine Population von Bakterien skriptionsfaktoren genannt. Die RNA-Polymerase II von S. cere-
schnell an sich verändernde Umweltbedingungen anzupassen. visiae besteht selbst aus 12 Untereinheiten, die innerhalb der
68 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

Eukaryoten hochkonserviert sind. Die beiden größten Unterein-


heiten (Rbp1 und Rbp2) entsprechen der β- und β’-Untereinheit
der bakteriellen RNA-Polymerase. Das Dimer aus Rbp3 und Rbp1
entspricht funktionell der α-Untereinheit des bakteriellen Sys-
tems. Einige Faktoren übernehmen Aufgaben, die der σ-Unter-
einheit entsprechen (z. B. das TATA-Box-bindende Protein [TBP]
3 oder die allgemeinen Transkriptionsfaktoren TFIIB und TFIIF).
Die Regulation der Expression Protein-codierender Gene bei
Eukaryoten ist komplex. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Be-
reich von ca. 200 bp oberhalb des Transkriptionsstarts, der als
Promotor bezeichnet wird und an den der Komplex aus RNA-
Polymerase II und Transkriptionsfaktoren bindet. Außerdem
spielen auch noch andere DNA-Elemente (z. B. Enhancer, Locus-
a
Kontrollregionen) und Chromatinstrukturen wesentliche Rol-
len. Die Transkriptionskontrolle Protein-codierender Gene
wird ausführlich in 7 Abschn. 7.3 besprochen.
Der erste Schritt zum Start der Transkription (. Abb. 3.8a) ist
die Anheftung des TATA-Box-bindenden Proteins (TBP), das die
TATA-Box eukaryotischer Promotoren erkennt. Die TATA-Box
liegt 24–32 bp oberhalb des Transkriptionsstarts und ist durch
die Consensussequenz 5’-TATAA-3’ gekennzeichnet (nach ihren
Entdeckern auch als Goldberg-Hogness-Box bezeichnet). Mit
der Bindung des TBP kommt es zu einer starken Konformations-
änderung der DNA, nämlich einem Abknicken um 80°. Nach der
Anlagerung des allgemeinen Transkriptionsfaktors TFIID (engl.
transcription factor for polymerase II, fraction D) ist der Weg
frei für den weiteren schrittweisen Zusammenbau des gesamten
Initiationskomplexes: Als Nächstes bindet der Transkriptions-
faktor TFIIB an seine Bindungsstelle (BRE, engl. TFIIB recogni- b
tion element) und ermöglicht damit der RNA-Polymerase II
. Abb. 3.8 Transkription Protein-codierender Gene bei Eukaryoten.
(Pol II), begleitet von dem Transkriptionsfaktor TFIIF, zu dem a Schematische Darstellung des Initiationskomplexes mit den wichtigsten
Komplex hinzuzustoßen. Danach kann der Transkriptionsfaktor Proteinen. TF: Transkriptionsfaktor; CDK: Cyclin-abhängige Kinasen. b Struk-
TFIIE binden, was wiederum die Voraussetzung für die Bindung tur des Transkriptions-Initiationskomplexes. Röntgenstrukturanalysen
des Transkriptionsfaktors TFIIH darstellt – und damit ist der und elektronenmikroskopische Daten ermöglichen eine Rekonstruktion der
Prä-Initiationskomplex vollständig. Diese Form des Zusammen- Einzelkomponenten (links oben) des Initiationskomplexes der Transkription.
Der Komplex selbst ist rechts unten dargestellt. Die stabförmige DNA ist
fügens des Initiationskomplexes wurde in ähnlicher Weise in an ihren weiß-roten Spiralen zu erkennen; das TATA-Box-bindende Protein
Hefen, Fliegen, Ratten, Menschen und anderen höheren Tieren (TBP) hat die Startstelle besetzt, die Transkriptionsfaktoren B, E, H und F
gefunden, sodass davon auszugehen ist, dass es sich hierbei um sind mit der RNA-Polymerase II (Pol) ebenso verbunden wie deren beiden
einen allgemeinen Mechanismus handelt. Untereinheiten Rpb4 und 7 (4/7). (a nach Krishnamurthy und Hampsey
Die einzelnen Komponenten des Initiationskomplexes sind 2009, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier; b nach Boeger et al.
2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
ihrerseits aus mehreren Untereinheiten aufgebaut: TFIID besteht
aus dem TATA-Bindungsprotein (TBP) und 14 damit asso-
ziierten Faktoren (TAFs) mit einem gemeinsamen Molekular- skription wichtig, sondern auch bei der Reparatur von DNA-
gewicht von 750 kDa. TFIID hat eine hufeisenförmige Struktur Schäden (Nukleotid-Exzisionsreparatur, NER; 7 Abschn. 10.6.2).
und wirkt als Klammer, um die doppelsträngige DNA zu binden. Diese Aktivitäten definieren eine molekulare Verbindung zwi-
Einige TAFs erkennen verschiedene Sequenzelemente des Pro- schen Transkription und DNA-Reparatur.
motors (INR, Initiator-Element am Transkriptionsstart oder Die RNA-Polymerase  II besteht aus insgesamt 12 Unter-
Elemente unterhalb des Transkriptionsstarts, engl. downstream einheiten (Rpb1–Rpb12); davon sind Rpb 4 und Rpb7 für die
recognition element, DRE). Damit kann die RNA-Polymerase II Initiationsphase wichtig, weil sie die Verbindung der großen
auch dann richtig positioniert werden, wenn keine TATA-Box Untereinheit der RNA-Polymerase II mit den allgemeinen Tran-
vorhanden ist. skriptionsfaktoren herstellen (. Abb. 3.8b). Ein wichtiger Schritt
Der Transkriptionsfaktor TFIIH besteht aus insgesamt 10 Un- am Ende der Initiationsphase besteht in der Phosphorylierung
tereinheiten (gesamtes Molekulargewicht: 500 kDa) und verfügt der carboxyterminalen Domäne (CTD) der großen Untereinheit
über mehrere enzymatische Aktivitäten, darunter eine Kinase, der RNA-Polymerase II. Ihr wesentliches Charakteristikum ist
die die carboxyterminale Domäne (CTD) der RNA-Polymera- die häufige Wiederholung (26-mal bei Hefen, 52-mal bei Säu-
se II phosphoryliert (siehe unten), sowie zwei ATP-abhängige gern) des Heptapeptids –Tyr–Ser–Pro–Thr–Ser–Pro–Ser–, wo-
DNA-Helikasen. Diese Helikasen sind nicht nur bei der Tran- bei die Phosphorylierung bevorzugt an den Serin-Resten er-
3.3 · Transkription
69 3
folgen kann. Dabei gibt es offensichtlich einen »CTD-Code« C Für die Strukturaufklärung der eukaryotischen RNA-Poly-
(Meinhart et al. 2005): Ser-5 ist in einem Promotor-nahen Zu- merase II erhielt Roger D. Kornberg 2006 den Nobelpreis für
stand phosphoryliert und führt zum Aufsetzen der 5’-Kappe an Chemie. Ein wesentlicher Aspekt dieser Arbeit bestand darin,
der mRNA (7 Abschn. 3.3.4); Ser-2 ist phosphoryliert, wenn die durch die strukturelle Analyse (z. B. Nähe des Austrittsortes
RNA-Polymerase II weiter vom Promotor entfernt ist, und be- der neuen mRNA zur CTD-Domäne) auch Hinweise auf funk-
wirkt die Aktivierung der Nacharbeit am 3’-Ende der mRNA. tionelle Zusammenhänge zu erhalten (z. B. die Möglichkeit
Der Mediator ist ein Komplex von fast 30 Proteinen mit der »Nachbearbeitung« der noch ganz frischen mRNA durch
einem Molekulargewicht von etwa 1 Mio. kDa. Er erscheint als die CTD; Cramer et al. 2001). Sein Vater, Arthur Kornberg,
die Steuerungszentrale der Transkription, indem er verschiedene erhielt 1959 den Nobelpreis für Medizin für die Charakterisie-
Signale integriert (z. B. über Aktivatoren, die an Enhancer ge- rung der DNA-Polymerase I aus E. coli (7 Abschn. 3.3.2).
bunden sind) und diese Signale dann an die RNA-Polymerase II
weitergibt. Diese Signale können aktivierend oder hemmend
wirken. Dabei interagiert der Kopfbereich des Mediators direkt 3.3.4 Reifung eukaryotischer mRNA
mit der RNA-Polymerase II, der mittlere Bereich ist mit der CTD
der RNA-Polymerase II verbunden, und der Schwanz des Media- Die beiden Enden der jungen mRNA müssen nach der Tran-
tors bindet Aktivatoren. skription gegen Abbau geschützt werden, um so eine gewisse
Nach dem Zusammenfügen des Initiationskomplexes be- Stabilität des Moleküls zu erreichen (mögliche Abbau-Mechanis-
ginnt die RNA-Polymerase zu arbeiten. Die Initiationsphase men werden im 7 Abschn. 3.4.3 besprochen). Am 5’-Ende des
endet, indem der Transkriptionsfaktor IIB (TFIIB) von dem Ini- mRNA-Moleküls wird – noch während der laufenden mRNA-
tiationskomplex abdissoziiert; dies ist der Fall, wenn die RNA- Synthese – ein methyliertes Guanosin (7-Methylguanosin) als
Polymerase II ungefähr 10 Nukleotide synthetisiert hat. Damit »Kappe« angefügt (engl. cap; . Abb. 3.9). Dazu wird vom
beginnt die Elongationsphase der Transkription, indem die ursprünglichen 5’-Triphosphat zunächst eine Phosphatgruppe
RNA-Polymerase II den wiederholten Einbau von Nukleotiden abgespalten, sodass ein 5’-Diphosphat entsteht. Anschließend
an das 3’-Ende des wachsenden RNA-Transkripts katalysiert. wird an dieses Diphosphat in umgekehrter Orientierung ein
Allerdings verläuft diese Verlängerung des Transkripts durch GMP angefügt, sodass das 5’-Ende des Guanosins dem 5’-Ende
die RNA-Polymerase nicht gleichförmig: Zunächst transkribiert der wachsenden mRNA-Kette gegenübersteht; die beiden Nuk-
die RNA-Polymerase II nur etwa 20 bis 60 Nukleotide und hält leotide sind also durch eine 5’→5’-Triphosphatbrücke verbun-
dann wieder an. Der weitere Verlauf über diesen Punkt hinaus ist den. Schließlich wird das hinzugefügte GMP an der Position 7
geschwindigkeitsbestimmend für etwa die Hälfte der Gene von der Guanosinbase methyliert. Zuletzt werden auch die ursprüng-
Drosophila und Säugetieren. Wenn die RNA-Polymerase II über lich ersten ein oder zwei Nukleotide an der 2’-Position ihrer
diesen Punkt hinaus kommt, wird das ganze Gen transkribiert. Ribose methyliert. Die Enzyme für die Anheftung der 5’-Kappe
Offensichtlich ist an dieser frühen Phase der Elongation ein werden bereits durch die CTD der RNA-Polymerase II heran-
weiterer Kontrollpunkt eingerichtet: Die RNA-Polymerase II ist geführt. Die 5’-Kappe verhindert, dass das 5’-Ende der mRNA
zu diesem Zeitpunkt mit positiven und negativen Elongations- durch Exonukleasen abgebaut wird, sie unterstützt den späteren
faktoren assoziiert. Um in die zweite Phase des Elongationspro- Transport der mRNA aus dem Zellkern und ist von großer Be-
zesses (»produktive Elongation«) übergehen zu können, müssen deutung für die Initiation der Translation. Allerdings erfolgt
einige Voraussetzungen erfüllt sein; eine davon ist der Schutz der später die Translation nicht unmittelbar am Beginn der mRNA,
neu gebildeten RNA vor dem Abbau am 5’-Ende. Das Anheften sondern etwas unterhalb, sodass hier eine nicht-translatierte Re-
der »Kappe« am 5’-Ende (im Detail im 7 Abschn. 3.3.4 bespro- gion vorliegt (engl. untranslated region, UTR).
chen, . Abb. 3.9) geschieht, wenn das Transkript ca. 30 Nukleo- Eine ähnliche Situation liegt übrigens auch am Ende der
tide lang ist. Ein zweiter wichtiger Faktor ist die Anwesenheit des mRNA vor; auch hier wird ein Teil der mRNA nach dem Stopp-
Elongationsfaktors P-TEFb (engl. positive transcription elonga- signal nicht übersetzt (3’-UTR). Am 3’-Ende ist die mRNA poly-
tion factor). Dabei handelt es sich um eine Kinase, die die C-termi- adenyliert, d. h. sie ist mit einem Poly(A)-Schwanz versehen,
nale Domäne der RNA-Polymerase II (am Ser-2) und die negati- dessen Länge ca. 250 Nukleotide umfasst. Die Polyadenylierung
ven Elongationsfaktoren NELF (engl. negative elongation factor) erfolgt nach dem Spleißen (7 Abschn. 3.3.5) des primären Tran-
und DSIF phosphoryliert (DSIF: engl. DRB sensitivity-inducing skripts ebenfalls im Kern. Sie erfordert ein Polyadenylierungs-
factor; DRB: 5,6-Dichlor-1-β-D-ribofuranosylbenzimidazol, ein signal (AAUAAA) in der RNA, das etwa 12 bis 30 Nukleotide vor
Nukleosid-Analogon, das die Transkription in Säugerzellen dem 3’-Ende der RNA liegt.
hemmt). Die Anlagerung von P-TEFb an die RNA-Polymerase II Die RNA-Polymerase II, die für die Transkription aller euka-
wiederum ist ein komplexer Prozess, dessen Details allerdings ryotischen Protein-codierenden Gene verantwortlich ist, liest
den Rahmen eines Lehrbuches bei Weitem sprengen; der inter- weit über die Enden der Protein-codierenden Regionen hinweg.
essierte Leser sei deshalb auf einen ausführlichen und aktuellen Die korrekten Enden der mRNA-Moleküle werden durch eine
Übersichtsaufsatz verwiesen (Kwak und Lis 2013). Endonuklease erzeugt, die die mRNA-Vorstufe in der Nähe des
Polyadenylierungssignals (5’-AAUAAA-3’) im 3’-terminalen Be-
reich schneidet und damit die Polyadenylierung durch eine
Poly(A)-Polymerase (PAP) ermöglicht. Zusätzlich ist eine we-
niger genau definierte, meist GU-reiche RNA-Sequenz etwa
70 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

CH3 O zunächst eine invertierte Wiederholungssequenz, die ein Palin-


+ drom mit einer Stammlänge von etwa 6 bp zu bilden vermag.
N
NH Etwa 13 bis 17 Nukleotide unterhalb folgt eine purinreiche Se-
quenz. Die Palindromsequenz ist evolutionär hochkonserviert
N N NH2 und von Seeigeln bis zum Menschen identisch. Die purinreiche

O Sequenz besitzt eine auffallende Sequenzkomplementarität
3 zu einer kleinen RNA, die im Zellkern vorkommt (engl. small
O P O CH2 nuclear RNA, snRNA; 7 Abschn. 3.3.5); in diesem Fall handelt es
O sich um die U7-snRNA. Während des Reifeprozesses der mRNA
O werden Basenpaarungen zwischen der purinreichen Sequenz
und der U7-snRNA gebildet. Das Palindrom bleibt als Bestand-
– teil der Histon-mRNAs erhalten und spielt möglicherweise eine
O P O OH OH
Rolle in der Zellzyklus-gesteuerten Translationskontrolle.

O > Zum Schutz vor Abbau durch Nukleasen erhält die neu
gebildete mRNA eine Methylguanosin-Kappe am 5’-Ende
NH2
– und einen Poly(A)-Schwanz am 3’-Ende.
O P O
N

*In»Transkriptom«
N
Analogie zu dem Begriff »Genom« wurde der Begriff
O
N gebildet; darunter verstehen wir die Gesamt-
N
heit aller Transkripte einer Zelle, eines Gewebes oder eines
CH2 Organs. Ursprünglich zählte man zu den Transkripten im
O NH2 Wesentlichen nur die Protein-codierenden Transkripte, die
über die Poly(A)-Enden isoliert und sequenziert wurden.
N
N Heute rechnen wir auch die verschiedenen Formen nicht-
codierender RNA dazu (7 Abschn. 3.5 und 7 Abschn. 8.2);
O O CH3 N die modernen Methoden des Sequenzierens »der nächsten
N
Generation« machen es möglich, diese Transkriptom-Analy-
O P O CH2 sen schnell und mit hoher Genauigkeit durchzuführen
O (7 Technikbox 7 und für eine aktuelle Übersicht Pertea 2012).

O

3.3.5 Spleißen eukaryotischer prä-mRNA


OH O CH3
. Abb. 3.9 Messenger-RNA wird nach ihrer Synthese im Kern mit einer
Cap-Struktur versehen. Hierzu wird am 5’-Ende der RNA über einen Triphos- Seit den 1970er-Jahren ist bekannt, dass die meisten eukaryoti-
phorester ein Guanosin in einer den übrigen Nukleotiden der RNA entge- schen Gene in ihrer genomischen DNA zwischen codierenden
gengesetzten Orientierung angefügt. Das Guanin dieses Nukleotids ist me- Bereichen (Exons) DNA-Sequenzen enthalten, die man in der
thyliert. Auch die folgenden 2 oder 3 Nukleotide können in unterschied- reifen mRNA nicht wiederfindet (Introns). Sie werden aus den
lichen Kombinationen Methylgruppen an der 2’-Hydroxylgruppe der Ribose
primären Transkripten herausgeschnitten (engl. splicing; im
aufnehmen. Diese Struktur wird an jeder eukaryotischen mRNA gefunden
Deutschen hat sich dafür das Verb »spleißen« eingebürgert). Die
Transkripte verfügen erst nach dem Spleißen über ein durch-
gehendes offenes Leseraster (engl. open reading frame, ORF), das
30 Nukleotide unterhalb der Schnittstelle am Polyadenylierungs- die Synthese der Proteinkette gestattet. Die meisten Protein-
prozess beteiligt. Die Polyadenylierungsschnittstelle ist in ihrer codierenden Gene von Eukaryoten zeigen eine derartige Exon-
Sequenz nicht definiert, jedoch erfolgt der Schnitt oft nach einem Intron-Struktur (7 Abschn. 7.1 und 7 Abschn. 7.2).
Adenin. Am Polyadenylierungsprozess sind mehr als 20 Fak-
toren beteiligt; eine ausführliche Darstellung findet sich bei C Für die Entdeckung der »gestückelten Gene« bekamen
Mandel et al. (2008). Der Poly(A)-Schwanz schützt (in Verbin- Richard Roberts und Phillip Sharp 1993 den Nobelpreis für
dung mit daran gebundenen Proteinen) die mRNA vor vorzeiti- Medizin. Sie haben 1977 am Adenovirus erkannt, dass die
gem Abbau durch Exonukleasen. mRNA eines Hüllproteins dieses Virus aus insgesamt vier
Eine Ausnahme von diesem Polyadenylierungsprozess verschiedenen Fragmenten besteht, die in der genomischen
machen die Zellzyklus-regulierten Histon-Gene, die keine Poly- DNA weit auseinanderliegen. Dass diese gestückelten Gene
adenylierungssignale besitzen, sodass die Polyadenylierung keine Spezialität der Adenoviren sind, zeigten viele darauf
unterbleibt. Das 3’-terminale Processing der mRNAs erfolgt folgende Arbeiten – und heute wissen wir, dass Exons bei
mithilfe einer Region der Vorläufer-mRNA (prä-mRNA), die Eukaryoten die Regel sind und keine Ausnahmen darstellen:
etwa 70 bis 90 Nukleotide vom Ende des Protein-codierenden Sie ermöglichen eine enorme Vielfalt der Transkription und
Sequenzbereichs entfernt liegt (. Abb. 3.10). Hier befindet sich stellen ein großes Reservoir für die Evolution zur Verfügung.
3.3 · Transkription
71 3

U7-snRNA

. Abb. 3.10 Struktur des 3’-Endes einer Histon-prä-mRNA. Dem Ende der Protein-codierenden Region folgt eine bei allen Histon-Genen konservierte
Sequenz in der mRNA, an die ein Protein bindet (engl. stem loop binding protein, SLBP). Wenige Basenpaare nach dem Ende der gepaarten Sequenz wird
das 3’-Ende der mRNA durch eine Endonuklease erzeugt (dicke Pfeile). In einem Abstand von 13–17 bp, je nach Histon-Gen, hinter dem Zentrum der Haar-
nadelsequenz folgt eine ebenfalls in allen Histon-Genen konservierte Sequenz, die mit dem 5’-Ende von U7-snRNA Basenpaarungen eingehen kann.
Die schmalen Pfeile deuten die Positionen an, bis zu denen das U7-enthaltende Produkt durch weitere Exonukleasen zurechtgeschnitten wird. Es ist (in
Schwarz, zwischen den grauen flankierenden Bereichen) die Sequenz der Maus-Histon-H4-12-prä-mRNA um die Hauptschnittstelle der Endonuklease
(29 Nukleotide oberhalb bis 35 Nukleotide unterhalb) sowie ein Teil der U7-snRNA der Maus (Pos. 1–62) dargestellt. (Nach Kolev und Steitz 2006, mit freund-
licher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Spleißen gibt es aber nicht nur bei der Reifung eukaryotischer heitlich und umfassen etwa 9 Nukleotide an der 5’- und wenigs-
mRNA, sondern ist ein weit verbreitetes Phänomen. Aufgrund tens 14 Nukleotide an der 3’-Seite des Introns. Beide Erken-
der unterschiedlichen Spleißmechanismen unterscheiden wir nungssequenzen liegen größtenteils innerhalb des Intronbe-
vier verschiedene Gruppen von Introns: reichs und haben in der DNA an der Schnittstelle am 5’-Ende
4 Die Introns der Gruppe I spleißen sich selbst (autokata- stets ein GT, am 3’-Ende ein AG (GT-AG-Regel).
lytisches Spleißen) und sind unter rRNA-Genen von Am Aufbau des Spleißosoms sind besondere RNA-Moleküle
Protisten, Mitochondrien von Pilzen, Bakterien und Bak- beteiligt (snRNAs, engl. small nuclear RNAs, . Abb. 3.11). Wie ihr
teriophagen weit verbreitet. Die entsprechenden Vorläufer- Name andeutet, handelt es sich bei den snRNAs um kleine RNA-
RNA-Insertionen schneiden sich in einem Zwei-Schritt- Moleküle, deren Länge im Allgemeinen nur etwa 100 bis höchs-
Mechanismus unter Beteiligung eines externen Guanosin- tens 300 Nukleotide beträgt. Wir lernen hiermit nach der rRNA
nukleotids selbst heraus. und der tRNA eine weitere Klasse nicht-Protein-codierender
4 Die Introns der Gruppe II werden in Genomen von Bak- RNA-Moleküle kennen, die funktionelle Aufgaben in ihrer Eigen-
terien und Organellen gefunden. Diese Introns verfügen schaft als Nukleinsäuremoleküle wahrnehmen, aber keine Funk-
zwar auch über die Fähigkeit des autokatalytischen Splei- tion als Matrize für die Synthese von Proteinen besitzen.
ßens, aber der Mechanismus unterscheidet sich von Die snRNAs bilden nach ihrer Synthese kleine Ribonukleo-
denen der Gruppe I und ist durch eine Lassobildung cha- proteine (snRNPs). Während ein Teil der snRNP-Partikel zu-
rakterisiert. nächst ins Cytoplasma wandert und dort größere snRNP-Kom-
4 Die dritte Gruppe ist die Spleißosom-abhängige Reaktion, plexe bildet, befinden sich andere snRNPs ausschließlich im
wie wir sie bei den meisten eukaryotischen Genen finden; Kern. Drei von ihnen, U3, U8 und U13, sind im Nukleolus
sie zeigt ebenfalls eine Lassobildung. (7 Abschn. 5.1.5) lokalisiert, während U6-snRNA im Kernplasma
4 Die vierte Gruppe betrifft Introns von tRNA-Genen vorkommt. Die Anzahl der snRNA-Moleküle ist mit bis zu 106
im Zellkern von Eukaroyten und in Archaebakterien; Molekülen in jeder Zelle sehr hoch. Ihre Transkription erfolgt
diese Introns werden in einer ATP-abhängigen Endonukle- durch die RNA-Polymerase II. Lediglich U6-snRNA macht eine
ase-Reaktion herausgeschnitten; dieser Mechanismus Ausnahme und wird, wie tRNA, durch die RNA-Polymerase III
unterscheidet sich deutlich von den drei vorgenannten. transkribiert. Sie nimmt mit diesem abweichenden Transkrip-
tionsmodus also nicht nur hinsichtlich ihrer ausschließlichen
Aufgrund der besonderen Bedeutung für die Eukaryoten wollen Lokalisation im Kern eine Sonderstellung ein. U6-snRNA unter-
wir die Spleißosom-abhängige Reaktion im Detail betrachten. scheidet sich von anderen snRNAs schließlich noch dadurch,
Das Spleißosom (engl. spliceosome) ist eine komplexe Struktur, dass sie keine 3-Methylguanosin-Kappe besitzt, sondern le-
die bestimmte Erkennungssignale an den 5’- und 3’-Enden der diglich ein γ-Methylphosphat als 5’-Ende. U4- und U6-snRNA
Introns verwendet. Die Erkennungssequenzen sind relativ ein- findet man häufig durch Basenpaarungen aneinander gebunden
72 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

70


C A
G C
U U
U C U U
A C 130– C G
C G U2-snRNA
C G G C
G U A U
U1-snRNA A U U U G C
3 60– C
U
G
U –80
U
C
U
G –20
U
A A
U
AA
GA
U
G
C G C G U A –60 A U
G C G C U U G C –140
G U G U G C 120– G C
A U U A
A G C A AG
G A 150 C G C
10– U A 50– U A A U
C C C G A U C
G C U C
m 3 G PPP AUACGCUU AUCAAGUGUAGUAUCUGUUCUU A C 90 100 110 GG C
G C U G 150 160 A U U G
SL1 50– G C G C 30 40 G C CAUAUAUUAAAUGG AUUUUUG GAACAG A A
40 A U –90 100 C G 70– U A C GCAUCG CCUGG U C
G
A AG C G C AA G C C G Sm A
G UGGU –UCUCC CGA–UUUCCC C G G
U A CU U C G A CGUGGCCAGGACC U U
A U C G –80 C C C A
ACCA AGAGG GCU AAAGGG C G U A U
CU GU U G C U U C A 180

A A 110 G C 170
20 G G C –160 A U C
C
A
30
C
U –120 130 140– G C
G G C
m 3 G PPP AUACUUACCUGG C AUA AUUUCUGGUAGUG UG

10
Sm
40
U UUU
C
C A
C
G U UU G
C U
G A U A
A U –40 U A
G C U A
C U5-snRNA
U
G C G –50
30– A A A U A
C G 30– A U
C 100 A U
G
A U
G C A A AA U C
A G C U G
U G A C
G C CU A G
G –50 U U A A
C U A U
U A C G 20 C G
20– A U A U G –60
U U
U A G C A C U A
G U C G U G C G
A U A G –110 C G U A
C G C G
G C 90– G C U A
U A 130– C G U G A C
G U U A 70 C A
U A –60 G U U A –140
G C G 10– U A U C
A A
U C
Sm GA C
G C A G C
10– C G U G G C 100– U A
G UGAAAACUUUUCCCAAUACCCCG CAAUUUUUG AC GG
C U C C G –110

U
G 70 80 120 C GU A C G
U A G U
U
U
C G
Sm A A
C UUUCGUUCAAUUUUUUG A UA
m 3 G PPP AAA
m 3 G PPP G
U4-snRNA

80 90

. Abb. 3.11 Molekulare Struktur und Funktion der snRNAs. Die Nukleotidsequenzen und Sekundärstrukturen von U1-, U2-, U4- und U5-snRNAs sind dar-
gestellt. Die 5’-Kappe ist durch die Abkürzung m3G angedeutet (2,2,7-Trimethylguanosin). Die farbig unterlegten Abschnitte sind für die Wechselwirkungen
mit den Proteinen des Spleißosoms von besonderer Bedeutung. SL1: stem loop 1. Die grün markierte Sm-Box bezeichnet spezifische Bindestellen für Pro-
teine (Sm ist ursprünglich eine Laborbezeichnung für Antigene eines bestimmten Serums, das als »Sm-Serum« bezeichnet wurde). (Nach Yong et al. 2004,
mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

im gleichen snRNP-Partikel, während U6-snRNA in anderen z. B. 6-Methyladenosin oder Pseudouridin. Außerdem besitzen
snRNP-Partikeln auch alleine vorkommen kann. die snRNAs (ausgenommen U6) eine dreifach methylierte Kappe
snRNAs zeichnen sich durch eine relativ große Stabilität aus, (m32,2,7-Cap) am 5’-Ende. Die Primärstruktur der snRNA erlaubt
die in der Größenordnung der Zeit eines gesamten Zellzyklus intramolekulare Basenpaarungen (. Abb. 3.11). Solche Sekun-
liegt. Sie kommen stets in Verbindung mit Proteinen vor und därstrukturen sind evolutionär besonders konserviert.
bilden snRNPs mit bis zu 30 verschiedenen Proteinen, wie Lerner Das Spleißosom ist ein komplexes Ribonukleoprotein
und Steitz (1979) festgestellt haben. Diese Partikel sind mit Sedi- (RNP), das aus fünf kleineren RNPs und vielen assoziierten
mentationswerten von 10S bis 12S viel kleiner als Ribosomen- Proteinen sequenziell und dynamisch um die Vorläufer-mRNA
untereinheiten. Jeder snRNA-Typ bildet eine spezielle Art von aufgebaut wird (. Abb. 3.12). Dabei fungiert das Spleißosom als
snRNP-Komplex, der aus mehreren verschiedenen Proteinen ein Rückgrat, um die 5’- und die 3’-Schnittstelle im katalytischen
besteht. Verschiedene snRNP-Typen unterscheiden sich dabei Zentrum zu fixieren. Wir wissen, dass die prä-mRNA zusammen
nicht nur in der darin enthaltenen snRNA, sondern zum Teil mit den snRNPs U2, U5 und U6 Strukturen bilden können,
auch durch unterschiedliche Proteine. In der snRNA kommen die beide Umesterungsreaktionen in einer Protein-unterstützten,
verschiedene durch Methylgruppen modifizierte Nukleotide vor, RNA-abhängigen Form durchführen können. Viele konstitutive
3.3 · Transkription
73 3

a b A-Komplex

A-Komplex

B*-Komplex

B-Komplex

C-Komplex

C-Komplex

10 nm

. Abb. 3.12 Aufbau des Spleißosoms. a Elektronenmikroskopische Strukturen des menschlichen Spleißosoms und einiger Zwischenstufen bei seinem
Aufbau (hellblau: U4/U6-diRNP; violett: U5-snRNP; rot: 5’-Exon; blau: 3’-Exon; grün: Intron; orange: Spleißfaktor 3b; BΔU1: B-Komplex ohne U1-snRNP).
Balken: 10 nm. b Wechselwirkungen zwischen den U-snRNAs und der prä-mRNA in den verschiedenen Stadien. Für die Bildung des A-Komplexes paaren
die U1-snRNA mit der 5’-Spleißstelle (5’ SS) und die U2-snRNA mit dem Verzweigungspunkt BP (engl. branch point), während die 3’-Spleißstelle (3’ SS)
durch ein Protein gebunden wird. Im B*-Komplex (der dem katalytisch aktiven Komplex am nächsten kommt) sind die U2- und U6-snRNAs weitgehend
über Basenpaarungen gebunden; dazu gehört auch die Wechselwirkung der U6-snRNA mit Nukleotiden nahe des Komplexes der U2-snRNA mit der
prä-mRNA am Verzweigungspunkt. Die U5-snRNA (stem loop 1: SL1; . Abb. 3.11) erkennt zusammen mit der U6-snRNA Sequenzen an der 5’-Seite der
Exon-Intron-Verbindung. Diese Wechselwirkungen tragen zum nukleophilen Angriff des Adenosin-Restes am herausgehobenen Verzweigungspunkt auf
die Phosphodiesterbindung des ersten Nukleotids des Introns bei. Als Folge dieser ersten Reaktion bildet sich im Intron eine Lasso-artige Struktur, und
mit der jetzt freien 3’-OH-Gruppe an der 5’-Spleißstelle entsteht ein neues Nukleophil (C-Komplex). Die U5-snRNA-SL1 berührt Sequenzen an den beiden
Exons an der 5’- und 3’-Spleißstelle und trägt dadurch zu deren Verknüpfung bei: Jetzt kann die 3’-OH-Gruppe das verbindende Phosphat in der Verbin-
dung des 3’-Endes des Introns mit dem Exon angreifen. (Nach van der Feltz et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung der American Chemical Society)
74 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

Komponenten des Spleißosoms sind von Hefen bis zum Men- C Interessant ist der Weg der Entdeckung von snRNAs.
schen konserviert. Allerdings gibt es im Detail einige Unter- Bestimmte Antikörper von Patienten mit einer Krankheit,
schiede, die durch den größeren Umfang der Gene, die Zunahme die systemischer Lupus erythematodes (SLE) genannt
der Introns und die geringere Konservierung der Spleißstellen in wird, reagieren spezifisch mit den snRNPs (. Abb. 3.11:
den humanen Genen bedingt sind. Obwohl die Phosphatgrup- Sm-Serum). Offensichtlich sind Autoimmunkrank-
pen beim Spleißen nicht verbraucht werden, ist das Spleißen ein heiten dadurch bedingt, dass der betreffende Organismus
3 ATP-verbrauchender Prozess; dies hängt damit zusammen, dass Antikörper gegen wichtige allgemeine Bestandteile
doppelsträngige RNA-Moleküle entwunden werden müssen. seiner eigenen Zellen herstellt (Tan und Kunkel 1966;
Im Einzelnen kann man sich den Spleißmechanismus heute 7 Abschn. 9.4.3).
so vorstellen: Die snRNPs U1, U2, U4, U5 und U6 binden schritt-
weise an die prä-mRNA. Dabei dirigiert die Basenpaarhomo- Die Bedeutung des Spleißens wird deutlich, wenn man die Ge-
logie das U1-snRNP zu den Sequenzen an der 5’-Spleißstelle, das nomarchitektur und die Häufigkeit von Spleißvorgängen in den
Verzweigungspunkt-Bindeprotein an den Verzweigungspunkt verschiedenen Spezies und im Licht des evolutionären Prozesses
der mRNA (engl. branch point), Hilfsfaktoren des U2-snRNPs betrachtet. Man wird dabei feststellen, dass Spleißen überall bei
an den Pyrimidin-haltigen Bereich und an das konstante AG-Di- Eukaryoten vorkommt – es gibt aber nur sehr wenige Beispiele
nukleotid am 3’-Ende des Introns sowie die Bindung weiterer bei Bakterien und Archaeen. Des Weiteren wird man finden, dass
Spleißosom-assoziierter Proteine. Dieser erste Schritt ist für die die Exongröße relativ konstant ist, wohingegen die Introns in
initiale Erkennung der Spleißstellen und damit auch für die ihrer Länge sehr variabel sind; der GC-Gehalt von Exons ist im
Regulation möglicher alternativer Spleißstellen von besonderer Allgemeinen höher als der von Introns. Beide Eigenschaften
Bedeutung. Unterstützt durch Proteinphosphorylierung und spielen eine Rolle dabei, wie die enzymatische Maschine der
weitere Proteine bindet das U2-snRNP über spezifische Basen- Zelle Exon-Intron-Strukturen erkennt und welche unterschied-
paarungen an den Verzweigungspunkt. Der Zusammenbau des lichen Wege beim Spleißen eingeschlagen werden können.
Komplexes wird durch die Bindung des Dreifach-snRBPs Ein ganz wesentliches Element des Spleißens besteht aber
U4-U5-U6 weitergeführt und bildet zunächst eine Zwischen- in der dramatischen Erhöhung der Vielfalt, die durch einen
form, in der alle snRNPs an der prä-mRNA gebunden sind. Nach definierten DNA-Abschnitt in Proteininformation übersetzt wer-
dem Eintritt des U4-U5-U6-snRNPs sind mehrere Umlagerun- den kann. War man früher der Ansicht, dass aus einer prä-mRNA
gen des Spleißosoms nötig, um die beiden Umesterungsschritte nur eine bestimmte mRNA entstehen kann (wie das beispiels-
der eigentlichen Spleißreaktion durchzuführen. Die Destabilisie- weise bei den Globin-Genen der Fall ist; 7 Abschn. 7.2.1), so
rung der U1- und U4-snRNPs durch weitere Hilfsproteine führt wissen wir heute, dass viele Gene auch alternative Spleiß-
zur Bildung der katalytisch aktiven Form des Spleißosoms, die produkte ermöglichen. Es ist nämlich keinesfalls so, dass
nur U2-, U5- und U6-snRNPs enthält. Diese Struktur bringt die immer alle Exons eines Gens in der gleichen Weise gespleißt
2’-OH-Gruppe des Verzweigungspunktes in die Nähe des werden – vielmehr müssen wir heute davon ausgehen, dass etwa
5’-Phosphats und ermöglicht damit den ersten Schritt der Um- 90 % aller menschlichen Gene unterschiedlich gespleißt werden,
esterung. Ein zweiter Schritt unter Beteiligung weiterer Hilfs- und zwar in Abhängigkeit von dem Gewebe und Entwicklungs-
proteine erlaubt das Ausschneiden des Introns durch einen An- grad, in dem sie exprimiert werden. Dieses alternative Spleißen
griff auf die 3’-Phosphatgruppe an der Intron-Exon-Grenze ist bei niederen Eukaryoten, Invertebraten und Pflanzen weniger
durch die 3’-OH-Gruppe des geschnittenen Exons. Weitere verbreitet.
Hilfsproteine sind nötig, um die endgültigen Produkte der Die häufigste Form des alternativen Spleißens ist das Über-
Spleißreaktion freizusetzen, d. h. die Freisetzung der verbunde- springen eines Exons (engl. exon skipping) – diese Form ist bei
nen Exons und des herausgeschnittenen Introns in einer Lasso- höheren Eukaryoten mit ca. 40 % aller alternativen Spleißvaria-
form (engl. lariat). Spezifische Inhibitoren der Kinase, Phospha- tionen die häufigste. Alternatives Spleißen kann auch mit einem
tasen oder der Hilfsproteine können die einzelnen Schritte bei unterschiedlichen Transkriptionsstart verbunden sein und sogar
der Bildung des Spleißosoms hemmen. mit Veränderungen des Leserahmens. Neben dem Auslassen von
Exons kann es aber auch zu Verlängerungen oder Verkürzungen
> Die meisten eukaryotischen Gene bestehen aus Exons und
der Exons am 5’- oder 3’-Ende kommen, wenn durch den Spleiß-
Introns. Die Introns werden durch Spleißen aus der Vor-
apparat verschiedene Spleißstellen ausgewählt werden können
läufer-mRNA entfernt. Im Allgemeinen werden Introns bei
(die Häufigkeiten hierfür werden mit 8–18 % angeben). Ein
Eukaryoten mithilfe von Ribonukleoproteinkomplexen
schönes Beispiel für diese verschiedenen Möglichkeiten ist der
herausgeschnitten. Am Aufbau dieser Spleißosomen sind
Opiat-Rezeptor bei Säugern (. Abb. 3.13). Ein eher seltener Vor-
auch kleine RNA-Moleküle (snRNAs) beteiligt. Eukaryoti-
gang bei Vertebraten und Invertebraten (~ 5 %) ist die Beibehal-
sche Zellen enthalten eine große Anzahl solcher RNA-Mole-
tung eines Introns in der reifen mRNA (engl. intron retention) –
küle, die verschiedenen Sequenztypen angehören und in
bei Pflanzen, Pilzen und Protozoen ist diese Form des alterna-
ihrem Vorkommen teilweise auf bestimmte Bereiche der
tiven Spleißens dagegen die häufigste. Daneben gibt es als beson-
Zelle beschränkt sind.
ders seltene Variante das Spleißen in trans, d. h. das Spleißen
zwischen verschiedenen Primärtranskripten.
Wir kennen heute drei verschiedene evolutionäre Mechanis-
men für das Auftreten des alternativen Spleißens: die Neukom-
3.3 · Transkription
75 3

1 3 5 7
Exon 11 12 a/b 13 16 14 2 a/b 15 e/d/e/b/a 4 10 6 a/b 8 9

E11 Promotor
Intron (kb) ~1,8 ~8 ~0,8 ~5 ~27 ~6 ~0,8 ~2 ~7,5 ~8,5 ~58 ~66 ~7,4 ~34 ~23
mMOR-1
mMOR-1A
mMOR-1B1
mMOR-1B2
mMOR-1B3
mMOR-1B4
mMOR-1B5
mMOR-1C
mMOR-1D
mMOR-1E
mMOR-1F
mMOR-1G
mMOR-1H
mMOR-1I
mMOR-1J
mMOR-1K
mMOR-1L
mMOR-1M
mMOR-1N
mMOR-1O
mMOR-1P
mMOR-1Q
mMOR-1R
mMOR-1S
mMOR-1T

. Abb. 3.13 Schematische Darstellung der Struktur des Gens für den Opiat-Rezeptor μ der Maus (mMOR). Die Exons sind als Box dargestellt, die Introns
nur durch Linien. Die beiden Transkriptionsstartstellen sind durch Pfeile markiert. Die Nummerierung der Exons ist in der Reihenfolge ihrer Identifizierung
angegeben. Die Start- und Stoppstellen der Translation sind durch Striche über den jeweiligen Exons angedeutet. (Nach Pan 2005, mit freundlicher Geneh-
migung von Ann Liebert)

bination von Exons (engl. exon-shuffling), die »Exonisierung« Exonisierung


von Intronsequenzen und der Wechsel von einem konstitutiven Exonisierung erscheint ein Weg, ein Exon »aus dem Nichts
Exon zu einem alternativ gespleißten Exon durch Mutationen in heraus« zu schaffen. Dabei spielen offensichtlich transponier-
regulatorischen Elementen. bare Alu-Wiederholungselemente (7 Abschn. 9.2.3) eine beson-
dere Rolle. Ein Beispiel dafür ist das Exon 1a des p75TNFR-Gens,
Neukombination von Exons das in den Altweltaffen (und dem Menschen) vor ca. 25 Mio.
Dabei wird ein neues Exon in ein bereits existierendes Gen ein- Jahren aus einem Alu-Wiederholungselement in der geno-
gefügt, oder ein Exon wird innerhalb eines Gens verdoppelt. mischen DNA entstanden ist; das Alu-Element ist vor 58 bis
Diese Theorie wird durch viele Befunde unterstützt; ein beson- 40 Mio. Jahren an die entsprechende Stelle des Genoms unserer
deres Merkmal vieler Exongrenzen ist die Tatsache, dass sie mit gemeinsamen Vorfahren hineingesprungen (. Abb. 3.14). Durch
Grenzen funktioneller Domänen übereinstimmen und damit wenige Mutationen kann so ein neues, funktionelles Exon ent-
substanziell zur Komplexität der Proteine beitragen. Man kann stehen.
solche Domänen als evolutionäre Bausteine betrachten, die in
unterschiedlichen Kombinationen zusammengesetzt werden Wechsel von konstitutiven zu alternativen Exons
können und dadurch Proteinstrukturen hervorbingen, die spe- Die beiden bisher besprochenen Mechanismen zeigten, wie
ziellen Funktionen gerecht werden. Es scheint, dass die Bedeu- Exons neu entstehen können. Es gibt aber auch Mutationen, die
tung der Neukombination von Exons mit der Evolution kom- regulatorische Regionen des Spleißens betreffen können, z. B. die
plexerer Genome zunimmt. Bindestelle für die U1-snRNA. Dadurch ergeben sich subopti-
76 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

a mRNA I
p75TNFR
5‘ UTR 3‘ UTR

Alu Jo
3 Gen
5‘ UTR 3‘ UTR

mRNA II
icp75TNFR
5‘ UTR 3‘ UTR
b

Alu Jo RGCCGGGCGC GGTGGCTCAC GCCTGTAATC CCAGCACTTT GGGAGGCC-G AGGCGGGAGG ATCGCTTGAG ---------- 69


icp75TNFR GGCCGACTGC AGTGGCTCAC ACCTATAATC CCAGCACCTT GGGAGGCCAG AGGCGGGAAG ATCACTTGAG GGTGGGAAGA 80
Alu Jo ---------C CCAGGAGTTC GAGACCAGCC TGGGCAAC ATAGCGAGAC CCCGTCTCTA CAAAAAATAC AAAAATTAGC 138
icp75TNFR ACACGTGAGC TCAGGAGTTC GAGACCAGCC TGGGCAAC ATGGCGAAAC CCCATCTCTA 7bp delTAA AGAAATCAGC 151
Alu Jo CGGGCGTGGT GGCGCGCGCC TGTAGTCCCA GCTACTCGGG AGGCTGAG GCAGGAGGAT CGCTTGAGCC CAGGAGTTCG 216
icp75TNFR CTAGCATGGT GGCCCGAGCC TGTAGTCCCA GCTACTCGGG AGGCTGAG GTGGGAGGAT CGCTTGAGCG CAGGAGTTGG 229
Alu Jo AGGCTGCAGT GAGCTATGAT CGCGCCACTG CACTCCAGCC TGGGCGACAG AGCAGAGACCT TGTCTCAAAA AAAAAAAAAA 296
icp75TNFR AGGCTGCAGT GAGCTATG-- ---------- ---------- --GGTGAAAG AGTGAGACCT TGTCTCAAAA AAAATTAAAA 285
Alu Jo AAAAAA-- 302
icp75TNFR AATAAGAA 293

c p75TNFR
fen

n
n

ki

ffe
is

nse
tte

tan
faf

fsa
ak

ela

n
n

ken
ose

op

he
ldm

pa
op
n

-U
ns
ffe

mm
ure

a
nk

nsc
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bo
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Ora
Gib
Stu
Ma

Me
Wo
We
Ma

Tot

Go
Ko

6
7
14
18
Ne
uw 25
elta
ffen fen ORF
eltaf
w
Alt
Spleißstelle

40 Startcodon
Alu
58
63
Mio. Jahre
. Abb. 3.14 Entstehung eines neuen, funktionell aktiven Exons aus einem Alu-Element. a Gezeigt ist die Struktur des p75TNFR-Gens, eines Mitglieds der
Superfamilie der Tumornekrosefaktor(TNF)-Rezeptoren. Das Exon 1a (rot) ist ein alternatives 1. Exon, das von einem Alu-Element (7 Abschn. 9.2.3) ab-
stammt. b Vergleich der Sequenz des p75TNFR-Gens mit der Sequenz der Alu-Jo-Familie. Wenn man annimmt, dass Alu-Jo die Ausgangssequenz ist, genügt
eine A–G-Substitution, um das Startcodon herzustellen; eine weitere C–T-Substitution für die Bildung der Spleißstelle; und eine 7-bp-Deletion, um einen
offenen Leserahmen herzustellen. Die rote Umrandung zeigt die Grenzen des Exons 1a. c Die phylogenetische Analyse des Exons 1a des p75TNFR-Gens bei
Primaten zeigt, dass die Alu-Insertion vor etwa 58–40 Mio. Jahren aufgetreten ist. Die A–G-Substitution ereignete sich relativ schnell danach und bildete
das Startcodon. Die C–T-Substitution, die zur Bildung der Spleißstelle führt, sowie die 7-bp-Deletion, die den offenen Leserahmen bewirkt, traten vor etwa
40–25 Mio. Jahren auf. (Nach Xing und Lee 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
3.3 · Transkription
77 3
male Bindungsbedingungen, sodass das betroffene Exon seltener gruppen; die beiden Hauptmechanismen sollen hier an Beispie-
exprimiert wird. len von Eukaryoten näher erläutert werden.
Eine schöne Zusammenfassung der Evolution des Spleißens, Die enzymatische Veränderung von Nukleotiden erfolgt
der Generierung neuer Exons und alternativer Spleißprodukte durch Desaminierung: entweder von C→U oder von A→I. Beide
sowie der dabei wirksamen Mechanismen gibt im Detail der Auf- Prozesse erfordern Desaminasen (Cytosin-Desaminasen bzw.
satz von Keren et al. (2010). Adenosin-Desaminasen, Abk. ADAR von engl. adenosine de-
aminase acting on RNA bzw. CDAR von engl. cytosin deaminase
> Die Bedeutung von Introns kann sowohl auf evolutionärer
acting on RNA).
Ebene als auch auf der Ebene der Genregulation zu suchen
Die Desaminierung des Adenins ist wesentlich häufiger
sein. Alternatives Spleißen erhöht die Vielfalt der expri-
als die des Cytosins. ADARs wurden zuerst in Xenopus laevis
mierten und übersetzten Information beachtlich.
entdeckt und später in vielen Metazoa (inklusive Säugetieren)

*Die Vielzahl der bekannten regulatorischen Elemente, die


für einen Spleißvorgang benötigt werden, hat in den
kloniert und sequenziert (ADAR1 und ADAR2). ADARs wirken
an RNA, die vollständig oder weitgehend als Doppelstrang vor-
liegt. Inosin, das aus dem ursprünglichen Adenosin gebildet
vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Parallel dazu
wird, wird wie ein Guanosin translatiert. Damit verändert ADAR
haben viele Forscher versucht, diese zunehmende Zahl der
die Primärsequenzinformation der mRNA. Da allerdings Inosin
Faktoren und Sequenzen in einen gemeinsamen »Spleiß-
mit Cytidin paart, können ADARs auch die Sekundärstruktur
Code« zu integrieren und damit auch Vorhersagen über
der doppelsträngigen RNA verändern, indem sie ein AU-Basen-
Spleißstellen zu machen. Bisher ist das nur in Ansätzen
paar in eine AC-Fehlpaarung umwandeln. Folglich können
möglich, und es bleibt abzuwarten, ob es in der Zukunft
ADARs auch alle Prozesse beeinflussen, die sequenz- oder struk-
gelingt, zuverlässige Vorhersagen aufgrund der DNA-Se-
turspezifische Wechselwirkungen mit RNA eingehen. Es wurde
quenzen zu machen (für eine Zusammenfassung siehe
bereits gezeigt, dass ADARs die Bedeutung von Codons verän-
Barash et al. 2010).
dern, Spleißstellen bilden und RNA zum Zellkern dirigieren.
ADARs aus allen Organismen haben eine gemeinsame
Domänenstruktur mit einer unterschiedlichen Anzahl von Mo-
3.3.6 Editieren eukaryotischer mRNA tiven, die an Doppelstrang-RNA binden (dsRBMs, engl. double-
stranded RNA binding motifs), an die sich eine hochkonservierte
Die bisherige Darstellung der Umsetzung genetischer Informa- C-terminale katalytische Domäne anschließt. Organismen un-
tion der DNA in mRNA als ein informationstragendes Molekül, terscheiden sich in der Zahl der exprimierten ADAR-Gene, und
das im zellulären Stoffwechsel verarbeitet werden kann, hat uns die ADAR-Proteine wiederum unterscheiden sich in der Zahl
den Eindruck vermittelt, dass die Protein-codierende Informa- ihrer dsRBMs und dem Abstand zwischen den verschiedenen
tion stets vollständig im Genom enthalten ist. Diese Ansicht Domänen. Die ADAR-Proteine 1 und 2 unterscheiden sich ge-
wurde allgemein vertreten, bis man an mitochondrialer DNA ringfügig in ihrer Substratspezifität (besonders in der Erkennung
von Protozoen eine überraschende Entdeckung machte: Es be- der spezifischen Zielsequenzen). Viele Beobachtungen deuten
stand ein Unterschied zwischen der im Genom codierten Pro- darauf hin, dass ADARs verschiedener Vertebraten funktionell
teinsequenz und der entsprechenden Nukleotidsequenz in der homolog sind. Umgekehrt wurde noch keine RNA als Substrat
funktionellen mRNA. Diese Befunde stammen insbesondere der ADARs in Vertebraten identifiziert, die auch bei Invertebra-
vom Erreger der Schlafkrankheit, Trypanosoma brucei und ten wie Würmern oder Fliegen ein Substrat wäre. Beispielsweise
anderen verwandten Protozoen-Arten. Man spricht hier vom kommt ADAR1 von Vertebraten im Gegensatz zu allen anderen
Editieren der RNA. Vergleichbare Prozesse wurden später auch ADARs auch mit einer langen N-terminalen Verlängerung vor,
in mitochondrialen und nukleären Transkripten anderer Orga- die zwei Bindedomänen für Z-DNA besitzt (. Abb. 2.4). Die ver-
nismen beobachtet, die mittlerweile von Viren über Protozoen, längerte Form wird über einen Interferon-abhängigen Promotor
Schleimpilzen (Physarum), Insekten und Säugern bis zu Pflanzen gesteuert und wird auch im Cytoplasma nachgewiesen (die
reichen. RNA-Veränderungen, die durch posttranskriptionales »normalen« Formen kommen dagegen im Zellkern vor). Daher
Editieren erzeugt werden, werden durch zwei verschiedene Me- wird für dieses Enzym auch eine Funktion in der Virusabwehr
chanismen erreicht: diskutiert.
4 Sequenzspezifische Deletion von Nukleotiden bzw. Wie in . Abb. 3.15 gezeigt, sind die Zielsequenzen von
sequenzspezifische Insertion von Nukleotiden, die nicht ADARs doppelsträngige Strukturen in der noch unreifen RNA.
in der DNA codiert sind; Dazu gehören codierende Sequenzen, Introns und 5’- oder
4 enzymatische Veränderungen von Nukleotiden 3’-untranslatierte Sequenzen, aber auch kleine regulatorische
(C→U, A→I; I = Inosin). RNA-Moleküle (7 Abschn. 8.2). Viele dieser editierten Stellen
innerhalb codierender Regionen verändern die Bedeutung der
Diese verschiedenen Arten der RNA-Editierung (engl. editing) Codons, sodass mehr als eine Isoform von einem einzigen Gen
scheinen evolutionär nicht miteinander verwandt zu sein, und es synthetisiert werden kann. Dadurch erhöhen ADARs erheblich
wird vermutet, dass sie in der Evolution mehrfach unabhängig die Komplexität, die das Genom bietet, und im Einklang mit
entstanden sind. Dafür spricht nicht zuletzt die Beschränkung dieser Hypothese ist die ADAR-Aktivität in den Geweben des
auf wenige, meist phylogenetisch weit getrennte Organismen- Nervensystems besonders hoch. Beispiele dafür sind die ver-
78 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

. Abb. 3.15 AൺI-Edition durch ADARs (engl. adenosine deaminases acting


O HN on RNA). a Die Zeichnung verdeutlicht, dass ADARs an lokal doppelsträn-
U gigen Bereichen einer RNA binden und ein Adenosin (A) desaminieren, das
HN N U
N dadurch zu einem Inosin (I) wird. Das ursprüngliche Adenin hatte sich in der
N
Doppelstrangsituation mit Uridin (U) gepaart. Da das Inosin aber dem Gua-
NH O nosin ähnlich ist, paart es sich unter Doppelstrangbedingungen mit Cytosin
O O
N N (C). Das betrifft vor allem die Anheftung der tRNA bei der Translation
3 N ADAR NH (7 Abschn. 3.4). b Ausgewählte Mitglieder der ADAR-Familie. Das humane
A I
Genom enthält drei ADAR-Gene (Hs ADAR1–3). Sie unterscheiden sich in der
N N N N Zahl der Doppelstrang-RNA-bindenden Domänen (dsRBDs) und der kataly-
tischen Desaminase-Domäne (C.D.D); ADAR1 codiert zusätzlich noch für zwei
a Ribose HO NH Ribose Z-DNA-bindende Domänen (zDBD). Die ADAR-Gene, die von Caenorhabditis
elegans (Ce) und Drosophila (Dm) kloniert sind, enthalten zwischen einer und
zwei dsRBDs und eine C-terminale katalytische Domäne. (Nach Jepson
zDBD dsRBDs C.D.D
und Reenan 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
Hs ADAR1

Hs ADAR2
CDARs nach dem Spleißen (Introns unterdrücken die C→U-
Hs ADAR3
Edition). Auch die Ausbildung des Spleißosoms hemmt diese
Ce Adr1 Form des Editierens. Es gibt einige sehr gut charakterisierte Bei-
spiele für die C→U-Edition: Das erste (und damit das am besten
Ce Adr2 untersuchte) Beispiel ist die Edition der mRNA für das Apolipo-
protein B (Gensymbol: ApoB), weitere Beispiele sind die mRNAs
b Dm Adar
des Gens für Neurofibromatose Typ 1 (Gensymbol: NF1) sowie
für N-Acetyltransferase 1 (Gensymbol: NAT1).
Am Beispiel der ApoB-mRNA wurde gezeigt, dass die C→U-
schiedenen Transkripte für Glutamat- und Serotonin-Rezepto- Desaminierung hochspezifisch erfolgt: ein Cytosin unter 14.000
ren. Mäuse, die die editierte R-Form des Glu-B-Rezeptors nicht Nukleotiden, die die mRNA insgesamt umfasst. Die minimale
bilden können, werden mit Epilepsie geboren und sterben inner- Sequenz, die zur Erkennung der Austauschregion notwendig
halb der ersten 3 Wochen. Weitere Beispiele sind Gene, die für ist, umfasst ca. 30 Nukleotide; allerdings spielt auch die Se-
Natrium- oder Chlorid-Kanäle in Drosophila codieren. kundärstruktur der mRNA eine wichtige Rolle. Die Edition der
Die Desaminierung von Cytosin nach Uracil scheint wesent- ApoB-mRNA verändert ein CAA-Codon zu einem UAA-Stopp-
lich seltener zu sein und verläuft offensichtlich nach einem an- codon; das verkürzte ApoB-Protein wird als ApoB48 bezeichnet
deren Mechanismus. Im Gegensatz zu den ADARs arbeiten (. Abb. 3.16). Beim Menschen ist die Edition auf den Dünndarm

. Abb. 3.16 CൺU-Edition der mRNA am Beispiel der ApoB-mRNA. Die Position C-6666 wird zu einem Uridin umgewandelt, sodass anstelle des Glu-
Codons CAA ein Stoppcodon (UAA) entsteht. Das verkürzte ApoB48-Protein verfügt nur noch über die Domäne, die den Zusammenbau der Lipoproteine
unterstützt; es fehlt die LDL-Rezeptor-bindende Domäne des ApoB100-Proteins. (Nach Chester et al. 2000, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
3.4 · Translation
79 3
beschränkt; in der Leber wird das nicht editierte Protein ter Mehrzeller mit differenzierten Zell- und Gewebefunktionen
(ApoB100) gebildet. ApoB100 und ApoB48 haben offensichtlich gewesen. Die räumliche und zeitliche Trennung von Transkrip-
unterschiedliche Funktionen im Lipidstoffwechsel. Die C→U- tion und Translation gestattet nämlich über die reine Kontrolle
Edition der ApoB-mRNA erfordert eine einzelsträngige mRNA der Transkription eines Gens hinaus die Entstehung vielfacher
mit genau definierten Charakteristika in der unmittelbaren Um- zusätzlicher Regulationsmöglichkeiten für die Expression von
gebung der Editionsstelle. Der funktionelle Komplex an der Edi- Genen. Diese erweitern die Anpassungsfähigkeit einer Zelle an
tionsstelle besteht außer der spezifischen katalytischen Desami- unterschiedliche stoffwechselphysiologische Bedingungen be-
nase (die in diesem Fall als Apobec-1 bezeichnet wird) noch aus trächtlich. Verschiedene solcher Regulationsmechanismen wer-
einem Komplementationsfaktor (ACF, auch als Kompetenz- oder den im Zusammenhang mit der Struktur und Funktion einzelner
Stimulationsfaktor bezeichnet), der als ein Adapterprotein zwi- Gene erörtert werden. An dieser Stelle sollen nur die Grund-
schen der Desaminase und der RNA fungiert. ereignisse während der Translation von mRNA in Proteine dar-
Bisher kennen wir etwa 30 Protein-codierende Gene, die gestellt werden.
durch ADARs editiert werden. Es wird aber aufgrund von Die Übersetzung der Nukleotidsequenz eines mRNA-Mole-
biochemischen Untersuchungen und bioinformatischen Ab- küls in die Aminosäuresequenz eines Polypeptids erfolgt an den
schätzungen vermutet, dass es ca. 12.000 editierte Stellen in Ribosomen. Ribosomen sind cytoplasmatische Partikel aus
RNAs von Säugetieren gibt (für eine aktuelle Übersicht sei auf rRNA und Protein (. Tab. 3.2), sie dienen als Werkzeuge für die
die Arbeit von Zinshteyn und Nishikura 2009 hingewiesen). Translationsmaschinerie und sorgen dafür, dass die erforder-
Daher kann man über die biologische Bedeutung des Edi- lichen sterischen molekularen Konfigurationen für die mRNA-
tierens von RNA noch nicht abschließend befinden. Dazu ge- Ablesung und Proteinsynthese geschaffen werden. Für die Um-
hören auf jeden Fall Einflüsse auf das alternative Spleißen setzung der Nukleotidsequenz in eine Proteinsequenz ist Folgen-
durch Modifikation der Spleißstellen, die Translation der mRNA des erforderlich:
durch entsprechende Modifikationen, veränderte Protein- 4 Transfer-RNA-Moleküle, beladen mit den jeweils spezi-
bindung durch Änderung der RNA-Struktur, veränderte Still- fischen Aminosäuren (Aminoacyl-tRNA),
legung oder Abbau der mRNA. Fälle, in denen biologische 4 verschiedene Translations-Elongationsfaktoren,
Konsequenzen einleuchten, sind hier sicherlich aufschlussreich: 4 Guanosintriphosphat (GTP) als Energielieferant
Eine mRNA von Paramyxoviren (verantwortlich für Masern 4 und das Enzym Peptidyltransferase.
und Mumps) wird während der Transkription modifiziert. Das
> Die Proteinsynthese in Prokaryoten erfolgt am wachsen-
resultiert in einer Population verschiedener viraler Proteine, die
den mRNA-Molekül am Chromosom, während sie in
durch unterschiedliche, nicht im Genom codierte Leseraster
Eukaryoten an der mRNA in den cytoplasmatischen Ribo-
entstehen. Hierdurch könnte das Virus sich dem Immunsystem
somen abläuft. Sie benötigt in beiden Fällen neben den
entziehen.
Ribosomen mit Aminosäuren beladene tRNA (Aminoacyl-
Eine weitere Bedeutung kommt der AൺI-Editierung bei re-
tRNA), Elongationsfaktoren, Peptidyltransferase und eine
gulatorischen (nicht-codierenden) RNAs zu (7 Abschn. 8.2).
Energiequelle (GTP).
Doppelsträngige RNA ist, wie wir oben gesehen haben, ein be-
vorzugtes Ziel von ADARs, die oftmals 50 % oder mehr der Als Voraussetzung für die Proteinsynthese muss zunächst die
Adenin-Reste einer RNA modifizieren können. Damit werden Transfer-RNA für ihre Aufgabe vorbereitet werden. Die tRNA
die regulatorischen Eigenschaften dieser RNAs beeinträchtigt – ist ein RNA-Molekül (. Abb. 3.17a), dessen Aufgabe es ist, die
bei Caenorhabditis elegans kann dies dazu führen, dass das che- Codons der mRNA zu erkennen und in die entsprechenden
motaktische Verhalten des Wurms verändert wird. Aminosäuren umzusetzen. Das geschieht mithilfe des Anti-
codons in der tRNA, einer Region aus drei Nukleotiden, die die
> Durch RNA-Editierung kann RNA posttranskriptional
zu einem Codon komplementären Basen besitzt. Durch Basen-
durch die kontrollierte Veränderung von Nukleotiden in
paarung mit einem Codon in der mRNA kann sich das Amino-
ihren codierenden oder regulatorischen Eigenschaften
säure-beladene tRNA-Molekül (Aminoacyl-tRNA) am Ribosom
gezielt verändert werden.
an den mRNA-Strang binden und dadurch für den Einbau der
vorprogrammierten Aminosäure in die wachsende Peptidkette
sorgen. Die kristallographisch ermittelte Struktur der tRNA ist
3.4 Translation durch eine L-Form charakterisiert (. Abb. 3.17b).
Hierzu ist es natürlich erforderlich, dass die tRNA die rich-
Die Umsetzung der mRNA in die darin codierten Proteine wird tige Aminosäure verfügbar hat. Die Beladung der tRNA mit
als Translation bezeichnet. In Prokaryoten beginnt die Trans- den Aminosäuren erfolgt durch Aminoacyl-tRNA-Synthetasen.
lation noch während der Synthese der mRNA. In Eukaryoten Dabei handelt es sich um Enzyme, die diejenigen Aminosäuren
hingegen ist zunächst ein Transport der mRNA-Moleküle vom über eine Esterbindung an das 3’-Ende des tRNA-Moleküls
Kern ins Cytoplasma der Zelle erforderlich, da nur dort die binden, die dem jeweiligen Anticodon zugeordnet sind. Die
Mechanismen zur Proteinsynthese verfügbar sind. Die Trennung Art dieser Bindung ist für alle tRNAs identisch, da die letzten
des Ortes der Transkription vom Ort der Translation ist durch drei Nukleotide am 3’-Ende jeder tRNA einheitlich die Se-
die Entstehung eines Zellkerns möglich geworden. Wahrschein- quenz CCA-OH-3’ haben. Dieses Enzym bindet zunächst unter
lich ist dieser Schritt entscheidend für die Evolution komplizier- Bildung einer Peptidbindung zwischen der Carboxylgruppe
80 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

. Tab. 3.2 Zusammensetzung der Ribosomen

Organismus Untereinheit Proteine RNA Nukleotide

E. coli 30S 21 (S1–S21) 16S-rRNA 1541


50S 31 (L1–L34)a 23S-rRNA 2904
3 5S-rRNA 120

Eukaryoten 40S 33 18S-rRNA 1,6–2,4 kb


60S 49 28S-rRNA 3,6–4,7 kb
5,8S-rRNA ca. 160
5S-rRNA ca. 120

In Drosophila ist ein zusätzliches 2S-rRNA-Molekül in der 60S-Untereinheit enthalten. Vollständige E. coli-Ribosomen sedimentieren als 70S-Partikel,
die Ribosomen von Eukaryoten als 80S-Partikel.
a In der Nummerierung L1–L34 sind einige Proteine enthalten, die keine konstitutiven Komponenten der 50S-Untereinheit sind.

3‘
Akzeptorstamm Kristallstruktur
A76
C
C Thymidin-
5‘ A Schleife
1G C
G C
G C
Akzeptorstamm
U A
G C Thymidin-Schleife
Dihydrouridin- A U Dihydrouridin-
U A CU
Schleife
s4U8 CUGCC A Schleife
G
G A A C
C15 G G C G G
CUCG C T54ψ
D U
G GAGC
G A A C G mG
7
G
C G GG
variable Schleife Anticodon-
Schleife
U A
b
C G
C G
A38
Anticodon-Schleife C32 m6 A37
U33 C36 G
A35 U 1
cmo5 U34 A 2
3
a

. Abb. 3.17 Struktur der tRNA. a Ein tRNA-Molekül besteht aus mehreren Regionen, die durch intramolekulare Basenpaarungen gekennzeichnet sind und
daher als Schleifen bezeichnet werden. In der ebenen Projektion erinnert die Struktur an ein vierblättriges Kleeblatt. tRNAs enthalten viele seltene Nukleo-
tide, die sich in bestimmten, genau festgelegten Positionen befinden. In einzelnen Teilbereichen des Moleküls ist die Anzahl der Nukleotide für verschie-
dene tRNA-Arten variabel. In dieser tRNA kommen folgende modifizierte Nukleoside vor: s4U: 4-Thiouridin; D: Dihydrouridin; cmo5U: Uridin-5-oxy-Essigsäu-
re; m6A: N6-Methyladenosin; m7G: 7-Methylguanosin; T: Ribothymidin; Ψ: Pseudouridin. Die gezeigte tRNA bindet an das Codon für Val (hellblau). b Ste-
risches Modell der tRNA. Die verschiedenen Regionen mit Basenpaarung formen in der dreidimensionalen Struktur eine L-förmige Konfiguration. In der
Mitte liegt eine scharnierartige Region, die die Beweglichkeit der Arme des Moleküls gegeneinander ermöglicht. (a nach Agris et al. 2007, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier; b nach Jonikas et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung der RNA Society)

einer Aminosäure und dem α-Phosphat von ATP die zugehörige eine interessante Zusammenfassung dieses Aspekts findet sich
Aminosäure und fügt diese dann mit ihrer Carboxylgruppe bei Schimmel (2008).
an die C-2- oder C-3-Hydroxylgruppe der Ribose des 3’-termi- Bei der Besprechung des genetischen Codes wurde bereits
nalen Adenosins der tRNA. Die Bindung der Aminosäuren deutlich, dass zur Proteinsynthese üblicherweise nur 20 Amino-
an die zugehörigen tRNAs erfolgt mit sehr hoher Spezifität. säuren zur Verfügung stehen. Aus vier verschiedenen Nukleoti-
Eine solche hohe Spezifität ist erforderlich, um den Einbau den (A, G, C, U) lassen sich jedoch in einem Triplettcode insge-
falscher Aminosäuren in die Polypeptidketten zu verhindern. samt 43 = 64 verschiedene Kombinationen ableiten. Nur drei
Zu diesem Zweck verfügen die Aminoacyl-tRNA-Synthetasen dieser Basenkombinationen (UAG, UAA, UGA) werden für die
über Korrekturmechanismen, die falsch gebundene Amino- Kennzeichnung des Abbruchs (der Termination) der Translation
säuren erkennen und wieder entfernen (engl. editing activity); verwendet. Alle übrigen 61 Codons codieren bestimmte Amino-
3.4 · Translation
81 3
säuren (. Tab. 3.1). Daher müssen verschiedene Aminosäuren zelnen synonymen Nukleotidaustauschen (engl. single nucleotide
mehreren unterschiedlichen Codons zugeordnet sein. Diese Er- polymorphisms, SNPs) nachdenken, die in vielen Genen mit
scheinung wurde bereits als Degeneration des genetischen Codes einer bestimmten Häufigkeit in einer Population vorkommen
besprochen (7 Abschn. 3.2): Neun Aminosäuren werden durch (7 Abschn. 13.1.4).
zwei Codons codiert (d. h. sie sind zweifach degeneriert), fünf
> Mithilfe von tRNA-Synthetasen werden die durch eine
Aminosäuren sind vierfach degeneriert, und drei Aminosäuren
tRNA spezifizierten Aminosäuren durch eine Phospho-
sind sechsfach degeneriert. Eine Aminosäure wird durch drei
diesterbindung an die Ribose des 3’-terminalen Adenosins
Codons bestimmt, und nur zwei Aminosäuren haben einzig-
der tRNA gebunden. Die Bindung der Aminosäuren an
artige Codons. Solche tRNAs, die an alternative Codons binden
die zugehörigen tRNAs erfolgt für jede Aminosäure durch
können, die aber für dieselbe Aminosäure codieren, bezeichnen
eine spezielle Aminoacyl-tRNA-Synthetase.
wir als Iso-Akzeptor-tRNA.
Im Ablauf der Translation müssen wir drei Stufen unterscheiden:
C 1966 formulierte Francis Crick die »Wobble-Hypothese«, 4 die Initiation der Translation,
die besagt, dass tRNAs mehr als ein Codon erkennen können
4 die Elongation der Peptidkette
und dass die Mehrdeutigkeit der Erkennung in der dritten
4 und die Termination.
Base des Anticodons begründet ist (Basen 34–36; . Abb. 3.17a).
Spezifische posttranskriptionale Modifikationen der Base 34,
Diese drei Stufen sollen in den folgenden Abschnitten nachein-
die vor allem die sterische Architektur des gesamten Anti-
ander besprochen werden, wobei wir jeweils Pro- und Eukaryo-
codons betreffen, erlauben diese Mehrdeutigkeiten. Des Wei-
ten parallel betrachten.
teren haben aber auch Modifikationen der Base 37 einen
Einfluss auf die Architektur des Anticodons und tragen somit
zur Spezifität bei.
3.4.1 Initiation
Die Komplexität der tRNAs wird darüber hinaus noch dadurch
erhöht, dass jede tRNA durch verschiedene Gene codiert wird – Als Initiation der Translation bezeichnet man die Bindung
bei Menschen sind es insgesamt 506 tRNA-Gene im Kern-Ge- der ersten Aminosäure eines Polypeptids mithilfe der mRNA am
nom (dazu kommen noch 22 tRNA-Gene im Mitochondrien- Ribosom. Für eine erfolgreiche Initiation der Translation ist zu-
Genom). Am meisten (genomische) tRNA-Gene gibt es für die nächst die Bindung der mRNA an ein Ribosom notwendig. Bei
Aminosäure Alanin, nämlich 43, davon allein 29 tRNAs, die Prokaryoten (. Abb. 3.18a) erfolgt das an einer purinreichen
das Anticodon »AGC« enthalten (also in der mRNA das Sequenz, die 8 bis 12 Nukleotide vor dem Initiationscodon AUG
Codon »GCU« erkennen). Die meisten Gene für die mensch- liegt. Diese Sequenz, die von J. Shine und L. Dalgarno (1974)
lichen tRNAs liegen als Cluster auf den Chromosomen 1 und 6 identifiziert und daher auch Shine-Dalgarno-Sequenz genannt
(die Zahlen von tRNA-Genen in einigen anderen Organismen wird (5’-GGAGGU-3’), findet eine komplementäre homologe
sind in . Tab. 3.4 in 7 Abschn. 3.5.3 aufgeführt; weitere Informa- Region (»Anti-Shine-Dalgarno-Sequenz«) am Anfang der klei-
tionen über genomische tRNA-Gene sind in einer tRNA-Daten- nen (16S) ribosomalen RNA (3’-CCUCCA-5’), die sich in der
bank zugänglich: http://gtrnadb.ucsc.edu/). 30S-Untereinheit des Ribosoms befindet (. Tab. 3.2). Zunächst
Die Häufigkeit der Verwendung der jeweiligen synonymen lagern sich die Translations-Initiationsfaktoren IF1, IF2 und IF3
Codons (d. h. der Codons, die für dieselbe Aminosäure codieren) sowie ein Guanosintriphosphat (GTP) der 30S-ribosomalen
in einer mRNA wird im Englischen als codon bias bezeichnet; Untereinheit an. Danach kann die mRNA mit ihrer Shine-
sie ist nicht zufällig, sondern spezifisch für das jeweilige Genom Dalgarno-Sequenz sowie ein fMet-tRNA-Molekül (Formyl-
und wird durch ein Gleichgewicht zwischen Selektion, Mutation methionyl-tRNA) an die 30S-Untereinheit des Ribosoms gebun-
und genetischer Drift (7 Abschn. 11.5) aufrechterhalten. Un- den werden. Die fMet-tRNA ist bei Prokaryoten für den Beginn
geachtet der relativen Universalität des genetischen Codes und der Proteinsynthese am AUG-Initiationscodon erforderlich.
der Bewahrung der Translationsmaschinerie über Spezies- Bei der Bindung dieser verschiedenen Komponenten an die
grenzen hinweg, unterscheidet sich die Häufigkeit der Verwen- 30S-Untereinheit des Ribosoms wird der Initiationsfaktor IF3
dung einzelner Codons grundlegend zwischen einzelnen freigesetzt, der durch seine Ladung zunächst die Zusammen-
Organismen. Dadurch unterscheidet sich das häufigste oder das setzung des funktionsfähigen Ribosoms (70S) aus den 30S- und
seltenste Codon in Abhängigkeit vom jeweiligen Gen sowohl 50S-Untereinheiten verhindert hat. Nach seiner Entfernung vom
zwischen verschiedenen Spezies, aber auch innerhalb einer 30S-Initiationskomplex kann nunmehr durch Anlagerung der
Spezies. 50S-Untereinheit ein funktionsfähiges Ribosom gebildet werden.
Es ist heute allgemein akzeptiert, dass die Geschwindigkeit Die erforderliche Energie wird durch Umsetzung von GTP in
der Translation von der zellulären Konzentration der tRNAs ab- GDP und Phosphat gewonnen, gleichzeitig werden auch die bei-
hängt: Die häufigsten Codons binden die häufigsten tRNAs und den Initiationsfaktoren IF1 und IF2 freigesetzt.
umgekehrt. Im Ergebnis korreliert die Verwendung der Codons Das neu zusammengesetzte Ribosom besitzt drei Bindungs-
deutlich mit dem Expressionsniveau eines Gens in den jeweiligen stellen, die P-Stelle (Peptidylbindungsstelle), die A-Stelle (Amino-
Organismen – die Verwendung eines bestimmten Codons kann acylbindungsstelle) und die E-Stelle (engl. exit site). Die fMet-
die Expression eines Gens über das 1000-fache verändern! Das tRNA befindet sich zunächst an der P-Bindungsstelle. Nach Knüp-
ist besonders wichtig, wenn wir über die Konsequenzen von ein- fen der Peptidbindung mit der Aminosäure der Aminoacyl-tRNA
82 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

fMet-tRNAfMet
IF1
IF2-
mRNA
50S
AU
3 IF3  
30S

30S-Prä-Initiationskomplex 30S-Initiationskomplex

IF3 IF1 


$


$
a 70S-Initiationskomplex

Met-tRNA
 

eIF2--!** eIF2- eIF2-! 

! 
eIF3 eIF1A eIF1
eIF2-$
eIF5 eIF5
 $ eIF1
40S
suchen
AU

43S 48S


eIF6 ! ! , eIF4H, eIF4F


AU ! 
%*$,$!(te mRNA] 60S
(A)n
60S  $
&  eIFs

80S

. Abb. 3.18 Initiation der Translation bei Pro- und Eukaryoten. Für die funktionell vergleichbaren Initiationsfaktoren wird ein gemeinsamer Farbcode
verwendet: rot: IF1/eIF1A; grün: IF2/eIF5B; orange: IF3/eEF1. a Vereinfachtes Schema der wichtigsten Schritte der prokaryotischen Initiation der Protein-
synthese. Die 30S-Ribosomenuntereinheit lagert sich unter Mitwirkung der Initiationsfaktoren IF1, IF2, IF3 und der Formylmethionyl-tRNA (fMet-tRNA) am
AUG-Codon der mRNA an. Damit ist der Prä-Initiationskomplex gebildet; die zusätzliche Bindung von GTP führt zur Bildung des 30S-Initiationskomplexes.
Die 50S-Untereinheit kommt hinzu, GTP wird hydrolysiert und die Initiationsfaktoren werden freigesetzt. Damit ist der 70S-Initiationskomplex gebildet
und der Translationszyklus kann beginnen. b Vereinfachtes Schema der wichtigsten Schritte der eukaryotischen Initiation der Proteinsynthese. Die
40S-Ribosomenuntereinheit dissoziiert mithilfe von eIF6 von der 60S-Untereinheit ab und tritt in den Kreislauf ein. Sie lagert die Initiationsfaktoren eIF1A,
eIF3 und eIF1 an und bildet den 40S-Prä-Initiationskomplex. Die Initiator-tRNA bindet an die 40S-Untereinheit als ein Teil des ternären Komplexes, dem
außerdem noch eIF2 und GTP angehören – damit ist der 43S-Komplex gebildet. Durch eIF4F wird die 5’-Kappe der mRNA erkannt, und der 3’-Poly(A)-
Schwanz wird durch das Poly(A)-Bindeprotein PABP gebunden. Die Helikase-Aktivität von eIF4A (unterstützt durch eIF4B und eIF4F) entspannt die Kappen-
nahe Region der mRNA (»aktivierte mRNA«). Der 43S-Komplex bindet den mRNA-Komplex, und die Wechselwirkung zwischen eIF4 und PABP führt zu
einer Zirkularisierung der mRNA. Der sich dadurch bildende Komplex sucht das AUG-Startcodon unterhalb der 5’-Kappe, um dann den 48S-Komplex zu
bilden. Danach löst eIF5 die Hydrolyse des eIF2-gebundenen GTPs aus, was wiederum zur Freisetzung von EIF2 und eIF1 führt. Wenn sich dann die
60S-Ribosomenuntereinheit dem Komplex anfügt, werden auch die verbleibenden Faktoren freigesetzt und das 80S-Ribosom ist gebildet: Der Translations-
zyklus kann beginnen. (Nach Myasnikov et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
3.4 · Translation
83 3
dass die Peptidyltransferase kein Protein ist; diese Aktivität ist
vielmehr in der großen Ribosomenuntereinheit angesiedelt – die
50S Peptidyltransferase ist ein Ribozym.
Dieser Prozess verläuft in Eukaryoten im Prinzip ähnlich.
L7/L12 Allerdings gibt es hier keine Shine-Dalgarno-Sequenz; die
Bindung der mRNA an die kleinere Ribosomenuntereinheit
P
(40S-Untereinheit) erfolgt vielmehr mithilfe der 5’-Kappe der
E
GAC mRNA (. Abb. 3.18b). An der Initiation sind mehr Initiations-
A/T faktoren beteiligt als in Prokaryoten. Bisher sind wenigstens
L1 EF-Tu zwölf eukaryotische Initiationsfaktoren (eIFs) bekannt. Das
Initiationscodon ist ebenfalls AUG, jedoch benutzen Eukaryoten
eine Met-tRNA anstelle einer fMet-tRNA für die Initiation der
dc Translation.
Einige der eIFs binden zu Beginn an die 40S-Untereinheit
30S und bereiten sie damit auf die Bindung an die mRNA vor. Die
an ein Methionin (Met) gekoppelte Initiator-tRNA bindet eben-
falls an die 40S-Untereinheit, bevor diese mit der mRNA in
Wechselwirkung tritt. Dabei gelangt die Initiator-tRNA in Ver-
. Abb. 3.19 Eine cryo-elektronenmikroskopische Rekonstruktion eines bindung mit eIF2-GTP an die P-Stelle der Untereinheit. Danach
70S-Bakterienribosoms mit dem ternären Komplex (T; violett/rot) aus wird das 5’-Ende der mRNA mit seiner 5’-Methylguanosin-
Aminoacyl-tRNA (aa-tRNA für GAC, codiert für Asp), dem Elongationsfaktor Kappe über den eIF4G und dem Poly(A)-bindenden Protein
EF-Tu und GTP. Die aa-tRNA befindet sich noch im Decodierungsschritt (dc)
und hat noch nicht die A-Stelle mit ihrer hohen Affinität für aa-tRNAs er-
(PAP) schlaufenförmig mit dem 3’-Ende der mRNA verbunden
reicht. Andere tRNAs an der P- bzw. E-Stelle sind grün bzw. orange. Die (. Abb. 3.18b).
Bindestellen für die snRNAs L1 und L7/L12 sind angegeben. A/T: Position A,
ternärer Komplex. (Nach Wittek und Nierhaus 2006, mit freundlicher Ge-
> Zur Initiation der Proteinsynthese erfolgt zunächst die
nehmigung von Springer) Bindung eines Ribosoms an die Ribosomenbindungsstelle
in der mRNA. Der eigentliche Beginn der Proteinsynthese
erfolgt am Initiationscodon der mRNA unter der Mitwir-
an der A-Bindungsstelle wird die wachsende Peptidkette wieder an
kung von Initiationsfaktoren nach der Zusammensetzung
die P-Bindungsstelle verlagert (. Abb. 3.19).
des Ribosoms aus seinen beiden Untereinheiten.
Der entscheidende Schritt in diesem Zusammenhang, die
Knüpfung der Peptidbindung (Peptidyltransferase-Reaktion), Sowohl die Ribosomen als auch die Initiationsfaktoren können
ist in . Abb. 3.20 erläutert. Die beiden in den A- und P-Bindungs- in Pro- und Eukaryoten für weitere Translationsinitiationsereig-
stellen befindlichen, nunmehr benachbarten Aminosäuren kön- nisse wiederbenutzt werden. Eine Initiation der Translation kann
nen mithilfe einer Peptidyltransferase-Aktivität durch eine Pep- an einem mRNA-Molekül wiederholt erfolgen, noch bevor die
tidbindung miteinander verknüpft werden: Das Peptid ist um Synthese eines zuvor initiierten Polypeptids beendet ist. Es ent-
eine Aminosäure verlängert. Gleichzeitig wird die Aminosäure stehen dadurch die Polyribosomen oder Polysomen, bei denen
vom ersten tRNA-Molekül freigesetzt, sodass dieses nunmehr mehrere Ribosomen mit daran wachsenden Polypeptidketten an
als unbeladene tRNA vorliegt. Es sei an dieser Stelle angemerkt, einer einzigen mRNA gebunden sind. Die Anzahl von Ribo-

. Abb. 3.20 Die Peptidyltransferase-Reaktion. Die α-Aminogruppe der Aminoacyl-tRNA an der A-Stelle (rot) greift die Carbonylgruppe des Substrats an
der P-Stelle (blau) an, um eine neue, um eine Aminosäure verlängerte Peptid-tRNA an der A-Stelle und eine deacetylierte tRNA an der P-Stelle zu bilden.
Die 50S-Untereinheit, an der sich das Peptidyltransferase-Zentrum befindet, ist hellgrau dargestellt und die 30S-Untereinheit dunkelgrau; die E-Stelle ist
grün. (Nach Beringer und Rodnina 2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
84 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

. Abb. 3.21 Polysomenkette aus Speicheldrüsen von Chironomus tentans.


Es handelt sich um eine besonders große mRNA, die in Balbiani-Ringen der
Riesenchromosomen synthetisiert wird und für Proteine im Speichel der
Larven codiert. Die einzelnen Ribosomen und ihre Untereinheiten mit den
wachsenden Proteinketten sind zu erkennen. Der Markierungsbalken ent-
spricht einer Länge von 2 μm. (Nach Francke et al. 1982, mit freundlicher
Genehmigung der Nature Publishing Group)
3
somen, die in einem Polysom verbunden sein können, sind von
der Länge der mRNA-Moleküle abhängig und schwanken zwi-
schen etwa fünf Ribosomen an kurzen mRNA-Molekülen wie
etwa an den Globin-mRNAs in Retikulocyten bis zu 50 Ribo-
somen in besonders großen mRNA-Molekülen. Die mittlere
Größe von Polysomen liegt bei etwa zehn Ribosomen. Sie sind
an mRNA-Molekülen von etwa 1000 bis 1500 Nukleotiden
Länge zu finden. Polysomen sind bei Eukaryoten im Allge-
meinen am rauen endoplasmatischen Reticulum (ER) gebunden,
das hierdurch seinen Namen erhalten hat. Sie können elek-
tronenmikroskopisch aufgrund ihrer Größe leicht dargestellt
werden (. Abb. 3.21).

3.4.2 Elongation

Die Verlängerung der Polypeptidkette während ihrer Synthese


am Ribosom bezeichnet man als Elongation (. Abb. 3.22). Bei
Bakterien bildet die nächstfolgende Aminoacyl-tRNA unter Be-

Zurückweisung einer falschen


tRNA und Neustart
GTP
GDP

GTP GTP

5‘ 3‘
E P A
Codon- Aktivierung GTP-Hydrolyse Anlagerung und
Erkennung der GTPase Korrekturlesen

GTP GTP

GTP GTP GTP


nächste
Runde

Peptidyl- EF-G-GTP- GTP-Hydrolyse Translokation EF-G-


Transferase Bindung Freisetzung

Erklärung:

30S 50S 5‘ 3‘
mRNA

P-Stelle A-Stelle GTP EF-Tu-GDP-tRNA GDP


GTP
tRNA tRNA (ternärer Komplex) EF-Tu-GDP EF-G

. Abb. 3.22 Elongationsschritte während der Translation bei Prokaryoten. Eine Aminoacyl-tRNA (aa-tRNA), deren Anticodon komplementär zum zweiten
Codon der mRNA ist, besetzt die leere A-Stelle des Ribosoms. Die Bindung der tRNA geht mit der Freisetzung von EF-Tu-GDP einher. Nach der Anlagerung
erfolgt eine Überprüfung der aa-tRNA; eine falsche aa-tRNA wird zurückgewiesen, und es würde ein Neustart erforderlich. Durch die Übertragung der ent-
stehenden Polypeptidkette von der tRNA an der P-Stelle auf die Aminoacyl-tRNA an der A-Stelle wird durch die Peptidyltransferase die Peptidbindung
geknüpft; das Ergebnis ist eine Dipeptidyl-tRNA an der A-Stelle und eine deacetylierte tRNA an der P-Stelle. Nach der Bindung von EF-G und der Hydrolyse
des mit ihm assoziierten GTP kommt es zur Translokation des Ribosoms relativ zur mRNA. Dieses Weiterrücken ist von einer Verschiebung der deacety-
lierten tRNA in die E- und der Peptidyl-tRNA in die P-Stelle begleitet. Anschließend löst sich die deacetylierte tRNA vom Ribosom, und eine neue Runde
beginnt. (Nach Ramakrishnan 2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
3.4 · Translation
85 3
. Abb. 3.23 Elongation eukaryotischer Translation.
eEF1B Wenn der eukaryotische Elongationsfaktor 1A (eEF1A)
GTP
mit GTP beladen ist, gibt er die Aminoacyl-tRNA
an der A-Stelle des Ribosoms frei. Bei entsprechender
eEF1B Codon-Anticodon-Wechselwirkung wird GTP hydro-
Aminoacyl-tRNA
eEF1A eEF1B lysiert, und der eEF1-GDP-Komplex verlässt das Ribo-
som. eEF1A interagiert dann mit eEF1B, wobei der
Austausch von GDP durch GTP die aktive Form des
eEF1A eEF1A regeneriert. (Nach Abbott und Proud 2004, mit
freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Polypeptidkette

eEF1A
eEF1A GDP + Pi

mRNA mRNA
P A P A

Ribosom Ribosom

teiligung zweier Elongationsfaktoren – EF-Tu und EF-Ts – einen tionsphase immer zwei tRNAs an der mRNA gebunden sind.
Komplex, der aus der Aminoacyl-tRNA selbst, dem Elongations- Wenn aufgrund einer Störung an der E-Stelle die Codon-
faktor EF-Tu und einem GTP-Molekül besteht. Dieser Komplex Anticodon-Wechselwirkung aufgehoben wird, kommt es zu
bindet aufgrund der Basenpaarung zwischen dem Codon der einem Verlust der tRNA an der E-Stelle und zu einer Verschie-
mRNA und dem Anticodon der Aminoacyl-tRNA im freien bung des Leserasters. Abschätzungen zeigen, dass ohne diese
A-Bindungsplatz am Ribosom. Die Bindung wird durch die Stelle das Leseraster nach dem Einbau von 20 bis 50 Amino-
Hydrolyse des GTP fixiert; EF-Tu und GDP werden freigesetzt. säuren verloren ginge – so können natürlich keine größeren
Die Regeneration des EF-Tu-GTP-Komplexes aus dem freige- Proteine fehlerfrei synthetisiert werden ( Wilson und Nierhaus
setzten EF-Tu-GDP erfordert den Faktor EF-Ts. Bei Eukaryoten 2006)!
wird die Rolle von EF-Tu von dem Elongationsfaktor eEF1A
übernommen (. Abb. 3.23).
Durch die GTP-abhängige Konformationsänderung eines 3.4.3 Termination und Abbau der mRNA
weiteren Elongationsfaktors, EF-G, verschiebt sich das Ribosom
um drei Nukleotide (= ein Codon!) in 5’→3’-Richtung an der Den Abbruch der Synthese einer Polypeptidkette am Ribosom
mRNA entlang. Dabei wandert die tRNA mit ihrem angekoppel- bezeichnet man als Termination. Die Elongation der wachsenden
ten Dipeptid von der A- zur P-Stelle, und die deacetylierte tRNA Peptidkette wird in der zuvor beschriebenen Weise fortgesetzt,
rückt von der P- zur E-Stelle. Anschließend verlässt die deacety- bis innerhalb des aktuellen Leserahmens eines der drei Termina-
lierte tRNA das Ribosom, sodass schließlich sowohl die A- als tions- oder Stoppcodons (UAG, UAA oder UGA) in der mRNA
auch die E-Stelle wieder frei sind und ein neuer Zyklus beginnen erreicht wird. Diese werden von Terminationsfaktoren (engl.
kann. Die in diesen Reaktionen verwendeten Elongationsfak- release factors; RF) erkannt, die für den Abbruch der Peptidsyn-
toren werden in der Zelle wiederverwendet. these und die Freisetzung des Polypeptids sorgen. Dies führt
dann zu einem Zerfall des Ribosoms in seine Untereinheiten und
> Für das Wachsen einer Peptidkette am Ribosom sind Elon-
zur Ablösung der mRNA. Eine Übersicht für Prokaryoten zeigt
gationsfaktoren und eine Peptidyltransferase (Ribozym!)
. Abb. 3.24.
erforderlich, die die Anlagerung der nächsten Aminoacyl-
Wir können derzeit zwei Klassen von Terminationsfaktoren
tRNA an das Ribosom und die Verknüpfung der Amino-
unterscheiden: Klasse-I-RFs erkennen das Stoppcodon an der
säuren durch Peptidbindungen kontrollieren. Der Energie-
ribosomalen Aminoacyl(A)-Stelle und bewirken die Hydrolyse
verbrauch einer Peptidbindung beträgt 2 Moleküle GTP.
der Esterbindung, die die Polypeptidkette und die tRNA in der
Peptidyl(P)-Stelle verbindet. In Prokaryoten erkennt RF1 UAA
C Die E-Stelle wurde erst in den 1980er-Jahren entdeckt, nach- und UAG als Stoppcodons, wohingegen RF2 spezifisch für UAA
dem die A- und P-Stelle schon wesentlich früher beschrieben und UGA ist; der genetische Code für Mitochondrien und
wurden. Die E-Stelle schien zunächst nicht essenziell zu sein, Mykoplasmen ist etwas unterschiedlich und enthält kein UGA-
aber die späteren Untersuchungen machten deutlich, dass Stoppcodon. Dementsprechend enthalten sie auch nur einen RF,
die E-Stelle eine enorme Bedeutung für die Einhaltung des der dem bakteriellen RF1 entspricht. In Eukaryoten erkennt
Leserasters hat. Die E-Stelle bewirkt, dass während der Elonga- eRF1 alle drei Stoppcodons.
86 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

GDP GTP

GDP GTP

5’ 3’
GDP GDP
3 E P A
RF1/2- Peptid- RF3- RF1/2- GTP- RF3-
Bindung Freisetzung Bindung Freisetzung Hydrolyse Freisetzung
GTP

GTP

Freisetzung der tRNA und der mRNA


GDP
RRF-, EF-G- GTP-
Bindung Hydrolyse

Erklärung: 30S 50S mRNA P-Stelle Peptid


5’ 3’ tRNA

GTP
RF1/2 RF3 RRF EF-G IF3

. Abb. 3.24 Terminationsschritte der Translation bei Prokaryoten. Freisetzungsfaktoren (engl. release factors, RF) erkennen die Stoppcodons (RF1: UAA,
UAG; RF2: UAA, UGA) und besetzen die A-Stelle. RF3 bindet GTP, und nach Hydrolyse der Esterbindung zwischen der noch vorhandenen tRNA und dem Po-
lypeptid wird das fertige Protein freigesetzt. Das Ribosom zerfällt in seine Untereinheiten, die für eine neue Translationsrunde zur Verfügung stehen. Bei
diesem Schritt sind der Ribosomen-Recycling-Faktor (RRF) und der Elongationsfaktor G (EF-G) wichtig; die Anlagerung des Initiationsfaktors 3 (IF3) führt
zur Freisetzung der letzten tRNA. (Nach Ramakrishnan 2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Die Klasse-II-RFs sind GTPasen und stimulieren die nung der 5’-Kappe erfolgt durch einen Komplex, dessen essen-
Klasse-I-Aktivität; damit wird der Abbau der mRNA abhängig zielle Komponenten die beiden Proteine Dcp1 und Dcp2 sind
von der Verfügbarkeit von GTP. In Eukaryoten ist eRF3 der ent- (engl. decapping protein); dabei ist wohl Dcp2 die katalytische
sprechende Klasse-II-Faktor. Die GTP-Hydrolyse ist notwendig, Untereinheit. Nach der Entfernung der Kappe wird die mRNA
um die eRF1-Erkennung des Terminationssignals der mRNA mit durch die 5’→3’-Exonuklease Xrn1 abgebaut. Im alternativen Fall
der effizienten Freisetzung der Peptidkette zu verbinden. Die werden zunächst die noch verbliebenen Adenin-Reste des
eRF1-Bindung imitiert die Bindung einer tRNA an ein normales Poly(A)-Endes entfernt und das Molekül dann durch einen aus
Codon und unterscheidet dadurch ein »echtes« Stoppcodon von 10 Untereinheiten bestehenden Komplex (das Exosom) vollstän-
einem falschen. Zusätzlich zu der Wechselwirkung mit eRF1 dig abgebaut. In diesem Fall wird die Kappe am Schluss durch das
interagiert eRF3 auch mit dem Poly(A)-Bindungsprotein (PABP), Aufräum-Enzym DcpS entfernt.
das damit auch einen Einfluss auf die Termination der Transla- 1979 wurde zunächst bei Hefen durch Regine Losson und
tion und den Abbau der mRNA hat. Francois Lacroute ein interessanter Abbau-Mechanismus ent-
Üblicherweise wird der Abbau der mRNA schon mit dem deckt, der später auch bei vielen anderen Organismen gefunden
Beginn der Translation initiiert. Wie eine Streifenfahrkarte, die wurde: Wenn Mutationen dazu führen, dass in der mRNA ein
für eine bestimmte Zahl von Fahrten gültig ist, wird der Poly(A)- vorzeitiges Stoppcodon entsteht, wird diese mRNA unverzüglich
Schwanz der eukaryotischen mRNA während der Translation abgebaut. Dieser Vorgang wird im internationalen Schrifttum als
kontinuierlich verkürzt, bis eine kritische Untergrenze erreicht »nonsense-mediated decay« (NMD) bezeichnet und ist seither
ist. Bei niedrigen Eukaryoten liegt sie bei etwa 10 bis 12 A-Nuk- Gegenstand intensiver Untersuchungen. Im Kern geht es dabei
leotiden, während sie bei Metazoen auch doppelt so viele Basen um die Frage, wie die Translationsmaschinerie das »vorzeitige«
umfassen kann. Diese Verkürzung vermindert die möglichen von einem »echten« Stoppcodon unterscheidet. Viele Hinweise
Bindungsstellen für das Poly(A)-Bindungsprotein (PABP). Da- sprechen dafür, dass die strukturelle Organisation der Faktoren,
durch wird auch die Ringstruktur der translatierten mRNA ver- die in der 3’-UTR der mRNA binden, bei einem vorzeitigen
ändert, weitere Faktoren werden gebunden, die 5’-Kappe wird Stoppcodon nicht in der Lage ist, zu einer schnellen und effi-
abgebaut und der Abbau der mRNA wird eingeleitet. zienten Freisetzung des gebildeten Proteins beizutragen. Da-
Zwei funktionell redundante Mechanismen bauen die üb- durch können NMD-spezifische Faktoren an die mRNA binden,
liche mRNA ab: ein 5’→3’-Abbauweg, der die Entfernung der die Ribosomen ablösen und einen Abbau der mRNA über den
5’-Kappe zur Voraussetzung hat (engl. decapping), und ein Exo- Dpc1-Dpc2-Komplex einleiten. Dabei wird, wie oben beschrie-
som-vermittelter Abbau vom 3’-Ende her (3’→5’). Die Entfer- ben, die 5’-Kappe der mRNA entfernt; die mRNA wird ansonsten
3.4 · Translation
87 3

a Start des schnellen mRNA-Abbaus durch Auslösefaktoren

b Unterschiedliche Abbauwege

c Rückbau des NMD-Komplexes durch die UPF1-Helikase und UPF1-Dephosphorylierung

. Abb. 3.25 Modellvorstellung des mRNA-Abbaus bei einem vorzeitigen Stoppcodon. a Abweichende mRNA erlaubt UPF1 (engl. up frameshift protein), an
das freigesetzte Ribosom zu binden. Durch die anschließende Phosphorylierung von UPF1 wird ein Umbau der Proteinkomplexe an der mRNA eingeleitet;
PNRC2 (engl. proline-rich nuclear receptor coactivator 2) bindet bevorzugt an die phosphorylierte Form von UPF1. An das phosphorylierte UPF1 kann außer-
dem entweder die Endonuklease SMG6 oder SMG7 binden. b Unterschiedliche Abbauwege. Links: SMG6 schneidet die mRNA in der Nähe des vorzeitigen
Stoppcodons, und die gebildeten Fragmente werden durch Exonukleasen (Exosom) schnell weiter abgebaut. Mitte: Die Bindung von SMG7 führt zur Akti-
vierung einer 5’ൺ3’-Exoribonuklease (XRN1) und der Enzyme des Exosoms. Rechts: Abbau der 5’-Kappe durch DCP (engl. decapping complex); der weitere
Abbau der mRNA erfolgt durch eine 5’ൺ3’-Exoribonuclease (XRN1). c Zum Abbau des 3’-Fragments der RNA nach der endonukleolytischen Spaltung muss
der NMD(nonsense-mediated decay)-Komplex aufgelöst werden; dazu ist die UPF1-ATPase und ihre Dephosphorylierung notwendig. PP2A: Proteinphos-
phatase 2A; SMG: suppressor with morphological effect on genitalia. (Nach Schweingruber et al. 2013, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

vom 5’-Ende her abgebaut. Eine schematische Darstellung dazu komplex gebildet, um den offenen Leserahmen zu markieren
gibt . Abb. 3.25. (engl. exon-junction complex, EJC). Während der ersten Trans-
Eine wichtige Antwort auf die Frage nach dem Unterschied lationsrunde werden die EJCs von den Ribosomen verdrängt. Im
zwischen einem »vorzeitigen« und einem »echten« Stoppcodon Falle eines »vorzeitigen« Stopps bleiben aber noch EJCs an der
finden wir bei der genauen Analyse des Spleißvorgangs. Wenn mRNA hängen und markieren diese damit als »defektes« Tran-
das Spleißosom ein Intron entfernt, wird am Transkript 20 bis 24 skript. Dadurch wird der enzymatische Abbau-Prozess in Gang
Nukleotide oberhalb der Exon-Exon-Verbindung ein Protein- gesetzt.
88 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

*Dieser Mechanismus sagt aber voraus, dass ein vorzeitiges


Stoppcodon, das etwa 50 bp oberhalb des echten Stopp-
5S (einheitlich etwa 120 Nukleotide). Zusätzlich wird in Droso-
phila-Ribosomen noch ein 2S-rRNA-Molekül eingebaut. Die
codons erscheint, die entsprechende mRNA zum Abbau frei- Zahl von Nukleotiden in diesen RNA-Molekülen schwankt in-
geben sollte. Dies geschieht aber nicht in allen Fällen – nerhalb der Eukaryoten erheblich. So kann »28S«-rRNA zwi-
offensichtlich ist der Ablauf noch deutlich komplizierter schen 25S und 28S (4000 bis 5000 Nukleotide) variieren und
(Brogna und Wen 2009). »18S«-rRNA zwischen 16S und 19S (im Mittel 2000 Nukleotide).
3 Mithilfe von Hybridisierungsexperimenten der verschiede-
> Die Termination einer Polypeptidkette erfolgt am Stopp- nen RNA-Fraktionen konnte man die ersten Aufschlüsse über
codon der mRNA. Hierbei sind Terminationsfaktoren die molekulare Feinstruktur der ribosomalen DNA gewinnen,
beteiligt. Der Abbau der mRNA erfolgt enzymatisch vom die man aus Xenopus-DNA isoliert hatte. Gene für die 5,8S-, 18S-
5’- und 3’-Ende aus. Bei Vorliegen eines »vorzeitigen« und 28S-rRNA findet man eng gekoppelt, äquimolar und in je-
Stoppcodons wird die mRNA in der Regel vorzeitig abge- weils mehreren Kopien auf einem einzigen DNA-Molekül, wenn
baut (nonsense-mediated decay). man ausreichend lange Stücke der DNA isoliert. Zwischen diesen
RNA-codierenden Abschnitten liegen jedoch noch andere DNA-
Bereiche mit höherem GC-Gehalt, die zu keiner der ribosomalen
3.5 RNA-codierende Gene RNA-Fraktionen komplementär und nur teilweise in den Trans-
kripten enthalten sind. Sie besitzen offenbar die Funktion,
3.5.1 5,8S-, 18S- und 28S-rRNA-Gene die einzelnen ribosomalen Gene voneinander zu trennen (engl.
intergenic spacer, IGS). In der DNA sind die einzelnen Gene ab-
C Ribosomale Gene waren die ersten eukaryotischen Gene, wechselnd in vielen Kopien als hintereinanderliegende Blöcke
die molekular analysiert wurden. Ausgangspunkt war die angeordnet; innerhalb eines Blocks (engl. repeat unit oder rDNA-
Beobachtung, dass bestimmte Mutanten des Krallenfrosches repeat) sind die 5,8S-, 18S- und 28S-rRNA-Gene in jeweils
Xenopus laevis unter ihren Nachkommen 25 % lebensun- gleicher Reihenfolge zu finden. Bei den Verbindungselementen
fähige Kaulquappen aufwiesen, während weitere 50 % der unterscheidet man nach ihrem Transkriptionsverhalten nicht-
Embryonen nur einen anstelle von zwei Nukleoli besaßen. transkribierte (NTS) und transkribierte Elemente (engl. external
Diese Befunde deuteten darauf hin, dass es sich um eine transcribed spacer, ETS). In . Abb. 3.26a ist diese Anordnung
heterozygote Defizienz des Nukleolus in beiden Eltern han- bei verschiedenen Organismen dargestellt. Mit Ausnahme von
deln könnte. Eine solche genetische Konstitution spaltet S. cerevisiae ist die 5S-rRNA nicht mit den drei übrigen riboso-
erwartungsgemäß in je 25 % Homozygote (mit und ohne malen RNA-Genen verbunden; ihr ist deshalb ein eigenes
Nukleolus) und 50 % Heterozygote auf. Der Tod von 25 % der Unterkapitel gewidmet. Die prokaryotischen rRNA-Gene wer-
Nachkommen konnte durch eine homozygote Defizienz des den aufgrund ihrer typischen bakteriellen Genstruktur im
Nukleolus erklärt werden. Diese Beobachtungen beweisen, 7 Abschn. 4.5.4 besprochen.
dass der Nukleolus eine lebenswichtige Funktion in der Zelle Es ist funktionell verständlich, dass von den rRNA-Genen
wahrnehmen muss, und Hugh Wallace und Max Birnstiel mehr als eine Genkopie benötigt wird, da große Mengen an ribo-
zeigten 1966 durch Hybridisierungsexperimente, dass der somaler RNA zur Deckung des Bedarfs an Ribosomen erfor-
Verlust der Nukleoli mit dem Verlust von ribosomaler DNA derlich sind. Die Sequenzidentität der vielen Genkopien wirft
gekoppelt war. aber die Frage auf, wodurch verhindert wird, dass diese sich all-
mählich durch Mutationen verändern und dass auf diese Weise
Wir haben in 7 Abschn. 3.4 gesehen, dass die Ribosomen der Ort eine Sequenzheterogenität innerhalb der Genfamilie entsteht.
der Proteinbiosynthese (Translation) sind, an dem sich die ver- Umgekehrt stellt sich – angesichts der beträchtlichen evolutio-
schiedenen Komponenten (mRNA, tRNA) treffen und die Ver- nären Ähnlichkeit der codierenden Regionen – die Frage, wie
knüpfung der Aminosäuren vermittelt wird. Da ribosomale RNA sich eine solche (in sich sequenzhomogene) Genfamilie im
ein struktureller Bestandteil der Ribosomen ist, kann es nicht Laufe der Evolution in eine sequenzveränderte, aber in sich eben-
überraschen, dass ein Verlust des Nukleolus, also möglicherweise falls homogene Genfamilie umwandeln kann.
aller Gene, die für rRNA codieren, letal sein muss, wie es in Als Erklärung sind zwei verschiedene Möglichkeiten vor-
den zuvor erwähnten Xenopus-Embryonen beobachtet wurde. stellbar. Einerseits könnte eine solche Genfamilie bei jeder indi-
Etwa 90 % der zellulären cytoplasmatischen RNA befindet sich viduellen Ontogenese durch ein Stadium gehen, in dem nur noch
als struktureller Bestandteil in den Ribosomen (. Abb. 3.21). Die eine einzige Kopie vorhanden ist. Diese wird dann amplifiziert,
Gene für diese ribosomale RNA liegen in den Nukleolusorgani- um die Genfamilie für den betreffenden Organismus neu aufzu-
sator-Regionen (NORs) der Chromosomen (. Abb. 6.5). bauen. Solche Vermehrungsmechanismen sind bei Eukaryoten
Die Untersuchung von Ribosomen hatte ergeben, dass sie vorhanden (7 Abschn. 9.3.3). Einem teilweise vergleichbaren Bei-
vier verschiedene RNA-Moleküle als Strukturbestandteile ent- spiel dieser Art begegnen wir im Prinzip auch bei der Vermeh-
halten, die sich aufgrund unterschiedlicher Größen leicht unter- rung der rDNA-Kopien während der Makronukleusentstehung
scheiden lassen. Da sie zunächst durch ihre Sedimentations- in Ciliaten, wo im generativen Mikronukleus ein einziges Gen für
eigenschaften (S = Svedberg-Einheit) charakterisiert wurden, rRNA vorhanden ist (7 Abschn. 9.3.1).
erhielten sie die Bezeichnungen 28S (23S in Prokaryoten), 18S Eine Alternative hierzu könnten Korrekturmechanismen
(16S in Prokaryoten), 5,8S (einheitlich etwa 160 Nukleotide) und sein, die für eine regelmäßige Sequenzangleichung der verschie-
3.5 · RNA-codierende Gene
89 3

E. coli . Abb. 3.26 rRNA-Gene. a Molekulare Struk-


(verstreut angeordnet) turen von rRNA-Genen in verschiedenen Orga-
nismen; im Gegensatz zu den meisten Eukaryo-
16S 23S 5S 16S 23S 5S ten sind bei Hefen die Gene für die 5S-rRNA im
Gesamtcluster enthalten. NTS: nicht-transkri-
biertes Zwischenstück (engl. non-transcribed
Hefe spacer). b Zusammenhang zwischen Nukleolus,
(hintereinander angeordnet) sekundärer Einschnürung, NOR und ribosoma-
len RNA-Genen. Typischerweise ist nur ein Teil
18S 5.8S 25S 5S 18S 5.8S 25S 5S der rRNA-Gene in der Nukleolus-organisie-
renden Region (NOR) aktiv; anschließende
Transkription durch RNA-Polymerase I und
Weiterverarbeitung der Vorläufer-rRNA bewirkt
Säuger die Bildung des Nukleolus. In der Metaphase
(gebündelt angeordnet) (7 Abschn. 5.2) verursachen die rRNA-Gene,
die während der vorangehenden Interphase
18S 5.8S 28S NTS 18S 5.8S 28S (7 Abschn. 5.2) aktiv waren, wegen der dauer-
haften Bindung von Transkriptionsfaktoren die
Bildung einer sekundären Einschnürung. Diese
5S (gebündelt) ist so weit dekondensiert, dass sie mit den
5S Standard-Mikroskopiertechniken als unsicht-
a
bar erscheint. Innerhalb der NORs sind die
hintereinander angeordneten rRNA-Gene durch
Chromosom mit NOR in Zwischenstücke voneinander getrennt; diese
der Metaphase
Bereiche enthalten üblicher weise mehrere Wie-
Nukleus derholungssequenzen und den Promotor des
rRNA-Gens (der Transkriptionsstart ist mit +1
angegeben). Der transkribierte Bereich umfasst
Centromer sowohl externe Sequenzen (engl. external
transcribed sequence, ETS) als auch zwei interne
Nukleolus Sequenzen (engl. internal transcribed sequences,
ITS), die die 18S-, 5,8S- und 25S-rRNA-Sequen-
sekundäre Einschnürung zen voneinander trennen. Daher sind vielfältige
Weiterverarbeitungsschritte nötig, um aus dem
einen Primärtranskript schließlich die verschie-
denen strukturellen RNAs herzustellen. (a nach
Srivastava und Schlessinger 1991; b nach Preuss
und Pikaard 2007, beide mit freundlicher Ge-
Hunderte bis Tausende rRNA-Gene, hintereinander angeordnet nehmigung von Elsevier)

+1
25S 18S 5.8S 25S
Wiederholungseinheiten Promotor ETS ITS1 ITS2
b Zwischenstück

denen rDNA-Kopien sorgen. Einer der bekannten zellulären Regionen (NORs) die Eigenschaft haben, eine sekundäre
Mechanismen, dem eine solche Funktion zufallen könnte, ist die Konstriktion zu bilden (7 Abschn. 5.1.5), lassen sich die rRNA-
Rekombination zwischen den Tandemkopien in beiden Schwes- Gene leicht in den Chromosomen lokalisieren. Hierdurch
terchromatiden. Dass solche Rekombinationsereignisse zwi- und aus in-situ-Hybridisierungsexperimenten wissen wir,
schen verschiedenen Wiederholungseinheiten vorkommen, dass die Anzahl von NORs im Genom verschiedener Orga-
zeigt . Abb. 3.27a. nismen sehr variabel ist. Während Drosophila melanogaster
zwei NORs, je eine in jedem Geschlechtschromosom, besitzt,
> Die Gene für 28S-, 18S- und 5,8S-rRNA findet man als
findet man in Drosophila hydei drei, eine im X- und zwei im
wiederholte Gengruppen hintereinander in der DNA. Die
Y-Chromosom, und im menschlichen Genom gibt es fünf
wiederholten Gengruppen sind durch Zwischenelemente
NORs (auf den Autosomen 13, 14, 15, 21 und 22). In Xenopus
voneinander getrennt.
laevis hingegen ist eine einzige NOR in Chromosom 12 zu
Direkt im Zusammenhang mit der Frage der Sequenzidentität finden, und die Hefe Saccharomyces cerevisiae hat ebenfalls
der multiplen Gene steht die Frage nach der Kontrolle ihrer eine einzige chromosomale Region für rDNA in Chromosom 12
Anzahl. Bei allen Eukaryoten sind einige Hundert ribosomale (die rDNA-Gene umfassen etwa 60 % des gesamten Chro-
RNA-Gene vorhanden (. Tab. 3.3). Da Nukleolusorganisator- mosoms 12).
90 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

a
. Tab. 3.3 Anzahl ribosomaler RNA-Gene bei verschiedenen
Eukaryoten

Art Anzahl (haploid: n, diploid: 2n)

Saccharomyces cerevisiae 140 (n)


3 Tetrahymena thermophila 1 (n) im Mikronukleus, ca. 104
im Makronukleus

Acetabularia mediterranea 1900 (n)

Vicia faba 9500 (n)

Drosophila melanogaster 150 (ᄝ), 250 (ᄛ), (2n)

Xenopus laevis 800 (2n)

Homo sapiens 560 (n)

b C Ganz offensichtlich gibt es Regulationsmechanismen, die


die Anzahl der rDNA-Kopien im Genom annähernd kon-
stant halten. Besonders deutlich wird das in Experimenten
an »bobbed«(bb)-Mutanten von Drosophila, die durch
Ferruccio Ritossa und Sol Spiegelman (1965) als Defizienz-
c
mutanten für ribosomale DNA erkannt worden sind. Dele-
tiert man rDNA bis zu einem Minimum von etwa 30 Kopien,
so zeigen die Individuen in zunehmendem Ausmaß allge-
meine morphologische Defekte. Diese beginnen mit einer
Verkürzung der Borsten auf dem Scutellum und reichen
d bei starken bobbed-Effekten (d. h. wenig rDNA) bis zu einem
stark deformierten Abdomen. Die Anzahl vorhandener
rDNA-Kopien korreliert dabei direkt mit der Stärke des
bobbed-Phänotyps. Unterhalb einer Zahl von etwa 30 Kopien
reicht die Anzahl der rRNA-Gene nicht mehr aus, um lebens-
fähige Individuen entstehen zu lassen.

e Häufiger – und leichter – als eine Reduktion der Anzahl von


rDNA-Kopien in bestimmten Zellen lässt sich das Gegenteil,
eine Überrepräsentation ribosomaler RNA-Gene beobachten,
. Abb. 3.27 Veränderungen der Kopienzahl von rRNA-Genen. a Rekombi-
die man als Amplifikation bezeichnet. Die Oocyten vieler Am-
nation zwischen den Wiederholungseinheiten reduziert die Kopienzahl:
In diesem Fall gehen acht Wiederholungselemente verloren. b Für das Re-
phibien besitzen eine große Anzahl (je nach Art 600 bis 1000)
plikations-abhängige Amplifikationsmodell sind drei Kopien von 150 ge- extrachromosomaler Nukleoli. Im reifen Zustand der Oocyten
zeigt. In diesem Modell startet die Replikation an einem der rARS (rARS-2; liegt die DNA dieser extrachromosomalen Nukleoli bei Xenopus
ARS: autonom replizierende Sequenz) bidirektional. c Die nach rechts lau- laevis kappenförmig der Kernmembran an. Extrachromosomale
fende Replikationsgabel wird an der Replikationsgrenze gestoppt (engl.
Nukleoli enthalten ringförmige DNA-Moleküle, die sich als
replication fork boundary, RFB; Fob1: Gensymbol für fork blocking less); dieser
Stopp bewirkt einen Doppelstrangbruch (DSB, Schere). d Der Einzelstrang
Kopien der chromosomalen ribosomalen DNA erwiesen. Die
drängt sich in einen homologen Schwesterchromatidenstrang ein und gesamte Menge an extrachromosomaler rDNA, die in einer
bildet eine neue Replikationsgabel. e Die neue Replikationsgabel trifft sich Oocyte gebildet wird, ist außerordentlich groß. Ein repliziertes
mit der sich nach links bewegenden Replikationsgabel und bildet zwei Genom (4C) von X. laevis enthält 0,02 pg DNA, während eine
Schwesterchromatiden; eine davon bildet eine zusätzliche Kopie von rDNA,
Oocyte 25 pg DNA enthält. Die Menge an DNA in diesen Zell-
angedeutet durch die gestrichelte Linie. (Nach Kobayashi 2006, mit freund-
licher Genehmigung der Japanischen Gesellschaft für Genetik)
kernen ist damit auf das 1000-fache der Menge an DNA eines
normalen diploiden Kerns angewachsen. Dies ist erforderlich,
um den Ribosomenbedarf des sich entwickelnden Eis zu decken.
Sie gehen während der meiotischen Teilungen verloren, sodass
in der Eizelle wieder ein normaler haploider Satz an rDNA vor-
handen ist.
Dass es sich bei der Amplifikation ribosomaler DNA bei
Xenopus um keine Ausnahmeerscheinung handelt, beweisen
Befunde bei einer Reihe von Insekten, bei denen man in den
Oocyten ebenfalls extrachromosomale DNA findet, die durch
3.5 · RNA-codierende Gene
91 3

a b c

. Abb. 3.28 Modell der Transkriptions-induzierten rDNA-Amplifikation. a Im Wildtyp reprimiert Sir2p (eine Histon-Deacetylase; engl. silent mating type
information regulator) die Aktivität des EXP-Promotors (E-pro), und erlaubt damit Cohesin, mit den IGS (engl. intergenic spacer) zu assoziieren. b Wenn
die Sir2p-Repression wegfällt, ist E-pro aktiv und dessen Transkription entfernt Cohesin (Ringe) von den IGS. Das Fehlen von Cohesin ermöglicht es, dass
ungleiche Schwesterchromatiden als Matrize für die Reparatur des Doppelstrangbruchs genutzt werden können und Veränderungen in der Kopienzahl
die Folge sind (. Abb. 3.29). c Doppelstrangbrüche können auch durch intrachromosomale Rekombination repariert werden. In diesem Fall erscheint ein
zusätzlicher rDNA-Ring (ERC). Die Striche repräsentieren einzelne Chromatiden (doppelsträngige DNA). Die IGS mit passierender Replikationsgabel sind in
den Klammern dargestellt. (Nach Kobayashi 2006, mit freundlicher Genehmigung der Japanischen Gesellschaft für Genetik)

Amplifikation aus der chromosomalen rDNA entsteht. Diese > Die Anzahl und Lage der rDNA-Kopien im Genom
extrachromosomale rDNA wird oft in Form auffälliger, stark variiert in verschiedenen Organismen beträchtlich. Es
färbbarer DNA-Körperchen (engl. DNA bodies) gefunden. Klas- ist jedoch stets mehr als ein Gen vorhanden. Eine
sische Beispiele hierfür sind die nach ihrem Entdecker genann- starke Abnahme an rDNA im Genom eines Organismus
ten Giardina-Bodies (Giardina 1901) in den Oocyten von führt zu vielfältigen (pleiotropen) Effekten und schließlich
Schwimmkäfern der Familie Dytiscidae (Gelbrandkäfer) und die zur Letalität, sobald eine Mindestanzahl von Genkopien
DNA-Körperchen in Oocyten des Heimchens Achaeta domes- unterschritten wird.
ticus (Cave und Allen 1969).

*Bei Hefen diskutiert Kobayashi (2006) ein Modell, das von


verschiedenen Möglichkeiten einer unterbrochenen
Wie wir oben gesehen haben (. Abb. 3.26), liegen bei Eukaryoten
die Gene der 18S-, 5,8S- und 28S-rRNA dicht beieinander. An
dieser DNA wird ein primäres Transkript (engl. pre-rRNA) syn-
Replikation der Wiederholungselemente (. Abb. 3.27) bzw.
thetisiert, das vor dem für die 18S-rRNA codierenden Abschnitt
Störungen bei deren Transkription (. Abb. 3.28) ausgeht.
der DNA beginnt und bis hinter das 3’-Ende der 28S-rRNA
Das Muster ist dabei relativ ähnlich: Es entstehen Doppel-
reicht; es entsteht eine 40–41S-Vorläufer-rRNA. Der Beginn des
strangbrüche, die unter anderem dadurch repariert werden
Zusammenbaus des Ribosoms erfolgt schon während der Tran-
können, dass sich der freie Strang an den ungleichen
skription der rRNA-Gene und führt zu einem 90S-»Vorläufer-
Schwesterstrang anlagert und dadurch zur Bildung zusätz-
Ribosom«. Der Bereich zwischen dem 3’-Ende dieses primären
licher Wiederholungseinheiten beiträgt. Eine wichtige
Transkripts und dem Beginn der nächsten Transkriptionseinheit
Rolle spielt dabei ein cis-Element, das offensichtlich für kein
(d. h. der folgenden DNA-Wiederholungseinheit) wird als nicht-
Protein codiert.
transkribiertes Zwischenstück bezeichnet (engl. non-transcribed
spacer, NTS). Da der Beginn der Transkriptionseinheit noch
nicht zur 18S-rRNA gehört, wird er auch als externes transkri-
92 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

. Abb. 3.29 Transkription von rDNA in Xenopus-Oocyten.


a Diese Analyse zeigt das hohe Auflösungsvermögen der Miller-
P Spreitungstechnik. Es werden Einzelheiten des Transkriptions-
mechanismus erkennbar, die biochemisch nur schwer nachweis-
bar sind. Oben ist die normale Transkription dargestellt. In der
T1 / T2 T3 Mitte sieht man eine falsche Termination (erst an T3). Im unteren
Bild erfolgt eine falsche Initiation an P’. b Es sind die einzelnen
3 P
Schritte der weiteren Bearbeitung des primären Transkripts dar-
gestellt. (a nach Meissner et al. 1991, mit freundlicher Genehmi-
gung von Springer)

T1 / T2 T3
P P

a T1 / T2 T3

biertes Zwischenstück (engl. external transcribed spacer, ETS) C Innerhalb des NTS befinden sich vor dem 5’-Ende des ETS
bezeichnet, dem der Bereich zwischen 18S- und 28S-rRNA als zwei zusätzliche Promotorregionen (P’) neben derjenigen am
internes transkribiertes Zwischenstück (engl. internal transcribed 5’-Ende des ETS (P), die durch ihre DNA-Sequenzhomologie
spacer, ITS) gegenübersteht. ermittelt wurden. Durch Miller-Spreitungen lässt sich zeigen,
Die Synthese ribosomaler RNA in Eukaryoten erfolgt durch dass in diesen Bereichen tatsächlich gelegentlich eine Initia-
ein spezielles Enzym, die RNA-Polymerase I, die ausschließlich tion der Transkription erfolgt (. Abb. 3.29a). Andererseits
diese Gene transkribiert. Im Gegensatz zu anderen Genen ist enthält der NTS auch drei Terminationssequenzen für die
die Promotor-DNA-Sequenz, die die RNA-Polymerase I zur Transkription. Zwei dieser Sequenzen (T1, T2) liegen nahe des
Bindung und Initiation der Transkription benötigt, sequenz- 3’-Endes der 28S-rRNA-Sequenz, die dritte (T3) liegt weit
mäßig nicht gut definierbar. Vergleicht man die rDNA-Pro- innerhalb des NTS, nur 215 bp vor dem Beginn des Promotors
motorregionen bei verschiedenen Organismen, so lässt sich P, unmittelbar vor dem ETS der folgenden rDNA-Wiederho-
keine Consensussequenz feststellen. Vielmehr ist der gesamte lungseinheit. In 99 % aller Transkriptionseinheiten erfolgt die
Sequenzkontext in einem Bereich von etwa 40 Nukleotiden Initiation am Promotor (P) und die Termination am Termina-
oberhalb (−40) bis zu etwa 10 Nukleotiden (+10) nach dem tionssignal T2, das sich nur 235 bp unterhalb des Endes der
Initiationscodon (+1 bis +3) für die Initiation der Transkrip- 28S-rRNA-Region befindet.
tion wichtig. Möglicherweise sind aber auch noch weitere
Sequenzen oberhalb des Transkriptionsstarts für die Initiation > Die Transkription eukaryotischer rDNA erfolgt durch die
der Transkription bedeutsam. Eine völlig offene Frage ist zu- RNA-Polymerase I. Innerhalb der rDNA-Wiederholungs-
dem, ob die Initiation der Transkription in der G1-Phase an einheiten sind mehrere Promotorsequenzen vorhanden,
jedem rDNA-Wiederholungselement willkürlich beginnen die im Gegensatz zur evolutionären Konservierung der
kann, oder ob sie am Promotor (P, . Abb. 3.26a, Mitte) des ersten rRNA-Sequenzen bei verschiedenen Organismen keine
rDNA-Wiederholungselementes beginnt und sich von hier Ähnlichkeit in der Nukleotidsequenz erkennen lassen.
aus in die weiteren Wiederholungselemente fortsetzt. Elektro- Sowohl Initiation als auch Termination der Transkription
nenmikroskopische Bilder sprechen für die letztgenannte Alter- erfolgen überwiegend jeweils an einem bestimmten
native. Promotor- bzw. Terminationssignal.
3.5 · RNA-codierende Gene
93 3
Durch Spleißen (engl. splicing; 7 Abschn. 3.3.5) wird das primäre mit dem Intron transkribiert, und das Intron wird durch
Transkript in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten zer- Spleißen des primären Transkripts entfernt. Bei Drosophila
schnitten, bis die im Ribosom enthaltenen rRNA-Moleküle übrig bleiben jedoch rRNA-Gene, die ein Intron besitzen, inaktiv
bleiben. Dieses Zerschneiden des Primärtranskripts erfolgt bei oder ihre Transkription bricht am Beginn des Introns ab.
Eukaryoten unmittelbar nach der Transkription im Zellkern. Der In Drosophila gibt es zwei verschiedene Intron-Typen (Typ I
Verarbeitungsmechanismus dieser Vorläufer-rRNA ist relativ gut und II), die ganz unterschiedliche DNA-Sequenzen besit-
untersucht. An ihm ist neben der Ribonuklease III, die innerhalb zen und zu Familien transponierbarer Elemente gehören
einer intramolekularen Doppelstrangregion der primären Tran- (7 Abschn. 9.1).
skripte angreift und die 18S-rRNA und 28S-rRNA herausschnei-
> An der Verarbeitung primärer Transkripte bei Eukaryoten
det (. Abb. 3.29b), eine Reihe anderer Enzyme beteiligt. Die
sind kleine RNA-Moleküle (snRNAs) beteiligt. Sie sind mit
endgültige Größe der Moleküle wird unter Anlagerung ribo-
Proteinen zu Ribonukleoproteinpartikeln (RNPs) vereinigt.
somaler Proteine bereits während der Transkription durch wei-
Manche rDNA-Wiederholungselemente besitzen inner-
tere nukleolytische Enzymaktivitäten erzielt. Dabei scheint eine
halb der 28S-rRNA-Region ein Intron. Solche Introns wer-
Methylierung von Basen in den funktionellen rRNA-Bereichen
den in vielen Organismen durch Spleißen aus dem primä-
von grundlegender Bedeutung zu sein, die bereits kurz nach der
ren Transkript entfernt.
Synthese der RNA erfolgt. Ausgiebig untersucht wurde dieser
Prozess in HeLa-Zellen, einer menschlichen Tumorzelllinie. In
HeLa-Zellen werden die Endprodukte, also 5,8S-, 18S- und 28S- C Die molekulare Analyse der rDNA in Tetrahymena hat
einen molekularen Mechanismus von grundlegender
rRNA, im primären Transkript (40–41S-Vorläufer-rRNA) zu-
Bedeutung aufgedeckt. Das in der 28S-rRNA enthaltene
nächst vorwiegend (zu 80 %) an den 2’-OH-Gruppen der Ribose
Intron ist imstande, sich selbst, ohne einen Beitrag von
und in geringerem Umfang (zu etwa 20 %) an ihren Basen me-
Proteinen, aus dem primären Transkript herauszuschnei-
thyliert. Offenbar beschützen diese Methylgruppen die betref-
den. Damit wurde deutlich, dass nicht nur Proteine,
fenden Molekülbereiche gegen die an der Weiterverarbeitung
sondern auch Nukleinsäuren katalytische Funktionen
beteiligten Endonukleasen. Die Bedeutung einer anderen gele-
übernehmen können. Eine solche Feststellung ist für evo-
gentlichen Modifikation von Basen innerhalb der rRNA, die Sub-
lutionäre Überlegungen entscheidend. Geht man davon
stitution von Uridin durch Pseudouridin, ist unbekannt. Etwas
aus, dass Nukleinsäuren die Ausgangsmoleküle bei der
tiefere Einsicht hat man bei Hefen erzielt, bei denen zumindest
Entwicklung des Lebens waren, so muss man deren Funk-
acht aufeinanderfolgende Spleißereignisse bis zur endgültigen
tionsfähigkeit hinsichtlich ihrer Replikation, aber auch zur
Struktur der rRNA-Moleküle durchlaufen werden müssen.
Synthese anderer Nukleinsäuren und Proteine erklären
> Die Verarbeitung der Vorläufer-rRNA in Eukaryoten erfolgt können. Für beide Prozesse aber sind Enzyme unentbehr-
in mehreren Schritten. Dabei spielen Methylierungen lich, da sie wichtige katalytische Aufgaben bei der Synthese
an Basen und an der Ribose in bestimmten Regionen des von Polymeren übernehmen. Die autokatalytischen Fähig-
Moleküls eine Rolle beim Schutz gegen nukleolytischen keiten der rRNA beweisen, dass solche katalytischen Funk-
Abbau. tionen im Prinzip nicht nur von Proteinen, sondern auch
von Nukleinsäuren übernommen werden können. Damit ist
Bei der Weiterverarbeitung der Vorläufer-rRNA in Eukaryoten
es nicht notwendig, für die ersten Prozesse bei der Entste-
spielen auch zusätzliche RNA-Moleküle eine Rolle, z. B. snRNA-
hung lebender Materie die Existenz von proteinartigen
Moleküle (engl. small nuclear RNA). Sie sind universelle RNA-
Katalysatoren zu fordern. Vielmehr könnten deren Aufga-
Komponenten des Zellkerns und im Allgemeinen mit Proteinen
ben wohl ursprünglich von Nukleinsäuren versehen wor-
zu Ribonukleoproteinpartikeln (snRNP) verpackt. Von ihnen
den sein.
wird die U3-snRNA-Fraktion, ebenso wie U8-snRNA und U13-
snRNA, in hoher Konzentration in Nukleoli gefunden. Die üb- Eine wichtige Frage ist, inwieweit die verschiedenen rDNA-Ko-
rigen snRNAs befinden sich als snRNPs im Nukleoplasma. Auch pien im Genom überhaupt transkribiert werden und ob sie viel-
die U3-snRNA ist im Allgemeinen an Ribonukleoproteinpartikel leicht in verschiedenen Zelltypen differenziell reguliert werden.
(RNPs) gebunden, die erforderlich sind, um die ersten Verarbei- Hinweise darauf, dass die Initiationsfrequenz der RNA-Poly-
tungsschritte am 5’-Ende des primären Transkripts auszuführen. merase I stark variiert, gibt es aus Miller-Spreitungsexperimen-
Wahrscheinlich hat sie weitere Aufgaben in späteren Schritten, ten nicht. Viele Spreitungsversuche wurden an Keimbahnzellen
die die Entfernung des ITS zur Folge haben (. Abb. 3.29b). ausgeführt, und es spricht alles dafür, dass in diesen Zellen die
überwiegende Mehrheit der rDNA-Kopien aktiv ist. Umgekehrt
C Obwohl der generelle Aufbau und die Transkription der gibt es jedoch Zelltypen, in denen Miller-Spreitungsexperimente
ribosomalen DNA bei allen Eukaryoten vergleichbar sind, an rDNA nicht besonders erfolgreich verlaufen. Wahrscheinlich
gibt es einige Unterschiede, die sich nicht auf die nicht- liegt die Ursache darin, dass hier nur ein kleiner Teil der vorhan-
transkribierten Regionen beschränken. Der wichtigste Struk- denen rDNA-Gene aktiv ist und diese damit nur schwer auf-
turunterschied betrifft die 28S-rDNA-Region einiger rDNA- findbar sind. Dafür sprechen auch ultrastrukturelle Studien
Repeats. In Drosophila – und vielen anderen Organismen – von Nukleoli, die zeigen, dass die Anteile an fibrillären Zentren,
kann die 28S-rDNA Introns besitzen, die die Kontinuität der dichten fibrillären Komponenten und granulären Komponenten
28S-rRNA unterbrechen. In den meisten Fällen werden Gene in verschiedenen Zelltypen unterschiedlich sind.
94 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

C Ein seit Langem bekanntes Phänomen der Transkription region der 5S-rRNA-Gene war, dass diese Region innerhalb
ribosomaler DNA ist die Erscheinung der nukleolären des RNA-codierenden DNA-Bereichs (engl. internal control
Dominanz (engl. nucleolar dominance). Mit diesem Begriff region) liegt. Durch Deletionsversuche an einem isolierten
wird angedeutet, dass unter bestimmten experimentellen somatischen 5S-rRNA-Gen und anschließende Expression
Bedingungen nicht die gesamte zelluläre rDNA transkribiert durch Injektion in Xenopus-Oocyten gelang es, die für die
wird, sondern dass nur einzelne von mehreren Nukleoli akti- Regulation verantwortlichen DNA-Sequenzen festzulegen.
3 viert werden. Der am besten untersuchte Fall einer nukleo- Man kann einerseits alle flankierenden DNA-Sequenzen im
lären Dominanz liegt in Hybriden zwischen Xenopus borealis 5’- und 3’-Bereich entfernen, ohne die Transkription zu un-
und X. laevis vor. In solchen Hybriden sind in der frühen terbinden, andererseits aber durch Deletionen ausschließ-
Entwicklung ausschließlich die ribosomalen Gene aktiv, die lich im Bereich +50 bis +68 jegliche Transkription verhin-
dem Genom von X. laevis zugehören, während rDNA des dern. Dieser Bereich lässt sich in weitere funktionelle Unter-
X. borealis-Genoms inaktiv bleibt. Vermutlich sind für diese abschnitte aufgliedern. Erst durch neuere Untersuchungen
differenzielle Aktivierung der X. laevis-rDNA die Nukleotid- haben sich die Anzeichen gemehrt, dass auch DNA-Sequen-
sequenzen in der NTS-Region verantwortlich. Die NTS-Be- zen im 5’-Bereich der Gene für die Regulation eine Bedeu-
reiche beider Xenopus-Arten weichen in ihrer Nukleotid- tung haben.
sequenz erheblich voneinander ab, während die rRNA-co-
dierenden Bereiche praktisch identisch sind. Die Xenopus- Die Termination der Transkription erfolgt in einer T-reichen
Arten unterscheiden sich in ihren NTS-Bereichen durch die Region des Gens, die von einem GC-Bereich umgeben ist. Die
Zahl der Enhancer (engl. enhancer imbalance) und wahr- während der Transkription entstehenden Poly(U)/Poly(dA)-
scheinlich auch hinsichtlich der Signalsequenzen für die Hybridabschnitte sind relativ instabil und führen zum Abbruch
RNA-Polymerase I. Damit kann das Phänomen bei Xenopus der Transkription.
hinreichend erklärt werden.
> Bei Xenopus gibt es zwei Arten von 5S-rRNA-Genen, von
denen eine nur in den Oocyten aktiv ist und die andere
somatisch exprimiert wird. Die 5S-rRNA wird durch die
3.5.2 5S-rRNA-Genfamilie
RNA-Polymerase III transkribiert. Eine Nachbearbeitung
des Transkripts ist nicht nötig, da eine korrekte Termina-
Im Unterschied zu der oben besprochenen 5,8S-, 18S- und 28S-
tion am Ende des 5S-rRNA-Moleküls erfolgt und keine
rRNA-Genfamilie bilden die 5S-rRNA-Gene eine eigene Gen-
Introns vorhanden sind. Die Regulation der Transkription
familie; die 5S-rRNA-Gene von Xenopus waren die ersten euka-
der 5S-rRNA erfolgt durch eine Region innerhalb des
ryotischen Gene, die gereinigt, kloniert und sequenziert wurden.
codierenden DNA-Bereichs.
Es gibt davon zwei Typen: Die größere Familie wird in den
Oocyten von Xenopus exprimiert und besteht aus ca. 20.000 Ko- Eine Schlüsselfunktion in der Regulation der Transkription der
pien pro haploidem Genom; diese 20.000 Kopien sind auf Grup- 5S-rRNA-Gene nehmen drei Transkriptionsfaktoren (TFIIIA,
pen von jeweils ca. 1000 Kopien auf die meisten Chromosomen TFIIIB und TFIIIC) ein. Sie müssen sich an die interne Kon-
von Xenopus verteilt. Jede Kopie variiert in der Länge zwischen trollregion eines 5S-Gens anlagern, bevor die RNA-Poly-
650 und 850 bp; sie enthält aber immer ein aktives Gen und ein merase III in der Lage ist, die Trankription zu initiieren. Da-
Pseudogen, die durch ein AT-reiches Zwischenstück getrennt bei  wird der Transkriptionsfaktor TFIIIA im Sequenzbereich
sind. Im Gegensatz dazu liegt die zweite 5S-rRNA-Genfamilie +47 bis +85 der codierenden Region an die DNA gebunden
»nur« mit ca. 400 Kopien im haploiden Genom vor, und zwar (. Abb. 3.30).
meistens in einer Gruppe auf einem Chromosom. Diese Gruppe
von rRNA-Genen wird üblicherweise in den Körperzellen expri- C Dieses Protein ist der erste eukaryotische Transkriptions-
miert; jede Genkopie des »somatischen Typs« ist einheitlich faktor, der identifiziert und in seiner Struktur aufgeklärt
880 bp lang und besteht aus einem einzigen Gen und einem worden ist (darum TF »A«, die »III« bezieht sich auf seine
GC-reichen Zwischenstück. Funktion gemeinsam mit RNA-Polymerase III). Es handelt
Ihre Transkription erfolgt durch eine andere Polymerase als sich um ein Zink-Metalloprotein aus 344 Aminosäuren mit
die der 28S-, 18S- und 5,8S-rDNA. Es handelt sich um die RNA- einem Molekulargewicht von 38,5 kDa. Die Primärstruktur
Polymerase III, die auch für die Synthese der tRNA verantwort- dieses Proteins ist, nicht zuletzt im Kontext seiner möglichen
lich ist. Auch die RNA-Polymerase III ist ein hochmolekularer evolutionären Geschichte, besonders auffallend, denn es ist
Enzymkomplex (Mr = ca. 650.000) und besteht aus 10 bis 15 Un- im aminoterminalen Bereich aus neun Wiederholungsein-
tereinheiten. heiten aufgebaut, die drei Viertel des gesamten Polypeptids
einschließen. Die einzelnen 30 Aminosäuren langen Wieder-
C Donald Brown und Ronald Roeder ist es mit ihren Kollegen holungssequenzen sind nicht völlig identisch, wie man es
gelungen (Bogenhagen et al. 1980, Bieker et al. 1985), einen auch bei anderen Proteinen mit internen Repetitionen ihrer
Einblick in den Regulationsmechanismus zu gewinnen, der Aminosäuresequenzen beobachtet. Entscheidend für die
die differenzielle Transkription der somatischen bzw. Funktion des TFIIIA-Proteins sind jedoch Paare von Cysteinen
oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene sicherstellt. Der erste und Histidinen, die in festgelegten Positionen jeder Wieder-
überraschende Befund bei der Analyse der Regulations- holungseinheit zurückkehren. Je ein Paar von Cysteinen und
3.5 · RNA-codierende Gene
95 3

a b
. Abb. 3.30 Initiation der Transkription der 5S-rDNA. a Der Transkriptionsfaktor TFIIIA bindet zunächst unter Bildung eines instabilen Komplexes reversibel
an die Regulationsregion der DNA. Ein weiterer Transkriptionsfaktor, TFIIIC, stabilisiert diesen Komplex. Erst nach Bindung eines weiteren Transkriptions-
faktors, TFIIIB, kann die RNA-Polymerase III binden und die Transkription initiieren. Vgl. die Initiation der Transkription durch RNA-Polymerase II (. Abb. 3.8).
b Vergleich der für die Bindung von TFIIIA wichtigen Sequenzbereiche der 5S-rDNA und der 5S-rRNA. Die an der Bindung beteiligten G-reichen Nukleotid-
bereiche sind schwarz hervorgehoben. TFIIIA steht in der DNA vor allem mit dem Sinn-Strang (d. h. RNA-gleichen Strang) in Kontakt. In der RNA bindet TFIIIA
in einer Doppelstrangregion im gleichen Sequenzbereich. (Nach Bieker et al. 1985, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Histidinen innerhalb einer Wiederholungseinheit bindet zugten Transkription der somatischen 5S-rRNA-Gene, die zwi-
nach Ergebnissen der Strukturanalyse des Proteins durch schen 200- und 1000-fach über der transkriptionellen Aktivität
Atomabsorptionsspektroskopie ein Zinkion. Hierzu erfolgt der oocytenspezifischen Gene liegen kann. Dadurch weisen so-
eine Faltung des Polypeptids in neun fingerartige Domänen matische Zellen praktisch nur eine Transkription der somati-
(Zinkfinger; . Abb. 7.18). Diese Domänen treten mit der schen 5S-rRNA-Gene auf.
DNA in Kontakt, indem sie in die große Furche der DNA ein- Offenbar spielt zusätzlich die Bindung von Histon H1 eine
greifen und GG-Sequenzen im anticodierenden Strang der entscheidende Rolle in diesem Regulationsmechanismus. Iso-
DNA erkennen. Die Hauptfunktion der Zinkfingerregion ist liert man Chromatin (7 Abschn. 6.2.2) aus somatischen Zellen,
es, mit der DNA einen stabilen Komplex zu bilden. Die Tran- so sind die oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene mit H1-Histon
skription wird durch das Carboxylende des TFIIIA-Proteins assoziiert und inaktiv, während die somatischen 5S-rRNA-Gene
eingeleitet, das selbst nicht mit der DNA direkt in Kontakt als Transkriptionskomplexe ohne Histon H1 vorliegen. TFIIIA-
tritt. Es ist eine der besonderen Eigenschaften eines solchen, Bindung und Histon-H1-Verpackung haben entgegengesetzte
einmal geformten Transkriptionskomplexes, dass dieser sehr Effekte auf die Aktivität der oocytenspezifischen Gene. Nach
stabil bleibt und dadurch eine häufig wiederholte Initiation Assoziation der oocytenspezifischen Gene mit Histon H1 in
der Transkription gestattet. einer nukleosomalen Konstitution sind diese irreversibel repri-
miert. Dabei konkurriert Histon H1 wahrscheinlich positionell
Wie ist aber der Unterschied in der Transkription der oocyten- mit der Bindungsstelle von TFIIIA. Die antagonistische Rolle
spezifischen und der somatischen 5S-rRNA-Gene zu erklären? von Histon H1 zur Bindung von Transkriptionsfaktoren ver-
Der Unterschied in der Nukleotidsequenz der beiden Typen weist aber auch deutlich auf Regulationsfunktionen auf der über-
von 5S-rRNA-Genen beschränkt sich auf drei Nukleotide in der geordneten Ebene der allgemeinen Chromatinkonstitution. Da
internen Kontrollregion der 5S-rRNA-Gene. Offenbar genügt die Konzentration von TFIIIA in somatischen Zellen niedrig
dieser Unterschied, um die Bindungsaffinität zwischen DNA ist, reicht die erhöhte Bindungsaffinität für TFIIIA der somati-
und TFIIIA so zu verändern, dass hierdurch die differenzielle schen 5S-rRNA-Gene aus, um diese in einem aktiven Zustand zu
Regulation der somatischen und der oocytenspezifischen Gene halten.
erzielt wird. Die somatischen 5S-rRNA-Gene haben eine höhere Andererseits ist die Konzentration von TFIIIA in Oocyten
Affinität zu TFIIIA als die oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene. sehr hoch, sodass eine Abnahme der Transkriptionsrate in der
Das resultiert bei einer begrenzten Menge an TFIIIA-Protein in reifen Oocyte und im frühen Embryo schwer zu verstehen wäre,
der Zelle, wie sie in somatischen Zellen vorliegt, in einer bevor- wenn nicht ein weiterer Regulationsparameter hinzu käme.
96 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

Diesen finden wir in der Fähigkeit der oocytenspezifischen Situation der 5S-rDNA in Zusammenhang steht (zu Details
5S-rRNA-Moleküle, selbst auch TFIIIA zu binden. Sie bilden dieses epigenetischen Mechanismus siehe 7 Abschn. 8.1.2
7S-Ribonukleoproteinpartikel (RNP) sowie größere RNPs von und 8.1.3). Als zweiter Mechanismus wird die Existenz einer
42S, die zusätzlich noch tRNA und weitere Proteine enthalten. regulatorischen RNA diskutiert (siRNA, engl. silencing RNA;
Beide werden in nachweisbaren Mengen nur in Oocyten prä- 7 Abschn. 8.2), die möglicherweise aus einem zusätzlichen
vitellogener Entwicklungsstadien gefunden, scheinen also eine Transkript von 210 bp entsteht, das außer den üblichen
3 Speicherfunktion zu besitzen. Durch die Bindung von TFIIIA an 120 bp noch 90 bp des Spacers enthält.
5S-rRNA wird mit steigender 5S-rRNA-Konzentration in der
Zelle die Menge an freiem TFIIIA bzw. TFIIIA in Transkriptions-
komplexen reduziert, sodass ein Rückkopplungseffekt eintritt. 3.5.3 tRNA-Genfamilien
Bei steigender 5S-rRNA-Konzentration nimmt die Transkrip-
tionsrate ab. Das führt zu einer schnellen Abnahme der Tran- Im Genom von Eukaryoten ist jede tRNA in der Regel in mehreren
skription oocytenspezifischer Gene während der frühen Ent- Genkopien vertreten (im Gegensatz zu E. coli, 7 Abschn. 4.5.4).
wicklung. Die Zahl identischer Gene ist unterschiedlich, sie liegt zwischen
weniger als 10 (Hefe, z. B. tRNA für Valin mit Anticodon TAC)
> Die unterschiedliche Transkription der somatischen und
und über 1000 (1138 beim Zebrafisch: tRNA für Asparagin mit
der oocytenspezifischen 5S-rRNA-Gene beruht auf einem
Anticodon GTT) im haploiden Genom (. Tab. 3.4). Während bei
Unterschied in der Bindungsaffinität des TFIIIA zur 5S-rDNA
E. coli die rRNA- und tRNA-Gene manchmal beisammen liegen
und auf dem Titer des Transkriptionsfaktors in der Zelle.
(. Abb. 4.32), unterscheidet sich in Eukaryoten die Verteilung
Bei niedrigem Titer des Transkriptionsfaktors erfolgt die
der tRNA-Gene in den Chromosomen grundsätzlich von der-
Bindung ausschließlich an die somatischen 5S-rRNA-Gene.
jenigen der rRNA-Gene. Identische Gene liegen selten zusammen,
Das Histon H1 wirkt kompetitiv zum TFIIIA-Faktor. Da das
sondern können sich in unterschiedlichen chromosomalen Posi-
TFIIIA-Molekül auch an 5S-rRNA binden kann, wird bei
tionen befinden. Die Transkription erfolgt, wie die der 5S-rRNA
steigender 5S-rRNA-Menge ein Teil der TFIIIA-Moleküle in
und die der U6-snRNA, durch die RNA-Polymerase III. Tran-
7S-RNPs verpackt und damit der Bindung an die 5S-rRNA-
skribiert werden die Gene in eine Vorläufer-tRNA, die an-
Gene entzogen. Das führt zur Abnahme der 5S-rRNA-Syn-
schließend weiterbearbeitet wird. Einige der eukaryotischen
these in älteren Oocyten.
tRNA-Gene haben Introns. Wesentlich für das korrekte Spleißen
ist wahrscheinlich auch die besondere Sekundärstruktur der
*Ähnlich wie bei Xenopus gibt es auch bei Pflanzen unter-
schiedlich regulierte 5S-rDNA-Regionen. Haben wir bei
tRNA, die evolutionär von Prokaryoten bis zu höheren Eukaryo-
ten trotz aller Nukleotidsequenzunterschiede erhalten geblieben
Xenopus gesehen, dass die stärkste Expression während der ist (. Abb. 3.17a).
Oogenese auftritt, so beobachten wir die stärkste Expres- Die Reifung der eukaryotischen Vorläufer-tRNAs zur reifen
sion bei Arabidopsis in den Samen. Arabidopsis besitzt tRNA wurde in vielen Organismen untersucht. Die Vorläufer-
Tausende von 5S-rDNA-Genen pro haploidem Genom, die tRNAs zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl im 5’- (engl.
im pericentromeren Chromatin der Chromosomen 3, 4 und leader sequence) als auch im 3’-Bereich (engl. trailer sequence)
5 jeweils hintereinander angeordnet sind. In . Abb. 3.31 zusätzliche Sequenzen tragen. Die Abspaltung der 5’-Zusatz-
ist die Struktur der 5S-rDNA-Gene bei Arabidopsis gezeigt: sequenz erfolgt durch die Ribonuklease P (RNase P). Die RNase P
Von den insgesamt sechs Genorten sind nur zwei aktiv und besteht aus Protein und RNA, dabei ist die RNA sogar der ent-
werden von der RNA-Polymerase III abgelesen, während die scheidende Bestandteil des aktiven Enzyms und kann bei Pro-
anderen vier abgeschaltet sind. Verschiedene Mutationen karyoten die Spaltung der Vorläufer-tRNA in die aktive tRNA
in den internen Promotoren (interne Kontrollregion) verhin- auch in Abwesenheit des Proteins durchführen (7 Abschn. 3.5.4).
dern die Transkription. Die beiden aktiven 5S-rDNA-Blöcke
umfassen etwa 150 kb; jeder enthält etwa 300 5S-rDNA-
Einheiten hintereinander. Wie bei Xenopus gibt es auch in
Arabidopsis in jedem dieser beiden aktiven Blöcke zwei . Tab. 3.4 Anzahl von tRNA-Genen in verschiedenen Organismen
unterschiedliche Gruppen von 5S-rDNA-Genen, die sich in
Art Anzahl der Gene (n)
ein bis drei Substitutionen von Nukleotiden in der transkri-
bierten Region unterscheiden; die eine Gruppe repräsentiert Saccharomyces cerevisiae 286
etwa 80–85 % der Transkripte – allerdings variiert diese rela-
Arabidopsis thaliana 630
tive Häufigkeit in verschiedenen Geweben der Pflanze und
ist abhängig von ihrem Entwicklungszustand. Derzeit wer- Drosophila melanogaster 298
den zwei epigenetische Regulationsmechanismen für diese Xenopus tropicalis 2581
unterschiedliche Aktivierung bzw. Inaktivierung diskutiert:
Rattus norvegicus 406
Methylierung des Histons H3 an den Lysin-Resten 4 und
27 sowie Acetylierung am Lysin-Rest 9 charakterisieren den Homo sapiens 506
euchromatischen Zustand, während Methylierung des
Quelle: tRNA-Datenbank (http://gtrnadb.ucsc.edu; März 2015)
Histons H3 an Lysin 9 und 27 mit der heterochromatischen
3.5 · RNA-codierende Gene
97 3
. Abb. 3.31 5S-rDNA in Arabidopsis thaliana.
5S-rDNA-Einheit (500 bp)
a Struktur der 5S-rDNA-Einheiten. Oben sind
zwei nacheinander angeordnete 5S-rDNA-Ein-
heiten gezeigt. Unten ist eine 5S-rDNA-Einheit
dargestellt; das 120-bp-Transkript enthält die
interne Kontrollregion mit den Promotorele-
menten A, IE und C. Oberhalb davon befinden
sich drei Motive, die für die Transkription wich-
tig sind (an den Positionen −28, −13 und −1).
Die Region unterhalb der transkribierten Se-
quenz enthält das Poly(T)-Cluster, das als Termi-
nator dient. b Lokalisation transkribierter und
nicht-transkribierter 5S-rDNA. Die Genorte für
die 5S-rDNA (rot) befinden sich in der pericen-
tromeren Region (vergrößert dargestellt) der
Chromosomen 3, 4 und 5. Diese Regionen ent-
halten eine 180-bp-Wiederholungssequenz
(gelb) sowie andere Gene (blau). Die drei Regio-
nen auf dem Chromosom 3 und die kleine
Region auf dem Chromosom 5 werden nicht
transkribiert (durchgestrichener Pfeil). Einzig die
Regionen auf dem Chromosom 4 und die
größere Region auf dem Chromosom 5 enthal-
ten transkribierte 5S-rDNA-Gene. (Nach Douet
a und Tourmente 2007, mit freundlicher Geneh-
migung der Nature Publishing Group)

Chromosom III

Chromosom IV

Chromosom V

Die eukaryotische RNase P enthält im Gegensatz zu den Proka- > Auch tRNAs werden als Genfamilien codiert. Sie werden,
ryoten mehrere Proteinuntereinheiten, die auch für die Nuk- wie 5S-rRNA, durch die RNA-Polymerase III transkribiert. Es
lease-Funktion absolut notwendig sind. Die Nachbearbeitung wird zunächst eine Vorläufer-tRNA gebildet, die anschlie-
des 3’-Überhangs beginnt durch die Aktivität der Endonuklease ßend weiterbearbeitet wird.
RNase Z (. Abb. 3.32). Die CCA-Sequenz wird durch das Enzym
Nukleotidyltransferase am 3’-Ende an die Diskriminator-Base Posttranskriptionale Modifikationen
angeheftet; die Diskriminator-Base ist für die spezifische Amino- Obgleich die Sekundärstruktur der tRNA-Moleküle sich außer-
acylierung wichtig. ordentlich gleicht (. Abb. 3.17a), wie man auch nach ihrer Funkti-
98 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

RNase Z eine Rolle. Die meisten Basen bestimmen durch intramolekulare


Basenpaarungen die dreidimensionale Struktur des Moleküls, wie
RNase P
sie am Beispiel der tRNA für Phenylalanin zuerst ermittelt wurde.
Zu dieser Basenpaarung tragen aber auch molekulare Interak-
tionen im Zucker-Phosphat-Bereich des Moleküls bei.
Die L-förmige tRNA (. Abb. 3.17b) trägt am 3’-Ende, das
3 5’
3’ sich durch eine kurze Einzelstrangregion mit einer CCA-Gruppe
3’-Überhang
5’-Überhang auszeichnet, die spezifische Aminosäure. An seinem entgegen-
gesetzten Ende enthält die tRNA, eingebettet in Doppelstrang-
regionen, einen sieben Basen langen Einzelstrangbereich, der das
Anticodon enthält. Das Anticodon wird stets durch modifizierte
Basen flankiert. Diese strikt eingehaltene sterische Konfiguration
im Anticodonbereich ist wahrscheinlich wichtig für die Kontrol-
tRNA
le der genauen Basenpaarung zwischen Codon und Anticodon.
Unterschiede in der tRNA-Länge finden sich vor allem im Über-
gangsbereich zwischen den beiden Armen des L-förmigen Mo-
. Abb. 3.32 Reifung der tRNA in Eukaryoten. Die Endonuklease RNase P leküls. In diesem Bereich ist auch die Anzahl der Basenpaarun-
(blaue Schere) entfernt das überstehende 5’-Ende, und die RNase Z (rote gen gering. Wahrscheinlich verleiht diese Struktur dem Molekül
Schere) baut das überstehende 3’-Ende ab. RNase Z schneidet unterhalb der eine Flexibilität (Scharnierwirkung), die auch für den Transla-
Diskriminator-Base unmittelbar vor der CCA-Sequenz am 3’-Ende der tRNA;
tionsprozess von Bedeutung sein kann. In einer zweidimen-
sie ist wichtig für die Auswahl der Aminosäure. (Nach Redko et al. 2007, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group) sionalen Darstellung nimmt das Molekül die Form eines vier-
blättrigen Kleeblatts an (engl. cloverleaf; . Abb. 3.17a), dessen
vier »Blätter« bestimmte Teilbereiche des Moleküls charakteri-
on bei der Translation erwarten würde, bestehen im Detail doch sieren. Sie werden als D-Loop, Anticodon-Loop, T\C-Loop und
Längen- und Sequenzunterschiede. Die Längen der verschiedenen Akzeptorstamm bezeichnet. Die meisten doppelsträngigen Be-
tRNAs liegen zwischen 73 und 93 Nukleotiden. Besonders auf- reiche enthalten evolutionär konservierte Basenpaare.
fallend ist weiterhin, dass tRNA-Moleküle viele seltene Basen auf- Wir kennen bei Hefen inzwischen 38 Genprodukte, die an
weisen, die posttranskriptional auf enzymatischem Wege erzeugt der Weiterverarbeitung bzw. Modifikation der tRNA beteiligt
werden (. Abb. 3.33). Vor allem Methylierungen spielen hierbei sind. Mutationen in diesen Genen konnten in der Regel aufgrund

. Abb. 3.33 Chemische Struktur verschiedener seltener Nukleotide


3.5 · RNA-codierende Gene
99 3
des verminderten Wachstums der Hefezellen identifiziert wer- in ein G und vermindert damit die Beladung der tRNACAG
den; die weitere genetische und biochemische Charakterisierung durch Leucin auf 3–5 % (im Vergleich zu Serin), indem es
entschlüsselte den gesamten Mechanismus. Langsames Wachs- den Anticodon-Arm verzerrt und dadurch die Bindungs-
tum war beispielsweise in Mutanten beobachtet worden, denen effizienz vermindert. Dieser Vorgang lässt sich auf etwa
Pus3p fehlt (verantwortlich für die Modifikationen an ψ38 und 272 ± 25 Mio. Jahre zurückdatieren und gibt einen Eindruck,
ψ39), denen Trm7p fehlt (2’-O-Methylierung an den Positionen welche Mechanismen bei der Evolution des genetischen
32 und 34) oder denen Trm5p fehlt (m1G- bzw. m1I-Bildung an Codes wirksam sind (Miranda et al. 2006).
Position 37).
Bewegung von tRNA in der Zelle
> tRNA-Moleküle bilden eine spezifische, evolutionär stark
Man ging lange Zeit davon aus, dass die meisten tRNAs nach
konservierte Sekundärstruktur (Kleeblattstruktur) durch
der Synthese und Nachbearbeitung in einer Art »Einbahn-
intramolekulare Basenpaarungen aus. tRNA enthält eine
straße« aus dem Zellkern in das Cytoplasma transportiert
größere Anzahl seltener Basen, die posttranskriptional
werden und dort an der Translation mitwirken. Allerdings
erzeugt werden.
wurde in der Zwischenzeit festgestellt, dass dieses Modell zu
*Die vergleichende Untersuchung verschiedener tRNAs in
verschiedenen Organismen kann uns auch etwas über
stark vereinfacht ist. So zeigt es sich in Hefen, dass die Endo-
nuklease, die für das Spleißen der tRNA zuständig ist, mit der
die Evolution dieser Moleküle erzählen, hier bei Candida. Die äußeren Wand der Mitochondrien assoziiert ist. Diese unerwar-
Insertion eines A im Intron der Serin-codierenden tRNACGA tete cytoplasmatische Lokalisation eines Schlüsselenzyms der
verschiebt die Spleißstelle um eine Base und verwandelt das tRNA-Reifung erklärt, warum nicht-gespleißte, unreife tRNAs
5’-CGA-3’-Anticodon in ein 5’-CAG-3’-Anticodon. Damit ist im Zellkern von Hefen akkumulieren, wenn sie eine Mutation
eine neue tRNA kreiert, die anstelle von Serin für Leucin tragen, die das Transportsystem von tRNAs aus dem Zellkern
codiert. Die resultierende Ser-tRNACAG hat ein A an Position heraus betreffen.
37 (A37), wie es für Ser-tRNAs typisch ist. Andererseits be- Die Erkenntnis, dass wichtige Schritte der tRNA-Reifung
nutzen tRNAs mit einem Leucin-Anticodon 5’-CAG-3’ m1G37, außerhalb des Zellkerns stattfinden, führte zu einer weiteren un-
um eine Rasterverschiebung zu vermeiden. Daher bewirkt erwarteten Entdeckung, dass nämlich tRNAs auch wieder in den
die spätere Einführung eines G an Position 37 die Aufrecht- Zellkern zurücktransportiert werden können. Es wird vermutet,
erhaltung der Genauigkeit und erlaubt zusätzlich das Er- dass sich dahinter ein Kontrollmechanismus verbirgt, der die
kennen der tRNA durch die Leucin-tRNA-Synthetase. Damit tRNAs auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft. Die Entdeckung
wurde eine Situation geschaffen, in der die Ser-tRNACAG mit eines neuen Poly(A)-Polymerase-Komplexes bei Hefen unter-
beiden Aminosäuren beladen werden konnte. Im 3. Schritt stützt diese Hypothese, da dieser Komplex tRNAs abbauen kann,
des evolutionären Weges mutierte das U an Position 33 die falsch gefaltet sind. . Abb. 3.34 fasst die Import-Export-

. Abb. 3.34 Spleißen und Transport von tRNA in


Saccharomyces cerevisiae. Es werden tRNA-Mole-
küle, die am 5’- und 3’-Ende bearbeitet wurden,
aus dem Zellkern durch das Ran-GTP-abhängige
System heraustransportiert; das Spleißen der
tRNAs mit einem Intron findet dann im Cytoplas-
ma statt. Sowohl gespleißte als auch ungespleißte
DNA werden in den Zellkern zurücktransportiert,
wo sie auf ihre Funktionalität hinsichtlich der
Aminoacetylierbarkeit untersucht werden. Nicht
funktionelle tRNA (d. h. falsch gefaltete tRNA),
deren 3’-Ende nicht durch eine Aminosäure ge-
schützt ist, werden durch den Poly(A)-Polymerase-
Komplex abgebaut. (Nach Dahlberg und Lund
2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
100 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

Mechanismen der tRNAs in Hefen zusammen. Es soll an dieser Heute kennen wir eine ganze Reihe von Ribozymen, die
Stelle erwähnt sein, dass bei Vertebraten das Spleißen von tRNA allerdings im Wesentlichen am Schneiden von RNA bzw. am
auf den Zellkern beschränkt ist. Spleißen von mRNA-Vorläufern beteiligt sind. Dazu gehört
auch das Spleißosom (7 Abschn. 3.3.5), das wie das Ribosom ein
> tRNA-Moleküle werden in Hefe nicht nur aus dem Zell-
Ribonukleoprotein darstellt. Im engeren Sinne sind Ribozyme
kern ins Cytoplasma transportiert, sondern können auch
aber RNA-Moleküle, die zu ihrer Aktivität nicht unbedingt
3 wieder in den Zellkern zurückkommen.
weitere Proteine benötigen. Ein sehr bekanntes Ribozym ist das
Hammerkopf-Ribozym (engl. hammerhead); dieser Name ergab
sich aus der grafischen Darstellung der Struktur (. Abb. 3.35c).
3.5.4 Katalytische RNA Es ist Bestandteil vieler Satelliten-RNAs – einzelsträngige, zir-
kuläre Moleküle, die zu ihrer Replikation die Anwesenheit be-
Bei der Besprechung der Translation (7 Abschn. 3.4) haben wir stimmter Pflanzenviren benötigen. Diese Satelliten-RNA repli-
ausgiebig die Zusammensetzung der Ribosomen erörtert und ziert nach dem rolling circle-Modell (. Abb. 2.17); die viel-
dabei auf deren Besonderheit hingewiesen, dass sie nämlich fachen Replikationsprodukte werden durch die Hammerkopf-
überwiegend (d. h. etwa zwei Drittel ihrer Masse) aus RNA be- Domänen in den Replikationsprodukten in monomere
stehen und die Proteine sozusagen nur »Beiwerk« sind. Das gilt Einheiten gespalten; sie sind wahrscheinlich auch für deren
insbesondere für das »Herzstück« des Ribosoms, das Peptidyl- Zirkularisierung verantwortlich. Wir nennen dies eine Spaltung
transferase-Zentrum: Es besteht ausschließlich aus fünf Nukle- in cis, da es sich um eine Selbstspaltung handelt (. Abb. 3.35a).
otiden der Domäne V der 23S-rRNA! Die biochemische Wir- Ein bekanntes Beispiel für eine Spaltung in trans ist die RNase P
kung dieser RNA-vermittelten Reaktion entspricht völlig dem, (. Abb. 3.32, . Abb. 3.35b).
was sonst Protein-Enzyme leisten – in Analogie dazu sprechen Die Liste wird ergänzt durch RNA-Schalter (oder auch Ribo-
wir bei den RNA-Enzymen von Ribozymen. Mit einer moleku- schalter; engl. RNA switch bzw. riboswitch), die unter bestimmten
laren Masse von 3 MDa ist das Ribosom mit Abstand das größte Bedingungen (Temperaturänderung, Bindung von Metaboliten)
Ribozym. Aus evolutionärer Sicht erscheint uns das Ribosom als eine Konformationsänderung durchführen und damit ihre phy-
ein Relikt aus alter Zeit, als es nur eine »RNA-Welt« gab und sikochemischen Eigenschaften so ändern, dass sie als Ein/Aus-
Proteine noch nicht »erfunden« waren – also vor etwa 4 Mrd. Schalter wirksam sind. . Tab. 3.5 gibt einige Beispiele für Ribo-
Jahren. zyme und RNA-Schalter.

. Tab. 3.5 Beispiele für Ribozyme und RNA-Schalter

Name Funktion Größe (nt) Vorkommen

Cis-schneidende Ribozyme

Hammerkopf Bearbeitung von Zwischenprodukten 65 Viroide, Eukaryoten


der DNA-Replikation
Haarnadelschleife 75 Pflanzenviren

Varkud-Satellit 155 Neurospora

Hepatitis-δ-Virus 85 Humaner Virus

CPEB3 (2. Intron) Spleißen 70 Säuger

glmS Regulation der GlcN6P-Produktion 170 Gram+-Bakterien

Trans-schneidende Ribozyme

RNase P Bearbeitung von tRNA 140–500 Pro- und Eukaryoten

Spleißende Ribozyme

Gruppe-I-Introns Selbstspleißen 200–1500 Eukaryotische Organellen, Bakterien

Gruppe-II-Introns Selbstspleißen 300–3000 Bakterien, Archaeen, Organellen


von Pilzen und Pflanzen

RNA-Schalter

Thermosensor Genregulation Variabel Bakterien, Eukaryoten

Adenin-Riboschalter Genregulation 70 Bakterien

Nach Serganov und Patel (2007)


3.5 · RNA-codierende Gene
101 3

prä-tRNA

a 2’,3’-cyclisches Diol b 2’,3’-Diol

AUS AN
H II
U7A6
A9G8 G5
L2 U4 H I
C3
12G L1
13A
14A H17
15.1A U16.1
H III

c 3′ 5′
Uridin-
schlaufe
ydhL-mRNA ydhL-mRNA
d e

. Abb. 3.35 Funktion und Strukturen von Ribozymen und Riboschaltern. a Es ist eine typische Reaktion eines sich selbst schneidenden Ribozyms darge-
stellt. Die Reaktion beginnt durch einen Angriff der 2’-OH-Gruppe und führt zu einem 2’,3’-cyclischen Phosphat (P) und einem freien 5’-OH-Ende. b Bei der
katalytischen Spaltung der Vorläufer-tRNA durch RNase P dient ein Wassermolekül als Nukleophil, und die Reaktion führt zu einem 2’,3’-Diol und einem
freien 5’-Phosphat-Ende. c Consensusstruktur des Hammerkopfs (engl. hammerhead) mit den konservierten Nukleotiden im katalytischen Zentrum, den
flankierenden Helices HI, HII und HIII und den Haarnadelschleifen (engl. hairpin loops) L1 und L2. Die Spaltstelle H17 (H = entweder A, C oder U) ist mit
einem Pfeil markiert. Die Nummerierung der Basen folgt einem allgemeinen Schema der Consensusstruktur und erlaubt die Vergleichbarkeit der verschie-
denen Ribozyme. d Kristallstruktur des Schistosoma mansoni-Ribozyms. e Transkriptionsaktivierung der auswärtsgerichteten Purinpumpe durch den
Adenin-Riboschalter. In Abwesenheit von Adenin (A) wird die Transkription des B. subtilis-Gens ydhL abgebrochen, da ein Transkriptions-Terminator gebil-
det wird (. Abb. 3.24). Die Adeninbindung stabilisiert dagegen die Domäne, die diesen Metaboliten erkennt, und verhindert dadurch die Bildung der
Terminatorstruktur. P1–P3: mögliche Paarungsdomänen. (a, b, e nach Serganov und Patel 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group; c nach Seehafer et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung von Springer; d nach Scott et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

C Anfang der 1980er-Jahre untersuchte Thomas Cech an Die Strukturen der Ribozyme und Riboschalter sind duch
der Universität von Colorado in Boulder das Ausschneiden verschiedene Faltungen gekennzeichnet, die zu einer Mischung
von Introns in einem rRNA-Gen in Tetrahymena thermophila. aus helikalen Abschnitten und einzelsträngigen Schlaufen
Dabei konnte Cech kein Protein finden, das mit der Spleiß- führen; darüber hinaus weisen sie einige eher ungewöhnliche
reaktion verknüpft war. Daher schlug er vor, dass der Intron- Basenpaarung-Strukturen auf (z. B. Haarnadelstrukturen, Tetra-
Teil der RNA Phosphodiesterbindungen brechen und wie- plex, Dreifachhelix; . Abb. 2.5). Ein Beispiel für ein Ribozym
der neu verknüpfen kann. Zur gleichen Zeit untersuchte bzw. einen Riboschalter ist jeweils in . Abb. 3.35 dargestellt. Der
Sidney Altman an der Yale Universität, wie tRNA in der Zelle Kernbereich des Hammerkopf-Ribozyms (engl. hammerhead;
bearbeitet wird. Er isolierte ein Enzym, das er »RNase P« . Abb. 3.35c) besteht aus drei Helices (HI–HIII), die das kata-
nannte und das für die Umwandlung einer Vorläufer-tRNA lytische Zentrum flankieren – aufgrund dieser Konfiguration
in die aktive Form der tRNA verantwortlich ist. Zu seiner hat diese Gruppe von Ribozymen ihren Namen, da sie an
Überraschung fand er, dass RNase P zusätzlich zu einem Pro- einen Hammerkopf erinnert. Die Helices sind durch kurze
tein auch RNA enthält: Die RNA ist überdies der entschei- Linker verbunden: Die Verbindung zwischen der Helix I und
dende Bestandteil des aktiven Enzyms und kann die Spal- Helix III enthält an der Position H17 (entweder A, C oder U)
tung der Voräufer-tRNA in die aktive tRNA auch in Abwesen- die Spaltstelle. Die konservierte Uridin-Schlaufe verbindet
heit des Proteins durchführen. Cech und Altman bekamen Helix I und Helix II und enthält üblicherweise die Sequenz
für ihre Forschung im Jahr 1989 den Nobelpreis für CUGA; die Helices II und III sind durch die Sequenz GAAA ver-
Chemie. bunden.
102 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

Das Hammerkopf-Motiv wurde zuerst in der Satelliten-RNA sind im Reich der Archaeen deutlich unterrepräsentiert,
des Tabak-Ringflecken-Virus (engl. tobacco ringspot virus) ent- und die vorhandenen Sequenzen weisen eine deutliche
deckt. Die Hammerkopf-Ribozyme sind auf dem Gegenstrang Heterogenität auf, sodass heute eher davon ausgegangen
der Satelliten-RNA codiert und spalten sich (und damit die mul- werden muss, dass dieses katalytische Motiv mehrfach in
timeren Replikationsprodukte, die durch den rolling circle-Me- der Evolution »erfunden« wurde (Seehafer et al. 2012). Wir
chanismus entstanden sind). werden sehen, ob zukünftige Forschungen hier zu anderen
3 Ergebnissen kommen.
*Wir sprachen zu Beginn des Kapitels von der »RNA-Welt«
als Vorläufer der heutigen »DNA-Welt«. In vielen Bereichen
finden wir in allen drei Reichen des Lebens (Bakterien, > Ribozyme und RNA-Schalter sind Elemente in einer größe-
Archaeen, Eukaryoten) deshalb ähnliche Muster: die Ribo- ren RNA mit katalytischen Fähigkeiten, die entweder sich
somen und die tRNA – hier lassen sich die gemeinsamen selbst oder andere RNA-Moleküle schneiden können oder
Wurzeln sehr genau verfolgen. Das gilt aber nicht für die nach Bindung eines Liganden regularische Wirkungen auf
Ribozyme (zumindest in der Hammerkopf-Variante): Diese die Genexpression ausüben können.

Kernaussagen
5 Die genetische Information wird in der DNA durch die Reihen- die sich bei Prokaryoten an der wachsenden RNA, bei
folge von vier verschiedenen organischen Basen festgelegt. Eukaryoten am endoplasmatischen Reticulum des Cytoplas-
5 Die genetische Information eines Gens ist in einem Strang der mas befinden. Sie erfordert neben der Aminosäure-bela-
DNA im Allgemeinen als Code aus drei Basen (Triplett) für die denen tRNA eine große Anzahl zusätzlicher Proteine, die für
Synthese eines bestimmten Proteins niedergelegt. die Initiation, Elongation und Termination der Synthese von
5 Die genetische Information wird bei Eukaryoten von der Proteinen sorgen.
DNA mittels eines an ihr synthetisierten komplementären 5 Die »RNA-Welt« umfasst die Genfamilien der rRNA- und tRNA-
messenger-RNA-Moleküls (mRNA; Transkription) ins Cytoplas- Gene sowie Gene, die für kleine regulatorische RNA-Moleküle
ma übertragen. codieren.
5 Im Cytoplasma erfolgt an den Ribosomen nach der in der mRNA 5 Die Gene für 28S-, 18S- und 5,8S-rRNA findet man als
festgelegten Reihenfolge die Polymerisierung der Amino- tandemartig wiederholte Gengruppen in der DNA. Auch
säuren zu Polypeptiden (Translation). Hierfür sind Aminosäure- die Gene für die 5S-rRNA sind in vielen tandemartig
beladene Transfer-RNA-Moleküle (tRNA) notwendig. angeordneten Kopien vorhanden, liegen aber an anderer
5 Die Aufklärung des genetischen Codes und seiner grundlegen- Stelle im Genom. rRNA-Moleküle können aufgrund intra-
den Eigenschaften erfolgte unter Verwendung unterschied- molekularer Basenpaarungen spezifische Sekundärstruktu-
licher Methoden der Biochemie (z. B. Ribosomenbindungs- ren ausprägen.
studien, Synthesen von Oligonukleotiden) und der Genetik 5 Auch tRNAs werden als Genfamilien codiert. tRNA-Moleküle
(Mutagenese). bilden eine spezifische, evolutionär stark konservierte Sekun-
5 Transkription dient der Übertragung der genetischen Informa- därstruktur (Kleeblatt) aus.
tion auf den Stoffwechsel der Zelle. An der Transkription 5 Ribozyme und RNA-Schalter sind Elemente in einer größeren
sind neben der RNA-Polymerase mehrere Proteinfaktoren für RNA mit katalytischen Fähigkeiten, die entweder sich selbst
die Initiation und Termination beteiligt. oder andere RNA-Moleküle schneiden können oder nach
5 Translation dient der Übertragung der genetischen Informa- Bindung eines Liganden regularische Wirkungen auf die Gen-
tion in Proteinmoleküle. Sie erfolgt an den Ribosomen, expression ausüben können.

Übungsfragen
1. Beschreiben Sie das »zentrale Dogma der 3. Was verstehen wir unter »gestückelten 5. Erläutern Sie, warum man das Spleißosom
genetischen Information« und erläutern Genen« bei Eukaryoten? als Ribozym bezeichnet.
Sie, warum es nicht mehr gilt. 4. Erläutern Sie die mögliche Bedeutung
2. Begründen Sie die Aussage, dass der synonymer SNPs (engl. single nucleotide
genetische Code degeneriert ist. polymorphisms) für das gebildete Protein.
Literatur
103 3
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Technikbox
105 3

Technikbox 8

Isolierung von mRNA, cDNA-Synthese und RACE

Anwendung: cDNA ist Ausgangsmaterial einer tion kann die über ihr Poly(A)-Ende gebunde- mentär ist. Die PCR-Produkte werden durch
Vielzahl genetischer Verfahren: Klonierung von ne mRNA wieder abgelöst und mit Ethanol ge- Gelelektrophorese nach ihrer Länge getrennt,
cDNA-Fragmenten, Northern-Blot-Analyse, fällt werden. und das gesuchte Produkt wird anschließend
PCR-Analyse. Auch zur cDNA-Synthese macht man sich durch einen Southern-Blot identifiziert. Die
Methode: Biologisch aktive RNA ist schwieri- die Besonderheit der mRNA mit ihrem Poly(A)- betreffende DNA kann aus dem Gel isoliert,
ger zu präparieren als DNA, weil RNasen weit Ende zunutze: Man benutzt ebenfalls Oligo- aufgereinigt und mittels der terminalen Rest-
verbreitet (z. B. Hautoberfläche an Händen, dT-Primer als Startstelle für die Reverse Tran- riktionsschnittstellen in den Adapter kloniert
endogene RNase im Gewebe) und schwer zu skriptase (RT), die dann in Anwesenheit aller werden.
inaktivieren sind. Daher werden zur Präpara- vier dNTPs (Desoxynukleosidtriphosphate) an Diese ursprüngliche RACE-Technik hat je-
tion von RNA hoch erhitzte, sterile Glaswaren der mRNA-Matrize einen komplementären doch verschiedene Nachteile. Einmal werden
verwendet. Lösungen können auch mit Gegenstrang aus DNA aufbaut. Es entsteht ein alle cDNA-Stränge, die mittels RT im ersten
Diethylpyrocarbonat (DEPC) versetzt werden DNA/RNA-Hybrid. Durch Zugabe von RNase H, experimentellen Schritt synthetisiert werden,
(Inaktivierung von Enzymen durch Bindung an DNA-Polymerase I und DNA-Ligase (alle aus an ihrem 3’-Ende mit einem Homopolymer-
Histidin-Reste; Vorsicht: gesundheitsschäd- E. coli) wird der RNA-Strang abgebaut und schwanz versehen, unabhängig davon, ob sie
lich!). Vor Gebrauch muss aber das DEPC selbst durch einen DNA-Strang ersetzt: Die RNase H vollständige mRNAs repräsentieren oder nicht.
durch Hitze inaktiviert werden, da es sonst erzeugt Lücken im RNA-Strang, die durch die Außerdem werden auch bei der Synthese des
auch die zugeführten Enzyme zerstört (zerfällt DNA-Polymerase I aufgefüllt werden. Noch zweiten DNA-Strangs häufig unvollständige
in Ethanol und CO2). Durch hohe Konzentra- vorhandene RNA-Abschnitte werden durch Moleküle synthetisiert. Das führt dazu, dass
tionen von Harnstoff, Guanidinhydrochlorid die 5’ൺ3’-Exonuklease-Aktivität der DNA-Poly- viele der doppelsträngigen cDNA-Produkte an
oder Guanidinisothiocyanat werden ebenfalls merase I abgebaut. Die einzelnen neu synthe- beiden Enden unvollständig sind.
Proteine denaturiert. Weiterhin gibt es enzy- tisierten DNA-Abschnitte werden durch die Man hat daher eine Reihe von Verbesse-
matische RNase-Inhibitoren, die in hoher Kon- DNA-Ligase verknüpft. rungen der RACE-Technik ausgearbeitet, von
zentration aus Rinderlinsen isoliert werden Ein technisches Problem bei der Präparati- der hier die RLM-RACE (RNA ligase-mediated-
können (die Augenlinse braucht sehr langle- on von cDNA ist die Isolierung von vollständi- RACE; auch RLPCR [reverse ligation-mediated PCR]
bige mRNA!). RNA kann ähnlich wie DNA durch gen cDNAs, da einerseits mRNAs häufig unvoll- genannt) erwähnt wird. Bei dieser Methode be-
Phenolextraktion isoliert werden. ständig sind (durch natürliche oder experi- sitzen nur solche PCR-Produkte einen Adapter
Zur Isolierung von RNA aus Gewebe wird mentell verursachte Degradation), die cDNA- am 3’-Ende, die das vollständige 5’-Ende der
dieses zunächst in flüssigem Stickstoff schock- Synthese mit Reverser Transkriptase oft mRNA enthalten. Hierzu behandelt man in
gefroren (auch zur Vermeidung von RNase-Ak- unvollständig verläuft und die Synthese des einem ersten Schritt die mRNA mit alkalischer
tivitäten!), im Mörser zerrieben und in einem zweiten Strangs der DNA das zurückgefaltete Phosphatase (AP), die die 5’-Phosphatgruppen
hochmolaren (4 M) Guanidinthioisocyanat- 3’-Ende des ersten Strangs als Primer benutzt. von degradierter RNA und von RNA ohne
Puffer aufgetaut und homogenisiert. Das Infolgedessen fehlt in vielen cDNA-Klonen das 5’-Kappe (d. h. rRNA, tRNA, 5S-RNA usw.) ent-
Homogenat wird mit 2 M Natriumacetat (pH 4) 5’-Ende der mRNA. Die Ermittlung dieses fernt. Es verbleibt eine Hydroxylgruppe am
angesäuert und danach mit wassergesättig- 5’-Endes der mRNA stößt häufig auf Schwierig- 5’-Ende der RNA. Nach Inaktivierung der AP
tem Phenol und Chloroform/Isoamylalkohol keiten. Eine Lösung bietet die RACE-Technik behandelt man die RNA mit Tabak-Pyrophos-
versetzt. Unter diesen Umständen geht die (engl. rapid amplification of cDNA ends). An das phatase (TAP, engl. tobacco acid pyrophospha-
RNA in die wässrige Phase, während Proteine 3’-Ende des neu synthetisierten DNA-Einzel- tase), die die Anhydridbindung in der 7-Methyl-
und DNA in der organischen Phase verbleiben. strangs fügt man mit terminaler Desoxynukleo- Gppp-Kappe (. Abb. 3.9) hydrolysiert. In dieser
Die RNA kann aus der oberen, wässrigen Phase tidyltransferase einen Homopolymerschwanz Reaktion werden mRNA-Moleküle mit Kappe in
abgenommen und mit Ethanol gefällt werden. (Poly(dC) oder Poly(dG)) an. Ein hierzu komple- RNA-Moleküle mit einem 5’-Phosphat über-
Noch vorhandene DNA kann mit RNase-freier (!) mentärer Primer, der zusätzlich einen geeigne- führt, an welches anschließend mittels T4-RNA-
DNase abgebaut werden. ten Klonierungsadapter (Adapter 1) besitzt, Ligase ein 5’-Adapter (Adapter 1) ligiert wird,
Für die spätere Herstellung von cDNA (also Poly(dG) oder Poly(dC) mit einer am 5’- während Moleküle mit einer freien 5’-Hydroxyl-
(engl. copy-DNA) wird die mRNA über das vor- Ende gelegenen Restriktionsenzym-Schnitt- gruppe keine Ligation des Adapters zulassen.
handene 3’-Poly(A)-Ende angereichert. Da die stelle) ermöglicht dann die Synthese des zwei- Die erhaltenen RNA-Moleküle werden anschlie-
mRNA nur einen Anteil von 1–5 % der Gesamt- ten DNA-Strangs mittels DNA-Polymerase. In ßend mit einem geeigneten 3’-Primer (z. B.
RNA ausmacht, ist ihre spezifische Anreiche- einem weiteren Schritt wird anschließend die Oligo-dT, falls vollständige cDNAs gewünscht
rung über eine Affinitätschromatographie mit doppelsträngige cDNA durch PCR vermehrt. werden, oder mit anderen internen Primern,
immobilisiertem Oligo-dT notwendig (als Ma- Als Primer dienen dazu ein Oligonukleotid aus wenn das 3’-Ende bekannt ist) und einem Pri-
trix wird Cellulose verwendet; die Länge be- einem bekannten internen Sequenzbereich mer, der komplementär zum Adapter 1 ist, in
trägt etwa 20–50 Oligonukleotide). Es erfolgt der cDNA, das zusätzlich am 5’-Ende eine cDNA umgesetzt. Auf diese Weise ist garantiert,
eine spezifische Bindung über den Basenpaa- Adaptersequenz besitzt (Adapter 2), und ein dass man nur im 5’-Bereich vollständige
rungsmechanismus; mit hoher Salzkonzentra- weiterer Primer, der zum Adapter 1 komple- mRNAs erfasst hat.
106 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

5' 3' 5' mRNA 3'


P
Adapter 1 (–) AAAAAAAAAA
OH
TTTTTT
3 3' 5'
(Reverse Transkriptase)
DNA-Synthese (1. Strang)
[Primer oligo [dT] ]
5' 3'

Adapter 1 (–) AAAAAA


Adapter 1 (+) TTTTTT
3' 5'
PCR (Taq-Polymerase)
DNA-Synthese (2. Strang)
[Adapter 1 (–)]
5' 3'

Adapter 1 (–)

Adapter 1 (+) TTTTTT


3' 5'
PCR (Taq-Polymerase)
Adapter 2 (+)

5' 3'

Adapter 1 (–) AAAAAA

Adapter 2 (+)
3' 5'
PCR (Taq-Polymerase)
Cycling [Adapter 1 (–) und Adapter 2 (+)]

5' 3'
Adapter 1 (–) Adapter 2 (–)

Adapter 1 (+) Adapter 2 (+)


3' 5'

(Verändert nach Schäfer 1995)


Technikbox
107 3

Technikbox 9

In-vitro-RNA-Synthese

Anwendung: Gewinnung größerer Mengen fischen Promotorsequenz in doppelsträngiger Strangs zu synthetisieren, sodass »sense-« oder
einheitlicher, markierter RNA (z. B. zur in-situ- DNA. Die RNA-Synthese verläuft sehr effizient »antisense-RNA« aus demselben Fragment her-
Hybridisierung, 7 Technikbox 30) und gestattet die Herstellung großer Mengen gestellt werden kann. Schneidet man die DNA
Methode: Es gibt eine Reihe unterschiedlicher von RNA. Erfolgt die Transkription in Gegen- vor der Transkription mit einem geeigneten
Verfahren zur in-vitro-Synthese von RNA. Als wart markierter Nukleotide, so lässt sich RNA Restriktionsenzym in der dem Promotor ent-
Beispiel soll hier die Synthese mithilfe von sehr hoher spezifischer Aktivität gewinnen. gegengesetzten Polylinkerregion, so erfolgt
T3- oder T7-RNA-Polymerase erläutert werden. Manche Klonierungsvektoren besitzen auf den die Transkription nur über die Länge des ein-
Beide Polymerasen werden von den gleich- beiden Seiten des Polylinkers T3- oder T7-Pro- gefügten DNA-Fragments, nicht jedoch in die
namigen Bakteriophagen gewonnen. Sie initi- motorregionen. Hierdurch wird es möglich, anschließende Vektorregion hinein.
ieren die RNA-Synthese an jeweils einer spezi- gezielt Transkripte jeweils nur des einen DNA-

Die Abbildung zeigt einen Standardvektor (siehe auch 7 Tech-


BssHII
nikbox 11) mit einer Polylinkerregion (engl. multiple cloning site;
MCS). Diese Region enthält unter anderem Promotorregionen
T7 für die RNA-Polymerasen T7 und T3, die gegenläufig am Rande
der Polylinkerregion angeordnet sind. Das gestattet es, mit
SacII beiden RNA-Polymerasen gegenläufige DNA-Stränge zu tran-
XmaII skribieren. Man kann die Transkription dadurch auf den Bereich
NotI der eingefügten DNA begrenzen, dass man die Polylinkerregion
XbaI
SpeI mit einem geeigneten Restriktionsenzym hinter der DNA-Inser-
BamHI tion (gesehen vom Promotor) schneidet. Die Polymerase kann
SmaI
L ac

PstI über das Ende des DNA-Strangs natürlich nicht hinauslesen.


Z M C S L ac I

EcoRI Geeignet wäre z. B. ein Schnitt mit XhoI, wenn die Klonierung
Amp

EcoRV
HindIII der eingefügten DNA in der EcoRI-Schnittstelle erfolgt ist und
ClaI mit T7-RNA-Polymerase transkribiert wird. Amp: Ampicillin-
SalI/HincII/AccI
XhoI Resistenzgen; LacZ/LacI: zur Blau-weiß-Selektion; ori: Replika-
DraII tionsstartpunkt.
ApaI
KpnI
o ri

T3

BssHII
108 Kapitel 3 · Verwertung genetischer Informationen

Technikbox 10

RNA-Sequenzierung der nächsten Generation

Anwendung: Transkriptom-Analyse; Vergleich ben. Um eine höhere Anzahl von Ausgangstran-


der Expressionsmuster unter verschiedenen Methode: Da die ungeheuren Datenmengen skripten vor der Sequenzierung zu erhalten,
Bedingungen der jeweiligen Zellen oder Ge- einen besonderen bioinformatischen Aufwand kann man die Proben mittels PCR amplifizieren
3 webe. erfordern, wird die Methode in einen ersten – allerdings können GC-reiche Regionen unter-
Ziel: Alle Transkripte einer Zellpopulation, Teil zur Datengewinnung (. Abb. a) und einen repräsentiert sein. Die Sequenzierung erfolgt
einer Zellkultur oder eines Gewebes werden zweiten zur Datenanalyse (. Abb. b) unter- dann anhand der Primer und führt zu kleinen
als Transkriptom bezeichnet; dazu gehören teilt. Fragmenten, die dann entsprechend zusam-
RNAs aller Größen, bisher unbekannte Tran- Der erste Schritt der Datengewinnung ist mengesetzt werden müssen. Die Zahl der er-
skripte von noch nicht annotierten Genen oder die Präparation der RNA, wobei man entweder haltenen Sequenzen entspricht der Konzentra-
auch alternative Spleißvarianten. Für lange die gesamte RNA isolieren oder sich auf die tion der RNA im Ausgangsmaterial, sodass
Zeit war unser Wissen über das Transkriptom mRNA beschränken kann (7 Technikbox 8); schließlich sehr genaue Vergleiche der Zahl
abhängig von computergestützten Vorher- Verunreinigungen durch genomische DNA spezifischer Transkripte unter verschiedenen
sagen der Genstruktur und dem begrenzten müssen entfernt werden. Ähnliches gilt auch Ausgangssituationen möglich sind (vgl. die
Wissen über exprimierte Sequenzen – damit für die vielen sehr ähnlichen rRNA-Gene, die rot-grüne Darstellung am Ende der Spalte b in
war es unvollständig und unausgewogen. man mittels Hybridisierungs-basierter Metho- der . Abb.). Das Verfahren ist wegen der zu-
Mithilfe der Sequenziertechnologien der den weitgehend entfernen kann. Nach Frag- sätzlichen Sequenzinformationen (z. B. auch
nächsten Generation (7 Technikbox 7) ist es mentierung der RNA und Umschreibung in über das relative Verhältnis von Spleißvarian-
nun möglich, die komplexe Landschaft und cDNA werden Sequenz-Primer an die Enden ten) wesentlich genauer als die Hybridisie-
die Dynamik des Transkriptoms von Hefen bis ligiert. Um mögliche nicht-codierende Tran- rungs-Arrays (7 Technikbox 35).
zum Menschen mit einem beispiellosen Maß skripte, antisense-RNA etc. zu erfassen, kann
an Sensitivität und Genauigkeit zu beschrei- man von beiden Enden her sequenzieren.

Arbeitsschritte einer typischen RNA-Se-


quenzierung. Der experimentelle Teil
a wird im Text besprochen. Die Datenana-
lyse b beginnt mit der Entfernung von
schlechten Sequenzen und offensicht-
lichen Artefakten, z. B. Primersequenzen
(blau), kontaminierte genomische DNA
(grün), PCR-Duplikate und offensichtliche
Sequenzierfehler (rote Kreuze). Die Se-
quenzdaten werden dann zu vollen Tran-
skripten zusammengefügt; offensichtlich
falsche Anordnungen können entfernt
werden (blaue Kreuze). Am Ende steht
dann der quantitative Vergleich von RNA.
(Nach Martin und Wang 2011, mit freund-
licher Genehmigung der Nature Publish-
ing Group)
109 4

Molekulare Struktur und


Regulation prokaryotischer Gene

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von Bakterien (Escherichia coli). (Foto: U. Schwarz, Tübingen)

4.1 Bakterien als genetisches Modellsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

4.2 Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide . . . . . . . . . . . . . . . 118


4.2.1 F-Plasmid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
4.2.2 Andere Plasmide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

4.3 Bakteriophagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123


4.3.1 Vermehrungszyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
4.3.2 Bakteriophage λ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
4.3.3 Andere Bakteriophagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

4.4 Transformation und Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131


4.4.1 Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
4.4.2 Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
4.5 Genstruktur und Genregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
4.5.1 Das lac-Operon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
4.5.2 Das Operonmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
4.5.3 Das trp-Operon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
4.5.4 RNA-codierende Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
4.5.5 Kommunikation in Bakterien: Quorum sensing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

4.6 Regulation im Genom des Phagen λ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151


4.6.1 Regulation des lytischen Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
4.6.2 Regulation des lysogenen Zyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
4.6.3 DNA-Protein-Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
4.1 · Bakterien als genetisches Modellsystem
111 4

Überblick

Die wesentlichen Grundzüge der molekularen durch ein Repressormolekül. Die genetische kleiner Moleküle auch die Konzentration der
Genstruktur und -funktion sind an Prokaryoten Analyse der Regulation mehrerer Gene des eigenen Kolonie und möglicherweise auch die
aufgeklärt worden. Neben Genen von Escheri- Lactosestoffwechsels bei E. coli ergab, dass sie von anderen Bakterienstämmen in ihrer Um-
chia coli (E. coli) haben hierfür besonders extra- eine Kontrollregion besitzen, die als Operator- gebung erkennen. Dieser Prozess, der auch als
chromosomale genetische Elemente (Plasmi- region bezeichnet wird. Wird an ihr ein Repres- Quorum sensing bezeichnet wird, erlaubt eine
de) und Bakteriophagen eine wichtige Rolle sormolekül gebunden, kann in dem ihm fol- Zell-Zell-Kommunikation auch über Spezies-
gespielt. Die Untersuchung der Bakterien- und genden Genkomplex keine RNA-Synthese grenzen hinweg.
Phagengene hat nicht nur den Schlüssel für stattfinden, da der Weg der RNA-Polymerase, Für viele prokaryotische Gene sowie für
den genetischen Code geliefert, sondern auch die im Promotor an die DNA bindet, durch den die Regulation des Genoms des Phagen λ er-
grundlegende Einsichten in die Feinstruktur zwischen Promotor und Genbereich liegenden wiesen sich DNA-bindende Proteine als wichti-
und die Regulation von Genen im Stoffwechsel Operator mit daran gebundenem Repressor- ge Elemente. Verschiedene solcher Regula-
ergeben. Die Bakterien- und Phagengenetik ist molekül behindert wird. Erst bei Hinzutreten tionsproteine sind als Dimere (oder Tetramere)
daher eine wichtige Grundlage unseres heuti- eines Induktors, der den Repressor von der wirksam und haben eine vergleichbare Grund-
gen Verständnisses der Molekulargenetik. DNA zu entfernen vermag, wird die RNA-Syn- struktur, die durch zwei miteinander verbun-
Nach der Entdeckung der DNA und der these freigegeben. Die Polymerase ist in die- dene α-Helixbereiche gekennzeichnet ist.
Aufklärung der Trankription und Translation sem Fall in der Lage, mehrere hintereinander- Einer dieser α-Helixbereiche reagiert mit dem
stellt sich die Frage nach der Feinstruktur der liegende Gene zu transkribieren. Man bezeich- entsprechenden α-Helixbereich des zweiten
Gene und nach den Mechanismen, die die Ex- net einen in dieser Form regulierten Genbe- Proteinmoleküls, während der andere se-
pression von Genen in der Zelle steuern. Dafür reich als ein Operon. quenzspezifisch mit der DNA in Kontakt tritt.
gibt es zwei unterschiedliche Regulationsmög- Bakterien werden aber nicht nur durch
lichkeiten: die positive Induktion durch ein In- Nährstoffe im umgebenden Medium reguliert.
duktormolekül und die negative Regulation Sie können über die Abgabe und Aufnahme

4.1 Bakterien als genetisches Modellsystem like nucleoid structuring). Die Bindung dieser beiden Proteine an
die DNA führt zu ganz unterschiedlichen Eigenschaften der
Bakterien (und Archaeen) sind einzellige Organismen ohne Zell- DNA: H-NS verfügt über die gut charakterisierte Fähigkeit, die
kern und unterscheiden sich dadurch grundsätzlich von den DNA so stark zu verdichten, dass eine Transkription nicht mehr
Eukaryoten; sie werden häufig gemeinsam als Prokaryoten be- möglich ist. HU dagegen verfügt nicht über diese Eigenschaft,
zeichnet und stellen die kleinste unabhängige Lebensform dar. sondern ist vielmehr in der Lage, zirkuläre DNA-Moleküle wie-
Ihre doppelsträngige DNA ist im Allgemeinen ringförmig ange- der zu öffnen und somit für die Transkriptionsmaschinerie zu-
ordnet und wird als »Bakterienchromosom« bezeichnet. Bakte- gänglich zu machen. Dieser Antagonismus ist in . Abb. 4.1a
rielle Genome schwanken in ihrer Größe erheblich: Das kleinste dargestellt. Aufgrund ihrer Wechselwirkung mit verschiedenen
Bakterienchromosom von Mycoplasma genitalium umfasst Proteinen liegt die DNA in der Bakterienzelle in Form von schlei-
580 kb; das bisher größte sequenzierte Chromosom von Bakte- fenförmigen (negativen) Überspiralisierungen vor (engl. super-
rien, Bradyrhizobium japonicum, enthält 9,1 Mb. Neben dem helix) (. Abb. 4.1b). Es ist daher allgemein gebräuchlich gewor-
Chromosom besitzt die Bakterienzelle meist noch extrachromo- den, auch bei Prokaryoten von Chromosomen zu sprechen,
somale DNA in Form von Plasmiden, die in unterschiedlicher wenn wir uns auf deren Erbmaterial beziehen. Der Bereich, den
Kopienzahl in der Zelle vorliegen und auf denen häufig Gene die prokaryotische DNA im Cytoplasma einnimmt, wird auch als
lokalisiert sind, die der Zelle zusätzliche Fähigkeiten vermitteln Nukleoid oder Kernäquivalent bezeichnet. Damit wird aus-
(7 Abschn. 4.2). gedrückt, dass diese Anordnung der prokaryotischen DNA im
Lange Zeit hat man einen weiteren grundsätzlichen Unter- Cytoplasma durchaus viele Funktionen eines Zellkerns wahr-
schied zwischen den Genomen von Pro- und Eukaryoten darin nimmt (und auch elektronenmikroskopisch vom Rest des Cyto-
gesehen, dass Prokaryoten ihre Erbinformation als »reine« Nuk- plasmas unterscheidbar ist), auch wenn die Kernmembran bei
leinsäurestränge vorliegen haben, Eukaryoten hingegen »echte« Prokaryoten fehlt.
Chromosomen (7 Kap. 6) besitzen, die sich besonders durch die Unter den Bakterien hat das Darmbakterium Escherichia coli
obligatorische Verpackung der DNA in chromosomalen Prote- (E. coli; Bild siehe Kapitelanfang) für Genetiker eine besondere
inen auszeichnen. Erst in den letzten Jahren hat man erkannt, dass Bedeutung, da an diesem Modellorganismus eine Vielzahl
auch die ringförmige DNA des klassischen bakteriellen Modell- grundlegender genetischer Mechanismen beschrieben wurde.
systems, Escherichia coli, mit chromosomalen Proteinen assozi- E. coli wurde 1885 von Theodor Escherich im Kot von Kleinkin-
iert ist, die im Charakter den basischen Histonen der Eukaryoten dern entdeckt und zunächst als Bacterium coli commune bezeich-
entsprechen. Denn auch Prokaryoten stehen vor dem Problem, net; 1919 wurde es zu Ehren seines Entdeckers in Escherichia coli
dass ihre DNA nicht ohne Weiteres in die Zelle hineinpasst: Mit umbenannt. Die verschiedenen E. coli-Stämme sind Gram-nega-
einer durchschnittlichen Größe von ungefähr 4 Mb hat eine pro- tive, kurze Stäbchen mit peritricher Begeißelung. Der üblicher-
karyotische DNA eine Länge von etwa 1,3 mm und muss in einem weise im Labor verwendete Stamm K12 ist nicht pathogen; an-
Zellkörper untergebracht werden, der etwa 1–2 μm lang ist. dere Stämme können jedoch als Verunreinigung auf rohen Spei-
Es sind besonders zwei Proteine, die an dieser Stelle genannt sen für schwerwiegende Erkrankungen verantwortlich sein (z. B.
werden sollen: HU (engl. heat unstable) und H-NS (engl. histone- E. coli O157:H7 als Auslöser blutiger Diarrhoe und von tödli-
112 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

ori
+ H-NS

4 + HU

a b ter

. Abb. 4.1 Chromosomale Strukturen bei Prokaryoten. a Antagonistische Wirkung der Proteins H-NS und HU bei der Verpackung der DNA. Die Inkubation
von entspannter zirkulärer DNA mit H-NS führt zu einer starken Kondensierung (rot), wohingegen die Inkubation mit HU zu einem offenen Nukleoprotein-
komplex führt (blau). b Modell für die Anordnung chromosomaler DNA in einer prokaryotischen Zelle. Die DNA ist in dynamischen Schlaufen organisiert,
die linear angeordnet sind und von einem Komplex aus DNA-organisierenden Faktoren (orange) strahlenförmig ausgeht. Start- (ori) und Endpunkt der
DNA-Replikation (ter) sind angegeben. (a nach Dorman und Deighan 2003; b nach Thanbichler und Shapiro 2006, beide mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)

chem Nierenversagen durch die Bildung des Shiga-Toxins). Der 4 vollständige Sequenzierung des E. coli-Genoms (Blattner et
Vorteil der apathogenen Stämme von E. coli liegt vor allem in al. 1997);
ihrer guten Kultivierbarkeit (kurze Generationszeit: 20–30 min; 4 letzte »traditionelle« Kopplungskarte von E. coli (Berlyn
einfaches Medium) und in der Möglichkeit, genetisches Material 1998).
in Form von Plasmiden (extrachromosomale DNA; 7 Abschn. 4.2)
und über bakterielle Virussysteme (Bakteriophagen; 7 Abschn. 4.3) Für ihre Arbeiten zum Austausch genetischen Materials über
auszutauschen. Bakteriophagen und Plasmide bekamen Edward Tatum und
Joshua Lederberg 1958, Max Delbrück, Alfred Hershey und
> Das Genom von E. coli besteht aus einem einzigen ring-
Salvador Luria 1969 den Nobelpreis für Medizin; für ihre Arbei-
förmigen Chromosom, das mit basischen chromosomalen
ten zur Regulation bakterieller Gene erhielten François Jacob
Proteinen assoziiert ist. Der Austausch genetischen Mate-
und Jacques Monod den Nobelpreis bereits 1965. Werner Arber
rials über Plasmide und Bakteriophagen ermöglicht inten-
wurde für seine Entdeckung der Restriktionsenzyme 1978 mit
sive genetische Studien.
dem Nobelpreis ausgezeichnet – ebenfalls für Medizin. Auch
Ein kurzer Abriss der Eckpunkte der E. coli-Forschung lässt sich Walter Gilbert erhielt einen Nobelpreis, allerdings für Chemie im
auch als Sammlung von Glanzlichtern genetischer Forschung Jahr 1980 (für seinen Beitrag zur Entwicklung der DNA-Sequen-
darstellen: ziertechnik). Wir wollen einige der oben genannten Aspekte in
4 Kreuzung von E. coli-Mangelmutanten (Sherman und Wing den folgenden Kapiteln weiter vertiefen, wobei der Schwerpunkt
1937); auf der Darstellung grundsätzlicher genetischer Prinzipien aus
4 Fluktuationstest (Luria und Delbrück 1943); heutiger Sicht liegt.
4 Entdeckung parasexueller Prozesse und Rekombination Die Vererbung erworbener Eigenschaften wurde seit La-
in E. coli (Tatum und Lederberg 1947); marck (1809; 7 Abschn. 1.1) intensiv erörtert und konnte auch
4 erste Kartierung von E. coli-Genen (Lederberg 1947); Mitte des 20. Jahrhunderts schon nicht mehr als reale Möglich-
4 Austausch genetischen Materials durch Bakteriophagen keit betrachtet werden. Dennoch lieferten Experimente mit
(Hershey und Chase 1951); Bakterien Ergebnisse, die zunächst eine Vererbung erworbener
4 Entdeckung von Plasmiden als episomale, ringförmige, Eigenschaften als nicht völlig ausgeschlossen erscheinen ließen.
autosomal replizierende DNA (Lederberg et al. 1952); Mutationen wurden nämlich in diesem Zusammenhang nicht als
4 Festlegung der Reihenfolge der E. coli-Gene in einem zirku- zufällige Ereignisse betrachtet, sondern als gezielte Anpassung
lären Chromosom (Jacob und Wollman 1958); an die Umwelt. Der Fluktuationstest von Salvador Luria und
4 Beschreibung der Regulationsprozesse am lac-Operon Max Delbrück (1943) schloss jedoch die Lamarck’sche Interpre-
(Jacob und Monod 1961); tation aus.
4 Isolierung des lac-Repressors (Gilbert und Müller-Hill
1966); C Der Fluktuationstest geht von der Überlegung aus, dass bei
4 Entdeckung der Restriktionsenzyme (Arber und Linn einer Verteilung der Zellen einer Ausgangskultur von Bakte-
1969); rien auf eine große Anzahl von Subkulturen und anschlie-
4 erster gentechnisch veränderter Organismus (Cohen et al. ßendem Wachstum neu entstehende Mutationen in einem
1973); selektierbaren Gen (z. B. eine Resistenz gegen ein Antibioti-
4.1 · Bakterien als genetisches Modellsystem
113 4
kum) sichtbar werden. Wenn die Mutation durch ein Agens
induziert wird, sollte die Wahrscheinlichkeit dafür in allen
Subkolonien im Rahmen zufälliger Schwankungen gleich
hoch sein. Wenn Mutationen zur Resistenz dagegen spontan
entstehen, kann dies am Beginn, am Ende oder im Verlauf
der Wachstumsphase erfolgen, sodass ein hoher Mutanten-
titer dann vorliegt, wenn die Mutation früh erfolgt ist, und
ein niedriger bei später Mutation (daher Fluktuationstest).
Die Anzahl der vorhandenen mutierten Bakterien kann man
durch Plattieren eines Teils jeder Subkultur auf restriktivem
Medium ermitteln. Im ursprünglichen Experiment wurden
mit dem Bakteriophagen T1 (7 Abschn. 4.3) infizierte Bakte-
rien verwendet und auf Resistenz gegenüber dem Phagen
getestet. Der Test zeigt, dass die Mutationen spontan entste-
hen und nur aufgrund des Selektionsdrucks sichtbar werden
(. Abb. 4.2).
. Abb. 4.2 Der Fluktuationstest. Würden Mutationen durch das Medium
Da Mutationen aber selten sind und zu jeder Zeit auftreten kön- (oder z. B. durch die Infektion mit einem Bakteriophagen) erzeugt, so
nen, können sie natürlich auch erst nach der Änderung der Um- müssten alle Subkulturen im Mittel den gleichen Titer an Mutanten auf-
weltbedingung entstehen. Nach Max Delbrück sprechen wir in weisen (oben). Tatsächlich unterscheiden sich verschiedene Subkulturen
einer Ausgangskultur beträchtlich (unten), was darauf hindeutet, dass
diesem Fall von »adaptiver Mutation« (im Gegensatz dazu wird
sie zu unterschiedlichen Zeiten in der Ausgangskultur entstanden sind,
eine Mutation als »gerichtet« bezeichnet, wenn die nützliche Mu- aber nicht nach der Subkultivierung unter Selektionsbedingungen indu-
tation präferenziell entstehen würde; für eine umfassende und ziert wurden. (Nach Luria und Delbrück 1943)
aktuelle Darstellung siehe Rosenberg 2001).
> Mutationen entstehen spontan und unabhängig von
nimmt. Die Zellen erweisen sich dann als auxotroph. Lederberg
den phänotypischen Konsequenzen. Mutationen werden
und Tatum fanden jedoch in derartigen Experimenten, dass
sichtbar, wenn sie einen Vorteil (oder auch Nachteil)
nach Kokultivierung von Zellen, deren einer Typ Biotin (B)
für den betroffenen Organismus haben.
und Methionin (M) zum Wachstum erforderte (Konstitution:
Ein zweiter Aspekt, der in diesem Zusammenhang angesprochen B−M−P+T+), der andere Prolin (P) und Threonin (T) (Konstitu-
werden soll, ist der Austausch und die Neukombination von ge- tion: B+M+P−T−), mit unerwarteter Häufigkeit prototrophe
netischem Material in Bakterien, der später zu einem integrier- Kolonien auftraten. Isolierte man aus solchen prototrophen Zell-
ten Konzept der Rekombination ausgebaut werden konnte kolonien Einzelzellen und testete sie auf ihre genetische Konsti-
(7 Abschn. 4.4). tution, so erwiesen auch sie sich als prototroph (Konstitution
Ausgangspunkt der Arbeiten von J. Lederberg und E. L. Ta- also: B+M+P+T+).
tum (1946) war die Möglichkeit, Mutationen in biochemischen Diese Konstitution konnte nur als das Ergebnis eines Aus-
Stoffwechselwegen bei E. coli durch ein sehr einfaches Verfahren tauschs von DNA-Abschnitten (Rekombination) angesehen wer-
zu untersuchen. Dieses Verfahren beruht auf der Beobachtung, den, dessen Basis zunächst noch unverstanden war (für Details
dass man bestimmte Mutationen bei Wachstum von mutageni- des Mechanismus siehe 7 Abschn. 4.4). Dennoch war damit
sierten Bakterienzellen auf geeigneten Nährböden leicht isolie- der Weg für eine genetische Kartierung des E. coli-Genoms
ren kann. Lässt man Bakterien auf einem sogenannten Minimal- durch Rekombination bereitet. Bereits ein Jahr später publizierte
medium wachsen, das im Prinzip nur Salze enthält, so werden Lederberg eine erste, vorläufige genetische Karte des E. coli-
hier nur Zellen wachsen, die alle essenziellen Verbindungen Chromosoms, die acht Gene enthielt. Er bewies damit, dass
selbst synthetisieren können. Man bezeichnet diese Art des das genetische Material von Bakterien in einer den Kopplungs-
Wachstums als prototroph. Mutanten, die essenzielle Verbin- gruppen höherer Organismen ähnlichen Weise linear auf dem
dungen aufgrund ihrer Genomveränderung nicht selbst produ- Chromosom angeordnet ist. (»It was found that genetic markers
zieren können, werden nur auf einem Kulturmedium wachsen, behaved as if they were part of a system of linked genes. Some evi-
das die betreffende Verbindung oder eine geeignete Vorstufe dence for linear order of genes was obtained«; Lederberg 1947.)
enthält, mit deren Hilfe die von der Zelle benötigten Endpro-
> Auch bei haploiden Bakterien wird Rekombination von
dukte synthetisiert werden können. Man bezeichnet diese Art
Markergenen beobachtet, die offenbar zwischen Zellen
Wachstum als auxotroph. Lässt man verschiedene Stämme mit
unterschiedlicher genetischer Konstitution ausgetauscht
unterschiedlichen Mutationen gemischt auf Minimalmedium
werden können. Durch solche Rekombinationsereignisse
wachsen, so können durch das Medium die benötigten Wachs-
kann das Bakteriengenom genetisch kartiert werden.
tumsfaktoren ausgetauscht werden und Zellen als prototroph
erscheinen, obwohl sie eigentlich auxotroph sind. In diesem Fal- In den 1950er-Jahren erkannte man durch elegante Experimente
le würde der prototrophe Zustand wieder aufgehoben, wenn man von François Jacob und Ellie Wollmann am Institut Pasteur in
die einzelnen Zellen voneinander trennt und sie einzeln in Kultur Paris, dass das E. coli-Chromosom ein geschlossener Ring ohne
114 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

. Abb. 4.3 Allgemeine Darstellung des E. coli-Genoms. Die Start- und Endpunkte der DNA-Replikation, Origin bzw. Terminus, sind angegeben; blaue Pfeile
außen deuten die Replikationsrichtung der beiden Replichore an. Der äußere grüne Ring zeigt die relative Expressionsstärke der Gene; darunter sind die
rRNA- (blau) und die tRNA-Gene (rot) besonders hervorgehoben. Der blaue Ring zeigt, dass die berechnete Positionspräferenz mit der gemessenen Expres-
sionsstärke korreliert. Der innere rote Ring gibt den CAI-Wert an (engl. codon adaptation index). Der CAI-Wert ist ein weiteres Maß für die Expressionsstärke,
der aber nur für Protein-codierende Gene berechnet werden kann. (Nach Willenbrock und Ussery 2007, mit freundlicher Genehmigung der Autoren)

freie Enden ist, auf dem die einzelnen Gene allerdings linear an- 30 offene Leserahmen (engl. open reading frame, ORF) identifi-
geordnet sind (eine Übersichtsarbeit dazu erschien 1961). Seit- ziert, deren Funktion zunächst unklar blieb. Insgesamt codieren
her werden die genetischen Abstände auf der Genkarte in Minu- die offenen Leserahmen im Durchschnitt für 317 Aminosäuren.
ten (1’–100’) angegeben; diese Form der Darstellung ergibt sich Vier ORFs davon codieren allerdings für 1500 bis 1700 Amino-
aus den Zeiten, die für die Übertragung von Genen von einer säuren, aber 381 für Proteine, die aus weniger als 100 Aminosäu-
Bakterienzelle auf eine andere benötigt wurde. Die Details wer- ren bestehen. Protein-codierende Gene repräsentieren etwa
den im 7 Abschn. 4.2.1 besprochen (. Abb. 4.10). Die nächste 87,8 % des Genoms, 0,8 % codieren für stabile RNAs und 0,7 %
Chromosomenkarte aus dem Jahr 1964 enthielt dann immerhin enthalten nicht-codierende Wiederholungssequenzen. 11 % des
schon 99 kartierte Gene, 1983 waren es 881 und 1988 1027. Seit Genoms werden regulatorischen und anderen Funktionen zuge-
1997 ist das Genom von E. coli (Stamm K12) vollständig sequen- ordnet. Die Sequenzierung deckte auch frühere evolutionäre
ziert. Wir wissen, dass es 4,6 Mb umfasst und 4288 Gene enthält, Prozesse auf, indem einigen Abschnitten mehr oder weniger gut
die für Proteine codieren. Dazu kommen sieben rRNA-Gene erhaltene »Überreste« von Phagengenen zugeordnet werden
und 86 tRNA-Gene. Der Abstand zwischen zwei Genen beträgt konnten.
nur ca. 100 bp. Die codierenden Informationen liegen bei E. coli Die Sequenzierung des Genoms von E. coli, die insgesamt
auf beiden DNA-Strängen, sodass die DNA sowohl im Uhr- etwa 6 Jahre in Anspruch genommen hatte, ist allerdings erst der
zeigersinn als auch im Gegenuhrzeigersinn transkribiert wird Anfang zum detaillierten Verständnis der Funktion dieses Ge-
(. Abb. 4.3). noms. . Abb. 4.3 zeigt nicht nur die ringförmige Struktur des
Die in der Datenbank niedergelegte Sequenz des E. coli- E. coli-Chromosoms, sondern gibt auch einige Hinweise auf die
Chromosoms (Blattner et al. 1997) startet am »Origin« (of repli- relativen Expressionsstärken der Gene sowie Möglichkeiten der
cation) in der Region zwischen den Genen lasT und thrL. Die Vorhersage. Der CAI-Wert (engl. codon adaptation index) ist eine
Start- und Endpunkte der Replikation unterteilen das Genom in solche Maßzahl und stark mit der Expressionsstärke von Genen
zwei Hälften, die als »Replichore« bezeichnet werden. Das Repli- in schnell wachsenden Bakterienkulturen korreliert. Er basiert
chor I wird im Uhrzeigersinn repliziert und enthält den in der auf dem Befund, dass nahezu alle stark exprimierten Gene die
Sequenzdatenbank angegebenen Strang als Leitstrang, im Repli- Codons der am häufigsten vorkommenden tRNAs benutzen.
chor II ist das der Gegenstrang. Viele Gene von E. coli sind in Entsprechend kann man für alle sequenzierten Bakteriengenome
derselben Richtung angeordnet, in der auch die Replikation vo- eine charakteristische Bevorzugung der Codons ableiten, die am
ranschreitet: Alle sieben rRNA-Gene und 53 der 86 tRNA-Gene effizientesten für die Translation sind. Entsprechend dieser De-
werden in Richtung ihrer Replikation exprimiert. Das gilt aber finition ist der CAI-Wert allerdings auf Protein-codierende Gene
nur für 55 % aller Protein-codierenden Gene. beschränkt. Durch die Angabe der Positionspräferenz wird ver-
Durch die Sequenzierung wurden auch einige bis dahin un- sucht, diese Einschränkung aufzuheben. Die Positionspräferenz
bekannte Gene entdeckt, z. B. sieben neue tRNA-Gene und Gene spiegelt die Häufigkeit eines Trinukleotids wider, bevorzugt in
für den Abbau aromatischer Verbindungen. Zusätzlich wurden einer Region der DNA vorzukommen, wo die kleine Furche der
4.1 · Bakterien als genetisches Modellsystem
115 4
DNA mit DNA-bindenden Proteinen in Wechselwirkung tritt.
Diese Wechselwirkung mit Proteinen führt zu einer stärkeren
Verdichtung; Regionen mit schwacher Verdichtung werden üb-
licherweise stärker exprimiert. Die Positionspräferenz beschreibt
also eher eine allgemeine strukturelle Eigenschaft der DNA,
nämlich ob sie sich leicht um DNA-bindende Proteine herum-
winden kann oder nicht. Die CAI-Werte und die Werte der Po-
sitionspräferenz stimmen für E. coli weitgehend überein; Unter-
schiede werden an zwei Stellen deutlich (bei 0,45 Mb und 2 Mb).
Hier sind Gene lokalisiert, die nur unter bestimmten Stoffwech-
selbedingungen stark exprimiert werden.
Das bakterielle Chromosom ist ungefähr 1 mm lang, wohin-
gegen die Größe der Bakterienzelle selbst in der Größenordnung
von Mikrometern liegt. Daher ist es offensichtlich, dass die DNA
in geeigneter Weise in kompakten Strukturen organisiert sein
muss, um in der (relativ) kleinen Bakterienzelle Platz zu finden. a
Wir wissen heute, dass das bakterielle Chromosom in vier grö-
ßeren Regionen stark verdichtet ist; jede dieser Makrodomänen
umfasst etwa 1 Mb. Außerdem gibt es zwei Bereiche, die offen-
sichtlich weniger stark strukturiert sind; eine Übersicht über
diese Domänenstruktur gibt . Abb. 4.4.
> Bakterien haben ein ringförmiges Chromosom; das Chromo-
som von E. coli umfasst etwa 4,6 Mb. Die Replikation beginnt
an einem Startpunkt und verläuft bidirektional zu einem
definierten Endpunkt. Beide Stränge codieren für Gene.
Das Chromosom enthält vier Bereiche mit hoher Packungs-
dichte.

*Als Ergebnis der enormen Menge an Information, die im


letzten halben Jahrhundert an E. coli gesammelt wurde, ha-
ben wir jetzt sehr genaue Kenntnis über Genregulation, Pro-
teinaktivitäten, Enzymreaktionen, metabolische Stoffwech-
selwege, makromolekulare Maschinen und regulatorische
Wechselwirkungen. Um allerdings zu verstehen, wie all die-
se Prozesse untereinander in Wechselwirkung stehen, um
eine lebende Zelle zu bilden, bedarf es weiterer Arbeiten:
Quantifizierungen, Integration der Daten und mathemati-
scher Modellierung – kurz: Systembiologie. Kein Organismus
kann zurzeit mit E. coli in Bezug auf die Menge an zur Verfü-
gung stehenden Daten und experimenteller Zugänglichkeit
konkurrieren. Wir können erwarten, dass uns dieser Organis-
mus in den nächsten Jahren für die Modellierung und Simu- b
lierung einer ganzen Zelle die Türe öffnet. . Abb. 4.4 Schematische Darstellung der Domänen des E. coli-Chromo-
soms. a Der Kreis repräsentiert die genetische Karte des Chromosoms; die
An dieser Stelle sollen auch einige Hinweise zur genetischen genetischen Abstände sind in Minuten angegeben. Die farbigen Balken sym-
Nomenklatur bei E. coli gegeben werden. Prokaryotische Gene bolisieren die verschiedenen Domänen (Ori: grün; links: dunkelblau; rechts:
werden mit einem Kürzel aus drei kursiven Kleinbuchstaben be- rot; Ter: hellblau), wohingegen die unterbrochenen schwarz-weißen Balken
zeichnet, häufig mit Bezug zur Funktion des Gens. Diesem Kür- weniger strukturierte Regionen darstellen. Zur Orientierung sind einige
Gene angegeben. b Das obere Modell zeigt, dass das ringförmige Chromo-
zel folgt ein Großbuchstabe, der eine Differenzierung verschie-
som aus vier stark strukturierten Domänen besteht (Ori, Ter, links und rechts)
dener Loci ermöglicht, die den gleichen Phänotyp beeinflussen sowie aus zwei weniger stark strukturierten Regionen, die sich beidseits an
(z. B. proA, proB). Werden neue Mutationen eines Gens isoliert, die Ori-Region anschließen. DNA-bindende Faktoren sind durch kleine farbi-
erfolgt ihre Unterscheidung durch eine zusätzliche Nummerie- ge Quadrate angedeutet. Das untere Modell zeigt die räumliche Konzentrati-
rung (z. B. proA52). Der Phänotyp selbst wird durch das Kürzel on der DNA aufgrund der DNA-bindenden Faktoren, wodurch DNA-Sequen-
zen in eine räumliche Nähe kommen, die sonst 1000 bp und mehr voneinan-
in Normalschrift bezeichnet, dessen erster Buchstabe großge-
der entfernt sind. Die Abwesenheit von DNA-bindenden Faktoren in den we-
schrieben wird (z. B. Prolin-auxotroph: Pro−). Soll ein Protein niger strukturierten Regionen erlaubt der DNA eine gewisse Flexibilität und
benannt werden, so wird das Kürzel in Normalschrift verwendet Wechselwirkung mit den flankierenden Makrodomänen. (Nach Boccard et
und der erste Buchstabe großgeschrieben (z. B. ProA, ProB). al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)
116 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

. Tab. 4.1 Auswahl vollständig sequenzierter prokaryotischer Genomea

Name Größe (Mb) Institution Jahr

Agrobacterium tumefaciens C58 5,7 Cereon Genomics, Cambridge (USA) 2001

Bacillus antracis 5,1 The Institute of Genome Research (TIGR), Rockville 2003

Bacillus subtilis 4,2 BSNR (intern. Konsortium) 1997

4 Bacillus thuringiensis MC28 6,7 Sichuan Agricultural University 2012

Borrelia burgdorferi B31 1,5 TIGR 1997

Borrelia garinii PBi 1,0 Institut für Molekulare Biotechnologie (IMB), Jena 2004

Chlamydophila pneumoniae J138 1,2 Universität Yamaguchi 2000

Escherichia coli K12 4,6 Universität Wisconsin 1997

Haemophilus influenzae RdKW20 1,8 TIGR 1995

Helicobacter pylori 26695 1,7 TIGR 1997

Lactococcus lactis subsp. lactis 2,4 Institut National de la Recherche Agronomique (INRA), 2001
Paris

Legionella pneumophilia str. Paris 3,64 Institut Pasteur (Paris) 2004

Leptospira interrogans 4,63 Konsortium aus Sao Paulo 2004

Listeria monocytogenes EGD-e 2,9 Europäisches Konsortium 2001

Mycobacterium leprae TN 3,3 Sanger-Institut, Hinxton 2001

Mycobacterium tuberculosis H37Rv 4,4 Sanger 1998

Mycoplasma pneumoniae M129 0,8 Universität Heidelberg 1996

Mycoplasma pulmonis 1,0 Genoscope, Evry 2001

Neisseria meningitidis 2,3 Sanger, TIGR 2000

Pasteurella multocida 2,3 Universität Minnesota 2001

Photobacterium profundum SS9 6,4 Universität Padua 2004

Salmonella typhimurium LT2 5,0 Washington University, St. Louis 2001

Shigella flexneri 2a str. 301 4,8 Mikrobiologisches Genom-Zentrum, Peking 2002

Staphylococcus aureus Mu50 2,9 Universität Juntendo 2001

Streptococcus pneumoniae R6 2,2 Eli Lilly & Co, Indianapolis 2001

Vibrio cholerae O1 4,0 TIGR 2000/2001

Yersinia pestis biovar Medievalis str. 91001 4,8 Chinesische Militärakademie für Medizinische 2004
Wissenschaften

a Gesamtzahl vollständiger Sequenzen: 2562; Quelle: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/genomes/lproks.cgi (Stand: Frühjahr 2013; diese Website wird in
dieser Form nicht weitergeführt. Man wird stattdessen auf die Seite http://www.ncbi.nlm.nih.gov/genome/browse/ umgeleitet und kann dort nach
einzelnen Organismen suchen.)

Eine Auswahl weiterer, sequenzierter Bakteriengenome ent- einer sich selbst replizierenden Zelle definiert werden kann.
hält . Tab. 4.1. Zwei Beispiele sollen etwas ausführlicher vorge- Daher wurde das Genom von M. pneumoniae relativ früh
stellt werden: (Himmelreich et al. 1996) komplett durchsequenziert. Es hat
Mycoplasma pneumoniae (M129) enthält nur ein kleines einen G/C-Gehalt von ca. 40 % und eine durchschnittliche
Genom (816 kb) und besitzt keine Zellwand. Es ist vielmehr nur »Codierungsdichte« von 90 %. Es wurden dabei 677 offene Lese-
von einer Cytoplasmamembran mit Cholesterol als essenziellem rahmen vorhergesagt. 76 % zeigen sehr große Ähnlichkeiten zu
Bestandteil umgeben. M. pneumoniae ist ein Humanpathogen, anderen bekannten Genen. Die Reduktion der Genomgröße ist
das eine »atypische Pneumonie« bei älteren Kindern und jungen ein Ergebnis der Evolution und wird durch den vollständigen
Erwachsenen hervorruft. Als Oberflächenparasit heftet es sich Verlust anaboler Stoffwechselwege erklärt (z. B. keine Amino-
an die respiratorischen Epithelien an. Diese kleinen Bakterien säure-Synthese!). Daher pflegt M. pneumoniae einen obligat
sind besonders interessant, weil damit die minimale Ausstattung parasitären Lebensstil, der von der Zufuhr exogener Metaboliten
4.1 · Bakterien als genetisches Modellsystem
117 4
essenziell abhängt. Allerdings konnten zunächst die Gene für Größe von 1,08 Mb eines Mycoplasma mycoides-Bakteriums neu
einige typische Funktionen (Bewegungsvermögen, Chemotaxis, konstruiert, vollständig synthetisiert und zusammengesetzt –
oxidativer Stress) von M. pneumoniae nicht identifiziert werden. und dann in Mycoplasma capricolum als Empfängerbakterium
Auch durch den »Verzicht« auf eine Zellwand konnte der Parasit übertragen. Die neuen Zellen enthalten nur noch das neue Ge-
die Zahl der notwendigen Gene verringern. Außerdem benötigt nom (JCVI-syn.10 – nach John Craig Venter Institute), das durch
M. pneumoniae für verschiedene grundlegende Prozesse wie etliche »Wasserzeichen« und absichtliche Deletionen charakteri-
DNA-Reparatur, DNA-Rekombination, Zellteilung und Protein- siert ist. Diese Zellen haben die gewünschten Eigenschaften und
sekretion deutlich weniger Gene als komplexere Bakterien. replizieren sich selbstständig. Damit ist es zum ersten Mal gelun-
Im Gegensatz zum Verlust kompletter Stoffwechselwege gen, eine Zelle synthetisch herzustellen (Gibson et al. 2010).
wurde aber auch oft die Amplifikation vollständiger Gene oder Nach mehreren Zwischenstufen wurde inzwischen auch das
Gensegmente beobachtet sowie verkürzte Gene, die zusätzlich Chromosom 3 der Hefe synthetisch hergestellt (Annaluru et al.
noch vollständig und aktiv vorliegen. Es wird vermutet, dass 2014; siehe 7 Abschn. 5.3.1) – und damit erleben wir gerade, wie
es sich hierbei um Relikte früherer Rekombinationsereignisse in der Genetik ein neues Zeitalter anbricht: das der Synthetischen
handelt. Schließlich sind unter den abgeleiteten Proteinen einige Biologie.
wenige, die überraschenderweise die größte Ähnlichkeit mit
eukaryotischen Proteinen haben. Die wichtigsten Beispiele dafür *Ähnlich wie schon zu Beginn der gentechnischen Revolution
in den 1970er-Jahren befürworten viele Wissenschaftler
sind Gene, die für den pre-B cell enhancing factor (pebf) und den
ein Innehalten der Forschung – sie fordern ein Moratorium,
Vorläufer der Carnitin-Palmitoyltransferase II (cpt2) codieren.
um sich der möglichen Auswirkungen der Synthetischen
Beide Gene können Beispiele für einen horizontalen Gentrans-
Biologie zu vergewissern (siehe »Konferenz von Asilomar«,
fer sein, d. h. die Weitergabe genetischen Materials außerhalb der
7 Abschn. 1.4). Die Synthetische Biologie hat natürlich ein
sexuellen Fortpflanzungswege und unabhängig von bestehenden
enormes Potenzial – das reicht vom Müllabbau bis hin zur
Artgrenzen.
Entwicklung von Arzneimitteln. Viele ihrer Anwendungen
Agrobacterium tumefaciens ist ein Pflanzenpathogen mit
beinhalten aber auch die nicht rückholbare Freisetzung die-
der einzigartigen Fähigkeit, einen definierten Abschnitt von
ser synthetischen Organismen in die Umwelt. Und dies er-
DNA auf Eukaryoten zu übertragen, der dann in eukaryotische
fordert zweifellos einen breiten und offenen Dialog »der
Genome integriert. Diese Fähigkeit des DNA-Transfers wird als
Wissenschaft« mit »der Gesellschaft« und auch innerhalb der
wirkungsvolle Methode bei der Produktion transgener Pflanzen
Gesellschaft, um zu einem breiten Konsens für die Anwen-
(z. B. Sojabohne, Mais und Baumwolle) genutzt. A. tumefaciens
dung und notwendige gesetzliche Regularien dieser neuen
wurde als Ursache der Wurzelhalsgalle bei Pflanzen identifiziert,
Technologie zu kommen. Eine ausführliche Diskussion die-
eines Tumors, der sich an der Eintrittsstelle des Bakteriums (klei-
ser ethischen Implikationen findet der interessierte Leser
ne Wunde) bildet. Durch die pflanzlichen Wundreaktionen wer-
bei Anderson et al. 2012.
den Signale erzeugt, die die Genregulation der Agrobakterien
umprogrammieren. Die Induktion der Pflanzentumoren benö- Bisher haben wir uns bei der Besprechung prokaryotischer Or-
tigt dafür nicht mehr als 18 h. Damit ist das pflanzliche Gewebe ganismen auf Bakterien beschränkt. Die Archaeen (früher auch
umdifferenziert und wächst krebsartig weiter. Ein besonderes Archaebakterien oder Ur-Bakterien genannt) wurden als eigen-
Kennzeichen dieser Tumoren ist, dass sie in Gewebekultur Phy- ständige Domäne im Reich der Organismen auch erst 1977 durch
tohormon-unabhängig wachsen können. Carl Woese und Georg Fox definiert, und seither gehört die For-
A. tumefaciens verfügt noch über eine weitere Besonderheit: schung an diesen Organismen zu den faszinierendsten Bereichen
Es enthält außer einem ringförmigen Chromosom auch noch ein der Biologie und natürlich auch der Genetik. Die Genetik (und
lineares Chromosom (sowie zwei extrachromosomale DNA- hier besonders die Genomforschung) war es schließlich auch, die
Moleküle – Plasmide, eines davon ist für die Tumorinduktion wesentlich zur Klassifizierung der Archaeen als eine eigene Do-
wichtig). Das Gesamtgenom hat eine Größe von 5,7 Mb und mäne beigetragen hat. Der wesentliche genetische Unterschied
einen G/C-Anteil von ca. 60 %, ca. 90 % der DNA enthalten co- zwischen den Bakterien und den Archaeen liegt in den Sequen-
dierende Informationen. Das zirkuläre Chromosom (2,8 Mb) zen der kleinen Untereinheit der ribosomalen RNA (16S-rRNA),
enthält einen Replikationsstartpunkt, wie wir es von Bakterien die dazu führten, die Archaeen als eigene Domäne im »Baum des
kennen. Das lineare Chromosom (2,1 Mb) hat dagegen einen Lebens« zu klassifizieren. Heute kennen wir über 100 vollstän-
Replikationsstartpunkt, der an eine evolutionäre Herkunft dige Genomsequenzen von Archaeen, die diese Einteilung bestä-
von Plasmiden denken lässt. Entsprechend sind auch die Gene tigt haben. Ergänzt werden diese genetischen Merkmale durch
für essenzielle Prozesse überwiegend auf dem ringförmigen besondere biochemische Eigenschaften (z. B. ein Ubiquitin-Sys-
Chromosom lokalisiert. Die Enden des linearen Chromosoms tem, das dem der Eukaryoten ähnelt). Dazu gehören auch His-
sind kovalent geschlossen und enthalten offensichtlich Haar- tone und der RNA-Transkriptionsapparat, die beide eher an die-
nadelschleifen. Die Sequenz wurde im Jahr 2001 veröffent- jenigen der Eukaryoten erinnern.
licht (Goodner et al. 2001). Die wichtigsten Eigenschaften des
Tumor-induzierenden Plasmids werden im 7 Abschn. 4.2.2 be-
sprochen.
*Die Anwesenheit eukaryotischer Charakteristika in bestimm-
ten Abstammungslinien von Archaeen wird oft als Argument
Im Frühjahr 2010 berichtete die Gruppe um Craig Venter benutzt, die Eukaryoten stammten von den Archaeen ab.
vom ersten synthetischen Bakterium: Dazu wurde DNA in der Diese Schlussfolgerung ist allerdings zweifelhaft, denn die
118 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

eukaryotischen Merkmale sind im Reich der Archaeen un-


gleich verteilt und kein bekanntes Archaeon trägt alle diese
*Viele Bakterien können DNA auch direkt in die Zelle trans-
portieren; wir unterscheiden dabei zwischen der Aufnahme
Merkmale. Daher gibt es auch eine alternative Hypothese, über die äußere Membran und der Transformation über die
dass diese Merkmale bei dem gemeinsamen Vorläufer von innere Membran. Die DNA-Aufnahme hat dabei zwei Konse-
Archaeen und Eukaryoten vorkamen, später aber bei der quenzen: Die unmittelbare biochemische Bedeutung liegt
Auffächerung der Archaeen wieder teilweise verloren ge- in der Verbesserung der Ernährung der Zelle, denn DNA ist
gangen seien (Brochier-Armanet et al. 2011). eine exzellente Quelle für Desoxyribonukleotide, die für die
Replikation der zelleigenen DNA verwendet werden kann,
4 ohne dass die eigene, Energie verbrauchende Neusynthese
4.2 Extrachromosomale DNA-Elemente: notwendig wäre. Die genetische Bedeutung ist dagegen
Plasmide zunächst weniger offensichtlich, aber die aufgenommenen
DNA-Fragmente sind auch in der Lage, mit homologen
Die DNA-Menge im prokaryotischen Genom und zugleich auch Sequenzen des Bakteriengenoms zu rekombinieren und
die Anzahl von Genen ist generell viel kleiner als in eukaryoti- homologe Segmente im Bakteriengenom zu verdrängen.
schen Genomen (. Abb. 1.3). Wohl aus diesem Grund findet man Damit verfügen viele Bakterien über ein wirksames System
daher in vielen Prokaryoten nur ein einziges Chromosom. Das des horizontalen Gentransfers; wir werden im weiteren Ver-
lässt die Zellteilungsmechanismen von Bakterien viel einfacher lauf immer wieder auf die Konsequenzen dieses Prozesses
ablaufen als in eukaryotischen Zellen, in denen für eine genaue zu sprechen kommen (7 Abschn. 4.4.1). Eine ausführliche
Verteilung der Chromosomen auf die Tochterzellen gesorgt wer- aktuelle Darstellung findet sich bei Mell und Redfield (2014).
den muss (7 Abschn. 6.3.1). Ein weiterer wesentlicher Unter-
schied zu Eukaryoten ist, wie bereits herausgestellt, die Haploidie Allerdings stellt sich bei Anwesenheit eines Plasmids das Prob-
der Bakterien. Man würde daher erwarten, dass ein wichtiges lem der Gleichverteilung der genetischen Information auf die
Element der Evolution bei Eukaryoten – die Erzeugung neuer beiden Tochterzellen in neuer Weise. Die Plasmide stellen dazu
Geno- und Phänotypen durch genetische Rekombination – in ein ausgefeiltes System zur Verfügung, um die genaue Verteilung
Prokaryoten nicht vorkommt. Wie in 7 Abschn. 4.1 gezeigt, wur- ihrer DNA bei der Zellteilung zu gewährleisten. Die Plasmide
de von Lederberg und Tatum jedoch entdeckt, dass Rekombina- codieren dafür par-Gene (engl. partitioning); sie kommen in
tion auch bei Bakterien stattfindet. Wie ist das trotz des haploi- zwei verschiedenen Typen vor: solche, die für Aktin-ähnliche
den Zustands möglich? ATPasen codieren, und solche, die für ATPasen des Walker-Typs
Bakterienzellen haben trotz ihrer Haploidie einen Ausweg codieren. Die Aktin-ähnlichen ATPasen (z. B. beim Plasmid R1)
gefunden, um Rekombinationsereignisse zur Veränderung ihrer bilden dynamische Filamente, die die jeweiligen Plasmide in die
genetischen Konstitution auszunutzen. Sie können nämlich eine Mitte der Tochterzellen schieben. Wie Mikrotubuli zeigen diese
Art sexuellen Prozess durchlaufen, durch den Rekombinations- Filamente eine dynamische Instabilität, deren Regulation eine
ereignisse induziert werden. Der sexuelle Prozess besteht in einer wichtige Komponente während des Segregationsprozesses ist.
Paarung oder Konjugation zweier Bakterienzellen unterschied- Die anderen ATPasen vom Walker-Typ bilden hochdynamische,
lichen Genotyps mit einem anschließenden unidirektionalen oszillierende Filamente, die für die subzelluläre Bewegung und
Transfer des einen Bakteriengenoms in den Konjugationspart- Positionierung des Plasmids verantwortlich sind. In der Regel
ner. Konjugation ist nur möglich, wenn einer der Konjugations- wird die Verteilung der Plasmid-DNA außer durch die ATPase
partner ein (manchmal auch zwei) extrachromosomales ringför- noch durch ein DNA-Bindungsprotein vermittelt. Dabei baut das
miges DNA-Element besitzt, das 94.500 bp lange F-Plasmid. Man DNA-Bindungsprotein einen Nukleoproteinkomplex auf, der
bezeichnet solche extrachromosomalen doppelsträngigen DNA- den intrazellulären Plasmidtransport übernimmt. Dieser Mecha-
Elemente allgemein als Plasmide (oder Episomen). Plasmide nismus der Plasmidverteilung ist offensichtlich ein anderer als
können sich unabhängig von der Replikation des Genoms der der, der für die Verteilung der chromosomalen DNA auf die bei-
Bakterienzelle replizieren und liegen oft in mehreren identischen den Tochterzellen benötigt wird, und eignet sich damit als ein
extrachromosomalen Kopien in der Zelle vor, deren Anzahl neuer Angriffspunkt bei der Bekämpfung der Resistenzübertra-
allerdings meist durch Gene in der Plasmid-DNA streng kontrol- gung durch Plasmide. Ein Modell der Segregation der Plasmid-
liert wird. In ihrem Stoffwechsel sind sie jedoch vollständig vom DNA zeigt . Abb. 4.5 (für eine ausführliche Darstellung dieses
Stoffwechsel der Wirtszelle abhängig, da sie nur wenige Gene Prozesses siehe Ebersbach und Gerdes 2005).
besitzen, die für die spezifischen Funktionen eines Plasmids ver-
antwortlich sind.
4.2.1 F-Plasmid
> Bakterienzellen besitzen oft extrachromosomale DNA-Ele-
mente (Plasmide). Solche Plasmide wirken als Geschlechts-
Das F-Plasmid wird nur einmal in jedem Zellzyklus repliziert
faktoren und ermöglichen eine Konjugation von Bakterien,
und anschließend gleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt.
wobei sich jeweils eine Zelle mit Plasmid und eine ohne
Während der Konjugation erfolgt die Replikation nach dem rol-
Plasmid paaren.
ling circle-Mechanismus (. Abb. 2.17). Diese Replikationsweise
ist wichtig, da hierbei zunächst ein einzelsträngiges lineares
DNA-Molekül erzeugt wird, das während der Konjugation auf
4.2 · Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide
119 4
a b
F

a
Spender Empfänger

Hfr

b
. Abb. 4.6 Übertragung des F-Plasmids auf eine F−-Zelle. Konjugation ist
die Übertragung von DNA von einer Spender- in eine Empfängerzelle, die
einen Zell-Zell-Kontakt erfordert. a Die Gene konjugativer Plasmide (wie
d das F-Plasmid) codieren für Proteine, die für diesen Kontakt notwendig
sind, sowie für die Replikation und die Übertragung des Plasmids in die
Empfängerzelle. b Manchmal ist die Plasmid-DNA in das Wirtsgenom inte-
griert (Hfr); in diesem Fall führt die Konjugation zu einer (teilweisen) Über-
tragung der genomischen Spender-DNA. (Nach Redfield 2001, mit freund-
licher Genehmigung der Nature Publishing Group)

eine F−-Zelle und werden nach der Herstellung des Zellkontakts


von der Donorzelle resorbiert.
e
C Das F-Plasmid von E. coli ist ein Musterbeispiel für bakterielle
Konjugation. Die Transferregion (tra) des F-Plasmids codiert
für acht hochkonservierte Proteine des Sekretionssystems
(engl. type IV secretion system, T4SS), darunter das TraAF (Pilin).
Das T4SS baut einen Kanal auf, durch den DNA und/oder
Proteine von der Spender- zur Empfängerzelle wandern kön-
. Abb. 4.5 Modell zur Verteilung von Plasmid-DNA. a Nach der Replikation
nen. Eine elektronenmikroskopische Aufnahme sowie ein
richten sich die Plasmidpaare in der Mitte der Bakterienzelle aus; die Cen-
tromer-Bindungsproteine (gelb) binden dabei an die Teilungsstellen (rot). Modell des F-Pilus zeigt . Abb. 4.7. Die DNA-Übertragung
b Das ParA-Protein (blau) ergänzt diesen Teilungskomplex, der auch als wird durch den Kontakt eines Pilus mit einem geeigneten
Segresom bezeichnet wird. c Als Folge der ATP-Bindung polymerisiert das Empfänger eingeleitet; dadurch wird der Pilus stark verkürzt,
ParA-Protein in beide Richtungen zwischen den Segresomen und schiebt und es wird eine stabile Paarungsform gebildet. Durch ein
dabei die beiden Plasmidstränge in unterschiedliche Richtungen auseinan-
Paarungssignal, das in die Zelle weitergegeben wird, wird die
der. d Dabei moduliert das Centromer-bindende Protein die Organisation
des ParA-Filaments. e Nach der Zellteilung sind die Plasmidstränge gleich- DNA entspiralisiert, in einen Einzelstrang überführt und
mäßig auf die Tochterzellen verteilt, und das ParA-Polymer wird abgebaut. mit einem »Pilotprotein« in die Empfängerzelle übertragen.
(Nach Hayes und Barillà 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group) > Das F-Plasmid ist ein Plasmid, das den Zellen die Fähigkeit
vermittelt, eine Konjugation durchzuführen. Dieses Plas-
mid besitzt die Gene für die Ausbildung von langen Pili,
eine F-Zelle (also eine Zelle ohne F-Faktor) übertragen wird
mit deren Hilfe sich Konjugationspartner finden. Während
. Abb. 4.6). Da die Replikation und der Transfer eines F-Plas-
der Konjugation repliziert sich das F-Plasmid durch einen
mids während der Konjugation innerhalb von 1–2 min abge-
rolling circle-Mechanismus, und eine Kopie des Plasmids
schlossen ist und nach Beendigung einer Konjugation beide
wird auf den Konjugationspartner übertragen, während
Konjugationspartner ein F-Plasmid enthalten (also F+ sind),
die ursprüngliche Kopie in der Donorzelle zurückbleibt.
kann innerhalb kurzer Zeit eine F−-Population von Zellen, die
mit wenigen F+-Zellen gemischt wird, in eine F+-Population ver- Eine wichtige Eigenschaft des F-Plasmids ist, dass es gelegentlich in
wandelt werden. Der Name F-Plasmid (F von engl. fertility) leitet das E. coli-Chromosom integriert werden kann. Die Integrations-
sich von seiner Eigenschaft ab, Konjugation einer Zelle zu er- stelle ist nicht genau festgelegt, erfordert aber eine DNA-Sequenz-
möglichen. Man bezeichnet das F-Plasmid daher auch als Sex- homologie zwischen F-Plasmid und Chromosom. Diese Sequenz-
Plasmid (früher F-Faktor). Der Transfer von Plasmid-DNA wäh- homologie wird durch mobile DNA-Elemente hergestellt, die so-
rend der Konjugation ist nur möglich, wenn zuvor mithilfe von wohl in der DNA des F-Plasmids als auch im E. coli-Chromosom
Plasmid-codierten Genprodukten spezielle Oberflächenstruktu- vorhanden sind (Transposons, 7 Abschn. 9.1). Im F-Plasmid fin-
ren, die Pili, auf der Zellwand gebildet worden sind. Jede Zelle det man die Elemente IS2, IS3 und γδ (. Abb. 4.8). In das E. coli-
kann ein bis drei solcher Pili bilden, deren Länge die der Zelle bei Chromosom integriert das F-Plasmid mithilfe dieser »IS«-Ele-
Weitem übersteigt. Sie gestatten die Anheftung einer F+-Zelle an mente an Stellen, an denen sich ein homologes Element befindet.
120 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

4
a b c

. Abb. 4.7 Der F-Pilus. a Elektronenmikroskopische Aufnahme von E. coli. Das Bakterium trägt neben den Flagellen eine größere Anzahl von deutlich
kürzeren Pili. b Historische elektronenmikroskopische Aufnahme von parallel angeordneten F-Pili (Anfärbung mit Uranylacetat; 2000 Å = 200 nm). c Schema-
tisches Modell der Struktur eines F-Pilus, wie es aufgrund dieser elektronenmikroskopischen und Röntgenstrukturdaten abgeleitet wurde. Die Unterein-
heiten überlappen offensichtlich und bilden eine helikale Form (128 Å = 12,8 nm). Heute wissen wir, dass der Pilus pro Windung aus 5 TraA(Pilin)-Unterein-
heiten zusammengesetzt ist. (a nach Berg 1975, mit freundlicher Genehmigung von Scientific American; b, c nach Folkhard et al. 1979, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)

Zellen, in denen das F-Plasmid im Bakterienchromosom in- F-Plasmid integriert ist. Damit erhält die Empfängerzelle ein zu-
tegriert ist, werden als Hfr-Zellen bezeichnet. Dieser Name (Hfr sätzliches bakterielles DNA-Komplement. Das ermöglicht die
von engl. high frequency of recombination) leitet sich von der Fä- Rekombination mit der chromosomalen DNA der Empfänger-
higkeit dieser Zellen ab, ihr eigenes Genom mit hoher Frequenz zelle (zum Mechanismus der Rekombination siehe 7 Abschn.
an Empfängerzellen (also F−-Zellen) übertragen zu können. Der 4.4). Die besondere Art der Replikation hat übrigens zur Folge,
Übertragungsprozess gleicht dem der Übertragung des F-Plas- dass auch die Donorzelle ein vollständiges eigenes Genom be-
mids (. Abb. 4.9). Nach einem Einzelstrangbruch im Replikati- hält.
onsstartpunkt des integrierten F-Plasmids wird ein 5’-Einzel- Ein vollständiger Transfer des E. coli-Chromosoms erfordert
strang-Ende unter gleichzeitiger Replikation nach dem rol- etwa 90 min. Oft wird er jedoch vorzeitig abgebrochen, sodass
ling circle-Mechanismus in die Empfängerzelle übertragen. Der nur ein Teil des E. coli-Chromosoms in die Empfängerzelle ge-
DNA-Transfer umfasst aber nunmehr nicht allein die DNA des langt. Man beobachtet daher einen Häufigkeitsgradienten in der
F-Plasmids, sondern die gesamte chromosomale DNA, in die das Rekombination von Markergenen der Donorzelle mit der DNA
der Empfängerzelle (. Abb. 4.10). Markergene, die sich nahe an
der Integrationsstelle des F-Plasmids in der DNA der Donorzelle
befinden, weisen mit größerer Häufigkeit Rekombination auf als
Gene, die weit entfernt von der Integrationsstelle liegen, weil sie
bereits nach kurzer Transferzeit in der Empfängerzelle vorhan-
den sind. Da in verschiedenen Hfr-Stämmen die Integration des
F-Plasmids an unterschiedlichen Positionen und in unterschied-
licher Orientierung relativ zum Bakterienchromosom erfolgt,
konnte man durch Rekombinationsexperimente mit unter-
schiedlichen Hfr-Stämmen eine vollständige genetische Karte
des Bakterienchromosoms erstellen.

> Plasmide können durch Sequenzhomologien zwischen


der Plasmid-DNA und dem Wirtszellgenom in dieses inte-
griert werden. Im Falle des F-Plasmids entstehen auf diese
Weise Hfr-Zellen, die bei Konjugation das Wirtszellgenom
auf den Konjugationspartner übertragen. In diesem er-
folgt in der entstehenden partiell diploiden Konstitution
die Rekombination. Da die Integrationsstellen des F-Plas-
mids über das Wirtszellgenom verteilt sind, können in ver-
. Abb. 4.8 Das F-Plasmid. Genetische Karte des F-Plasmids (Gesamtlänge:
schiedenen Hfr-Stämmen unterschiedliche Wirtszellberei-
94.500 bp). Der oriT-Locus ist der Replikationsursprung und zugleich der Be-
ginn des Transfers des Plasmids in eine andere Wirtszelle während der Kon- che übertragen werden. Auf diesem Wege war es möglich,
jugation. Die DNA-Sequenzen IS2, IS3 und γδ haben Bedeutung als Integra- das gesamte E. coli-Genom genetisch zu kartieren.
tionssequenzen in das E. coli-Genom. Die tra-Gene sind zum Transfer erfor-
derlich (Aufbau des Pilus; . Abb. 4.7), die rep-Gene für die Replikation. Die
Noch eine weitere Eigenschaft des F-Plasmids hat für die Bakte-
phi-Gene verhindern die Vermehrung von Phagen. (Nach Seyffert 2003, mit riengenetik und damit für gentechnologische Experimente große
freundlicher Genehmigung von Springer) Bedeutung erlangt. Das ins bakterielle Genom integrierte F-Plas-
4.2 · Extrachromosomale DNA-Elemente: Plasmide
121 4

. Abb. 4.10 F-Duktion von Markergenen. Verschiedene Markergene von


E. coli (azi, tonA, lac, gal) werden durch F-Duktion mit einem bestimmten
Hfr-Stamm übertragen. Ein vollständiger Transfer erfordert etwa 90 min;
durch Analyse der Rekombinationsraten nach unterschiedlich kurzen Trans-
ferzeiten konnte eine vollständige Chromosomenkarte von E. coli erstellt
werden. (Nach Seyffert 2003, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

diesem Fall wird ein Stück bakterieller DNA in das zirkuläre Plas-
mid integriert, und diese DNA kann dann bei Konjugations-
ereignissen in eine Empfängerzelle übertragen werden. F-Plas-
mide, die ein Stück genomischer DNA enthalten, bezeichnet man
als F’-Plasmide. Mittels solcher F’-Plasmide können Empfänger-
zellen partiell diploid (oder merodiploid) gemacht werden.
Man kann damit Komplementationsstudien durchführen oder
auch die Konsequenzen von Änderungen der Gendosis unter-
suchen.

> F-Plasmide werden in Hfr-Stämmen gelegentlich aus dem


Wirtszellgenom wieder herausgeschnitten. Hierbei neh-
men sie bisweilen ein Stück des Wirtszellgenoms mit in
den entstehenden extrachromosomalen DNA-Ring auf.
Bei der Konjugation wird diese DNA in die Rezeptorzelle
eingeführt und erlaubt auf diesem Wege ebenfalls Rekom-
bination von Teilen der Donorzell-DNA mit dem Rezeptor-
zellgenom.
. Abb. 4.9 Überblick über Mechanismen bei der Konjugation. In der
Donorzelle sind folgende Ereignisse dargestellt: a Integration des Plasmids
in das Chromosom durch Rekombination zwischen die Insertionsstellen; C F-Plasmide haben in der experimentellen Molekulargenetik
b Übertragung eines beweglichen Elementes (über einen zirkulären Zwi- breite Anwendung gefunden. Viele Plasmide, die zum Klo-
schenschritt; 7 Abschn. 9.1.1) vom Chromosom auf das Plasmid; c Beginn nieren von DNA-Fragmenten eingesetzt werden (7 Technik-
der rolling circle-Replikation (. Abb. 2.17). In der Empfängerzelle (Rezipient)
box 11), basieren auf F-Plasmiden. Im Rahmen des frühen
sind folgende Vorgänge dargestellt: d Rezirkularisation; e Angriff von Re-
striktionsendonukleasen (Scheren); f Replikation; g, h verschiedene Integra-
Humangenomprojekts (7 Abschn. 13.1) war es außerdem
tionsmöglichkeiten in das Wirtschromosom. (Nach Thomas und Nielsen nötig, die gesamte DNA in besonders große Fragmente von
2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group) DNA (> 300 kb) stabil zu klonieren, um sie dann sequenzie-
ren zu können; Rearrangements hätten natürlich die Daten
verfälscht. Dazu wurden auf der Basis des F-Plasmids künst-
mid der Hfr-Stämme kann nämlich gelegentlich mit geringer liche Bakterienchromosomen hergestellt (engl. bacterial
Frequenz (10−7 je Generation) das Chromosom wieder verlassen artificial chromosomes, BACs). Als bakterielle Wirtsstämme
(ein Vorgang, der als Exzision bezeichnet wird) und als Plasmid eignen sich besonders solche, die Mutationen in Genen
weiterexistieren. Die Exzision kann entweder unter Verwendung tragen, die für Rekombinationsereignisse wichtig sind
der ursprünglich zur Integration verwendeten DNA-Sequenzen (7 Abschn. 4.4). Das System wurde von Melvin Simon und
erfolgen, also durch eine homologe Rekombination, oder durch seiner Gruppe zu Beginn der 1990er-Jahre entwickelt und
Rekombination mit einer anderen Stelle des Chromosoms. In wird bis heute verwendet (Shizuya et al. 1992).
122 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

4.2.2 Andere Plasmide

Neben dem F-Plasmid gibt es eine Reihe anderer Plasmide in


E. coli. Es handelt sich ebenfalls um zirkuläre doppelsträngige
DNA-Moleküle, deren Größe mit Molekulargewichten von meis-
tens etwa 106 bis maximal 108 (1,6 × 103 bis 1,6 × 105 bp) nur we-
nige Prozent derjenigen des Bakterienchromosoms (4 × 106 bp)
beträgt. Auch sie besitzen, wie das F-Plasmid, eine Reihe eigener
4 Gene, sind aber zur Replikation weitgehend vom Genom der
Wirtszelle abhängig. Obwohl E. coli-Zellen gewöhnlich auch
ohne Plasmide existenzfähig sind, vermitteln Plasmide unter
speziellen Bedingungen Eigenschaften, die ein Überleben der
Bakterienzelle erst ermöglichen. Vor allem sind hierbei R-Plas-
mide zu nennen, die eine Resistenz gegen Antibiotika vermitteln
(z. B. gegen Tetracyclin, Ampicillin oder Canamycin). Eine ande-
re Klasse von Plasmiden sind die Col-Plasmide, die durch die
von ihnen codierten Proteine (Colicine, z. B. Membranproteine, a
DNasen oder RNasen) andere Bakterienstämme abtöten, die das
betreffende Plasmid nicht besitzen. Wie schon erwähnt, ist die
Anzahl von Plasmiden in einer Bakterienzelle im Allgemeinen
kontrolliert und liegt zwischen 1 und 50 Kopien je nach Plasmid.
Die Übertragung von Plasmiden erfolgt bei manchen Plasmiden,
wie beim F-Plasmid, durch Konjugation. Jedoch ist die Effizienz
der Übertragung oft sehr viel geringer als beim F-Plasmid. Man-
che Plasmide können selbst keine Konjugation induzieren, wohl
aber bei gleichzeitiger Anwesenheit von konjugationsinduzie-
renden Plasmiden mit übertragen werden. Allerdings sind nahe
verwandte Plasmide meist inkompatibel und können nicht
gleichzeitig in einer Zelle anwesend sein.

*Der Boden ist eines der größten und vielfältigsten Habitate


für Prokaryoten und steht in regem Austausch mit anderen
ökologischen Bereichen. Durch landwirtschaftliche Aktivitäten
werden in vielfältiger Weise Antibiotika in Böden eingebracht b
(z. B. durch Antibiotika-haltige Pflanzenschutzmittel oder
durch die Gülle aus der Tiermast, bei der antibiotische Medika- . Abb. 4.11 Tumorinduktion durch das Ti-Plasmid von Agrobacterium
tumefaciens. a Der Stamm einer Tomatenpflanze wurde angeritzt und eine
mente zum Einsatz kommen). Unter diesem Selektionsdruck
kleine Menge einer Bakteriensuspension in die Wunde gegeben. Der Pfeil
haben Bakterien mit den entsprechenden Resistenzen erhöhte deutet auf die großen Tumoren nach 5 Wochen. b Die Plasmidkarte eines
Überlebensraten. So ist es natürlich auch nicht überraschend, Ti-Plasmids zeigt die T-DNA, flankiert von den Wiederholungselementen
dass in Bodenbakterien vielfältige Resistenzen gegen β-Lac- LB und RB (engl. left border bzw. right border). ori: Replikationsursprung;
tame (z. B. Penicillin), Aminoglykoside (z. B. Streptomycin), noc: Nopalinkatabolisierung; nos: Nopalinsynthese; tmr: Cytokinbildung;
tms: Auxinbildung; tra: konjugativer Transfer; vir: Virulenzregion. (a nach
Amphenicole (z. B. Chloramphenicol), Sulfonamide und Tetra-
Escobar et al. 2001, mit freundlicher Genehmigung der National Academy
cycline gefunden werden. Die Sequenzen der Resistenzgene of Sciences, USA; b nach Kempken und Kempken 2004, mit freundlicher
aus Bodenbakterien stimmen auch mit entsprechenden Resis- Genehmigung von Springer)
tenzgenen überein, die in humanpathogenen Bakterien aus
Krankenhäusern gefunden wurden. Das deutet darauf hin,
dass es einen lateralen Austausch von genetischer Information
werden. A. tumefaciens ist in der Lage, an verletzten Pflanzen
zwischen verschiedenen Bakterienstämmen gibt, der natürlich
Tumoren (»Wurzelhalsgalle«; . Abb. 4.11a) zu induzieren. Als
auch Resistenzgene einschließt (Forsberg et al. 2012).
Ursache identifizierte man große Plasmide, die aufgrund ihrer
> Manche Plasmide verleihen durch den Besitz von Resis-
Tumor-induzierenden Eigenschaften als Ti-Plasmide bezeichnet
tenzgenen den Wirtszellen Resistenz gegen Antibiotika
werden. Ti-Plasmide tragen Gene für die Opinverwertung, die
oder andere Bakterienstämme. Diese Resistenzgene kön-
Erkennung verwundeter Zellen (Rezeptoren für pflanzliche Phe-
nen zwischen verschiedenen Bakterienstämmen ausge-
nolderivate, z. B. Acetosyringon) und für die Mobilisierung und
tauscht werden (»lateraler Gentransfer«).
den Transfer eines bestimmten Plasmid-Fragments, der T-DNA.
Die T-DNA enthält die Gene für die Tumorinduktion und Opin-
Unter den vielen anderen Plasmiden soll hier noch ein Plasmid synthese; sie wird links und rechts durch ein Wiederholungsele-
von Agrobacterium tumefaciens etwas ausführlicher besprochen ment von 25 bp begrenzt, das als Erkennungssequenz für das
4.3 · Bakteriophagen
123 4
Herausschneiden des dazwischenliegenden DNA-Abschnitts a b
dient (. Abb. 4.11b). Nach der Übertragung wird die T-DNA in
die DNA der Pflanze integriert; der Integrationsort ist zwar weit-
gehend zufällig, allerdings werden transkriptionsaktive Bereiche
bevorzugt.
Durch die Wundreaktion werden Signale erzeugt, die zu-
nächst zur Anheftung der Agrobakterien an die Pflanzenzelle
führen und im weiteren Verlauf zur Übertragung der T-DNA.
Die T-DNA enthält unter anderem auch Gene zur Auxin- und
Cytokinsynthese. Diese beiden Substanzen führen innerhalb
kurzer Zeit zum Tumorwachstum, indem undifferenzierte Zell-
teilung gefördert wird. Ein besonderes Kennzeichen dieser Tu-
moren ist, dass sie in Gewebekultur Phytohormon-unabhängig
c
wachsen können.
Ti-Plasmide können aufgrund der dargestellten Integration
in das pflanzliche Genom in ausgezeichneter Weise benutzt
. Abb. 4.12 Verschiedene Bakteriophagen. a Ikosaedrischer Phage mit
werden, um Fremdgene in Pflanzen einzubringen (Herstellung
Schwanz (z. B. T2, T4, Lambda). b Ikosaedrischer Phage ohne Schwanz (z. B.
»transgener« Pflanzen). Voraussetzung dafür ist allerdings, dass ΦX174). c Filamentöser Phage (z. B. M13)
die Tumor-induzierenden Gene tms und tmr entfernt werden; in
diese »entschärften« Plasmide können nun zwischen der linken
und rechten Grenze beliebige Fremdgene inseriert werden, z. B. Das Genom eines Bakteriophagen kann aus Folgendem be-
ein Selektionsmarker (Antibiotikaresistenz), eine Herbizidresis- stehen:
tenz oder ein Gen zur experimentellen Analyse regulatorischer 4 Einzelstrang-DNA oder
Sequenzen (Reportergen, z. B. Glucuronidase, GUS). 4 Doppelstrang-DNA, die linear oder zirkulär ist, oder aus
4 linearer Einzelstrang-RNA.
> Das Ti-Plasmid von A. tumefaciens führt zur Tumorinduk-
tion bei Pflanzen. Ein Teil seiner DNA wird dabei in das
Während des extrazellulären Stadiums ist das Genom in eine
Pflanzengenom integriert; diese Eigenschaft kann bei der
Proteinhülle verpackt, die auch Capsid (engl. coat oder capsid)
Herstellung transgener Pflanzen genutzt werden.
genannt wird. Die Hüllproteine werden vom Bakteriophagen-

*Neuere Arbeiten zeigen, dass unter Laborbedingungen das


Wirtsspektrum der Agrobakterien auf nicht pflanzliche Euka-
genom codiert, während andere für den Bakteriophagen not-
wendige Moleküle je nach Phagentyp – und damit Genomgröße
– entweder im Phagengenom oder im Genom des Wirtsbakte-
ryoten ausgedehnt werden kann. Dazu gehören Hefen, fila-
riums codiert werden. Die Proteinhülle des extrazellulären Sta-
mentöse Pilze, kultivierte Champignons und menschliche
diums ist erforderlich, um die Phagen-DNA vor Abbau (Degra-
Zellkulturen. Damit eröffnen sich weitere Einsatzmöglichkei-
dation) zu schützen, zugleich aber auch, um die Infektion neuer
ten des Ti-Plasmids und auch die Möglichkeit, den Mecha-
Zellen zu ermöglichen.
nismus eines horizontalen Gentransfers besser zu verstehen
Nach der Form der Phagenpartikel kann man drei Typen
– handelt es sich hierbei doch um eine der treibenden
von Bakteriophagen unterscheiden (. Abb. 4.12):
Kräfte der Evolution. Man darf dabei auch nicht vergessen,
4 filamentöse Phagen, bei denen die DNA in gestreckter
dass Agrobakterien seltene und opportunistische Krank-
Form in ein fadenförmiges Capsid verpackt ist, Beispiel:
heitserreger beim Menschen darstellen; vor allem für im-
Bakteriophage M13 (= fd);
mungeschwächte Patienten. Eine ausführliche Darstellung
4 ikosaedrische, schwanzlose Phagen, deren Genom in
der Möglichkeiten und Gefahren findet sich bei Lacroix
hochkompakter Form in ein Capsid verpackt ist, Beispiel:
et al. (2006).
Bakteriophage ΦX174;
4 ikosaedrische Phagen mit Schwanz, deren Genom eben-
falls in kompakter Form im Kopf des Phagen verpackt ist.
4.3 Bakteriophagen Der Schwanz besitzt oft eine besondere Struktur zur Ad-
sorption an die Zellwand sowie zusätzliche Fibrillen, Bei-
Bakteriophagen, meist kurz Phagen genannt, sind Viren höherer spiele: Bakteriophage T4, Bakteriophage λ.
Organismen vergleichbar. Sie unterscheiden sich von Plasmiden
prinzipiell dadurch, dass sie ein extrazelluläres Stadium durch- > Bakteriophagen sind Viren von Bakterien und können die-
laufen können. Beiden ist gemeinsam, dass sie über keinen eige- se in großer Zahl infizieren. Während des extrazellulären
nen Stoffwechsel verfügen, sondern vollständig vom zellulären Stadiums ist das Phagengenom in eine Proteinhülle ver-
Stoffwechsel ihrer Wirtszellen abhängig sind. Man kennt einige packt. Bei Adsorption an eine Bakterienzelle wird die DNA
Tausend verschiedener Phagenarten, die sich in vielen Einzelhei- in die Wirtszelle injiziert, während die leere Proteinhülle
ten, unter anderem in Genomgröße und -aufbau, in Gestalt und an der Bakterienmembran verbleibt.
Wirtsspezifität voneinander unterscheiden.
124 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

4.3.1 Vermehrungszyklus Beiden Vermehrungszyklen von Phagen sind verschiedene


Grundelemente gemein, die zunächst im Zusammenhang mit
Die Vermehrungszyklen der verschiedenen Bakteriophagenty- dem lytischen Zyklus besprochen werden; die Details der Gen-
pen weisen viele Ähnlichkeiten auf. Grundsätzlich kann man regulation werden im 7 Abschn. 4.5 ausführlich diskutiert.
zwischen zwei Arten von Zyklen unterscheiden (. Abb. 4.13):
> Bakteriophagen können nach der Infektion einer Bakte-
4 lytischer Zyklus,
rienzelle entweder eine Vermehrungsphase durchlaufen
4 lysogener Zyklus.
und die Zelle danach in Form neuer Phagenpartikel, meist
unter Lyse der Zelle, verlassen. Alternativ können sie zu-
4 Virulente Phagen benutzen eine infizierte Bakterienzelle zur
nächst in ein inaktives Stadium übergehen, indem sie sich
Synthese neuer Phagenpartikel. Man bezeichnet diese Art der
als Prophage ins Wirtszellgenom integrieren. Durch Schä-
Vermehrung als lytischen Zyklus. In den meisten Fällen werden
digung der DNA wird der Prophage aktiviert, verlässt das
die Zellen zerstört (lysiert) und die neu gebildeten Phagenparti-
Wirtszellgenom und beginnt einen Vermehrungszyklus
kel freigesetzt. Einige filamentöse Phagen (z. B. M13) hingegen
mit anschließender Lyse der Zelle.
entlassen die neu gebildeten Phagen durch die Abschnürung von
Ausstülpungen der Zellwand, ohne dass die Zelle hierdurch zer-
stört wird. Lytischer Zyklus
Temperente Phagen leiten nach der Infektion einer Bakte- Doppelstrang-DNA-Phagen mit einem lytischen Zyklus durch-
rienzelle einen lysogenen Zyklus ein. Die meisten (mindestens laufen die folgenden Schritte, beginnend mit dem Zeitpunkt der
90 %) der bekannten Phagen gehören zu dieser Klasse. Ein tem- Infektion einer Wirtszelle:
perenter Phage integriert sich nach der Infektion der Zelle im 4 Adsorption an Rezeptoren in der Zellwand der Wirtszelle
Allgemeinen zunächst ins Bakteriengenom und verbleibt dort und Injektion der DNA direkt in die Wirtszelle.
als Prophage ohne wesentliche weitere Stoffwechselfunktionen. 4 Die zelleigene RNA-Polymerase beginnt mit der Tran-
Lediglich durch die Synthese eines Repressors wird die Neu- skription der Phagen-DNA. Im Allgemeinen führt diese
infektion mit dem gleichen Phagentyp verhindert. Da der Pro- Transkription unmittelbar zur Synthese einer phagenspezi-
phage ins Bakteriengenom integriert ist, wird er mit diesem rep- fischen RNA-Polymerase, die die weitere Transkription des
liziert und gelangt so in alle Nachkommen. Unter besonderen Phagengenoms übernimmt, oder die Wirtszell-RNA-Poly-
Umständen (Schädigung der DNA) kann der Prophage jedoch merase wird so modifiziert, dass sie weitere phagenspezi-
das Bakteriengenom wieder verlassen und dann in einen lyti- fische Transkripte produziert. Gleichzeitig wird häufig die
schen Zyklus eintreten, der die Produktion neuer Phagenpartikel Wirtszelltranskription ausgeschaltet, sodass nur noch Stoff-
und deren Freisetzung zur Folge hat. Die Zelle wird hierbei zer- wechselprozesse ablaufen, die vom Phagen für seine Ver-
stört. mehrung genutzt werden.

. Abb. 4.13 Zyklus des Bakteriophagen λ. Nach der


Infektion der Wirtszelle hat der Phage zwei Möglich-
keiten: Bei der lytischen Antwort (äußerer Kreis) wer-
den an der Phagen-DNA als Matrize nach dem rolling
circle-Mechanismus (. Abb. 2.17) neue lineare Pha-
gen-DNA-Moleküle synthetisiert. Gleichzeitig werden
die Hüllproteine hergestellt, sodass schließlich eine
Verpackung der DNA in den vorbereiteten Phagen-
kopf und ein Anfügen des ebenfalls vorbereiteten
Phagenschwanzes erfolgen kann. Die Zelle lysiert
dann und entlässt neue, infektiöse Phagenpartikel.
Im lysogenen Zyklus (innerer Kreis) erfolgt zunächst
eine Rezirkularisierung der linearen λ-DNA an den
Enden mit kurzen, einzelsträngigen Abschnitten
(engl. cohesive sites; Abk.: cos). Danach integriert der
λ-Phage als Prophage (blau) ins bakterielle Genom;
er kann in dieser Form über viele Zellgenerationen
im Bakteriengenom verbleiben. Der Prophage wird
allerdings irreversibel induziert, wenn ein großer
DNA-Schaden eine SOS-Reparatur-Antwort auslöst;
das führt dann in den lytischen Kreislauf. In sehr sel-
tenen Fällen geschieht dies auch spontan; einige der
spontan induzierten Zellen betreten den lytischen
Zyklus unvollständig, verlieren den Prophagen und
werden nicht-lysogen. (Nach Campbell 2003, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)
4.3 · Bakteriophagen
125 4
4 Die phagenspezifische Transkription stellt, oft in genau > Bakteriophagen haben meist einen eng begrenzten
programmierter Folge, Proteine zur Verfügung, die zum Wirtsbereich und können nur auf wenigen Bakterienstäm-
Aufbau neuer Phagenpartikel notwendig sind. Hierbei han- men wachsen. Diese Wirtsspezifität beruht auf speziellen
delt es sich um strukturelle Proteine sowie Proteine, die für Schutzmechanismen, die die Wirtszellen zur Abwehr von
die Zusammensetzung des neuen Phagen gebraucht wer- Infektionen entwickelt haben. Hierbei spielen vor allem
den. In manchen Phagen (z. B. λ) werden die Phagenparti- Endonukleasen eine große Rolle, die fremde DNA ab-
kel vorgefertigt, sodass die Phagen-DNA nach der Replika- bauen, zelleigene DNA aber aufgrund spezifischer Modi-
tion direkt in die Hülle überführt werden kann. In anderen fikationen, z. B. sequenzspezifischer Methylierung, intakt
Phagen (z. B. M13) erfolgt die Zusammensetzung des Pha- lassen. Nur wenn die Phagen-DNA dementsprechende
gen aus DNA und Protein gleichzeitig. Bei RNA-Phagen ist Modifikationen besitzt, kann eine erfolgreiche Infektion
zur Replikation ein besonderes, vom Phagen codiertes En- stattfinden.
zym, die Reverse Transkriptase (engl. reverse transcriptase)
erforderlich, das die RNA über den Umweg eines Doppel- Lysogener Zyklus
strang-DNA-Moleküls vervielfachen kann. Der lysogene Zyklus kann als eine Erweiterung des lytischen
4 Nach Produktion einer größeren Anzahl neuer Phagenpar- Zyklus um eine inaktive, stabile Phase des Phagen angesehen
tikel (abhängig vom Phagentyp zwischen 50 und 500) wer- werden. Üblicherweise wird die Phagen-DNA dabei in das Wirts-
den diese nach Lyse der Zellwand freigesetzt. Einige fila- zellgenom integriert. Die über den lytischen Zyklus hinaus-
mentöse Phagen (z. B. M13) entlassen die neuen Phagen- gehenden wichtigen Ereignisse im Leben eines temperenten
partikel durch Extrusion, d. h. Abschnürung von der Zell- Phagen lassen sich wie folgt zusammenfassen (. Abb. 4.13); die
wand ohne Zerstörung der infizierten Zelle. Details der Genregulation werden im 7 Abschn. 4.5 ausführlich
besprochen:
C Der Wirtsbereich eines Bakteriophagen ist meist sehr eng 4 Nach der Infektion der Wirtszelle wird zunächst eine RNA
begrenzt. Oft sind sogar nur einzelne Stämme einer be-
vom Phagengenom synthetisiert, die im Wesentlichen ein
stimmten Bakterienart zur Vermehrung eines Phagen geeig-
Repressorprotein codiert. Dieses Repressorprotein unter-
net. Während der Bakteriophage T4 nicht nur auf vielen
bindet die weitere Transkription des Phagengenoms.
E. coli-Stämmen wachsen kann, sondern auch auf einigen
Gleichzeitig entsteht ein phagenspezifisches Enzym, das zur
anderen Bakterienarten, ist die Vermehrungsfähigkeit für
Integration des λ-Genoms ins Wirtszellgenom erforderlich
den Bakteriophagen ΦX174 auf den E. coli-Stamm C be-
ist.
schränkt. Hinzu kommt eine weitere Beschränkung der Ver-
4 Die Phagen-DNA wird dann sequenzspezifisch ins Wirts-
mehrung mancher Phagen, die man als Wirtsbeschränkung
zellgenom eingefügt und verbleibt dort als Prophage.
(engl. host restriction) bezeichnet. Lässt man beispielsweise
4 Zur Induktion eines lytischen Zyklus wird das Prophagen-
einen Bakteriophagen λ auf einem E. coli-Stamm K wachsen
genom aus dem Wirtszellgenom herausgeschnitten und be-
und infiziert mit dem Lysat dieser Zellen einen E. coli-Stamm B,
ginnt mit der Synthese phagenspezifischer mRNA sowie
so kommt es nur zu einer geringfügigen Vermehrung des
mit der Replikation, bis schließlich Phagenpartikel aus der
Phagen. Die Ursache hierfür liegt in einer Modifikation der
lysierten Zelle entlassen werden.
Phagen-DNA, die im B-Stamm erfolgt ist. E. coli B produziert
nämlich eine stammspezifische Nuklease (EcoB-Nuklease),
die fremde DNA sequenzspezifisch zerschneidet und damit
4.3.2 Bakteriophage λ
für die Transkription und Replikation unbrauchbar macht.
Die zelleigene DNA ist, ebenso wie λ-DNA, die in diesen Zel-
Von allen Bakteriophagen haben Experimente am Phagen λ (der
len repliziert wurde, durch sequenzspezifische Methylie-
Name ist der des griechischen Buchstaben »Lambda«) die wohl
rung von Adenin vor dem Abbau durch Nukleasen ge-
größten Beiträge zur Entwicklung der molekularen Genetik ge-
schützt. Phagen-DNA aus K-Zellen wird hingegen abgebaut.
leistet. Entdeckt wurde er durch Esther und Joshua Lederberg
Ein geringer Erfolg der Infektion auf E. coli K gewachsener
(1953) als Bestandteil des E. coli-Stamms K12, der einen
Phagen ist durch eine schnelle Methylierung einiger Pha-
λ-Prophagen in seinem Genom enthält, also lysogen ist. Ent-
gen-DNA-Moleküle zu erklären, die dadurch den zellulären
scheidend für seine Bedeutung in der Molekulargenetik ist, dass
Schutzmechanismus der B-Zellen überwinden.
die Integration von λ als Prophage an einer spezifischen Stelle im
Mit diesem Vorgang der Wirtsbegrenzung haben wir die Exis- E. coli-Chromosom erfolgt, zwischen dem gal- und dem bio-Gen.
tenz einer wichtigen Art von Nukleasen kennengelernt, der Der Integrationsmechanismus bietet darüber hinaus wertvolle
sequenzspezifischen Endonukleasen oder Restriktionsenzyme Möglichkeiten zur Verwendung des Phagen als Vektor in der
(Smith et al. 1972). Diese Enzyme spielen durch ihre weite Ver- Gentechnologie (7 Technikbox 11). Ein λ-Phage besteht etwa zur
breitung nicht nur eine Rolle für die Abschirmung von Zellen Hälfte aus doppelsträngiger DNA, die etwa 50 Proteine codiert,
gegen Infektion mit fremder DNA, sondern sind für die Gen- zur anderen Hälfte aus Protein. Die Genomgröße des Wildtyp-
technologie von entscheidender Bedeutung (7 Technikbox 13). Phagen λ beträgt 48.502 bp; dieser Stamm hat jedoch eine 1-bp-
Deletion im Vergleich zum »Ur-λ«. Die Sequenz ist seit 1982
bekannt (Sanger et al. 1982). Einen Überblick über die Struktur
des λ-Genoms gibt . Abb. 4.14.
126 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

. Abb. 4.14 Genomkarte des Bakteriophagen λ im zirkulären Zustand mit frühen und späten Genen sowie den wichtigsten Regulationssequenzen. Gene
und offene Leserahmen sind als farbige Kästchen dargestellt, regulatorische Regionen (Promotoren) als Pfeilspitzen. Transkripte sind als Linien oberhalb oder
unterhalb der Genkarte dargestellt; Terminatoren als kleine Kreise. Die Zirkularisierung erfolgt im Bereich der kohäsiven Enden (cos; schwarzer Punkt, rechts).
Die Anlagerungsstelle (attP) der Phagen-DNA an die DNA von E. coli ist links als schwarzes Rechteck gezeigt. Lysogene Gene sind rot dargestellt, die frühen
lytischen Gene, die vom Promotor PR abgelesen werden, sind blau und die späten lytischen Gene, die vom Promotor PR’ abgelesen werden, sind violett. Re-
gionen, die Gene für späte lytische Transkripte für die Kopf- oder Schwanzproteine codieren bzw. für die Zell-Lyse verantwortlich sind, sind entsprechend
bezeichnet. Die Gene, die für die Integration (int) bzw. Exzision (xis) benötigt werden, sowie Transkripte, die von cII-aktivierten Promotoren (PRE, PI, PaQ)
hergestellt werden, sind orange gezeichnet. (Nach Dodd et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Nach der Adsorption an eine Wirtszelle mittels der Basalplat- Phagen Voraussetzung ist. Die gesamte für die Integration erfor-
te des Schwanzes wird die DNA in die Zelle injiziert. Hier beginnt derliche Region in der Phagen-DNA umfasst 240 bp, während
die Transkription des λ-Genoms, und es werden die für die Re- auf der Seite des bakteriellen Genoms nur die 15-bp-Homologie
plikation der Phagen-DNA erforderlichen Genprodukte und die erforderlich ist. An der Phagenintegrationsstelle binden neben
zur Bildung der Proteinkapsel und des Schwanzes notwendigen dem IHF-Protein noch zwei weitere Phagen-codierte Proteine
Proteine synthetisiert. Die neu replizierte Phagen-DNA wird (Gpint und Gpxis). Die Integrase schneidet beide Integrations-
dann mit den Proteinkomponenten zum Phagen zusammenge- stellen in der in . Abb. 4.15b gezeigten Weise durch Doppel-
setzt. Nach etwa 50 min (bei 37 °C) lysiert die Wirtszelle, und strangbrüche asymmetrisch, ähnlich wie die Topoisomerase II,
etwa 100 neue Phagen werden aus ihr freigesetzt. In einem alter- sodass die λ-Phagen-DNA spezifisch und kovalent ins Bakte-
nativen Stoffwechselweg, der den lysogenen Zyklus einleitet, rienchromosom integriert werden kann.
werden nach der Infektion der Wirtszelle nur Proteine herge- Die Integrase benutzt dabei einen hochkonservierten Tyro-
stellt, die zur Integration des Phagen ins Wirtszellgenom erfor- sin-Rest, um das Rückgrat der DNA anzugreifen. Zu dieser Fa-
derlich sind, während gleichzeitig die Replikation und die Syn- milie der Tyrosin-Rekombinasen/Integrasen gehört auch die
these von Hüllproteinen sowie die zur Zusammensetzung des Cre-Rekombinase des Phagen P1 (7 Abschn. 4.3.3), die FLP-In-
Phagen notwendigen übrigen Komponenten unterdrückt (repri- vertase von Hefe (7 Abschn. 5.3.1) und das bakterielle Protein
miert) werden. Dann kann die Integration ins Wirtszellgenom XerC. Eine andere Gruppe von Rekombinasen/Invertasen ver-
als Prophage erfolgen. wendet dagegen Serin-Reste, um die DNA zu öffnen (Serin-Re-
Die Integration des λ-Genoms in das Wirtszellgenom erfolgt kombinasen).
durch eine locusspezifische Rekombination (engl. site-specific Für die Exzision der λ-DNA ist neben der Integrase noch ein
recombination), an der bakterielle und Phagen-codierte Proteine weiteres Enzym, die Exzisionase, notwendig. Sie bindet, zusam-
beteiligt sind. Das λ-Genom besitzt terminale invertierte Repeats men mit der Integrase, an die Integrationsstellen des Prophagen
von 12 Nukleotiden (engl. cohesive ends, auch als cos-sites be- und führt anschließend die der Integration entgegengesetzte Re-
zeichnet). Mittels dieser Elemente kann ein lineares Phagenge- aktion aus. Der Prophage kann dann als Phage in den lytischen
nom zirkularisiert werden. Vom Phagengenom wird das Enzym Zyklus übergehen.
Integrase bereitgestellt, das als eines der ersten Gene nach einer Obwohl die Exzision gewöhnlich sehr genau erfolgt, beobach-
Phageninfektion in der Wirtszelle aktiviert wird. Die E. coli-Zelle tet man gelegentlich Fehler, die zur Folge haben, dass ein Teil der
stellt für die Integration ein Protein, genannt IHF (engl. integra- flankierenden DNA des Prophagen, also bakterielle DNA, mit in
tion host factor), zur Verfügung. Beide Proteine binden an DNA- das replizierende Phagengenom aufgenommen wird. Es kann sich
Regionen im zirkularisierten λ- und im Bakteriengenom, die hierbei nur um eine der beiden flankierenden E. coli-Sequenzen
als attP und attB (von engl. attachment site phage oder bacterial; handeln, also um DNA aus dem Bereich des gal-Operons oder
. Abb. 4.15) bezeichnet werden. Beide Regionen weisen eine des bio-Gens. Da diese DNA mit dem Phagengenom repliziert
15-bp-Homologie in der DNA auf, die für die Integration des und anschließend in Phagenpartikel verpackt wird, kann Wirts-
4.3 · Bakteriophagen
127 4

Phagen-
genom Phagen-
genom

+ Integrase
Bakterien-
genom

+ Integrase,
Bakterien- Exzisionase
genom

att P

att B

. Abb. 4.15 Integration/Exzision von Phagen. a Der fett gezeichnete Kreis repräsentiert das Phagengenom mit seiner Anheftungsstelle attP; der größere
Kreis symbolisiert das bakterielle Genom mit seiner Anheftungsstelle attB. Bei Anwesenheit einer Integrase (und ggf. weiterer Wirtsfaktoren) wird das
Phagengenom in das bakterielle Genom integriert, flankiert von zwei hybriden att-Sequenzen, attL und attR (links bzw. rechts). Bei gleichzeitiger Anwesen-
heit einer Integrase und einer Exzisionase findet die entsprechende Rückreaktion statt. b Sequenzspezifische Integration des Phagen λ ins E. coli-Genom.
Sequenzhomologien zwischen den attP- und attB-Regionen von λ (schwarz) und E. coli (rot) (oben) führen zu der Integration der Phagen in einer Position
zwischen dem gal- und dem bio-Gen (unten). Die horizontalen Pfeile zeigen die invertierten Repeats an, die vertikalen kurzen Pfeile die Schnittstellen, an
denen die att-Regionen geöffnet werden. Die beiden Grenzbereiche links und rechts vom Phagengenom geben die Regionen an, innerhalb derer die Inte-
gration des Phagen erfolgt ist. (a nach Groth und Calos 2004, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

zell-DNA durch Infektion in eine neue Wirtszelle übertragen und bleibt in dieser Prophagensituation mit Ausnahme eines
zusammen mit der Prophagen-DNA ins Bakterienchromosom Repressors inaktiv. Der Prophage kann durch Stresseinwir-
integriert werden. Funktionell besteht kein Unterschied, da auch kung auf die Wirtszelle aktiviert werden und geht nach
diese DNA transkribiert werden kann und – sofern die transdu- Exzision aus dem Genom in den lytischen Zyklus über.
zierten Gene nicht defekt sind – funktionsfähige Gene vorhanden
sind. Die betreffende Bakterienzelle ist mithin merodiploid, wie C Bei seinen Arbeiten mit dem Bakteriophagen λ entdeckten
wir es bereits als Folge der Sexduktion (F-Plasmid) kennengelernt Werner Arber und Daisy Dussoix 1962, dass sich Bakterien
hatten (7 Abschn. 4.2.1). Die locusspezifische Integration von λ gegenüber eindringender DNA durch Modifikationen schüt-
hat zur Folge, dass im Allgemeinen nur DNA aus dem der attB- zen können: Sie methylieren ihre eigene DNA und bauen
Sequenz benachbarten Genbereich transduziert werden kann. fremde DNA ab – »fremd« definiert sich für eine Bakterienzelle
Für das Verständnis der Transduktionsvorgänge durch λ-Phagen also durch ein anderes (oder gar kein) Methylierungsmuster
ist es wichtig, sich den Replikationsmechanismus des Phagen zu der DNA. Die entsprechenden Enzyme wurden Restriktions-
vergegenwärtigen. Die Replikation von λ erfolgt nach dem rol- enzyme genannt, da sie die Vermehrung von DNA aus Plasmi-
ling circle-Mechanismus (. Abb. 2.17). den bzw. Phagen auf solche des eigenen Stamms beschränkt
(»Restriktion«). Restriktionsenzyme schneiden sequenzspezi-
> Der Bakteriophage λ ist ein temperenter Phage, der sich fisch, sodass sie sehr schnell wichtige Hilfsmittel der damals
aufgrund einer DNA-Sequenzhomologie zwischen Pha- noch jungen Molekulargenetik wurden (7 Technikbox 13).
gen- und Bakterien-DNA an einer spezifischen Stelle ins Werner Arber bekam für diese grundlegenden Arbeiten zu-
Wirtszellgenom integrieren kann. Das Phagengenom sammen mit Daniel Nathans und Hamilton Smith 1978 den
128 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Nobelpreis für Medizin. Heute kennen wir über 3500 Restrik- a


tionsenzyme, sodass es notwendig wurde, die Namensge- Integration
bung einheitlich zu gestalten: Der Name des Enzyms soll mit Excision
drei Buchstaben beginnen, wobei der erste Buchstabe für die
Gattung des Bakteriums steht, aus dem das Enzym isoliert
wurde, und die beiden nächsten Buchstaben entsprechen loxP
der Art. Weitere Buchstaben oder Ziffern können hinzuge-
fügt werden (z. B. wurde das Restriktionsenzym HindII aus
4 Haemophilus influenzae, Serotyp d isoliert). Daher werden 5 ‘ ATA AC T TCG TATA ATG TATG C TATACG A AG T TAT 3 ‘
auch die ersten drei Buchstaben kursiv gesetzt; eine ausführ- 3 ‘ TAT TG A AG C ATAT TAC ATACG ATATG C T TC A ATA 5 ‘
liche Darstellung der Nomenklaturregeln findet sich bei b 5‘
Roberts et al. 2003. Nathans und Smith haben 1975, in der
Frühphase der Molekulargenetik, eine interessante zusam- Substrat 5‘
menfassende Darstellung der Restriktionsenzyme veröffent- 5‘
licht.
5‘ Schnitt im ersten
DNA-Strang
Strangaustausch und
5‘ Ligation
4.3.3 Andere Bakteriophagen
5‘
Zwischenstufe 5‘
Der Bakteriophage P1 nimmt insofern eine Sonderstellung ein,
als seine DNA während der lysogenen Phase nicht ins Wirtszell- Schnitt im zweiten
5‘
genom integriert wird, sondern als einzelnes zirkuläres DNA- DNA-Strang
Molekül in der Zelle verbleibt. Die Genomgröße des Phagen Strangaustausch und
5‘ Ligation
beträgt 91.500 bp, also etwas mehr als 20 % der Größe des E. coli-
Genoms. Seine Replikation ist an die der Wirtszell-DNA gekop- 5‘
pelt, sodass Tochterzellen ebenfalls je ein P1-DNA-Molekül er- Produkt 5‘
halten. Wird ein lytischer Zyklus induziert (beispielsweise durch
5‘ Erste Schnittstelle
Infektion mit P1 oder durch Induktion der Lyse in lysogenen Zweite Schnittstelle
Zellen), so beginnt die Phagen-DNA, Hüllproteine und eine Nu-
klease zu produzieren, die das Wirtszellgenom langsam zer- . Abb. 4.16 Das Cre/loxP-Rekombinationssystem. a Die loxP-Sequenz
(Dreiecke) ist angegeben; die zentrale Region, innerhalb der die Rekombina-
schneidet. Während der Verpackung der neu replizierten Pha- tion erfolgt, ist grau unterlegt. Die Schnittstellen sind durch Pfeile markiert.
gen-DNA in Hüllproteine kann gelegentlich ein Stück der partiell Durch die Aktivität der Cre-Rekombinase wird die grüne Sequenz, die sich
abgebauten Wirtszellgenom-DNA, das zufällig die richtige Länge ursprünglich zwischen zwei loxP-Stellen befunden hat, als zirkuläres DNA-
zur Verpackung besitzt, anstelle der Phagen-DNA verpackt wer- Fragment zusammen mit einer loxP-Stelle herausgeschnitten. Der rote DNA-
den. Etwa 0,1 % der entstehenden neuen Phagen enthält solche Strang bleibt mit der zweiten loxP-Stelle zurück. b Während der Rekombi-
nation wird zuerst jeweils ein Strang geöffnet; die Stränge werden ausge-
E. coli-DNA-Bruchstücke anstatt der Phagen-DNA. Solche Pha- tauscht, und die Schnittstelle wird wieder verschlossen. Nach einem zwei-
gen können die E. coli-DNA nach ihrer Adsorption an Bakterien- ten Schnitt (mit Strangaustausch und Ligation) an den beiden anderen
zellen in diese injizieren. Damit kommt es zur Duplikation des Strängen ist der Prozess abgeschlossen und das Produkt kann freigesetzt
betreffenden Wirtszellgenombereichs in der Rezeptorzelle. Ähn- werden. (a nach Lukowski et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von
lich wie bei der Übertragung von E. coli-DNA durch Hfr-Stämme Springer; b nach Lee und Saito 1998, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)
in F−-Zellen oder bei der F-Duktion kann innerhalb der bakte-
riellen Genomduplikation Rekombination (7 Abschn. 4.4.2) er-
folgen. Man bezeichnet diese Übertragung bakterieller DNA einem zentralen Element von 8 bp, das von zwei palindromischen
durch einen Phagen als Transduktion. Die Möglichkeit der Sequenzen (13 bp) flankiert wird. Ein chromosomales DNA-
Transduktion wurde 1952 am Bakteriophagen P22 bei Salmonel- Segment, das zwischen zwei gleich gerichteten loxP-Elementen
la typhimurium durch Norton D. Zinder und Joshua Lederberg liegt, wird durch die Cre-Rekombinase in Form eines zirkulären
entdeckt. Da in diesen Systemen alle Wirtsgene ohne Ein- Produktes aus dem Chromosom herausgeschnitten (. Abb. 4.16).
schränkung transduziert werden können, spricht man auch von Cre hat heute in der experimentellen Genetik eine überragende
genereller Transduktion (engl. generalized transduction). Sie Bedeutung, um spezifische Mutationen in Zellkulturen von
steht im Gegensatz zur spezialisierten Transduktion (engl. Säugern, in Hefen und Pflanzen, aber auch in der Maus einzu-
specialized transduction), die wir bereits beim Bakteriophagen λ führen (»konditionale Mutagenese«; 7 Abschn. 10.7)
in 7 Abschn. 4.3.2 kennengelernt haben.
Eine wichtige Rolle bei den Rekombinationsereignissen von C Die Fähigkeit des Bakteriophagen P1, große Stücke fremder
P1 spielt die Cre-Rekombinase (engl. cyclization recombinase). DNA ohne die Anwesenheit phageneigener DNA in Bakterien-
Cre katalysiert die Rekombination zwischen zwei loxP-Erken- zellen zu übertragen, wird auch für gentechnologische
nungssequenzen (engl. locus of X-over of P1, X-over steht dabei Experimente ausgenutzt. Man kombiniert hierzu beliebige
für crossover; 7 Abschn. 4.4.2). Die loxP-Sequenz besteht aus DNA-Sequenzen mit kurzen Phagen-DNA-Bereichen, die zur
4.3 · Bakteriophagen
129 4
Replikation und Stabilität in der Bakterienzelle erforderlich
sind, und kann auf diese Weise Phagen- und wirtszellfremde
DNA stabil und extrachromosomal erhalten. Durch Indukti-
on des lytischen Zyklus kann diese DNA in guter Ausbeute
für experimentelle Zwecke isoliert werden. Dieses DNA-Vek-
torsystem wird auch als PAC (engl. phage artificial chromoso-
me) bezeichnet und kann DNA-Fragmente zwischen 130 kb
und 150 kb aufnehmen (Ioannou et al. 1994).

> Der Bakteriophage P1 wird im lysogenen Zyklus nicht ins


Wirtszellgenom integriert, sondern verbleibt als extra-
chromosomales, ringförmiges DNA-Molekül in der Zelle.
Nach Induktion des lytischen Zyklus beginnt eine Phagen-
codierte Nuklease das Wirtszellgenom zu zerstören. Gele-
gentlich können dadurch bakterielle DNA-Stücke einer
geeigneten Länge entstehen, die dann in Phagenpartikel
verpackt werden und durch Infektion in neue Wirtszellen
gelangen. Da P1-Phagenpartikel große DNA-Stücke
(ca. 130–150 kb) transduzieren können, sind sie wichtige
Werkzeuge der molekularen Genetik.

Der Bakteriophage T4 (. Abb. 4.12 und . Abb. 4.17) gehört zu


den geradzahligen T-Phagen (engl. T-even phages: T2, T4, T6).
Er ist, wie die übrigen geradzahligen T-Phagen, virulent. Diesen
Phagen fällt in der Geschichte der Genetik eine besondere Rolle
zu, da sie die ersten tief greifenden Einblicke in die molekulare
Struktur von Genen gestatteten und zur Ausarbeitung der
Grundlagen der Phagengenetik gedient haben. Diese Rolle geht . Abb. 4.17 Lineare DNA und Phagenhülle des Bakteriophagen T2. Die
auf die Arbeiten Max Delbrücks zurück, der in den frühen DNA wurde durch einen osmotischen Schock aus dem Phagenkopf eluiert
1940er-Jahren den Infektionszyklus dieser Phagen aufgeklärt und im Elektronenmikroskop dargestellt. Dieses Bild ist auch für den nahe
verwandten Bakteriophagen T4 repräsentativ. (Aus Kleinschmidt et al. 1962,
und die ersten experimentellen Techniken der Phagengenetik an
mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
ihnen erarbeitet hat.
Die experimentelle Arbeit mit dem T4-Phagen macht von
seiner Fähigkeit Gebrauch, E. coli-Zellen zu infizieren und sich C Eine für die künftigen Arbeiten ausschlaggebende Beobach-
in ihnen innerhalb von etwa 30 min um das 100-fache zu ver- tung von Alfred Hershey und Raquel Rotman (1949) war es,
mehren. Mischt man E. coli-Zellen mit T4, so heftet sich der Pha- dass man nach gleichzeitiger Infektion einer Wirtszelle mit
ge mit der Basalplatte seines Schwanzes an die Zellwand an und zwei genetisch verschiedenen Phagen in deren Nachkom-
injiziert seine 168.903 bp lange doppelsträngige DNA innerhalb menschaft Rekombinanten finden kann. Mischt man zwei
weniger Sekunden in die Zelle. Nach etwa 22–25 min, der laten- T2-Phagen, den einen mit den Mutationen r (rapid lysis) und
ten Periode (engl. lag period), lysieren die Wirtszellen und ent- h+ (host-range, Wildtyp) (genetische Konstitution also r h+),
lassen jeweils etwa 100 neu gebildete Phagenpartikel. Diese sind den anderen mit der Mutation r+ und h (infektiös für be-
außerordentlich stabil und können über viele Jahre hinweg als stimmte E. coli-Zellen) (genetische Konstitution also r+ h),
Lysat infektiös bleiben. so erhält man unter anderem rekombinante Nachkommen
Für experimentelle Arbeiten wird ein Überschuss an E. coli- der Konstitutionen r+ h+ und r h mit einer Häufigkeit von
Zellen mit T4-Phagen gemischt und anschließend auf Agar- etwa 2 %.
platten mit geeignetem Nährmedium ausgesät. Es bildet sich
durch die wachsenden nicht-infizierten Zellen ein Bakterien- In ähnlicher Weise konnten Dreifaktorenkreuzungen ausge-
rasen, auf dem allmählich größer werdende, klare Löcher führt werden, die geeignet sind, die relativen Abstände der un-
von etwa 1 mm Durchmesser entstehen (Plaques). Diese tersuchten Gene festzustellen und damit eine genetische Karte
gehen  in ihrem Ursprung auf einzelne T4-infizierte Zellen zu konstruieren. Bei der Ausarbeitung der Kreuzungsergebnisse
zurück, die nach der Phagenvermehrung lysieren und be- ergaben sich jedoch unerwartete Probleme, als man Kreuzungen
nachbarte Zellen mit den neu gebildeten Phagen infizieren. mit Markergenen ausführte, die nach der Kartierung eigentlich
Entscheidend für die Möglichkeit, den Phagen für genetische an den beiden entgegengesetzten Enden des Chromosoms liegen
Untersuchungen zu verwenden, war der Befund, dass man ge- sollten (z. B. h42, ac41 und r67). Sie ergaben Rekombinanten, die
legentlich veränderte Plaqueformen beobachten kann, die gene- für eine Anordnung r67–h42–ac41 sprachen. Als Erklärung hier-
tisch bedingt sind, also durch Mutationen im Phagen verursacht für bot es sich schließlich an, ein zirkuläres Chromosom anzu-
werden. nehmen.
130 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Das war ein deutlicher Widerspruch zur elektronenmikrosko- Damit hat das Genom des T4-Phagen gegenüber seinem Wirtsor-
pischen Analyse der Phagen-DNA, die ein lineares DNA-Molekül ganismus einen Vorteil: Enzyme, die für ihre Aktivität DNA auf-
angezeigt hatte. Einen Ausweg aus dieser Diskrepanz bot die Er- schmelzen müssen (wie z. B. RNA- oder DNA-Polymerasen), kön-
klärung, dass das Phagengenom zwar linear ist, aber an beiden nen an AT-reichen Sequenzen schneller arbeiten als an solchen
Enden die gleichen Gene trägt, d. h. zirkulär permutiert ist. Die Sequenzen, die ein ausgeglichenes Verhältnis von GC und AT
Gensequenz von fünf Genen (1 bis 5) im Genom wäre demnach haben. Wir wissen heute auch, dass das Genom des T4-Phagen 289
beispielsweise schematisch folgendermaßen zu verstehen: Protein-codierende Gene enthält und zusätzlich acht tRNA-Gene
sowie Gene für kleine, stabile RNA-Moleküle. 156 Gene waren
1–2–3–4–5–1–2.
4 durch Mutationen charakterisiert. Die Zahlenangaben sind aller-
Diese Interpretation hat sich als richtig erwiesen. Die duplizier- dings manchmal etwas ungenau, da einige Gene mehrere codie-
ten Enden variieren, je nach Phagen, zwischen einer Länge von rende Regionen enthalten. Die Gendichte ist beim T4-Phagen
2000 und 6000 bp, also mehr als für ein einzelnes Gen erfor- etwa doppelt so hoch wie bei E. coli; nicht-codierende Regionen
derlich ist. Zudem hat sich gezeigt, dass die wiederholten Ab- umfassen nur etwa 9 kb (= 5,3 % des Genoms). Regulatorische Re-
schnitte des Genoms in verschiedenen Phagen unterschiedliche gionen sind kompakt und überlappen gelegentlich auch mit codie-
Bereiche umfassen. Die Erklärung für die Entstehung von sol- renden Regionen. In vielen Fällen überlappen die Stoppcodons des
chen zirkulären Permutationen gibt die Art des Replikations- einen Gens mit dem Startcodon des nächsten Gens; darüber hin-
mechanismus. Die Replikation erfolgt mithilfe des rolling circle- aus gibt es auch viele verschachtelte Gene (engl. nested genes).
Mechanismus, durch den zunächst lange lineare Genomkopien Die Analyse des T4-Genoms hat, vor allem durch die Pio-
produziert werden, die tandemartig hintereinander angeordnet nierleistungen Seymour Benzers (1957), zu wichtigen ersten Ein-
sind (. Abb. 2.17). Allerdings ist die Art der Replikation dieses sichten in die molekulare Feinstruktur von Genen geführt. Aus-
Phagen unter verschiedenen Gesichtspunkten einzigartig: gangspunkt der Versuche Benzers ist die Überlegung, dass es
4 Es gibt mehrere Startpunkte der DNA-Replikation. erforderlich ist, eine große Anzahl von Mutanten zu untersu-
4 Diese Startpunkte werden nur für die erste Runde der Re- chen, um Aufschlüsse über die genetische Feinstruktur eines
plikation verwendet (Startpunkt-abhängige Replikation). Gens zu erzielen. Benzer hatte bei Abschluss seiner Versuche an
4 Die Mehrzahl der Replikationen wird von Rekombinations- der rII-Region ca. 3000 Mutanten untersucht. Für deren vollstän-
Zwischenprodukten an jedem beliebigen Punkt im Genom dige Analyse wären etwa 5.000.000 Kreuzungen erforderlich ge-
gestartet (Startpunkt-unabhängige Replikation). wesen, ein Aufwand, der technisch nicht durchführbar war. Es
war also notwendig, einen experimentellen Ausweg zu suchen,
Die T4-Gene können in zwei funktionelle Gruppen unterteilt der eine eindeutige Kartierung mit sehr viel weniger Aufwand
werden: zum einen Gene, die in der frühen Phase der Infektion ermöglichte. Hierzu bot sich die Verwendung von Mutanten an,
aktiv sind; sie sind im Wesentlichen für die T4-DNA-Replikation denen ein größerer Bereich der rII-Region fehlt. Solche Dele-
und Transkription verantwortlich. Und zum anderen Gene, die tionsmutanten ermöglichen es, in einem ersten Kreuzungsan-
während der späten Phase der Infektion aktiv sind; sie sind dage- satz neue Mutanten schnell einer bestimmten Region eines Gens
gen eher für die Hüllproteine und deren Zusammenbau verant- zuzuordnen. Als Kriterium für den Deletionscharakter einer
wortlich. Diese beiden Gruppen liegen im Phagengenom als Mutation benutzte Benzer die Tatsache, dass in Rekombinations-
Gruppen vor und werden von entsprechenden »frühen« und experimenten bestimmte Mutationen mit anderen Mutationen,
»späten« Promotoren reguliert. Nach der Replikation wird die die untereinander normales Rekombinationsverhalten zeigen,
DNA in den Phagenkopf hineingezogen. Sobald dieser gefüllt ist, 4 keine Wildtyp-Rekombinanten liefern
wird die DNA abgeschnitten und der verbleibende Doppelstrang 4 und dass sie keine Reversionen zum Wildtyp liefern.
wird auf gleiche Weise in einen weiteren Phagenkopf verpackt.
Die DNA-Menge, die in einen Phagenkopf passt, ist etwas größer Die Kartierungsexperimente ergaben zunächst, dass es innerhalb
als die des Genoms, sodass jeweils die ersten Gene der nächsten der rII-Region des Genoms des Phagen T4 zwei voneinander
Genomkopie noch in den gleichen Phagenkopf verpackt werden. genetisch unabhängige Einheiten – Cistrons nach Benzers Ter-
Dieser Mechanismus erklärt die Anwesenheit duplizierter Enden minologie – gibt, die rIIA und rIIB genannt wurden. Die weitere
in jedem Phagen und zugleich deren Verschiedenheit in jedem Analyse zeigte, dass innerhalb jeder dieser beiden Cistrons viele
Phagenpartikel. Mutationen induziert werden können, deren Lokalisation relativ
zueinander eindeutig zu unterscheiden ist. Da diese verschiede-
> Der Bakteriophage T4 ist, wie alle geradzahligen Phagen,
nen Mutanten zugleich auch Rekombination untereinander zu-
ein virulenter Phage, der sich durch sein zirkulär permu-
lassen, sind drei wichtige Einsichten aus diesen Kartierungs-
tiertes Genom auszeichnet. Die zirkuläre Permutation
experimenten abzuleiten:
wird durch den rolling circle-Replikationsmechanismus zu-
4 Ein Cistron ist als genetische Einheit nicht identisch mit
sammen mit der Art der Verpackung der Phagen-DNA in
einer Rekombinationseinheit, sondern komplexer.
den Phagenkopf bedingt.
4 Ein Cistron ist als genetische Einheit nicht identisch mit
Mit diesen Experimenten war der Weg zur genetischen Analyse einer Mutationseinheit, sondern komplexer.
des Phagengenoms geebnet. Die T4-DNA enthält insgesamt nur 4 Die physikalische Dimension einer Mutationseinheit und
34,5 % (G + C)-Basen und entsprechend einen Überschuss an einer Rekombinationseinheit liegt in der Größenordnung
(A + T)-Basen (bei E. coli ist das Verhältnis in etwa ausgeglichen). einzelner Nukleotide.
4.4 · Transformation und Rekombination
131 4

. Abb. 4.18 Molekulare Feinstruktur überlappender Gene im Genom des Bakteriophagen ΦX174. Es sind die Gene D, E und J gezeigt. In der Mitte der Ab-
bildung ist die Basensequenz in der jeweiligen Grenzregion der Überlappung dargestellt (Nukleotidnummern sind darüber angegeben). Die Tripletts der
verschiedenen Leseraster sind durch farbige Rechtecke unter bzw. über den jeweiligen Aminosäuren gekennzeichnet. Jedes Gen ist durch ein großes Recht-
eck begrenzt. (Nach Sequenzangaben in Sanger et al. 1978)

Benzer definiert hiermit eine veränderte Form des Genbegriffs, 4.4 Transformation und Rekombination
das Cistron. Die Beziehung zwischen einer bestimmten phäno-
typischen Ausprägung eines Merkmals und einem genau festge- 4.4.1 Transformation
legten genetischen Verhalten wird nicht mehr – wie beim ur-
sprünglichen Genbegriff – dadurch bestimmt, dass sich ein phä- In den vorangegangenen Abschnitten haben wir gesehen, dass
notypisches Merkmal in bestimmte Verteilungs- und Ausprä- Bakterien neue genetische Information über Plasmide durch
gungsregeln einordnen lässt, wie sie in den Mendel’schen Regeln Konjugation und über Bakteriophagen durch Transduktion auf-
(7 Abschn. 11.1) niedergelegt waren, sondern wird nunmehr – nehmen können. Das kann eine Übertragung genetischer Infor-
wesentlich genauer – damit festgelegt, dass ein Merkmal auf der mation zwischen verschiedenen Individuen oder darüber hi-
Grundlage phänotypischer Kriterien genetisch nicht weiter naus, bei geringerer Wirtsspezifität, sogar zwischen verschiede-
unterteilbar sein darf, um als ein Cistron bezeichnet werden zu nen Wirtsgruppen, zur Folge haben. Wir wollen jetzt noch einen
dürfen. Obwohl sich diese Definition damit in ihrer rein gene- dritten Mechanismus diskutieren, nämlich die Aufnahme nack-
tischen Basis in keiner Weise vom Mendel’schen Genbegriff ter DNA aus dem extrazellulären Umfeld; dieser Prozess wird als
zu unterscheiden scheint, ist sie – ganz im Gegensatz zum Transformation bezeichnet und erlaubt einen horizontalen Gen-
Mendel’schen Genbegriff – zugleich auch molekular anwendbar. transfer. Wenn die übertragene DNA Informationen mit einem
Benzer konnte aufgrund seiner Arbeiten darauf schließen, dass Selektionsvorteil für das aufnehmende Bakterium enthält, wird
die kleinsten Rekombinations- und Mutationseinheiten in der sich diese Information relativ schnell in einer Population aus-
Größenordnung einzelner Nukleotide liegen. Heute ist durch breiten.
DNA-Sequenzierung bewiesen, dass die kleinsten Einheiten für
Mutation und Rekombination tatsächlich die Nukleotide sind. C An dieser Stelle soll jedoch zunächst noch einmal an den Be-
ginn der molekularen Erforschung des Erbmaterials zurück-
> Die genetische Feinkartierung der rII-Region des Phagen gegangen werden. Aus der Beschreibung der Experimente
T4 lässt erkennen, dass die kleinsten Rekombinations- von Oswald Avery, die zur Identifikation der DNA als mole-
und Mutationseinheiten in der Größenordnung einzelner kulare Trägersubstanz der Erbinformation geführt hatten
Nukleotide liegen, während die klassische Genetik das (7 Abschn. 1.1.1), war zu erkennen, dass ein Hinzufügen von
»Gen« als Einheit der Rekombination und der Mutation DNA zu Zellen von Mikroorganismen zur Veränderung der
betrachtet hatte. Erbinformation führen kann, ohne dass man zunächst die
Grundlage dieser Experimente verstehen konnte. In den Ex-
Es muss abschließend noch ein anderer Phage erwähnt werden,
perimenten von Avery müssen die Streptokokken DNA aus
der E. coli-Phage ΦX174. Das Genom dieses Phagen ist sehr klein
den abgetöteten Zellen aufgenommen haben. Wir wissen
und besteht aus einem einzelsträngigen DNA-Molekül von nur
heute, dass Streptococcus und einige andere Prokaryoten –
5375 Nukleotiden. Von dieser DNA werden elf verschiedene Pro-
im Gegensatz zu E. coli – DNA sehr leicht in die Zelle aufneh-
teine codiert, die insgesamt rund 2300 Aminosäuren enthalten.
men können. In den Zellen kommt es dann zur Rekombina-
Hierfür wäre eigentlich eine DNA-Länge von ca. 6900 Nukleoti-
tion (d. h. Neukombination von DNA-Sequenzen, 7 Abschn.
den erforderlich. Die Sequenzanalyse des Phagen durch Frederick
4.4.2) mit der genomischen DNA, sodass die fremde geneti-
Sanger und seine Mitarbeiter (1978) erlaubte es, diesen Wider-
sche Information in das Genom der Zelle aufgenommen
spruch zu lösen. Es zeigte sich nämlich, dass die Leseraster meh-
wird. In Averys Experimenten hat das schließlich zur Über-
rerer Gene sich überlappen; d. h. eine Verschiebung des Leserasters
tragung der Infektivität der Streptokokken, d. h. zum Tode
um ein oder zwei Nukleotide gestattet die Synthese eines in seiner
der Mäuse durch Pneumonie, geführt, obwohl die Erreger
Aminosäurefolge völlig anderen Proteins (. Abb. 4.18).
zuvor durch Hitze abgetötet worden waren: Die nicht patho-
genen R-Typ-Streptokokken waren durch Aufnahme von
> Protein-codierende DNA-Sequenzen können auch über-
DNA des pathogenen S-Typ-Stamms transformiert worden.
lappend angeordnet sein. Durch Verschiebung des Lese-
rasters werden mehrere verschiedene Proteine im glei- Transformation unterscheidet sich von den zuvor beschriebenen
chen DNA-Bereich codiert. DNA-Übertragungsmechanismen durch Plasmide oder Phagen
132 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

a Neisseria gonorrhoeae b Bacillus subtilis

DR

PilQ

4 PilP

ComE

ComEA

PilG ComA ComGB ComEC


PilD ComC
PilF ComGA ComFA

. Abb. 4.19 Darstellung des kompetenten Pseudopilus und der DNA-Translokase. a Neisseria gonorrhoeae. Das Hauptpilin (PilE, orange) und das Neben-
pilin (ComP, violett) werden durch die Präpilin-Peptidase bearbeitet und zum Pseudopilus zusammengefügt. Das polytope Membranprotein PilG und die
NTPase (PilF) nehmen an diesem Prozess ebenso teil wie PilC (nicht dargestellt). Eine spezifische Sequenz in der äußeren DNA ist für die Bindung an den
DNA-Rezeptor (DR) verantwortlich. Die ankommende DNA (violett) wird mithilfe eines Kanals durch die äußere Membran transportiert; der Kanal wird
durch Sekretin (PilQ) und sein Pilotprotein (PilP) gebildet. Das periplasmatische DNA-Bindungsprotein (ComE) ist an der Aufnahme beteiligt und liefert die
DNA am Eingang des Kanals an der cytoplasmatischen Wand ab (ComA). Ein Strang erreicht das Cytosol, der andere wird abgebaut und die Nukleotide
werden in den periplasmatischen Raum abgegeben. b Bacillus subtilis. Das Hauptpseudopilin (ComGC, orange) und die Nebenpseudopiline (ComGD, ComGE
und ComGG, violett) werden durch die Präpilin-Peptidase (ComC) bearbeitet und zum Pseudopilus zusammengefügt. Das polytope Membranprotein
ComGB und die NTPase (ComGA) nehmen an diesem Prozess teil. Der Pseudopilus ermöglicht der DNA, an den Membran-gebundenen Rezeptor ComEA zu
binden, der die gebundene DNA am Kanal an der cytoplasmatischen Membran abliefert (ComEC). Ein ATP-bindendes Molekül (ComFA) ist am Transport
der DNA durch die Membran beteiligt. Ein Strang erreicht das Cytosol, der andere wird abgebaut, und die Nukleotide werden in das extrazelluläre Milieu
abgegeben. (Nach Chen und Dubnau 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

insofern, als die DNA zur Übertragung in diesem Falle keine Der Transport von DNA aus dem extrazellulären Milieu in
Hilfselemente benötigt, sondern direkt von der Zelle aufgenom- das Cytoplasma ist ein komplexer Vorgang. Dabei ist ein zentra-
men wird. Die Effektivität der Aufnahme von DNA ist allerdings ler Schritt die Umwandlung der exogenen, DNase-sensitiven
für unterschiedliche Bakterien sehr verschieden. Im Gegensatz DNA in eine vor DNase geschützte DNA. Es wird nur ein Strang
zu den oben erwähnten Streptokokken bedürfen die E. coli-Zel- der DNA aufgenommen – der andere Strang des DNA-Moleküls
len einer Vorbehandlung mit CaCl2-Lösung, um für DNA durch- wird zu Nukleotiden abgebaut und bei Gram-positiven Bakte-
lässig zu werden. rien in das extrazelluläre Milieu, bei Gram-negativen Bakterien
wahrscheinlich in den periplasmatischen Raum abgegeben. An-
> Die Aufnahme fremder DNA in eine Zelle wird als Transfor-
sonsten verwenden alle Bakterien stark verwandte Proteine, um
mation bezeichnet. Bakterien unterscheiden sich in ihrer
die DNA zu importieren (Ausnahme: Helicobacter pylori); teil-
Effektivität der Aufnahme von DNA. Einige Bakterienstäm-
weise weist das Kompetenzsystem deutliche Homologien zu den
me verfügen über spezielle Mechanismen, extrazelluläre
Proteinen auf, die wir beim Aufbau der Pili (. Abb. 4.7) schon
DNA an die Zellmembran zu binden und sie ins Innere der
kennengelernt haben. Dazu gehören etwa 20 bis 50 verschiedene
Zelle aufzunehmen.
Proteine. Eine vereinfachte Übersicht für die Mechanismen bei
Von etwa 40 verschiedenen Bakterienspezies, verteilt auf alle ta- Neisseria gonorrhoeae und Bacillus subtilis gibt . Abb. 4.19.
xonomischen Gruppen, weiß man heute, dass sie unter natürli- DNA kann aktiv oder passiv in die Umgebung von Bakterien
chen Bedingungen transformiert werden können. In den meisten gelangen. Passive Prozesse beinhalten im Wesentlichen den Ab-
Spezies ist die Bereitschaft (»Kompetenz«), DNA aufzunehmen, bau von toten Zellen und setzen die Aktivität von Nukleasen
ein vorübergehender physiologischer Zustand, der stark durch oder reaktiver Chemikalien voraus. Allerdings kennen wir auch
jeweils spezifische Prozesse reguliert wird (z. B. veränderte die Möglichkeit, dass DNA aktiv ins umgebende Medium abge-
Wachstumsbedingungen, Nährstoffangebot, Zelldichte). Es kann geben wird. Die Kenntnis beider Prozesse ist wichtig, wenn wir
daher sein, dass wir noch mehr Spezies entdecken werden, die entsprechende Vorgänge in der Natur betrachten (z. B. Transfor-
DNA direkt aufnehmen können, wenn wir die entsprechenden mation bei Bodenbakterien oder im Menschen zwischen seiner
Bedingungen kennenlernen. üblichen Bakterienflora und pathogenen Bakterien).
4.4 · Transformation und Rekombination
133 4
Wenn wir den Transformationsvorgang selbst etwas genauer 4 homologe Rekombination: Hier sind ausgedehnte Sequenz-
beobachten, dann stellen wir fest, dass die extrazelluläre DNA homologien bei Donor- und Ziel-DNA erforderlich;
zunächst nicht-kovalent an die entsprechenden Stellen auf der 4 sequenzspezifische Rekombination (engl. site-specific re-
Oberfläche kompetenter Bakterien bindet. Die Zahl der Bin- combination): Hier reichen wenige Basenpaare aus (Beispiel:
destellen wurde für einige Bakterien bestimmt und schwankt Integration von Phagen-DNA in Bakteriengenom);
zwischen 30 und 80. Die nachfolgende Translokation der DNA 4 unspezifische Rekombination: Hier sind Enzyme beteiligt,
durch die Membran hindurch ist von Stamm zu Stamm unter- die zwar spezifische Strukturen der Donorsequenzen erken-
schiedlich. Einige kompetente Bakterienspezies, z. B. Neisseria nen, aber weitgehend beliebige Sequenzen als Ziel-DNA be-
gonorrhoeae und Haemophilus influenzae, sind sehr selektiv bei nutzen können (Beispiel: Transposons, 7 Abschn. 9.1).
der Aufnahme von DNA, wohingegen die meisten anderen Spe-
zies DNA unabhängig von ihrer Sequenz aufnehmen. Die Auf- Wie wir zu Beginn des Kapitels (7 Abschn. 4.1) gesehen haben,
nahme von Plasmid-DNA ist allerdings wegen der nukleolyti- stellten Lederberg und seine Mitarbeiter in ihren Arbeiten zur
schen Spaltung und des Abbaus des einen Strangs auf diesem Abhängigkeit von Nährstoffkomponenten bei Bakterien fest,
Weg relativ ineffizient. In vitro ist die Aufnahme der DNA relativ dass bei Kokultivierung auxotropher Stämme mit prototrophen
schnell (ca. 60–100 bp pro Sekunde). Die aufgenommene DNA Stämmen Merkmalskombinationen auftreten, die nur durch
verbleibt nur vorübergehend im Cytoplasma der Bakterien, da Austausch und Neukombination genetischen Materials erklärt
diese Form der DNA bei einer Zellteilung nicht repliziert. werden können. Ein frühes Modell (»copy-choice-Modell«)
Wenn die aufgenommene DNA zu einem Doppelstrang er- schlug vor, dass große Teile der DNA-Stränge nach einem Bruch
gänzt wird, wird sie möglicherweise durch Restriktionsenzyme neu synthetisiert werden und dass ein Fehler in der Wahl des
abgebaut. Da die natürliche Transformation allerdings eine ein- Matrizenstrangs im Rahmen der DNA-Neusynthese für das Auf-
zelsträngige DNA und anschließende Rekombination (7 Abschn. treten der Rekombination verantwortlich ist. Dieses Modell wur-
4.4.2) beinhaltet, stellt ein möglicher Abbau durch Restriktions- de allerdings durch ein Experiment eindeutig widerlegt.
enzyme kein Hinderungsgrund für einen erfolgreichen Gen- Zur Klärung der Frage, ob DNA-Neusynthese einen entschei-
transfer dar. Voraussetzung für eine erfolgreiche Rekombination denden Beitrag zur Rekombination liefert, dienten Versuche von
sind kurze (25–200 bp) Abschnitte mit ähnlichen Sequenzen Matthew Meselson und Jean Weigle (1961), in denen sie von der
zwischen aufgenommener und chromosomaler DNA. Die Re- Markierungstechnik mit schweren Isotopen Gebrauch machten,
kombinationsrate ist auch hier von Stamm zu Stamm unter- die bereits zur biochemischen Demonstration der semikonserva-
schiedlich und beträgt etwa 0,1 % bei Acinetobacter baylyi und tiven Replikation erfolgreich eingesetzt worden war (. Abb. 2.10).
25–50 % bei Bacillus subtilis und Streptococcus pneumoniae; die Genetisch unterschiedliche λ-Phagen, deren einer Genotyp mit
Größe der aufgenommenen Fragmente kann dabei mehrere 13C15N-DNA markiert war, während der andere Genotyp unmar-

Kilobasen umfassen. kiert blieb (also 12C14N-DNA enthielt), wurden gemeinsam in

*Horizontaler
Zellen von E. coli infektiert. Die daraus erhaltenen Bakteriopha-
Gentransfer erlaubt die schnelle Übertragung gen wurden in CsCl nach ihrer Schwimmdichte aufgetrennt und
von DNA, und im Falle eines Selektionsvorteils (unter hohem die verschiedenen Dichtefraktionen auf ihre genetische Konstitu-
Selektionsdruck) erfolgt eine rasche Ausbreitung in der tion getestet (. Abb. 4.20). Es ließ sich zeigen, dass die Bakterio-
Population. Die weitere Aufklärung dieses Mechanismus ist phagen, deren DNA partiell mit 13C15N markiert war, einen gene-
deswegen vor allem in Bereichen mit hohem Selektions- tisch rekombinanten Genotyp besitzen. Wie bereits in Taylors
druck von besonderer Bedeutung, wie bei der Bekämpfung Experimenten war damit der direkte Beweis für einen Stückaus-
von Krankheiten mit Antibiotika (Entwicklung von Anti- tausch in Zusammenhang mit Rekombination erbracht.
biotika-Resistenzen) und in der Landwirtschaft beim Einsatz Da die Versuche von Meselson und Weigle noch nicht aus-
von Pestiziden (Übertragung von Pestizid-Resistenz; Lutz schließen, dass die nicht mit schweren Isotopen markierte Bak-
et al. 2001, Thomas und Nielsen 2005). teriophagen-DNA durch Neusynthese in Zusammenhang mit
der Rekombination entstanden war, wurde ein weiteres Kreu-
zungsexperiment mit nunmehr ausschließlich 13C15N-markier-
4.4.2 Rekombination ten Bakteriophagen unterschiedlicher genetischer Konstitution
durchgeführt. Erfolgt die Vermehrung dieser Bakteriophagen in
Unter Rekombination versteht man allgemein die Neukombina- E. coli-Zellen, die in unmarkiertem (also »leichtem«) Medium
tion von DNA-Sequenzen. Unter genetischen Gesichtspunkten wachsen, so wird die Mehrzahl der Nachkommen teilweise mar-
ist dabei der Austausch zwischen verschiedenen DNA-Molekü- kiert oder unmarkiert sein. Dennoch bleiben stets einige Bakte-
len von besonderem Interesse, da er zu einer Neukombination riophagen unrepliziert und werden zu neuen Phagenpartikeln
von Merkmalen führt. Der molekulare Mechanismus der Re- gepackt. Einzelne solcher noch vollständig 13C15N-markierter
kombination setzt zwei grundlegende Prozesse voraus: zunächst DNA-Stränge können zudem aufgrund der hohen Multiplizität
einmal die Aufnahme fremder DNA in die Zelle (durch Konju- der Phagengenome in der Zelle nach der Koinfektion ein Rekom-
gation, Transduktion oder Transformation) und dann den binationsereignis mit einer genetisch ungleichen Bakteriopha-
Schnitt bzw. Bruch des DNA-Moleküls und schließlich dessen gen-DNA durchlaufen haben, sodass ihr Genotyp von dem der
Neuverknüpfung. Wir können verschiedene Formen der Rekom- beiden parentalen Bakteriophagen zu unterscheiden ist. Der
bination unterscheiden: Nachweis von solchen vollständig 13C15N-markierten und zu-
134 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

. Abb. 4.21 Mechanismus der Rekombination (II). Das Bruch-und-Wieder-


verheilungsmodell geht davon aus, dass nach zwei Brüchen in den zwei be-
teiligten DNA-Doppelhelices eine Wiederverheilung der DNA-Fragmente in
falscher Anordnung erfolgt

. Abb. 4.20 Mechanismus der Rekombination (I). Infiziert man E. coli-Bakte-


men bestehen, die aufgrund von Fehlern während der DNA-
rien mit einer Mischung von Phagen, deren einer Teil mit 13C und 15N mar- Replikation entstehen. Diese Reparaturmechanismen werden
kiert ist und die Markergene A, B und C trägt, deren zweiter Teil die normalen allerdings an anderer Stelle (7 Abschn. 10.6) im Zusammenhang
Isotope 12C und 14N sowie die Marker a, b und c enthält, so beobachtet man mit der Entstehung von Mutationen besprochen. Wesentliche
nach Trennung der neu entstandenen Phagenlysate im CsCl-Gleichgewichts-
Schritte eines Rekombinationsereignisses sind:
gradienten, dass sich die Phagen nach unterschiedlicher Dichte auftrennen.
Man findet in den Fraktionen niedriger Schwimmdichte neu synthetisierte
4 Entstehung von DNA-Einzel- oder Doppelstrangbrüchen,
Phagen, im Bereich mittlerer Schwimmdichte Phagen, deren DNA teilweise 4 Paarung zweier homologer DNA-Doppelhelixregionen,
die schweren Isotope enthält, und im Bereich höherer Schwimmdichte 4 Austausch zwischen zwei Einzelsträngen der gepaarten
Phagen, deren DNA zur Hälfte aus schweren Isotopen besteht. Diese schwere Doppelhelices,
Fraktion besteht aus den ursprünglich markierten DNA-Molekülen, die
4 Auflösung der viersträngigen Struktur durch Erzeugung
jedoch während der Replikation der Phagen in der Wirtszelle einen neuen,
leichten DNA-Strang synthetisiert haben. Sie enthalten die Marker A, B und weiterer Brüche – entweder in den bereits rekombinanten
C. Die mittlere Fraktion enthält ebenfalls ursprüngliche DNA-Bereiche, die Strängen oder in den komplementären Partnersträngen –
jedoch aufgrund von Rekombinationsereignissen unterschiedlich lang sind und Wiederverheilung nach Austausch der Enden.
und nie einen vollständigen Einzelstrang umfassen. Genetisch erweisen
sie sich erwartungsgemäß als Rekombinanten (in der Abbildung: A, b, c oder
Heute wird das Rekombinationsverhalten bei E. coli am bes-
a, B, C). Rekombination schließt also den Austausch von DNA-Stücken ein,
wie bereits Taylors Experimente angezeigt hatten ten  durch dieses Meselson-Radding-Modell (Meselson und
Radding 1975) erklärt.

gleich rekombinanten λ-Phagen gelang. Damit war bewiesen, DNA-Brüche


dass der molekulare Mechanismus der Rekombination auf Brü- Die notwendige Voraussetzung eines Rekombinationsereignisses
chen und Wiedervereinigung zweier DNA-Doppelhelices ohne ist ein Doppelstrangbruch der chromosomalen DNA in der
wesentliche DNA-Neusynthese beruht (. Abb. 4.21). Das copy- χ-Region (engl. crossover hotspots instigators; χ: griech. Buch-
choice-Modell, das eine Rekombination während der DNA-Syn- stabe chi). Diese χ-Region umfasst eine Oktamer-Sequenz
thesephase durch Wechsel des Templates annahm, war damit (5’-GCTGGTGG-3’), die an ungefähr 1000 Positionen des E. coli-
widerlegt. Chromosoms (im Mittel alle 5000 bp) zu finden ist. Sie wird nur
als Einzelstrang vom RecBCD-Komplex erkannt; die Sequenz des
> Rekombination erfolgt durch Bruch und Wiederverheilung
Gegenstrangs wird dagegen nicht erkannt. Der RecBCD-Kom-
zweier DNA-Doppelhelices.
plex ist sehr groß (330 kDa) und besteht aus vielen Untereinhei-
Viele der an Rekombinationsereignissen beteiligten molekularen ten. Er enthält zwei aktive DNA-Helikasen sowie eine ATP-ab-
Mechanismen sind an Prokaryoten aufgeklärt worden. Dabei hängige Doppel- und Einzelstrang-abhängige Exonuklease (ge-
wurde immer wieder deutlich, dass bei den Rekombinationspro- legentlich auch Exonuklease V genannt), die mit hoher Wirk-
zessen enge Zusammenhänge zu solchen Reparaturmechanis- samkeit nur an linearer DNA als Substrat arbeiten kann. Die
4.4 · Transformation und Rekombination
135 4
. Abb. 4.22 Wechselseitige Abhängigkeit von χ und
Lineare DNA Genotyp Rekombinationshäufigkeit RecBCD. Links sind einige lineare DNA-Moleküle gezeigt.
Die Entspiralisierung beginnt an der linken Seite des
χ0
6 Moleküls (Pfeilspitze). Die Orientierung von χ ist durch
recBCD + 4 Pfeile angedeutet; χ0 bedeutet Abwesenheit von χ. In der
2 Mitte sind einige Genotypen des bakteriellen Wirts ge-
0
zeigt und rechts idealisierte Darstellungen der Rekombi-
χ
6 nationshäufigkeit in Bezug zum Abstand vom Ende des
recBCD + 4 jeweiligen Strangs. Ohne χ und ohne RecBC findet keine
2
Rekombination statt. (Nach Eggleston und West 1997,
0
χ mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
6
recBCD + 4

Häufigkeit
2
0
χ χ
6
recBCD + 4
2
0
χ
6
recBC- 4
2
0
χ
6
recD - 4
2
0
0 10 20 30 40 kb 0 10 20 30 40
Entfernung (kb)

Aktivität des RecBCD-Komplexes wird durch die χ-Regionen RecBCD wird die Verdrängung des SSB und Bindung von RecA
reguliert – die oben erwähnten »hotspots« der Rekombination. an den Einzelstrang ermöglicht (. Abb. 4.23).
Ein gewisser Bereich der Doppelhelix bleibt im Enzymbereich
ungepaart, da sich der RecBCD-Komplex um etwa 300 bp je Se- Strangpaarung
kunde fortbewegt, die Doppelhelix danach aber nur mit einer Der mit RecA-Protein assoziierte DNA-Einzelstrang dringt in
Schnelligkeit von etwa 200 bp je Sekunde zurückgebildet wird. die intakte DNA-Doppelhelix des homologen Paarungspartners
RecBC schneidet den DNA-Strang mit der χ-Sequenz kurz hinter ein (engl. strand invasion; . Abb. 4.23). Hier verdrängt der Ein-
dem 3’-Ende der Sequenz endonukleolytisch und erzeugt so eine zelstrang einen der gepaarten Stränge unter Aufwindung der
Einzelstrangregion, an die das RecA-Protein binden kann. Doppelhelix und paart mit dem komplementären Strang der de-
naturierten Doppelhelix; es bildet sich die D-Schlaufe (engl. dis-
C Die wechselseitige Abhängigkeit der χ-Aktivität und des placement loop). Man bezeichnet die hierin enthaltenen doppel-
recBC-Genproduktes des Wirts in Bezug auf den Rekombina-
und einzelsträngigen DNA-Moleküle als joint molecules.
tionserfolg wurde bei der Untersuchung entsprechender
Mutanten von E. coli deutlich (. Abb. 4.22). In Abwesenheit Einzelstrangaustausch
des χ-Elements (χ0) wie auch der recBC-Genprodukte
Das RecA-Protein bildet mit der Einzelstrang-DNA (ssDNA)
(recBC−) findet keine Rekombination statt; die Bakterien ver-
eine rechtsgewundene Nukleoproteinfibrille mit 18,6 Basen in
halten sich in Abwesenheit der dritten Komponente (recD−)
jeder Helixwindung. Die ssDNA wird in dieser Struktur unge-
wie mit einer konstitutiv aktivierten χ-Region.
wöhnlich gestreckt, sodass ihre Basen offenbar für die Paarung
Das RecBCD-Enzym bindet an die stumpfen Enden des DNA- mit der homologen DNA besonders exponiert sind. Die ssDNA
Bruchs und initiiert dort die Entspiralisierung der DNA durch ist in dieser Konformation um 50 % länger als normale ssDNA.
die zwei verschiedenen Helikasen (RecB, die langsame, und Dieser Nukleoproteinfibrille lagert sich die Doppelstrang-DNA
RecD, die schnellere). Während der Entspiralisierung werden (dsDNA) an, die an der Rekombination beteiligt ist (. Abb. 4.23).
durch die Wechselwirkung von RecBCD mit der χ-Sequenz freie
einzelsträngige 3’-Enden gebildet, auf die das RecBCD-Enzym C Das Ergebnis dieser molekularen Vorgänge ist eine vier-
das RecA-Protein auflädt. RecA ist das »Gründungsmitglied« strängige Struktur (. Abb. 4.24), wie sie in den 1960er-Jah-
einer wachsenden Zahl von Proteinen, die die Bindung und Hy- ren von Robin Holliday entwickelt wurde; sie wird daher als
drolyse von ATP mit mechanischer Arbeit koppeln. Ein katalyti- Holliday-Struktur (engl. Holliday junction) bezeichnet (eine
scher Kreislauf von ATP-Bindung und -Hydrolyse orchestriert lesenswerte Übersicht aus dem Blickwinkel des Entdeckers
deutliche Konformationsänderungen. Üblicherweise hat aller- hat Holliday 1974 publiziert). Im Elektronenmikroskop hat
dings das Einzelstrangbindungsprotein (SSB) eine höhere Affini- man die Existenz von Holliday-Strukturen bei prokaryoti-
tät zu einzelsträngiger DNA als das RecA-Protein. Erst durch schen DNA-Molekülen nachweisen können.
136 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Die Struktur der DNA-Doppelhelix gestattet die Bildung


χ solcher viersträngiger Kombinationsmoleküle, ohne dass Basen-
Oben 5‘ 3‘ paarungen entfallen. Zudem ist eine Verschiebung des Über-
5‘
Unten 3‘ oberhalb unterhalb kreuzungspunktes vom ursprünglichen Austauschpunkt durch
eine reißverschlussartige Verschiebung der Basenpaarungen in
Bindung von RecBC beiden Doppelhelices möglich (engl. branch migration), also
eine Wanderung des Verzweigungspunktes. Sie kann mit 50 Nu-
kleotidpaaren je Sekunde sehr schnell erfolgen und über mehre-
4 χ re Tausend Basenpaare fortschreiten. An dieser Wanderung des
Verzweigungspunktes sind die Proteine RuvA, RuvB und RuvC
entscheidend beteiligt (. Abb. 4.24). Wichtigen Anteil an der
Entdeckung dieser Zusammenhänge hatten Mutanten von E. coli,
Entspiralisierung die sowohl Defizite in ihrem Rekombinationsverhalten aufwie-
sen als auch eine erhöhte Sensitivität gegenüber UV-Licht (daher
erklärt sich die Abkürzung »ruv«). Die erste ruv-Mutante (heute
χ 3‘ als ruvB bezeichnet) wurde 1974 von Nozomu Otsuji und Mitar-
beitern identifiziert. Die weiteren genetischen, biochemischen
5‘ und biophysikalischen Arbeiten kamen zu dem Ergebnis, dass
Bindung der freien Einzel- RuvA die Holliday-Struktur der rekombinierenden DNA spezi-
strang-DNA durch SSB und RecA fisch erkennt, daran bindet und die Struktur zu einem offenen
Viereck öffnet. An diesen Komplex binden dann zwei Ringe, die
jeweils aus sechs RuvB-Molekülen gebildet werden. Die Helika-
χ 3‘
se-Aktivität der RuvB-Moleküle führt dazu, dass die DNA durch
diese ringförmige Struktur unter ATP-Verbrauch hindurchgezo-
5‘ gen werden kann.
Verdrängung des SSB
Bevorzugte Bindung von RecA Auflösung
Zum Abschluss des Rekombinationsereignisses ist ein weiterer
Austausch innerhalb der DNA erforderlich, um das Vierstrangsta-
χ 3‘ dium aufzulösen und wieder zwei Doppelhelices herzustellen,
ein Prozess, der Auflösung (engl. resolution) genannt wird. Von
besonderer Bedeutung ist hierbei RuvC. Nach dem Schnitt durch
RuvC muss die DNA wieder durch eine DNA-Ligase verbunden
Fortgesetzte Bindung von RecA 5‘
an das obere χ-Fragment werden.

C Die Schlüsselbeobachtung, die zur Identifizierung der Auflö-


sung der Holliday-Struktur geführt hat, machten Bernadette
Connolly und Stephen West 1990, als sie in vitro Rekombi-
nationszwischenstufen mit RecA-Protein herstellten und bei
3‘
χ der Untersuchung von Zellextrakten eine Fraktion beobach-
teten, die eine schwache Rekombinationsaktivität zeigte.
Diese Fraktion war in der Lage, kleine synthetische Holliday-
5‘ Strukturen durch Einzelstrangschnitte in kleine Duplexpro-
dukte aufzulösen. Ein Extrakt von ruvC-Mutanten verfügte
Homologe Anordnung dagegen nicht über diese Eigenschaften.
Eindringen des Einzelstrangs

. Abb. 4.23 Bildung der homologen Stränge. Der RecBC-Komplex bindet


zunächst an das Ende der linearen DNA und beginnt, die Doppelstränge zu
entspiralisieren. An die freien Einzelstränge binden Einzelstrangbindungs-
proteine (SSB) und das RecA-Protein; das RecA-Protein bildet zusammen
mit dem oberen DNA-Einzelstrang ein Filament, das in den anderen DNA-
Strang einwandert und dort nach homologen Sequenzen sucht. Nach der
Schlüssel Wechselwirkung mit χ in der richtigen Orientierung bleibt der RecBCD-
Komplex stehen, die RecD-Untereinheit wird modifiziert (angedeutet durch
RecBCD RecA den Farbwechsel gelb – orange), und die Polarität der Nuklease wird umge-
SSB homologe DNA dreht. (Nach Eggleston und West 1997, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)
4.4 · Transformation und Rekombination
137 4

a
a b

. Abb. 4.24 Modell der Wechselwirkungen von RuvA, RuvB und RuvC an der Holliday-Struktur. a Modell des RuvAB-Komplexes, wie er an der Wanderung
des Verzweigungspunktes beteiligt ist. Dabei binden zwei RuvA-Tetramere (gelb; hier ist wegen der Klarheit der Zeichnung nur ein Tetramer gezeigt) an
den Verzweigungspunkt und halten ihn in einer ungefalteten, planaren Konfiguration. Die beiden hexameren Ringe aus RuvB (blau) sind gegenläufig
orientiert und liegen diametral entgegengesetzt auf zwei DNA-Armen. Sie treiben die Wanderung des Verzweigungspunktes durch ihre (ATP-verbrauchen-
den) Helikase-Aktivitäten an; die Pfeile deuten die Richtung der DNA-Bewegung an. b Der RuvBC-Komplex trägt wesentlich zur Erhöhung der Auflösungs-
effizienz der Holliday-Struktur bei. Dazu bindet RuvC (rot) als Dimer an den Verzweigungspunkt und tritt mit den beiden RuvB-Hexameren (blau) in Wech-
selwirkung. c Zwei Ansichten (von oben und von der Seite) des hypothetischen RuvABC-Komplexes, in dem RuvA und RuvC an entgegengesetzte Stellen
des Verzweigungspunktes binden und die Bindung der beiden RuvB-Ringe stabilisieren. Dabei verdrängt RuvC eines der beiden RuvA-Tetramere. Unter
diesen Bedingungen schreitet die Wanderung des Verzweigungspunktes voran, aber das RuvC-Dimer »scannt« die DNA für bestimmte Sequenzen. Wenn
dann der Komplex diese bevorzugten Stellen erreicht, wird die DNA geschnitten, die Holliday-Struktur aufgelöst und die Rekombination beendet. (Nach
van Gool et al. 1998, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Heute wissen wir, das RuvC als Dimer spezifisch an die Holliday- > Bei der Rekombination wird durch Brüche und kreuzweise
Strukturen bindet und sie in eine offene planare Form überführt. Wiederverheilung der DNA-Enden eine viersträngige Hol-
In Anwesenheit divalenter Kationen induziert RuvC symmetri- liday-Struktur gebildet, die eine allmähliche Verschiebung
sche Einzelstrangbrüche in den DNA-Strängen gleicher Polarität. des Überkreuzungspunktes der DNA-Moleküle gestattet.
Obwohl das Protein zunächst die Holliday-Struktur als solche Bei E. coli sind verschiedene Proteine bekannt, die spezifi-
erkennt, schneidet sie die DNA spezifisch [5’-(A/T)TT|(G/C)-3’]. sche Aufgaben bei der Rekombination erfüllen. Dazu
Nach der Spaltung wird der Rekombinationsprozess durch eine gehören RecA, der RecBCD-Komplex, RuvAB und RuvC.
Ligase-Reaktion abgeschlossen, wobei die Strang-Enden wieder Innerhalb des E. coli-Genoms gibt es DNA-Sequenzen, an
neu verknüpft werden. denen Rekombination bevorzugt erfolgen kann.

*Das RecBCD-System ist nicht das einzige Rekombinations-


system, das in E. coli vorkommt. In einem weiteren System
Das E. coli-Chromosom ist normalerweise ringförmig und be-
sitzt daher keine Einzelstrang-Enden. In normalen Bakterienzel-
arbeitet RecQ als Helikase, RecJ wirkt als Nuklease und die len ist Rekombination allerdings auch nicht von Bedeutung. Erst
Bildung und Stabilisierung des Einzelstrangs erfolgt durch im Falle einer Konjugation oder einer Transduktion wird ein
RecF, O und R (RecF-Rekombinationsmaschine). Der wesent- zweites DNA-Molekül für mögliche Rekombination verfügbar.
liche Unterschied scheint darin zu liegen, dass der RecBCD- Dieses Molekül ist linear und bietet daher eine Bindungsstelle für
Weg zunächst einen Doppelstrangbruch induziert, wohin- den RecBC-Komplex an. Wie wir später (7 Abschn. 6.3.3) sehen
gegen der RecF-Weg einen Einzelstrangbruch voraussetzt werden, gelten die hier skizzierten Rekombinationsmechanis-
(Amundsen und Smith 2003). men entsprechend auch für eukaryotische Systeme nach der Re-
plikation und vor der meiotischen Teilung. Eine lesenswerte
Zusammenfassung von 40 Jahren Forschung über die Holliday-
Struktur wurde 2004 von Liu und West veröffentlicht.
138 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

4.5 Genstruktur und Genregulation nismen entscheidend beigetragen. Die Aufklärung des Grund-
prinzips der Regulation verschiedener prokaryotischer Gene
Wir haben im Kapitel über die Transkription (7 Abschn. 3.3) nur führte zu der Einsicht, dass es hierbei zunächst zwei gegensätz-
angedeutet, dass das Ablesen der genetischen Information und liche Regulationsprinzipien zu unterscheiden gilt (. Abb. 4.25):
ihre anschließende Übersetzung in Proteine ein räumlich und 4 das der negativen Kontrolle und
zeitlich stark regulierter Prozess ist. Unsere ersten Erkenntnisse 4 das der positiven Kontrolle.
über die genauen molekularen Mechanismen der Regulation der
Genexpression wurden an Prokaryoten gewonnen. Wie zweckmäßig es für eine Zelle ist, über beide Regulations-
4 Die zuvor beschriebenen Techniken der Sexduktion und prinzipien zu verfügen, lässt sich leicht verstehen, wenn wir uns
Transduktion haben zur Aufklärung von Genregulationsmecha- die unterschiedlichen Arten zellulärer Stoffwechselwege vor Au-
gen halten. Auf der einen Seite gibt es Stoffwechselmechanismen,
die dafür sorgen müssen, dass bestimmte Substanzen, die im
a
Nährmedium der Zelle auftreten können, umgesetzt oder abge-
baut werden. In diesem Falle ist eine Aktivierung des Stoffwech-
selweges dann erforderlich, wenn die betreffende Substanz vor-
handen ist. Man bezeichnet diesen Regulationsvorgang der An-
schaltung eines Stoffwechselweges bei Bedarf als positive Gen-
kontrolle. Im Allgemeinen ist ein Induktor zur Anschaltung des
Stoffwechselweges notwendig.
Eine negative Genkontrolle, also die gezielte Abschaltung
eines Gens, ist dann erforderlich, wenn eine im Zellstoffwechsel
b benötigte Substanz in ausreichenden Mengen vorhanden ist. Es
ist in diesem Fall ein Repressor der Genfunktion erforderlich.
C Ein Beispiel hierfür ist die Umsetzung des Zuckers Lactose
(ein β-Galactosid) in seine Bestandteile Glucose und Galac-
tose (. Abb. 4.26): Ist Lactose im Nährmedium einer Bakteri-
enzelle vorhanden, werden die Gene eingeschaltet, deren
Produkte zum Abbau des Zuckers benötigt werden. Lactose
ist in diesem Fall sowohl Induktor als auch Substrat (Substrat-
induktion).

C Bakterienzellen können alle Aminosäuren selbst synthetisie-


. Abb. 4.25 Prinzipien der Genregulation. a Positive Regulation. Ein Gen ren, nehmen diesen Syntheseweg aber nicht in Anspruch,
wird bei Anwesenheit eines Induktors angeschaltet, indem dieser an die wenn genügend Aminosäuren im Nährmedium vorhanden
Regulationsregion der DNA bindet und dadurch die Transkription initiiert. sind. In diesem Fall wird ein gewöhnlich aktiver Stoffwech-
b Negative Regulation. Das Gen ist normalerweise durch einen Repressor,
selweg, oft unter Mitwirkung des Syntheseproduktes, inakti-
der an die Regulationsregion bindet, inaktiviert. Wird das Repressormolekül
durch einen Induktor so modifiziert, dass es nicht mehr an die DNA binden viert. Das ist z. B. der Fall bei der Biosynthese der Aminosäure
kann, wird die Regulationsregion des Gens freigegeben und es kann eine Tryptophan. Tryptophan wirkt hier als Repressor (Endprodukt-
Transkription des Gens initiiert werden repression).

a b

. Abb. 4.26 Die Funktion der β-Galactosidase. a Umsetzung von Lactose in Galactose und Glucose. b Struktur des Galactoseanalogons Isopropylthioga-
lactosid (IPTG)
4.5 · Genstruktur und Genregulation
139 4
Die Gene, die in E. coli für den Abbau von Lactose oder für die Genkomplexen von E. coli besprochen, dem lac-Operon und
Synthese von Tryptophan notwendig sind, gehören zu den ersten dem trp-Operon.
Genen, die von den Bakteriengenetikern der 1960er-Jahre unter-
sucht wurden, sodass wir heute sehr genaue Vorstellungen über
den molekularen Regulationsmechanismus haben. Experimen- 4.5.1 Das lac-Operon
tell wurden dabei zwei Ansätze gewählt:
4 die experimentelle Mutagenese, d. h. die Induktion von Mu- E. coli-Zellen können Lactose als Kohlenstoffquelle verwerten. Es
tationen, mit der anschließenden Selektion auf Verände- ist daher möglich, Mutationen in den Genen des Lactosestoff-
rungen in den untersuchten Genen, und wechsels dadurch zu identifizieren, dass mutierte Zellen (lac−)
4 die Erzeugung einer merodiploiden genetischen Konstitu- mit Lactose als einziger Kohlenstoffquelle nicht mehr wachsen
tion verschiedener Mutationen mittels Transduktion oder können. Kombinierte man verschiedene solcher Mutationen
Sexduktion und die Untersuchung der Genexpression unter (lac−) durch Sexduktion, so waren sie in einer F’lac−/lac+- oder
solchen Konstitutionen. einer F’lac+/lac−-Konstitution (also merodiploid) stets fähig,
Lactose zu verwerten (ihr Phänotyp ist Lac+). Dieses Gensystem
> Man kann zwischen positiver und negativer Genregulation
wurde in den 1950er-Jahren insbesondere durch François Jacob
unterscheiden. In positiven Regulationssystemen wird ein
und Jacques Monod im Detail untersucht (und 1961 publiziert):
Gen durch einen Induktor aktiviert. In negativen Regulations-
Durch Kombination verschiedener lac-Mutationen wurden
systemen wird ein Gen durch einen Repressor inaktiviert.
deren genetische Unterschiede und Gemeinsamkeiten bestimmt
Um die grundlegenden Prinzipien genetischer Experimente bei (. Tab. 4.2). So lassen sich diese Mutationen zunächst in zwei
der Analyse von Mutanten zu verstehen, ist es zunächst sinnvoll, Komplementationsgruppen einordnen, die als lacZ und lacY be-
sich einige wichtige genetische Gesichtspunkte einer solchen zeichnet werden. Die genauere Untersuchung zeigte, dass lacZ
Analyse vor Augen zu führen: für das Enzym codiert, das zum Lactoseabbau notwendig ist, die
4 Zwei Mutationen, die sich nicht komplementieren können, β-Galactosidase. Das lacY-Gen hingegen codiert für ein Protein,
müssen im gleichen Cistron (»Gen«) erfolgt sein. das für den Transport der Lactose durch die Zellwand ins Zell-
4 Führt eine Mutation in einem positiven Regulationssystem innere sorgt; das Enzym wird daher Permease genannt. Im Laufe
(z. B. Lactoseabbau) dazu, dass das betreffende Gen nicht der weiteren Untersuchung des lac-Gensystems wurde noch eine
mehr regulierbar, sondern kontinuierlich aktiv ist, so spre- dritte Komplementationsgruppe entdeckt, lacA, die für eine
chen wir von einer konstitutiven Expression des mutierten Transacetylase codiert (. Abb. 4.27).
Gens. Die naheliegende Interpretation einer solchen erbli- Für die Analyse von lac-Mutanten war es sehr hilfreich, dass
chen Veränderung ist, dass durch sie der regulative Bereich man anstelle von Lactose verschiedene andere, chemisch synthe-
des Gens verändert wurde. Wirkt eine solche Mutation nur tisierte Galactoside eingesetzt hat (»chemische Genetik«). Dabei
in cis-Stellung (also auf dem gleichen Chromosom, auf dem zeigte sich, dass beispielsweise Phenylgalactosid in gleicher Wei-
das Gen exprimiert wird), so erkennen wir, dass dem be- se wie Lactose als Substrat verwendet wird. Ein anderes Analo-
troffenen Protein-codierenden Gen in der DNA ein Bereich gon, Isopropylthiogalactosid (IPTG) (. Abb. 4.26b), kann durch
zugeordnet sein muss, der für die Regulation der Expres- die β-Galactosidase aber nicht gespalten werden; es ist dadurch
sion dieses Gens verantwortlich ist. als Substrat unwirksam. Daher bleibt es in konstanter Konzen-
tration in der Zelle vorhanden, und man beobachtete eine Induk-
In den folgenden Abschnitten werden die Einzelheiten der posi- tion des gesamten lac-Systems – alle drei Proteine, LacZ, LacY
tiven und negativen Regulationskontrolle am Beispiel von zwei und LacA, werden stets in proportional gleichen Mengen synthe-

. Tab. 4.2 Lac-Operon-Mutanten, die zur Identifizierung des Regulationssystems essenziell sind

Genetische Konstitution Synthese von lac-mRNA Regulative Eigenschaften

F−lacI−/lacI− lacZ+ lacY+ lacA+ Konstitutiv I: reprimiert

F+lacI+/lacI− lacZ+ lacY+ lacA+ Induzierbar I: trans-wirksam

F−lacI−/lacI+ lacZ+ lacY+ lacA+ Induzierbar

FclacOc lacZ+/lacI− lacZ+ lacY+ lacA+ Konstitutiv Oc: cis-wirksam

FclacOc lacZ−/lacO+ lacZ+ lacY+ lacA+ Induzierbar

F+lacO+ lacZ+/lacOc lacZ+ lacY+ lacA+ Konstitutiv

F´ lacOc lacZ−/lacO+ lacZ+ lacY+ lacA+ Induzierbar O+: cis-wirksam

F´ lacOc lacZ+/lacO+ lacZ− lacY+ lacA+ Konstitutiv Oc: cis-wirksam

Die Daten lassen erkennen, dass O-Mutationen ebenso wie O+ stets nur cis-wirksam sind, während I-Mutationen stets auch trans-wirksam sind.
140 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Lactose

LacY

Lacl Glucose

4 Galactose LacZ LacA

mRNA

PI P O
lacl lacZ lacY lacA

. Abb. 4.27 Das lac-Operon von E. coli. Drei Gene bilden das lac-Operon: lacZ, lacY und lacA; sie codieren für die Proteine β-Galactosidase, Permease und
Transferase. Oberhalb des lacZ-Gens befinden sich die regulatorischen Elemente P (Promotor) und O (Operator). Die drei Gene des lac-Operons werden unter
der Kontrolle des Promotors P in eine einzige, polycistronische mRNA transkribiert, von der dann die drei Proteine translatiert werden. Das Operon wird
durch den Lac-Repressor reguliert, der durch das Gen lacI codiert und dessen Expression durch den eigenen Promotor PI gesteuert wird. Der Repressor LacI
inhibiert die Transkription dadurch, dass er an den Operator O bindet. Die Bindung an den Operator wird durch den Induktor (üblicherweise Lactose, aber
auch unphysiologisch IPTG; . Abb. 4.26b) verhindert. (Nach Shuman und Silhavy 2003, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

tisiert (als »Reporter« für die Expression der gesamten Gengrup- > Mutationen, die zur konstitutiven Genexpression führen
pe wird in der Regel nur die Aktivität der β-Galactosidase gemes- und auch in trans-Stellung wirksam sind, weisen auf die
sen). Dies führte letztlich zur Charakterisierung regulatorischer Synthese eines Repressors hin, der im Normalfall die be-
Elemente (7 Abschn. 4.5.2). troffenen Gene inaktiviert. Bei Anwesenheit eines Induk-
Da in der E. coli-Zelle im Allgemeinen eine Induktion der tors wird der Repressor in seiner reprimierenden Wirkung
β-Galactosidase notwendig ist, um ihre Expression zu beobach- unterdrückt.
ten, musste eine Mutantenklasse umso mehr auffallen, bei der
alle drei Proteine auch in Abwesenheit eines Induktors produ- Es besteht aber noch eine weitere Gruppe von Mutationen, die
ziert werden (. Tab. 4.2). Es lag nahe, die Ursache hierfür wiede- zur konstitutiven Expression der β-Galactosidase führt, die
rum auf der Ebene der Regulation zu suchen. Solche Mutationen, Oc-Mutanten (c für engl. constitutive). Sie kartieren zwischen lacI
die alle in einer Region oberhalb des lacZ-Gens kartierten, wur- und lacZ (. Abb. 4.27) und sind von der genetischen Konstitu-
den unter der Bezeichnung lacI-Mutationen zusammengefasst. tion von lacI unabhängig. In Oc-Mutanten wird also β-Galacto-
Die wichtigsten Beobachtungen für das Verständnis dieser Mu- sidase auch in der Gegenwart einer lacI−-Mutation konstitutiv
tationen waren, exprimiert. Im Gegensatz zu lacI-Mutanten sind alle O-Mutan-
4 dass die Synthese der unterhalb von lacI kartierenden Pro- ten jedoch stets nur cis-wirksam (. Tab. 4.2):
teine stets konstitutiv war, wenn keine lacI+-Region in der 4 Eine genetische Konstitution F’Oc/O+ lacZ gestattet eine
Zelle vorhanden war (also: F’lacI−/lacI− lacZ+ lacY+ lacA+), normale Induktion von β-Galactosidase,
4 während bei Anwesenheit einer lacI+-Region, gleichgültig 4 während eine Konstitution F’O+/Oc lacZ eine konstitutive
ob in cis oder trans (also: F’lacI+/lacI− lacZ+ lacY+ lacA+ Synthese von β-Galactosidase bewirkt.
oder: F’lacI−/lacI+ lacZ+ lacY+ lacA+), die Expression stets
normal induzierbar blieb. Im Gegensatz zu allen anderen Mutanten sind also O-Mutanten
grundsätzlich nicht komplementierbar. Jacob und Monod er-
Also muss lacI+ für ein diffundierbares, mithin trans-aktives klärten diese Eigenschaft mit der Annahme, dass die O-Region
Produkt codieren. Aus diesen Befunden konnte geschlossen wer- einen regulativen DNA-Bereich darstellt. Sie nannten ihn den
den, dass lacI für die Synthese eines Repressors verantwortlich Operator (. Abb. 4.27). Verständlich wird seine Funktion, wenn
ist, der normalerweise in der Zelle vorhanden ist – zur Aktivie- man annimmt, dass der Operator die Aufgabe hat, den Repressor
rung der β-Galactosidase muss er aber inaktiviert werden. Mit zu binden, wenn keine Aktivität der durch ihn kontrollierten
dieser Annahme lässt sich die konstitutive Synthese der lacZ-, Gene erforderlich ist. Bei einer strukturellen Veränderung des
lacY- und lacA-Produkte in lacI−-Mutanten verstehen: Ein nicht Operators, die zur Folge hat, dass der Repressor nicht mehr an
mehr funktionsfähiger Repressor ist außerstande, seine inakti- die Operatorregion binden kann, kommt es zur konstitutiven
vierende Funktion auszuüben. Synthese der β-Galactosidase.
4.5 · Genstruktur und Genregulation
141 4
Umgekehrt haben wir ja oben gesehen, dass es Substanzen Bei einer genauen Betrachtung des im Operonmodell vorge-
gibt (wie z. B. IPTG), die die β-Galactosidase induzieren können. schlagenen Regulationsmechanismus könnte man den Eindruck
Das kann man sich jetzt so erklären, dass diese Substanzen mit gewinnen, dass hier die Problematik der Regulation nur um eine
dem Repressor in Wechselwirkung treten, ihn aus der Bindung Stufe verschoben wird: auf die der Regulation der Repressorsyn-
an den Operator verdrängen und so die Expression der drei Gene these. Das ist jedoch nicht der Fall: Der Repressor wird konsti-
ermöglichen. tutiv synthetisiert und ist daher ständig, unabhängig vom Stoff-
wechselzustand der Zelle, mit einer geringen Anzahl von Mole-
C Die Isolierung des lac-Repressors durch Walter Gilbert und külen (etwa 10) in der Zelle vorhanden.
Benno Müller-Hill (1966) war ein wichtiger Meilenstein in
der Geschichte der Genetik, zeigte er doch die Bedeutung > Das Zusammenspiel verschiedener Regulationselemente,
von Mutanten bei der Analyse komplexer Regulationsme- des Operators, des Repressors und des Induktors, wird da-
chanismen. Dazu benutzten sie die Eigenschaft von E. coli, durch ermöglicht, dass die Repressorsynthese konstitutiv
im induzierten Zustand mit einer geringeren Konzentration erfolgt. Der Repressor ist normalerweise am Operator
von Lactose auszukommen, als nötig ist, um das System gebunden und verhindert dadurch die Initiation der RNA-
überhaupt zu induzieren. Dieses Phänomen wird dadurch Synthese durch Blockierung der RNA-Polymerase. Durch
erklärt, dass durch die dann bereits vorhandene Permease Anwesenheit eines Induktors wird der am Operator ge-
Lactose in die Zelle hineingepumpt wird. Es gelang Müller- bundene Repressor inaktiviert und die Transkription kann
Hill, eine Mutante zu isolieren, die bei deutlich geringerer initiiert werden. Promotor und Operator erweisen sich
IPTG-Konzentration als im Wildtyp induziert werden konnte. somit als cis-wirksame Regulationselemente, während Re-
Biochemische Experimente zeigten dann, dass Rohextrakte pressor und Induktor trans-wirksam, also diffusibel sind.
aus diesen Mutanten IPTG stärker binden konnten als der Regulationsprozesse verlaufen durch das Zusammenspiel
Wildtyp – der lac-Repressor war isoliert (eine schöne Dar- stationärer und diffundierbarer Elemente.
stellung dieser Arbeiten findet sich bei Müller-Hill 1990).
C Der sensitivste Indikator für die LacZ-Aktivität ist das chro-
> Die Existenz von Mutationen, die ausschließlich in cis-Stel- mogene Substrat Bromchlorindolylgalactosid (Xgal). Wenn
lung wirksam sind und zu einer konstitutiven Expression diese farblose Verbindung durch LacZ hydrolysiert wird, ent-
eines Gens führen, weist auf die Anwesenheit einer Regu- steht eine Substanz, die zu einem blauen Indigofarbstoff
lationsregion in der DNA hin, die als Operator bezeichnet dimerisiert. Stämme, die das lac-Operon bei sehr geringen
wird. Lactosekonzentrationen exprimieren (Lactose-Minimal-
medium), bilden hellblaue Kolonien, wenn das Medium
auch Xgal enthält. Diese Färbereaktion hat weite Verbrei-
tung in der Molekulargenetik gefunden.
4.5.2 Das Operonmodell
Erst längere Zeit nach der Ausarbeitung des zuvor dargestellten
Damit waren die wesentlichen Elemente eines Regulationssys- Regulationsmodells für das lac-Operon ist aufgeklärt worden,
tems entdeckt, das von Jacob und Monod (1961) als Operon- dass die Regulation des lac-Operons in Wirklichkeit komplizier-
modell bezeichnet wurde. Die Funktionsweise des lac-Operons, ter ist und einen zusätzlichen, positiven Regulationsmechanis-
wie wir sie heute verstehen, ist in . Abb. 4.27 zusammengefasst. mus einschließt. Zur Initiation der RNA-Synthese im Promotor
Die einzelnen Elemente dieses Funktionsmodells sind folgende: ist nämlich die Bindung eines zusätzlichen Regulationselementes
4 Drei Gene codieren für drei unterschiedliche Proteine erforderlich (engl. catabolite activator protein, CAP, oder cAMP
(β-Galactosidase, Permease, Transacetylase). Diese Gene receptor protein, CRP). Das CAP wird mit zyklischem AMP
werden in eine einzige mRNA transkribiert, deren Synthese (cAMP) komplexiert und bindet in dieser Form an den lac-Pro-
durch einen oberhalb liegenden Promotor (P in . Abb. 4.27) motor. Ohne dieses positive Regulationselement wird weder in
gesteuert wird. lacI−- noch in Oc-Mutanten β-Galactosidase-mRNA syntheti-
4 Der Promotor ist der Bindungsplatz der RNA-Polymerase. siert. Der Grund für diese zusätzliche Regulation ist einleuch-
4 Das lacI-Gen codiert für ein Proteinmolekül, den Repres- tend: Lactose wird durch β-Galactosidase in Glucose und Galac-
sor. Wird ein funktionsfähiger Repressor synthetisiert, fin- tose gespalten, und auch Galactose wird letztlich in den Gluco-
det keine Transkription des lac-Operons statt. sestoffwechsel überführt. Ist nun genügend Glucose im Nährme-
4 Der Operator, der unterhalb des Promotors liegt, reguliert dium vorhanden, so ist eine zusätzliche intrazelluläre Produktion
die RNA-Synthese durch Bindung des Repressors. Ist der von Glucose nicht notwendig. Da der cAMP-Titer in der Zelle
Repressor gebunden, kann keine Transkription im Promo- durch Glucose reguliert wird und der cAMP-Gehalt in Gegen-
tor beginnen, da das Repressormolekül die Fortbewegung wart von Glucose niedrig ist, kann bei höheren Glucosekonzen-
der RNA-Polymerase verhindert. trationen kein cAMP-CAP-Komplex gebildet und die mRNA-
4 Ein Induktor (z. B. Lactose oder IPTG) ist durch Bindung Synthese im lac-Operon nicht initiiert werden. Da cAMP-CAP-
an den Repressor imstande, diesen zu inaktivieren. Der Re- Komplexe auch an der Regulation anderer Zucker-abbauender
pressor kann dann nicht mehr an den Operator binden, so- Operons beteiligt sind, erfolgt über dieses positive Regulatormo-
dass die Transkription vom Promotor durch den Operator- lekül eine Koordination und Integration der Aktivität verschie-
bereich fortschreiten kann. dener Stoffwechselwege.
142 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Der Beantwortung der Frage nach dem Regulationsmecha- tophansynthetase-α und -β erforderlich. Die für diese Enzyme
nismus der Synthese einer bestimmten mRNA schließt sich die codierenden fünf Gene (trpE, trpG-D, trpC-F, trpB, trpA) sind in
Frage nach der anschließenden Translation des Messengers an. einem Operon (trp-Operon) zusammengefasst; sie werden als
Es war bereits darauf verwiesen worden, dass die drei im lac- polycistronischer Messenger transkribiert (. Abb. 4.28a). Zwei
Operon zusammengefassten Proteine β-Galactosidase, Permease dieser Gene (trpG-D und trpC-F) sind Fusionsgene, d. h. jedes
und Transacetylase stets in gleichen relativen Mengen syntheti- der entsprechenden Proteine ist bifunktional. Oberhalb der fünf
siert werden. Ihre relativen Molekülzahlen in der Zelle verhalten Gene befindet sich eine komplexe regulatorische Region, die die
sich wie 1,0:0,5:0,2. Wie ist diese strikte Kopplung zu erklären, Tryptophankonzentration, aber auch die Menge der verfügbaren
4 und warum werden sie nicht in gleichen Mengen hergestellt? beladenen und unbeladenen tRNATrp bestimmen kann. Ein ein-
Die Kopplung der Syntheseraten erklärt sich aus dem poly- ziger Promotor wird benutzt, um die Transkription des gesamten
cistronischen Charakter der mRNA. Für alle drei Proteine liegen Operons zu induzieren. Die Aktivierung dieses Promotors wird
primär die gleichen Anzahlen von mRNA-Molekülen vor. Nun durch einen Tryptophan-aktivierten Repressor effizient reguliert
besitzt jedes Cistron innerhalb des mRNA-Moleküls sein eigenes – bei Abwesenheit von Tryptophan in der Zelle werden die er-
Translationsinitiationscodon AUG ebenso wie ein Terminations- forderlichen Gene der Biosynthesekette angeschaltet. Der akti-
codon. Bei jedem der Terminationscodons setzt nur ein Teil der vierte Repressor verhindert durch Bindung an den Operator die
Ribosomen die Translation der folgenden Cistrons fort, während Transkription der Gene des trp-Operons.
der andere Teil vom Messenger abfällt. Hierdurch wird die An- An der Regulation des trp-Operons ist daneben noch ein
zahl der von einem polycistronischen mRNA-Molekül herge- zweiter Regulationsmechanismus beteiligt, der als Attenuations-
stellten Proteinmoleküle für jedes in 3’-Richtung der mRNA ge- mechanismus bekannt ist. Er ermöglicht eine Feinabstimmung
legene Cistron geringer. Hinzu kommt, dass die normale Degra- der Tryptophansyntheserate. Zusätzlich zum Promotor/Opera-
dation der mRNA offenbar bevorzugt am 3’-Ende beginnt, so- tor ist nämlich noch ein weiteres cis-wirksames Kontrollelement
dass für die Translation des lacZ-, des lacY- und des lacA-Bereichs vorhanden, die Leitsequenz (trpL). Dieses Element liegt zwi-
in dieser Reihenfolge stets weniger mRNA-Moleküle zur Verfü- schen dem Promotor/Operator und dem ersten Enzym-codie-
gung stehen. Die Expression der verschiedenen im lac-Operon renden Cistron (trpE). Die Leitsequenz wird transkribiert und
zusammengefassten Proteine unterliegt also einem polaren Ef- codiert für ein Leitprotein (engl. leader peptide). Innerhalb die-
fekt, der für polycistronische Genbereiche charakteristisch ist. ser Leitsequenz liegt der Attenuator. Die Funktion dieses Kon-
trollelements wird uns verständlich, wenn wir uns die entspre-
> Ein dem Operatormechanismus übergeordneter, cAMP-
chenden Nukleotidsequenzen genauer betrachten (. Abb. 4.29).
abhängiger, positiver Regulationsmechanismus koordi-
Die wichtigsten Elemente sind:
niert verschiedene miteinander verwandte Stoffwechsel-
4 die 14 Aminosäuren (52 Nukleotide) lange Leitsequenz-
wege. Polycistronische Genbereiche zeigen oft polare Ef-
Region, deren zwei Codons für Tryptophan in Aminosäure-
fekte hinsichtlich der relativen Expression der aufeinan-
positionen 10 und 11 (Nukleotidpositionen 54–59) eine
derfolgenden Cistrons. Solche Effekte erklären sich durch
wesentliche Rolle in der Regulation spielen. Vor diesem
unterschiedliche Initiationshäufigkeiten der Translation
Leitpeptid befindet sich eine starke Ribosomenbindungs-
an den verschiedenen Startcodons, aber auch durch diffe-
stelle;
renzielle Degradation der mRNA, die am 3’-Ende beginnt.
4 vier DNA-Abschnitte, die in unterschiedlichen Kombinati-
onen Basenpaarungen innerhalb der Transkripte zu Haar-
nadelschleifen ermöglichen. Diese selbstkomplementären
4.5.3 Das trp-Operon Regionen (invertierten Repeats) liegen in den Nukleotid-
positionen (1) 53–68, (2) 76–94, (3) 114–121 und (4) 126–
Die Fähigkeit, auf einem »Minimalmedium«, das im Wesentli- 134 (. Abb. 4.29a).
chen Salze enthält, zu wachsen, unterscheidet Bakterien grund-
sätzlich von Eukaryoten. Eukaryoten bedürfen der Aufnahme Haarnadelschleifen sind charakteristische Terminationssignale
organischer Verbindungen, da sie nicht über die notwendigen der Transkription, wenn ihnen eine Poly(A)/Poly(T)-Sequenz
Biosynthesewege verfügen, um alle im Stoffwechsel erforderli- (also Poly(U) im Transkript) folgt, wie es am Ende der mRNA des
chen organischen Komponenten selbst zu synthetisieren. Das gilt Leitsegmentbereichs der Fall ist (Nukleotidpositionen 133–141).
unter anderem für einen Teil der Aminosäuren, die sogenannten Sie erlauben die Feinregulation der Transkription des trp-Ope-
essenziellen Aminosäuren (beim Menschen die acht Aminosäu- rons, da in Bakterien Transkription und Translation eng gekop-
ren Histidin, Leucin, Isoleucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, pelt sind. Ribosomen entfernen intramolekulare Basenpaarun-
Tryptophan, Valin). Bakterien hingegen verfügen über die not- gen in einem Bereich, der in direktem Kontakt mit einem Ribo-
wendigen Stoffwechselwege, mit deren Hilfe sie bei Bedarf alle som steht (etwa zehn Nukleotide). Bei Translation des Leitpep-
benötigten organischen Verbindungen selbst herstellen können. tids bis zum Translations-Stoppcodon UGA in Position 69–71
Dazu müssen diese Stoffwechselwege präzise reguliert werden. kann somit die Haarnadelschleife aus den invertierten Wieder-
Ein wichtiger Stoffwechselweg in Bakterien ist die Biosynthese holungseinheiten 1 und 2 nicht gebildet werden (. Abb. 4.29).
des Tryptophans. Dazu sind die Enzyme Anthranilsynthetase, Dadurch wird die Ausbildung der Haarnadelschleife aus den
Phosphoribosyl-Anthranilat-Transferase, Phosphoribosyl-An- invertierten Wiederholungseinheiten 3 und 4 uneingeschränkt
thranilat-Isomerase-Indol-Glycerolphosphat-Synthetase, Tryp- möglich. Das führt zu einer Termination der Transkription, da
4.5 · Genstruktur und Genregulation
143 4
E. coli
trp-Operon

Strukturgene

trpL attn trpE trpG-D trpC-F trpB trpA

Promotor Attenuator interner Promotor t t'


a Operator

B. subtilis
trp-Operon – aro-Superoperon

aroF aroB aroH Strukturgene hisC tyrA aroE

Promotor attn trpE trpG-D trpC trpF trpB trpA


Promotor
b Attenuator interner Promotor

Folat-Operon

pabB trpG pabC


c
(pabA)

. Abb. 4.28 Die Organisation des trp-Operons bei E. coli und B. subtilis. a Das trp-Operon von E. coli ist eine einzige Transkriptionseinheit und enthält eine
Promotor/Operator-Sequenz sowie den Attenuator. Dieses Operon enthält außerdem einen unregulierten internen Promotor, der die Bildung der Proteine
TrpC-F, TrpB und TrpA verhindert, wenn das Operon maximal reprimiert ist. Am Ende des Operons befinden sich außerdem Tandem-Terminatoren (t t’).
b Das trp-Operon von B. subtilis ist Teil eines Superoperons. Zwei Promotoren treiben die Transkription des trp-Operons an. Die Transkription, die an jedem
der beiden Promotoren beginnen kann, wird aber nur durch eine Attenuationsstelle reguliert, die in der Leitregion des trp-Operons liegt. Ein dritter
Promotor liegt im trpA-Gen; er wird benutzt, um die letzten drei Gene des Superoperons abzulesen. c Bei B. subtilis befindet sich das trpG-Gen in einem
anderen Operon, dem Folat-Operon. Die übrigen Gene dieses Operons sind nicht dargestellt, da dies in diesem Zusammenhang eher verwirrend wirkt.
(Nach Yanofsky 2004, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

der Abstand zwischen RNA-Polymerase und dem ersten Ribo- > Das trp-Operon bei E. coli besitzt neben dem negativen
som nur gering ist. Regulationsmechanismus, der auf einer Repressor-Opera-
Anders verhalten sich die intramolekularen Basenpaarungen tor-Interaktion basiert, ein zusätzliches Regulationssys-
bei Tryptophanmangel. In diesem Fall wird nämlich die Transla- tem, das auf einer Kontrolle der Transkriptionsrate durch
tion des Leitpeptids an den beiden trp-Codons UGG (Positionen intramolekulare Sekundärstrukturen der mRNA beruht.
54–59) verzögert oder unterbleibt vollständig, je nach der intra- Je nach Translationsgeschwindigkeit können sich tran-
zellulären Tryptophankonzentration. Es kann sich nun eine skriptionshemmende Doppelstrangregionen in der RNA
Haarnadelschleife aus den beiden komplementären Wiederho- ausbilden, die die Translation abbrechen. Die Translations-
lungseinheiten 2 und 3 direkt nach ihrer Synthese ausbilden. Eine geschwindigkeit wird durch die Konzentration des End-
Termination der Transkription durch das Terminationssignal produktes gesteuert. Bei fehlendem Tryptophan wird sie
erfolgt nicht, da dieses nicht ausgebildet wird. Mithin läuft die verzögert, da kein oder wenig Tryptophan in die wachsen-
Transkription bis zum Ende des trp-Operons durch, sodass nun- de Polypeptidkette eingebaut werden kann. Das führt
mehr Tryptophan synthetisiert werden kann. Dieser Regulati- zu einer Fortsetzung der mRNA-Synthese, da keine Haar-
onsmechanismus, den man als Attenuationsmechanismus be- nadelschleifen mit Terminationseffekt gebildet werden.
zeichnet, kann allein dann wirksam sein, wenn Proteinsynthese
stattfindet. Es ist auch interessant, sich in verschiedenen Bakterien die Or-
Das Attenuationssystem erlaubt also eine sehr fein abge- ganisation des trp-Operons zu betrachten. Daraus können wir
stimmte Regulation der Aminosäuresynthese. Vergleichbare Re- viel über evolutionäre Prozesse und Anpassungen an veränderte
gulationsmechanismen wurden für andere Aminosäuren (Histi- Umweltbedingungen lernen. Als ein Beispiel sei hier das trp-
din, Threonin, Leucin, Isoleucin, Valin und Phenylalanin) nicht Operon von B. subtilis vorgestellt; eine hervorragende Zusam-
nur bei E. coli, sondern auch bei verschiedenen anderen Bakteri- menfassung und vergleichende Darstellung einer Vielzahl bakte-
en nachgewiesen (z. B. Salmonella typhimurium). Auch in diesen rieller Systeme findet der interessierte Leser bei Xie et al. (2003).
Fällen befinden sich die jeweils spezifischen Aminosäurecodons Das trp-Operon bei B. subtilis (. Abb. 4.28b) ist durchaus
im Leitpeptid (z. B. sieben Histidincodons im Histidin-Biosyn- unterschiedlich organisiert verglichen mit dem von E. coli. Es
theseweg oder vier Leucincodons bei der Leucin-Biosynthese), besteht aus sechs Genen, die innerhalb eines zwölf Gene umfas-
sodass das jeweilige Endprodukt nach einem einheitlichen Prin- senden Superoperons für aromatische Aminosäuren liegen
zip an der Regulation stets selbst beteiligt ist. (Symbol: aro). Dabei liegen jeweils drei zusätzliche Gene unter-
bzw. oberhalb des trp-Operons; diese Gene betreffen verwandte
Biosynthesewege. Das siebte Gen für die Tryptophansynthese
144 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Leitpeptid
MKAIPVKLKGWWRTS

Transkript 1 2 3 4 trpE

Antiterminator

4 Pausen-Struktur
(Anti-Antiterminator) Terminator

1 2 2 3 3 4

UUUUU
a Alternative RNA-Strukturen

trpL
P trpEDCBA Schritt 1
Transkription beginnt und
Polymerase pausiert

RNA-Polymerase

trpL
P trpEDCBA Schritt 2
Translation beginnt

TrpL-tRNA

P trpEDCBA Schritt 3
Ribosom gibt die pausierende
Polymerase frei
TrpL-tRNA

Schritt 4a Schritt 4b
angemessene Menge an beladener tRNATrp ungenügende Menge an beladener tRNATrp
Antitermination der Transkription
Ribosom hält an einem der beiden Trp-Codons
Anti-Antiterminator Terminatorbildung

P trpEDCBA P trpEDCBA

UGA UGA
TrpL-tRNA

Polymerase setzt
Transkription wird Transkription fort
beendet Antiterminator-
TrpL bildung

b Ribosom wird freigesetzt


4.5 · Genstruktur und Genregulation
145 4
E. coli B. subtilis
erhöhte Protein erhöhte
Expression Expression

blockiertes AT-inaktiviertes
Ribosom Trp-tRNATrp TRAP

Anti- AT Anti-
AT
Termination UGG tRNA Trp
Termination
AT
AT
+

Repression Trp Termination

Trp-aktivierter Trp-aktiviertes
trp-Repressor Biosynthese TRAP
verminderte verminderte
Expression Expression

. Abb. 4.30 Vergleich der Regulation der Tryptophan-Biosynthese bei E. coli und B. subtilis. In E. coli aktiviert Trp den trp-Repressor; er bindet an die trp-
Operatorregion und verhindert die Initiation der Transkription. In B. subtilis aktiviert Trp das TRAP-Protein. Das aktivierte TRAP bindet an die Leitsequenz
des trp-Operons und bewirkt die Beendigung der Transkription. Wenn sich in E. coli unbeladene tRNATrp anhäuft, hält das translatierende Ribosom der Leit-
sequenz an einem der beiden Trp-Codons an; es bildet sich die Antiterminator-Struktur, und die Transkription wird fortgesetzt. In B. subtilis aktiviert die
Anhäufung unbeladener tRNATrp dagegen die Antiterminationstruktur im at-Operon und erlaubt damit die Transkription der Strukturgene des at-Operons;
das at-Operon ist für die Bildung des Anti-TRAP-Proteins verantwortlich. Unbeladene tRNATrp verhindert auch die Translation der Trp-Codons der Leit-
sequenz. Das angehaltene Ribosom bewirkt so die AT-Transkription und -Translation. Das gebildete AT bindet an das Trp-aktivierte TRAP, verhindert so die
Bindung von TRAP an seine RNA-Bindungsstellen und erhöht damit die Transkription des trp-Operons. (Nach Yanofsky 2004, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)

(trpG) ist im Folat-Operon lokalisiert (. Abb. 4.28c). Das TrpG- skription beenden. Die Anhäufung unbeladener tRNATrp führt
Protein, eine Glutamin-Aminotransferase, ist in zwei verschiede- dagegen zur Inaktivierung des TRAP-Proteins und die Tran-
nen Stoffwechselwegen aktiv: Einmal katalysiert es die erste Re- skription läuft weiter.
aktion im Tryptophan-Weg, und außerdem ist es für eine ähnli-
che Reaktion im Folsäure-Weg zuständig. Um das trp-Operon *Die Regulation ist aber noch etwas komplexer. Weitere Ar-
beiten führten zur Identifizierung eines Operons, das für die
innerhalb des aro-Superoperons anzutreiben, sind zwei Promo-
tRNATrp-Bestimmung verantwortlich ist; es wird als at-Ope-
toren notwendig: Der eine liegt oberhalb des aroF-Gens und der
ron bezeichnet, weil es ein Anti-TRAP-Protein produziert.
zweite unmittelbar vor dem trpF-Gen. Die Initiation der Tran-
Dieses AT-Protein bindet Tryptophan-aktiviertes TRAP und
skription durch eine RNA-Polymerase an einem der beiden Pro-
hemmt damit die Fähigkeit von TRAP, an die Leitsequenz zu
motoren ist abhängig von einer einzigen regulatorischen Ent-
binden. Es bleibt jedenfalls bemerkenswert, dass es bei
scheidung in der Leitregion des trp-Operons: entweder die Tran-
B. subtilis mit dem AT/TRAP-System noch eine zweite Regula-
skription (vorzeitig) zu beenden oder die Fortsetzung in die
tionsebene zur Steuerung der Trp-Biosynthese gibt. Eine
Strukturgene des Operons zu erlauben. Diese regulatorische
vergleichende Darstellung der unterschiedlichen Regula-
Entscheidung basiert auf der Verfügbarkeit sowohl von Trypto-
tionsstrategien ist in . Abb. 4.30 dargestellt; einen Stamm-
phan als auch der beladenen tRNATrp. Tryptophan aktiviert das
baum der verschiedenen trp-Operons in Bakterien zeigt
regulatorische TRAP-Protein (engl. tryptophan-RNA-binding
. Abb. 4.31.
protein); aktiviertes TRAP bindet an die Leitregion und bewirkt
die Bildung von RNA-Terminator-Strukturen, die dann die Tran-

9 . Abb. 4.29 Organisation und regulatorische Funktionen der Leitregion des trp-Operons bei E. coli. a Die Leitsequenz umfasst 162 Nukleotide; das Transkript
kann drei alternative Sekundärstrukturen bilden: 1:2, die Pause- oder Anti-Antiterminator-Struktur; 2:3, die Antiterminator-Struktur; und 3:4, die Terminator-
Struktur (die Ziffern entsprechen der Reihenfolge der linearen Segmente der Leitsequenz). Zusätzlich codiert Segment 1 ein Leitpeptid von 14 Aminosäuren,
das zwei nebeneinanderliegende Trp-Reste besitzt. Die Fähigkeit, dieses Peptid zu synthetisieren, wird genutzt, um die An- oder Abwesenheit der beladenen
tRNATrp zu bestimmen. Wenn die Ribosomen die Proteinsynthese abbrechen, weil sie an dieser Stelle nicht weiterkommen, wird die RNA-Antiterminator-
Sequenz gebildet. Das verhindert die Ausbildung von Terminator-Strukturen und ermöglicht die Fortführung der Transkription. Wenn dagegen Trp in großer
Menge vorliegt, wird die Leitsequenz synthetisiert und das translatierende Ribosom abgelöst, die Terminator-Struktur wird gebildet und die Transkription
durch Tandem-Terminatoren (t t’) beendet. b Regulation des trp-Operons von E. coli durch Attenuation. Die Bildung der RNA-Strukturen hängt ab von der
Position des Ribosoms auf der mRNA und der Ribosomen-Freisetzung an der Region der Leitsequenz. Die Entscheidung der Termination ist abhängig von
der Menge an beladener tRNATrp. Wenn das Operon transkribiert wird, bleibt die RNA-Polymerase nach der Transkription des Pause-Signals stehen (Schritt 1).
Dann beginnt die Translation (Schritt 2) und das translatierende Ribosom gibt die pausierende RNA-Polymase frei (Schritt 3). Wenn in der Zelle ausreichende
Konzentrationen an beladener tRNATrp vorhanden sind, erreicht das Ribosom das Stoppcodon der Leitsequenz und wird freigesetzt. Es bilden sich die Anti-
Antiterminator- und Terminator-Strukturen der RNA, und die Transkription ist beendet (Schritt 4a). Wenn die Zelle dagegen zu wenig tRNATrp besitzt, bleibt
das Ribosom, das das Leitpeptid synthetisiert, am Trp-Codon stehen. Dadurch bildet sich die Antiterminator-Struktur, und die Transkription wird in Richtung
der Strukturgene des Operons fortgesetzt (Schritt 4b). (Nach Yanofsky 2004, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
146 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

4
4.5 · Genstruktur und Genregulation
147 4
4.5.4 RNA-codierende Gene sichtlich ist, sind die sieben Operons nicht vollständig identisch.
Aus Untersuchungen mit vollständigen RNA-Extrakten (d. h.
In E. coli wird die rRNA von sieben nicht zusammenhängenden den Produkten von allen sieben Operons) ist inzwischen be-
Operons (rrnA–E und rrnG-H) synthetisiert. Diese Operons sind kannt, dass die sieben rrn-Operons zunächst in primäre Tran-
asymmetrisch um den Replikationsursprung (oriC) auf einer skripte (30S-Vorläufer-rRNA) kopiert werden. Diese Vorläufer-
Hälfte des ringförmigen Chromosoms angeordnet (. Abb. rRNA wird dann durch verschiedene RNasen in die jeweiligen
4.32a). Es werden drei Formen der rRNA hergestellt, und die rRNAs zerlegt (. Abb. 4.33). Die Organisation der verschiedenen
Reihenfolge in den Operons ist Promotor → 16S-rRNA → 23S- rRNA-Moleküle innerhalb einer einzigen Transkriptionseinheit
rRNA → 5S-rRNA. In der Verbindungsregion zwischen den 16S- hat den Vorteil, dass damit unmittelbar die zum Aufbau der Ri-
und 23S-rRNA-Genen sowie am distalen Ende der Operons lie- bosomen erforderlichen äquimolaren Mengen der verschiede-
gen einige verschiedene tRNA-Gene. Wie aus . Abb. 4.32b er- nen rRNA-Moleküle zur Verfügung stehen. Obwohl die Zusam-

a . Abb. 4.32 rRNA-Gene bei E. coli. a Die sieben rrn-Operons von E. coli sind
asymmetrisch um den Replikationsursprung (oriC) angeordnet. Die Pfeile
deuten die Transkriptionsrichtung an; die Gene sind in Minuten angegeben
(7 Abschn. 4.2.1). b Die Struktur der sieben rrn-Operons von E. coli zeigt zu-
nächst die tandemartige Anordnung der beiden Promotoren P1 und P2.
Die grauen Kästchen deuten die 16S-, 23S- und 5S-Gene sowie des tRNAGlu2-
Gens im Verbindungsbereich an. Die Terminator-Region am Ende jedes
Operons besteht aus einem rho-unabhängigen und einem rho-abhängigen
Terminator (T1 und T2). Die Bindungsstellen für die Transkriptionsfaktoren
FIS (engl. factor of inversion stimulation) und H-NS (engl. heat-stable nucleo-
id-structural protein) in der UAS-Region (engl. upstream transcription activa-
tion sequence) sind angegeben. Außerdem sind zusätzliche regulatorische
Elemente gezeigt: das UP-Element (engl. upstream element; für direkte
Wechselwirkungen mit der RNA-Polymerase), die starke Diskriminator-Se-
quenz sowie die nut-ähnliche Sequenz (engl. N-protein utilization; wichtig
für die Antitermination und die Reifung der Ribosomen). (Nach Hillebrand
et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von de Gruyter)

9 . Abb. 4.31 Evolution des trp-Operons in Bakterien. Die Organisation des trp-Operons und seiner regulatorischen Elemente ist als Stammbaum darge-
stellt; es werden nur solche trp-Gene gezeigt, die an der primären Trp-Biosynthese beteiligt sind. Die Äste für Helicobacter pylori und Corynebacterium gluta-
micum sind farblich hervorgehoben, um den Ursprung des gesamten trp-Operons durch horizontalen Gentransfer deutlich zu machen. Die verschiedenen
genetischen Elemente sind entweder experimentell bestätigt oder durch computergestützte Sequenzvergleiche abgeleitet. Bei großen Operons mit mehr
als fünf dazwischenliegenden Genen ohne Funktionen in der Trp-Biosynthese (weiße Pfeile) ist die Zahl dieser Gene angegeben. trpS: Gen für Tryptophanyl-
tRNA-Synthetase; mtrB: Gen für TRAP (engl. trp RNA-binding attenuation protein); rtpA: Gen für ein Anti-TRAP-Protein (AT); ltbR: Gen für den Leucin- und
Tryptophan-Biosyntheseregulator. (Nach Merino et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
148 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Promotor wiederum liegt etwa 200 bp oberhalb des Beginns der


reifen 16S-rRNA. Keiner der beiden Promotoren hat eine perfek-
te Consensussequenz; allerdings gibt es Hinweise darauf, dass die
außerordentliche hohe Transkriptionsrate von zusätzlichen Se-
quenzelementen abhängt, die weiter oberhalb liegen, und von
spezifischen Proteinen, die daran binden können.
> In Bakterien sind die 16S-, 23S- und 5S-rRNA-Gene in
sieben rrn-Operons zusammengefasst. Sie werden in Form
4 eines einzigen primären Transkripts von der DNA abgele-
. Abb. 4.33 Reifung der 16S- und 23S-rRNA bei E. coli. Die Sequenzen,
die die 16S- und 23S-rRNA flankieren, sind zueinander komplementär und sen und durch RNasen in ihre jeweiligen Endprodukte ge-
bilden deshalb Doppelstrangstrukturen aus (die Basenpaare sind durch kur- spalten.
ze dünne Striche gekennzeichnet). Schnittstellen für die RNasen sind ange-
geben: Pfeil mit III: RNase III; mit E: RNase E; mit G: RNase G. Die reife rRNA ist
durch die dicke Linie dargestellt; die ausgeschnittenen Reste sind punktiert.
C Auch die Gene, die für den zweiten (neben der rRNA) in der
(Nach Evguenieva-Hackenberg 2005, mit freundlicher Genehmigung von Bakterienzelle mengenmäßig vorherrschenden RNA-Typ, die
Blackwell) Transfer-RNA, codieren, bilden Genfamilien. Aus dem gene-
tischen Code lässt sich ableiten, dass es 64 verschiedene
tRNA-Sorten geben sollte. Diesen müssen sich die insgesamt
20 Aminosäuren der verschiedenen Codons zuordnen. Eini-
menfassung der drei rRNA-Gene in einem Operon bei Bakterien
ge tRNAs sind jedoch in der Lage, verschiedene Codons für
den Regelfall darstellt, so gibt es doch auch Ausnahmen.
die gleiche Aminosäure zu erkennen (7 Abschn. 3.2.1,
*Der Vergleich der sieben Operons in . Abb. 4.32b macht
deutlich, dass sie nicht vollständig identisch sind; daraus
Wobble-Hypothese), sodass in E. coli nur etwa 40 verschie-
dene tRNA-Gene vorhanden sind. In E. coli ist je ein Gen für
kann im Umkehrschluss auch auf funktionelle Unterschiede jede dieser tRNAs vorhanden.
geschlossen werden. Es sind auch in der Tat mindestens fünf
In E. coli finden sich die tRNA-Gene in unterschiedlichen Kom-
der sieben Operons nötig, um optimales Wachstum zu erzie-
binationen. So enthält eine Gruppe von tRNA-Genen die Se-
len. Zur schnellen Anpassung an den Wechsel verschiedener
quenzen für tRNALeu, tRNAMet und tRNAGln (. Abb. 4.34), wäh-
Nährstoffe und Temperaturen sind sogar alle sieben Operons
rend eine andere Gruppe neben tRNAIle, tRNAAla und tRNAThr
nötig. Aus Untersuchungen an Plasmodium wissen wir bei-
(neben rDNA-Sequenzen) enthält. Die Gene der zuerst genann-
spielsweise, dass die 18S-rRNA unter verschiedenen Wirtsys-
ten Gruppe werden in eine gemeinsame Vorläufer-tRNA tran-
temen von verschiedenen Operons abgelesen wird (von
skribiert und anschließend durch Spleißen voneinander ge-
Typ C im Moskito und von Typ A in Säugern).
trennt. Hieran sind verschiedene Enzyme beteiligt, so die Ribo-
Die rrn-Operons bei E. coli werden in großem Umfang transkri- nuklease P (RNase P) und die Ribonuklease D (RNase D), aber
biert; unter Wachstumsbedingungen besteht mehr als die Hälfte es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch ein RNA-kon-
der Gesamt-RNA einer Bakterienzelle aus rRNA. Aus den Se- trolliertes Spleißen erfolgt.
quenzen der Promotoren der sieben rrn-Operons wissen wir, Eine RNA-Komponente der RNase P ist in in-vitro-Experi-
dass sie alle dieselbe Grundstruktur aufweisen. Jedes Operon hat menten ausreichend, um die Vorläufer-tRNA richtig zu zer-
zwei σ70-Promotoren (7 Abschn. 3.3.2) hintereinander, P1 und schneiden. Zunächst werden hierbei die 5’-Enden der tRNAs
P2, die durch etwa 100 bp voneinander getrennt sind. Der P2- erzeugt (. Abb. 4.34), danach werden durch die exonukleolytisch

. Abb. 4.34 Struktur einer der Gruppen von tRNA-Genen im Genom von E. coli. Sieben tRNA-Gene liegen innerhalb dieser Region und werden in einem
primären Transkript abgelesen. An den durch Pfeile gekennzeichneten Stellen wird das primäre Transkript durch die RNA-Ribonuklease P geschnitten.
Die Sekundärstruktur der RNA ist hypothetisch. (Nach Nakajima et al. 1981, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
4.5 · Genstruktur und Genregulation
149 4
wirkende RNase D die 3’-Enden bis zum charakteristischen Bakterientiter gesteuert werden. Bakterien können die Min-
3’-CCA-OH-Ende der funktionsfähigen tRNA (7 Abschn. 3.4) destanzahl anderer Bakterien erfassen (engl. quorum sensing)
entfernt. In den sieben anderen Gengruppen von E. coli liegen und damit darauf reagieren, wie dicht ihr Lebensraum besiedelt
ribosomale RNA-Gene, 5S-rRNA-Gene und tRNA-Gene zusam- ist. Der Begriff des Quorum sensing wird zunehmend auch im
men vor und werden in dieser Form als ein gemeinsames 30S- Deutschen verwendet. Es handelt sich dabei um ein System der
Transkript abgelesen (. Abb. 4.32b). In Eukaryoten sind solche Zell-Zell-Kommunikation, mit dessen Hilfe Bakterien auf che-
Genanordnungen nicht bekannt und auch unwahrscheinlich, da mische, Hormon-ähnliche Moleküle antworten. Im einfachsten
die verschiedenen RNA-Typen hier durch unterschiedliche Fall initiiert die Anhäufung eines derartigen Moleküls über einen
RNA-Polymerasen transkribiert werden. In E. coli hingegen er- bestimmten Schwellenwert (»Quorum«) eine Signalkaskade, die
folgt die Transkription sowohl der rRNA als auch der tRNA und in eine populationsweite Veränderung der Genexpression mün-
mRNA durch dieselbe RNA-Polymerase. Die 5’-Enden der det. Da die Konzentration des Signalmoleküls im Allgemeinen
tRNAs werden durch die RNase P hergestellt, während die rRNA- mit der Populationsdichte korreliert, stellt dieser Mechanismus
Moleküle durch die Ribonuklease III aus Transkriptbereichen eine Möglichkeit für Bakterien dar, auf veränderte Umweltbedin-
herausgeschnitten werden, die durch intramolekulare Basenpaa- gungen zu reagieren. Dabei wird die Substanz, die von den Bak-
rungen doppelsträngig sind (. Abb. 4.33). Die RNase P ist ein terien ins Medium ausgeschieden wird, als Autoinduktor (engl.
Ribozym, das in Prokaryoten nur eine kleine Proteinuntereinheit autoinducer) bezeichnet, da sie im einfachsten Fall auf die eigene
enthält. Die RNA-Untereinheit besteht aus einer tRNA-spezifi- Zelle zurückwirkt. Der Autoinduktor bindet dabei an einen Re-
schen Domäne und einer katalytischen Domäne. zeptor auf oder in der Bakterienzelle und verändert oberhalb
eines bestimmten Schwellenwertes die Genexpression.
> In E. coli liegen manche tRNA-Gene isoliert vor, andere ge-
Dabei gibt es zwei bevorzugte Molekülgruppen, die als Auto-
meinsam in Gruppen mit rRNA-Genen. Nach der Transkrip-
induktoren wirken: acetylierte Homoserinlactone (AHL; . Abb.
tion durch die RNA-Polymerase müssen sie weiterbearbei-
4.35a) und modifizierte Oligopeptide; daneben spielen aber auch
tet werden; dabei spielt die RNase P eine wichtige Rolle.
verschiedene Chinoline und das 4,5-Dihydroxy-2,3-pentandion
(DPD) eine Rolle. Viele acetylierte Homoserinlactone können
frei die Membran passieren und dann im Cytoplasma von spezi-
4.5.5 Kommunikation in Bakterien: fischen Rezeptoren gebunden werden. Die Rezeptor-Ligand-
Quorum sensing Komplexe binden anschließend an die Promotoren ihrer Ziel-
gene und aktivieren die entsprechenden Gene (. Abb. 4.36).
Die Regulation der Genexpression kann bei Bakterien neben der Oligopeptid-Autoinduktoren werden dagegen in der Regel von
spezifischen Induktion oder Repression sowie der globalen Kon- membranständigen Rezeptoren gebunden, und die Signaltrans-
trolle durch das Nährstoffangebot und Stress auch durch den duktion erfolgt dann über eine Phosphorylierungskaskade. Erst

. Abb. 4.35 Signalmoleküle beim Quorum sensing.


a Strukturformeln verschiedener Acyl-Homoserin-
lactone. b Stoffwechselwege zur Bildung von AI-2.
Das Vorläufermolekül DPD (4,5-Dihydroxy-2,3-pentan-
dion) entsteht beim Abbau der Aminosäure Methio-
nin (über die Zwischenprodukte S-Adenosylmethionin
und S-Ribosylhomocystein). DPD kann spontan zu
einem Furanderivat zyklisieren (DHF: 2,4-Dihydroxy-
2-methyldihydrofuran-3-on); die S-Form bildet bei
Hydratisierung die S-Tetrahydroxyform (THMF), die
mit Borat reagieren kann und über eine Diesterbin-
dung mit LuxP verbunden wird. Die R-Form bildet ent-
a sprechend das R-THMF, das mit LsrB co-kristallisieren
kann. (a nach Kumari et al. 2008, mit freundlicher
Genehmigung von Springer; b nach van Houdt et al.
2007, mit freundlicher Genehmigung der FEMS)

b
150 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

in jüngerer Zeit wurden Autoinduktoren auf der Basis von


Chinolinen bei Pseudomonas aeruginosa entdeckt. Ein zweites
Autoinduktor-System (AI-2) verwendet DPD als Ausgangsmole-
kül, um daraus verschiedene Tetrahydroxymethylfuran(THMF)-
Derivate herzustellen (. Abb. 4.35b).

C Das LuxR/I-System war das erste bekannte Quorum-sensing-


System und wurde von Kenneth Nealson und Mitarbeitern
1970 bei Vibrio fischeri beschrieben. Das Luciferase-Operon
4 wird dabei durch zwei Proteine reguliert, LuxI (das für die
Produktion des AHL-Autoinduktors verantwortlich ist) und
LuxR (das durch diesen Autoinduktor aktiviert wird und die
Transkription des Luciferase-Operons erhöht). In der Folge
wurden die LuxI-Proteine als AHL-Synthetasen charakteri-
siert; die LuxR-Proteine sind Transkriptionsfaktoren, die
durch die Bindung von AHL stabilisiert werden (ohne AHL-
Bindung werden sie schnell abgebaut).
Ein komplexeres System des Quorum sensing besitzt das
marine Leuchtbakterium Vibrio harveyi (. Abb. 4.37). Es ver-
fügt über zwei unabhängige Systeme, eines für die Kommu-
nikation innerhalb der Spezies auf der Basis von AHL (Auto-
induktor 1, AI-1) und ein zweites System (AI-2) für die Kom-
. Abb. 4.36 Modell der Biolumineszenz-Aktivierung bei Vibrio fischeri. Bei
munikation mit anderen Spezies auf der Basis von THMF-
hoher Zelldichte (und dabei entsprechend hoher AHL-Konzentration) kann Derivaten als Autoinduktor (AI-2; . Abb. 4.35b und . Abb.
der Autoinduktor AHL an seinen Rezeptor binden. Der Rezeptor-Ligand- 4.37a). Die jeweiligen Signalmoleküle werden durch ver-
Komplex aktiviert daraufhin die Transkription des Rezeptor-Gens sowie das schiedene »Sensor-Kinasen« erkannt, die über eine längere
Luciferase-Operon. (Nach Reading und Sperandino 2006, mit freundlicher
Signalkette zur Transkription einer nicht-codierenden RNA
Genehmigung der FEMS)
führen, die die LuxR-mRNA destabilisiert und damit die Akti-
vierung des Luciferase-Operons verhindert. Nach der Bin-

LsRA
ATP ATP
LuxP LsrB LsrB LsrK
LuxQ Al-2 ADP ADP
Al-2 H D P
Sensor-
Kinase
H
LuxU LsrR P
LuxN
H D
Al-1 Sensor-
Kinase
D HTH
IsrK IsrRI srA IsrC IsrD IsrB IsrF IsrGI srE
LuxO

b
ncRNAs

LuxR

a luxCDABEGH
. Abb. 4.37 Das LuxS/AI-2-System. a Vibrio harveyi benutzt zwei Sensor-Kinasen (LuxN und LuxO), um AI-1 bzw. AI-2 zu erkennen. LuxQ erkennt den Kom-
plex aus AI-2 und seinem periplasmatischen Rezeptor LuxP. Nachdem das Signal wahrgenommen wurde, wandeln sich die Kinasen zu Phosphatasen, und
das gesamte komplexe System wird dephosphoryliert. Das dephosphorylierte LuxO aktiviert nicht länger die Transkription nicht-codierender RNA (ncRNA),
sodass die LuxR-mRNA nicht mehr abgebaut wird; so aktiviert LuxR das Luciferase-Operon. b In Salmonella und E. coli ist das periplasmatische Protein LsrB
der AI-2-Rezeptor. Nach seiner Bindung an LsrB wird AI-2 durch das LsrABC-Transportsystem in die Zelle transportiert. Dort wird AI-2 durch LsrK phospho-
ryliert, um so mit dem Repressor LsrR in Wechselwirkung zu treten; dadurch kann LsrR die lsr-Transkription nicht länger unterdrücken. (Nach Reading und
Sperandino 2006, mit freundlicher Genehmigung der FEMS)
4.6 · Regulation im Genom des Phagen λ
151 4
dung des jeweiligen Autoinduktors werden die Kinasen je- funden und später auch in anderen Bakterien nachgewiesen wur-
doch zu Phosphatasen und dephosphorylieren das gesamte de (. Abb. 4.38). Epinephrin und Norepinephrin kommen auch
System, sodass auch die nicht-codierende RNA nicht mehr in den Nervenzellen des Gastrointestinaltrakts vor und beein-
gebildet wird und LuxR das Luciferase-Operon wieder akti- flussen über entsprechende Rezeptorsysteme die Muskelkon-
vieren kann. traktion, die Blutströmung sowie die Chlorid- und Kaliumsekre-
tion im Darm. Die weitere Aufklärung dieser komplexen Wech-
In anderen Bakterien werden durch AI-2 nur Gene reguliert, die selwirkung eines Bakteriums mit seinem Wirt wird sicherlich
für einen ABC-Transporter codieren; bei S. typhimurium wird auch neue therapeutische Möglichkeiten eröffnen.
das gebildete Protein als Lsr bezeichnet (LuxS-reguliert). Dieser
ABC-Transporter kommt auch bei E. coli vor und weist Homolo-
gien zu einem Zucker-Transporter auf (ABC-Transporter sind 4.6 Regulation im Genom des Phagen λ
eine Klasse von Membranproteinen, die als gemeinsames Struk-
turelement eine ATP-bindende Kassette [engl. ATP binding cas- Im Vermehrungszyklus des temperenten Bakteriophagen λ
sette, ABC] besitzen und spezifische Substrate aktiv über eine nimmt ein Regulationsmolekül – der λ-Repressor – eine zentrale
Zellmembran transportieren). In der Zelle wird AI-2 phospho- Funktion in der Entscheidung darüber ein, ob der Phage nach
ryliert und bindet an den Rezeptor (LsrR), der als Transkrip- der Infektion in eine lytische Phase geht oder ob er als Prophage
tionsfaktor an der Regulation des lsr-Operons beteiligt ist ins Wirtszellgenom eingebaut wird (. Abb. 4.13). Für die Regu-
(. Abb. 4.37b). lation der Expression des λ-Genoms ist die Art der Anordnung
der Gene im Chromosom von entscheidender Bedeutung. Funk-
> Bakterien verfügen über die Möglichkeit, Signalmoleküle
tionell verwandte Gene liegen im λ-Genom in Gruppen beiein-
abzugeben, und über geeignete Rezeptoren, solche Signal-
ander. Das gestattet eine gemeinsame Regulation jeder dieser
moleküle aufzunehmen. Wir unterscheiden dabei vor allem
Gruppe von Genen durch eine gemeinsame Kontrolle auf dem
zwei Molekülgruppen, acetylierte Homoserinlactone und
Transkriptionsniveau.
modifizierte Oligopeptide. Durch die aktivierten Rezepto-
Nach einer λ-Infektion liegt das Phagengenom zunächst als
ren werden spezifische Stoffwechselwege beeinflusst. Die-
lineare Doppelhelix ohne jegliche Regulationssignale vor. Zu-
ser Mechanismus ist erst ab bestimmten Schwellenwerten
nächst zirkularisiert sich das λ-Chromosom durch Ligation der
aktiv; er wird deshalb auch als Quorum sensing bezeichnet.
cos-sites (. Abb. 4.14). Hierdurch werden die »späten Gene«
Es gibt zunehmend Hinweise in der Literatur, dass die von Bak- (engl. late genes) aneinandergekoppelt, die für die Produktion
terien ausgeschütteten Signalmoleküle nicht nur zur Kommuni- der Phagenkopfproteine verantwortlich sind und im linearen
kation unter Bakterien dienen, sondern auch in Eukaryoten Genom voneinander getrennt liegen. Mithilfe der wirtszelleige-
wirksam sind (engl. interkingdom signalling). So wird darüber nen RNA-Polymerase beginnt nun die Transkription der »frü-
spekuliert, inwieweit diese bakteriellen Signalmoleküle bei Infek- hen« Phagengene (N und cro) (engl. early genes) an deren jewei-
tionsprozessen auch von Zellen des betroffenen Organismus auf- ligem Promotor PL oder PR (. Abb. 4.14). Die Transkription
genommen werden und immunologische, hormonelle oder neu- verläuft in entgegengesetzter Richtung: Wir können hieraus er-
ronale Antworten des Wirts beeinflussen können. Ein besonde- sehen, dass die beiden antiparallelen DNA-Stränge hinsichtlich
res Beispiel ist das Epinephrin-Norepinephrin-System (AI-3), codierender Funktionen gleichwertig sind und dass die Richtung
das zunächst beim enteropathogenen E. coli-Stamm EHEC ge- der Genorientierung innerhalb kurzer Abstände des Genoms

. Abb. 4.38 Quorum sensing im enterohä-


morrhagischen E. coli. AI-3 und Epinephrin/
Norepinephrin werden durch denselben
Rezeptor in der äußeren Membran der Bak-
terien erkannt. Diese Signale werden in den
periplasmatischen Raum transportiert, wo
sie mit zwei wichtigen sensorischen Kina-
sen in Wechselwirkung treten (QseC; QseE).
QseC überträgt das Signal an das Regulon
der Flagellen (durch Phosphorylierung des
QseB-Regulators, der an den Promotor des
flhDC-Gens bindet und dadurch die Expres-
sion des Flagellen-Regulons aktiviert). Da-
gegen führt die Signalübertragung durch
QseE über eine komplexe Signalkette zur
Transkriptionsaktivierung von LEE (engl.
locus of enterocyte effacement). OM: äußere
Membran, IM: innere Membran. (Nach
Reading und Sperandino 2006, mit freund-
licher Genehmigung der FEMS)
152 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

wechseln kann. An den Terminationssequenzen am Ende des aa PL PRM PRE


N- und des cro-Gens wird die Transkription beendet. Die Trans- clll N cl cro cll O P
lationsprodukte, das N-Protein und das Cro-Protein, sind Regu-
lationsmoleküle mit unterschiedlicher Funktion: Das N-Protein
wirkt als Antiterminator der Transkription der Gene N und cro,
OL1 OL2 OL3 OR1 OR2 OR3
sorgt also für eine Fortsetzung der Transkription über die beiden
PL PRM PR
frühen Gene hinaus. Damit ist es in der Lage, die Transkription
und dadurch zugleich auch die Translation der »verzögerten frü-
b Lysogener Zyklus
b
4 hen Gene« (engl. delayed early genes) zu veranlassen. Mit der
Transkription dieser Gene wird der lytische Zyklus des Phagen
eingeleitet. Das Cro-Protein dient als Repressor für die Synthese
λ-Repressor
des λ-Repressors im Gen cI und wird daher bisweilen auch als
Antirepressor bezeichnet. In dieser Funktion unterstützt es die
cl RNA-Polymerase cro
Funktion des N-Proteins (pN), da der λ-Repressor die Transkrip-
tion aller λ-Gene, ausgenommen seine eigene Synthese, verhin-
OR3 OR2 OR1
dert. Im lytischen Zyklus darf daher kein λ-Repressor vorhanden
sein. PRM PR
Induktion

cc Lytischer Zyklus
4.6.1 Regulation des lytischen Zyklus
cro
Betrachten wir zunächst die weitere Regulation des lytischen RNA-Polymerase
cl
Zyklus. Mit der Transkription der Gene O, P und Q nach Einset-
zen der Antitermination durch pN wird einerseits die Replikati- OR3 OR2 OR1
on des Phagengenoms durch die Genprodukte von O und P er-
möglicht. Das im Gen Q codierte Protein wirkt als Antitermina-
tor der Transkription im Bereich der späten Gene S bis R (. Abb.
4.14). Die Transkription der »späten Gene« wird im Promotor PR cro
initiiert. Ist das Q-Protein vorhanden, so kann die Transkription . Abb. 4.39 Regulation des λ-Genoms. a Feinstruktur des cI-Gens und des
über den gesamten, 26 kb langen Bereich der »späten Gene« N-Gens. Die Operatorregionen besitzen stets je drei Bindungsstellen (O1 bis
durchlaufen. Das Q-Protein bindet zuerst an die DNA in Bereich O3) unterschiedlicher Bindungsaffinität für die Regulationsproteine. b Im
des späten Promotors PR, bevor es an die RNA-Polymerase bin- lysogenen Zyklus binden zwei Dimere des λ-Repressors (durchgezogener
Pfeil) kooperativ an die Bindestellen OR1 und OR2. Der Repressor an OR2 hat
det. Diese durch das Q-Protein modifizierte RNA-Polymerase ist
die RNA-Polymerase an den Promotor (PRM) des benachbarten Repressor-
dann imstande, den 196 bp unterhalb des Promotors PR gelege- gens cI herangeführt. Der gebundene Repressor hält die RNA-Polymerase
nen Terminator TR zu überwinden und dadurch die Expression von dem anderen benachbarten Promotor PR fern; dadurch bleiben die
der »späten Gene« zuzulassen. lytischen Gene ausgeschaltet. Mit geringerer Affinität bindet der Repressor
Die »verzögerten frühen Gene« sind nicht ausschließlich für auch an OR3 (gestrichelter Pfeil) und schaltet dadurch die Transkription von
cI ab. Ein zweiter Promotor der lytischen Gene (PL) befindet sich etwa
die Einleitung des lytischen Zyklus verantwortlich, sondern sie
2400 bp entfernt, und die Wechselwirkungen zwischen den Repressoren, die
sind auch für den Beginn der Lysogenisierung unentbehrlich. an OL und OR binden, unterstützen diese Reaktion. c Wenn der Repressor
Sie aktivieren nämlich außer den für die Replikation und Pha- durch die Induktion des lytischen Zyklus zerstört ist, nimmt die Transkrip-
genkopfproteine verantwortlichen Genen auch das Gen cII, des- tion des cI-Gens ab (wegen des Verlusts der Selbststimulation), und die
sen Produkt, das Protein pcII, zusammen mit dem cIII-Gen- Transkription der rechtsseitigen lytischen Gene beginnt. Cro bindet beson-
ders stark an OR3 (durchgezogener Pfeil) und unterdrückt dadurch direkt die
produkt die Transkription des λ-Repressors im Gen cI ermög-
Synthese des Repressors. Möglicherweise bindet Cro auch an die OR2- und
licht (. Abb. 4.14). Die Gene cI, cII und cIII gehören zu den OR1-Bindestellen, um damit die Transkription der frühen Gene abzuschalten
»verzögerten frühen Genen«. Bereits als eines der beiden »frü- (gestrichelter Pfeil). (b, c nach Ptashne 2006, mit freundlicher Genehmigung
hen Gene« (N und cro) wurde jedoch der Antirepressor Cro ak- von Elsevier)
tiviert, der als Repressor des cI-Gens wirkt. Wie ist dieser schein-
bare Widerspruch zu erklären? Offenbar liegt an dieser Stelle des
Regulationssystems der Schalter für die Entscheidung zwischen terstützung der Proteine pcII und pcIII. Das pcII-Protein bewirkt
lytischem und lysogenem Zyklus des Phagen. eine Modifikation der RNA-Polymerase, ohne die die Bindung
Zum Verständnis dieses Schalters ist es erforderlich, zunächst der RNA-Polymerase am Promotor nicht möglich ist, und pcIII
die Feinstruktur des cI-Gens näher zu betrachten (. Abb. 4.39a). schirmt pcII gegen Abbau durch wirtszellspezifische Proteinasen
Das Gen zeichnet sich dadurch aus, dass es zwei Promotorregio- ab. Die nach Initiation in PRE synthetisierten mRNA-Moleküle
nen, PRM und PRE, besitzt. Der Promotor PRE liegt rechts vom besitzen einen starken Ribosomenbindungsplatz und verursa-
PR-Promotor, der die – in entgegengesetzter Richtung – verlau- chen dadurch ein schnelle Synthese des λ-Repressors. Der Re-
fende Transkription von cro beginnen lässt. Die Transkription pressor bindet nunmehr sofort an den Operator OL der »frühen
des cI-Gens beginnt zunächst im rechten Promotor PRE mit Un- Gene«, die durch den Promotor PL angeschaltet werden, und
4.6 · Regulation im Genom des Phagen λ
153 4
inhibiert damit die Synthese des Antiterminators pN. Gleichzei- senheit des Repressors hat zur Folge, dass die übrigen Phagenge-
tig bindet der λ-Repressor aber auch an den Operator OR der ne reprimiert bleiben. Nur gelegentlich kommt es zur Derepres-
durch PR regulierten Gene, sodass die weitere Synthese von Cro sion, wenn aus sekundären Gründen der Repressortiter absinkt.
unterbunden wird. Der Operator OR liegt unmittelbar rechts ne- In einem Lysogen kann der lytische Zyklus durch UV-Be-
ben dem Promotor PRM (. Abb. 4.39b). Er besteht aus drei ein- strahlung oder chemische Mutagene induziert werden. Durch
ander sehr ähnlichen, aber nicht identischen Bindungsregionen solche physiologischen Stresssituationen werden in der Wirtszel-
(OR1, OR2 und OR3), die unterschiedliche Bindungsaffinitäten für le DNA-Reparaturmechanismen aktiviert (»Induktion«). In die-
den λ-Repressor besitzen. Sie nehmen von OR1 nach OR3 ab. OR1 sen Reparaturmechanismen spielt das RecA-Protein eine zentra-
und OR2 wirken kooperativ in der Bindung des λ-Repressors, le Rolle (7 Abschn. 4.4.2). Das RecA-Protein verfügt über eine
sodass die Bindung eines Repressormoleküls an OR1 die unmit- Protease-Aktivität, die unter anderem den λ-Repressor zwischen
telbare Bindung eines weiteren Repressormoleküls an OR2 zur der DNA-Bindedomäne und der Dimerisierungsdomäne spaltet.
Folge hat. Dieser Repressorkomplex stimuliert die Bindung der Hierdurch ist eine Initiation der Transkription in den »frühen
RNA-Polymerase an den Promotor PRM, womit die weitere Syn- Genen« möglich, die damit einen lytischen Zyklus einleiten kön-
these des λ-Repressors ermöglicht wird. Erst bei großem Über- nen. Diese induzierte lytische Vermehrung des Phagen ist biolo-
schuss von Repressormolekülen werden diese auch am schwa- gisch gesehen sinnvoll, da unter Bedingungen, die erhöhte Mu-
chen Operatorbindungsplatz OR3 gebunden. Da diese Region mit tagenitätsraten zur Folge haben, eine unmittelbare Vermehrung
dem Promotor PRM überlappt, wird die Synthese des λ-Repressors sinnvoller ist als die Aufrechterhaltung des Prophagenstatus.
nunmehr inhibiert. Der Bindungsplatz OR3 dient somit der Fein- Die Funktion des λ-Repressors erklärt uns noch eine zweite
regulation der Produktion des Repressors. Der Promotor PRE Eigenschaft eines Lysogens: Die Immunität gegen erneute Infek-
wird bei Bindung von λ-Repressor in OR1 und OR2 nicht mehr tion (Superinfektion) mit einem neuen λ-Phagen. Ursache hier-
beansprucht, da er der Produkte der Gene cII und cIII bedarf. für ist das Vorhandensein des λ-Repressors, der neu injizierte
Diese werden aber durch den nunmehr vorhandenen λ-Repressor Phagen-DNA sogleich gegen Transkription reprimiert und da-
reprimiert. mit sowohl die Integration als auch einen lytischen Zyklus ver-
Die Hauptfrage ist aber mit der Aufklärung dieser molekula- hindert.
ren Mechanismen noch nicht beantwortet: Wie erfolgt die Ent-
> Immunität einer Bakterienzelle gegen erneute λ-Infektion
scheidung zwischen lytischem und lysogenem Zyklus? Nach der
(Superinfektion) wird durch die λ-Repressormoleküle be-
Infektion des Phagen und der ersten Phase der Transkription
wirkt, die im Lysogen vorhanden sind. Sie reprimieren die
spielen zwei Regulationsmoleküle eine zentrale Rolle für die fol-
Expression eines neu in die Zelle injizierten λ-Genoms.
genden Ereignisse: der λ-Repressor und das Cro-Protein als An-
tirepressor. Das Cro-Protein übt seine reprimierende Wirkung
auf die λ-Repressorsynthese durch Bindung an OR3 aus, kompe-
tiert also für diesen Bindungsplatz mit dem λ-Repressor. Es kann, 4.6.3 DNA-Protein-Interaktionen
ebenso wie der λ-Repressor, auch an die anderen beiden Bin-
dungsstellen OR2 und OR1 binden. Die Bindungsaffinitäten für Bei den verschiedenen Regulationsmechanismen spielen moleku-
die verschiedenen Bindungsregionen sind jedoch genau die ent- lare Interaktionen zwischen der DNA und Regulationsproteinen
gegengesetzten zu denen des λ-Repressors. Offenbar entscheiden eine bedeutende Rolle. Sowohl der λ-Repressor als auch das Cro-
subtile Unterschiede in der Konzentration der verschiedenen Protein, das CRP (engl. catabolite repressor protein; 7 Abschn. 4.5.2),
Regulatorproteine, ob der lysogene oder der lytische Weg einge- der trp-Repressor und der lac-Repressor üben ihre Funktionen
schlagen wird. durch eine direkte Bindung an DNA aus. Alle diese Proteine
haben eine relativ kleine Bindungsregion in der DNA, die zehn
> Die Regulation des Vermehrungszyklus des Bakteriopha-
Basen in der Doppelhelix kaum überschreitet. Sie besitzen aber
gen λ erfolgt durch eine komplexe Interaktion von Repres-
eine hohe und genau kontrollierte Bindungsspezifität und -affini-
sorproteinen mit Regulationssequenzen in der DNA der
tät, wie sie am Beispiel der unterschiedlichen Bindungsaffinitäten
kontrollierten Gene. Die DNA-Bindungsstellen für Regula-
des λ-Repressors und des Cro-Proteins besonders deutlich gewor-
tionsproteine besitzen aufgrund geringfügiger Nukleotid-
den sind.
sequenzunterschiede unterschiedliche Bindungsaffinitä-
ten für die Regulationsproteine. Durch quantitative Unter-
schiede in der intrazellulären Konzentration der Regula-
C Durch die Arbeiten von Marc Ptashne und Mitarbeitern
haben wir Einsicht in die physikochemischen Eigenschaften
tionsmoleküle wird die Transkriptionsrate reguliert.
solcher Repressor-DNA-Komplexe bekommen. Alle zuvor
genannten Repressoren zeichnen sich durch eine einheitli-
che Struktur aus: Sie bestehen aus zwei α-Helixregionen, die
4.6.2 Regulation des lysogenen Zyklus über einen kurzen Proteinbereich miteinander verbunden
sind, der beide Helices gegeneinander dreht. Man bezeichnet
Ist der lysogene Zyklus eingeschlagen, erfolgt die Integration des solche Strukturen als Helix-Turn-Helix- oder als Helix-Loop-
Phagen nach den bereits früher beschriebenen Mechanismen Helix-Motive (HLH) (. Abb. 4.40; siehe auch . Abb. 7.18).
(. Abb. 4.13). Nach der Integration erhält der Prophage die Syn- An der DNA-Bindungsstelle bildet der Repressor ein
these einer geringen Menge an λ-Repressor aufrecht. Die Anwe- Multimer aus identischen Peptiden. Der lac-Repressor ist
154 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

ein Tetramer, der gal-Repressor ein Dimer. Die röntgen- > Verschiedene DNA-bindende Regulationsmoleküle besit-
kristallographische Analyse des DNA-Repressorkomplexes zen eine gemeinsame Grundstruktur. Sie bestehen aus
zeigt uns die sterische Anordnung des Repressorkomplexes: zwei voneinander getrennten α-Helixregionen, mit jeweils
Beim gal-Repressor greift einer der α-Helixbereiche jedes einer bilden sie untereinander Dimere. Die zweite
Dimers in die große Furche der DNA ein, während der zweite α-Helixregion greift in die große Furche der DNA-Doppel-
α-Helixbereich mit dem des anderen Dimers in Kontakt helix an einer spezifischen Erkennungssequenz ein. Die
steht. Durch experimentelle Veränderung derjenigen Ami- Erkennungsspezifität wird einerseits durch die Basense-
nosäuren innerhalb der α-Helixregion, die in die große Fur- quenz auf der Seite der DNA und andererseits durch die
4 che der DNA eingreift, haben Marc Ptashne und Mitarbeiter Aminosäuresequenz auf der Seite des Proteins bestimmt.
(Irwin und Ptashne 1987) und Benno Müller-Hill und Mitar-
beiter (Suckow et al. 1996) feststellen können, welche Amino- Kernaussagen
säuren für die jeweils spezifische Erkennung der DNA-Se- 5 Prokaryoten besitzen stets nur ein Chromosom, das aus Einzel-
quenz an einer Bindungsstelle verantwortlich sind. Durch oder Doppelstrang-RNA oder aus Einzel- oder Doppelstrang-
gezielte Substitutionen solcher Aminosäuren konnte die DNA besteht.
Bindungsspezifität eines Repressormoleküls gezielt in die 5 Auch Prokaryotenchromosomen enthalten spezifische chro-
eines anderen Repressors umgewandelt werden. Aus diesen mosomale Proteine, jedoch keine Histone.
Versuchen geht hervor, dass die Regeln der Sequenzerken- 5 Neben den Chromosomen können prokaryotische Zellen
nung in der DNA für verschiedene Repressoren sehr ähnlich extrachromosomale Elemente enthalten (Plasmide oder
sind. Diese Versuche lassen zudem erkennen, dass Proteine Episomen).
in der Lage sind, die sehr kurzen, spezifischen Basensequen- 5 Diese extrachromosomalen Elemente ermöglichen auch bei
zen in einer DNA-Doppelhelix von außen zu erkennen. den haploiden Prokaryoten Rekombinationsvorgänge.
5 Bakteriophagen (kurz Phagen) sind Bakterienviren und können
entsprechend extrazelluläre Phasen durchlaufen.
5 In Ausnahmefällen können bei Prokaryoten sich überlappende
Gene vorkommen.
5 Die ersten Genregulationsmodelle wurden an Bakterien erar-
beitet; es gibt negative (Repression) und positive (Induktion)
6
3 Kontrollmechanismen.
5 Nach dem Operonmodell besteht ein Gen aus cis-wirksamen
55
Promotor- und Operatorbereichen am 5’-Ende einer Gruppe
von Genen. Diese werden über trans-wirksame Repressoren
a λ-Cro b λ-CI 92
und Induktoren reguliert.
5 Der Regulation eines Genkomplexes nach dem Operonmodell
können andere Regulationsmechanismen übergeordnet sein.
60 5 Ein Feinregulationsmechanismus ist der Attenuationsmecha-
1 nismus. Er ist durch ein zusätzliches cis-wirksames Regulati-
onselement charakterisiert, der Leitsequenz vor dem ersten
205 Cistron. Die Translationsgeschwindigkeit dieser Leitsequenz
105 bestimmt, ob im darauffolgenden Abschnitt des primären
2
Transkripts intramolekulare Basenpaarungen entstehen kön-
137 nen, die als Terminationssignale für die Transkription wirken.
5 Bakterienzellen verfügen über Signalmoleküle, die über ent-
sprechende Rezeptoren Stoffwechselwege beeinflussen.
c CRP d Trp-Repressor e Lac-Repressor 5 Die Aufklärung der Regulationsmechanismen des Bakterio-
phagen λ hat Einblicke in die Mechanismen der DNA-Protein-
. Abb. 4.40 Bänderdarstellung von Strukturen DNA-bindender Domänen
Interaktionen gewährt. Die DNA-Bindung erfolgt über
verschiedener Helix-Turn-Helix-Proteine. Die Moleküle sind so orientiert,
dass die erste »Gerüst«-Helix (rot) des Helix-Turn-Helix-Motivs von rechts α-Helixbereiche von Helix-Loop-Helix-Proteinen (HLH-Protei-
oben vertikal nach unten verläuft und die zweite »Erkennungs«-Helix (blau) nen) durch die Erkennung spezifischer kurzer Nukleotidse-
auf der Rückseite des Moleküls horizontal von rechts nach links verläuft. a quenzen in der großen Furche der DNA.
λ-Cro (3–55); b λ-CI (6–92); c CRP (catabolite repressor protein); d Trp-Repres-
sor; e Lac-Repressor. (Nach Lewis et al. 1998, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)
Literatur
155 4

Übungsfragen
1. Erläutern Sie die wichtigsten Unterschiede 4. Worin liegt die biologische Bedeutung von 6. Beschreiben Sie die wichtigsten Schritte
zwischen Pro- und Eukaryoten. Restriktionsenzymen, und welche Bedeu- der Rekombination bei Bakterien mithilfe
2. Beschreiben Sie den Fluktuationstest und tung haben sie in der Gentechnologie/Mo- des Meselson-Radding-Modells und der
diskutieren Sie seine Bedeutung im Hin- lekularbiologie heute? Holliday-Struktur.
blick auf Lamarcks These von der »Verer- 5. Beschreiben Sie die Bedeutung der Cre-Re- 7. Was ist ein Operon?
bung erworbener Eigenschaften«. kombinase für Bakteriophagen und ihre 8. Was verstehen wir unter Quorum sensing?
3. Was sind Plasmide und worin besteht ihre Anwendung in der Maus-Genetik (lesen Sie
wichtigste Funktion? dazu auch die 7 Technikbox 27).

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Technikbox
157 4

Technikbox 11

Klonierung von DNA

Anwendung: Analyse bestimmter DNA-Seg- stark verändert, da man sie den Bedürfnissen nikbox 6) einheitliche Primer verwenden kann.
mente; genetische Manipulation. der Gentechnologie angepasst hat. Jeder Vek- Außerdem verfügen die Vektoren oft über Pro-
Voraussetzungen ∙ Materialien: Als Vektoren tor zeichnet sich durch eine Reihe spezifischer motorregionen, die eine Initiation einer RNA-
werden zur Klonierung entweder bakterielle Eigenschaften aus, sodass man die Wahl des Synthese an definierten Promotorregionen mit
Plasmide, Bakteriophagen (vorwiegend λ, M13, Vektors von der Anwendung der Klonierung spezifischen RNA-Polymerasen gestatten. Bei-
aber auch P1), Cosmide (künstliche abhängig macht. Klonierungsvektoren sind spielsweise werden viele Vektoren mit T3- und
λ-Derivate), künstliche Bakterienchromoso- stets mit einer Reihe von besonderen DNA-Se- T7-Promotorsequenzen versehen, die sich an
men (engl. bacterial artificial chromosome, quenzelementen ausgestattet, die die moleku- den entgegengesetzten Enden des Polylinkers
BAC) oder künstliche Hefechromosomen (engl. larbiologische Arbeit beträchtlich vereinfa- befinden. Auf diese Weise ist es möglich, ge-
yeast artificial chromosome, YAC) verwendet. chen. Sie besitzen beispielsweise Polylinkerre- zielt Transkripte des einen oder des anderen
Jeder Vektor nimmt DNA-Fragmente eines be- gionen (engl. multiple cloning sites, MCS) mit DNA-Strangs des eingefügten DNA-Fragments
stimmten, begrenzten Größenbereichs auf verschiedenen Restriktionsschnittstellen, die herzustellen (7 Technikbox 9).
(Plasmide bis zu etwa 12 kb, λ-Phagen etwa das Einfügen fremder DNA-Fragmente (DNA- Zur Vereinfachung der experimentellen
zwischen 12 und 23 kb, Cosmide um 30 kb, P1- Inserts) erleichtern. Primerbindungsregionen Handhabung können sich außerhalb der Poly-
Phagen um 90 kb sowie BACs und YACs mehre- (engl. primer binding sites) erleichtern die di- linkerregion besondere Restriktionsenzym-
re Hundert kb). rekte Sequenzanalyse von klonierten DNA- schnittstellen befinden, mit deren Hilfe die ge-
Die heute verwendeten Vektoren sind ge- Fragmenten, da man zur Initiation der Polyme- samte Polylinkerregion einschließlich Insert-
genüber ihren Ursprungsformen durchweg rasereaktion in der Sanger-Methode (7 Tech- DNA für weitere Manipulationen herausge-

Die Abbildung zeigt die Klonierung in einem


E. coli-Plasmid. Diese werden durch Restriktions-
enzyme (hier: EcoRI) geöffnet. Durch Ligation mit
dem entsprechenden Fragment der zu untersu-
chenden DNA wird diese in den Vektor einge-
fügt. Nach anschließender Transformation in
kompetente E. coli-Zellen kann eine Selektion auf
die gesuchten DNA-Sequenzen erfolgen. Der
Vektor enthält ein Resistenzgen gegen Ampicillin
(ampR), das lacZ-Gen zur Selektion auf die Anwe-
senheit eines Inserts und einen Klonierungsbe-
reich mit verschiedenen Schnittstellen für Re-
striktionsenzyme (engl. multiple cloning site). In
der Regel wird dieser Klonierungsbereich von
Startsequenzen für RNA-Polymerasen (z. B. T7-
und T3-RNA-Polymerasen) flankiert, die für die
Herstellung von sense- und antisense-Transkrip-
ten (7 Technikbox 9), aber auch als Startstellen
für die PCR (7 Technikbox 4) und DNA-Sequen-
zierung (7 Technikbox 6) verwendet werden
können. (Nach Kempken und Kempken 2004)

a b c
158 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

schnitten werden kann. Man spricht dann den mithilfe biochemischer Techniken in einen (7 Technikbox 4) über die vorhandenen Pri-
von einer »Cartridge-Struktur« der Polylinker- der zuvor beschriebenen Klonierungsvektoren merbindungsstellen oder über Koloniehybridi-
region. Eines der wichtigsten Kriterien für die eingefügt. Das erfolgt z. B. an den Restriktions- sierung (modifizierter Southern-Blot; 7 Tech-
Brauchbarkeit von Klonierungsvektoren ist schnittstellen einer Polylinkerregion. Behan- nikbox 13) mit einer spezifischen, markierten
ihre Eignung zur Unterscheidung zwischen delt man den Vektor mit dem gleichen Restrik- Sonde.
Vektoren mit und ohne fremde DNA-Inserts. tionsenzym wie die genomische DNA, so be- Die Gesamtheit aller Bakterienzellen be-
Ein Weg hierzu ist die Verwendung von Anti- sitzen die einzelnen Moleküle beider DNAs die zeichnet man als Klonbank oder Klonbiblio-
biotikaresistenzgenen. Eine einfachere Metho- gleichen offenen Restriktionsschnittstellen an thek. Werden genügend Zellen transformiert,
4 de besteht heute im Gebrauch des lacZ-Gens
von Escherichia coli (. Abb. 4.27). Dieses Gen
ihren Enden. Hierdurch ist eine Verbindung
eines Vektormoleküls mit einem Molekül ge-
so repräsentiert die erhaltene Klonbibliothek
das gesamte Genom eines Organismus, d. h.
ist so mit einer Polylinkerregion kombiniert, nomischer DNA durch Basenpaarung an der man kann unter günstigen Umständen alle
dass nach Induktion des lacZ-Gens eine Unter- Restriktionsschnittstelle möglich, sofern diese DNA-Sequenzen eines Genoms in der Biblio-
scheidung zwischen Vektormolekülen mit In- überhängende Einzelstrang-Enden besitzt. thek wiederfinden. Die Isolierung einzelner
serts fremder DNA und solchen ohne Inserts Mittels einer DNA-Ligase können dann die Zellen gestattet deren Vermehrung und da-
stattfinden kann: Ist die Polylinkerregion in- aneinandergesetzten DNA-Moleküle in ein durch die Vermehrung einer einzelnen, im
takt, d. h. ist keine DNA-Insertion erfolgt, so kovalent verbundenes Molekül umgewandelt Plasmid enthaltenen DNA-Sequenz.
kann das lacZ-Gen nach Induktion voll expri- werden. Bestehen keine überhängenden Beachte: Die Klonierung ist die Herstellung
miert werden und produziert eine funktionelle Restriktionsschnittstellen, so kann die Ligase eines gentechnisch veränderten Organismus
β-Galactosidase, die durch Substratreaktionen auch solche Enden aneinanderfügen, wenn (GVO) und unterliegt damit den Bestimmun-
nachgewiesen werden kann und zur Blaufär- auch mit geringerer Effizienz. Die ligierten Vek- gen des Gentechnik-Gesetzes (GenTG). In Ab-
bung der Bakterienkolonie führt. Ist hingegen tor-Genom-DNA-Moleküle werden dann in ge- hängigkeit der klonierten DNA, des verwende-
ein DNA-Fragment in die Polylinkerregion ein- eignete Gastzellen, meist von Escherichia coli, ten Vektors und des Wirtsorganismus müssen
gefügt worden, so ist das lacZ-Gen unterbro- transformiert. In diesen werden sie wie ge- verschiedene Sicherheitsstufen beachtet wer-
chen und nicht mehr imstande, ein funktionel- wöhnliche Plasmide repliziert und bilden somit den (S1–S4: ohne bis hohes Risiko für Mensch
les Enzym zu erzeugen. Die betreffenden Bak- einen festen Bestandteil der Gastzellen. Da und Umwelt). Gentechnische Arbeiten dürfen
terienkolonien bleiben daher ungefärbt. Somit jede Gastzelle nur ein DNA-Molekül aufnimmt, nur in angemeldeten bzw. genehmigten Anla-
ist eine Unterscheidung zwischen Bakterienko- kann man nach der Transformation die Zellen gen durchgeführt werden; über die Klonierun-
lonien mit klonierten DNA-Sequenzen und Ko- auf Agarplatten aussäen. Nach deren Wachs- gen sind standardisierte Aufzeichnungen an-
lonien ohne DNA-Inserts sehr einfach möglich tum erhält man durch die Isolierung einzelner zufertigen.
(Blau-Weiß-Selektion). Bakterienkolonien homogene Zellpopulationen,
Methode: Beliebige DNA-Sequenzen, z. B. Ge- die nur einen DNA-Inserttyp besitzen. Die Cha-
nom-DNA eines beliebigen Organismus, wer- rakterisierung des Inserts erfolgt durch PCR

Prinzip der Blau-Weiß-Selektion. a In den verwendeten E. coli-Zellen


befindet sich ein mutiertes lacZ-Gen, das eine Deletion im 5’-Bereich
a
seines offenen Leserahmens (ORF) trägt. Das Repressormolekül blo-
ckiert im Grundzustand die Expression des lac-Operons (7 Abschn.
4.5.1). b Der im Medium enthaltene synthetische Induktor IPTG
(Isopropyl-β-thiogalactopyranosid) bindet an den Repressor, der
dadurch seine Konformation ändert und sich vom Operator löst.
c Der Operator ist frei und das ΔLacZ-Protein wird gebildet, das aber
wegen seiner N-terminalen Deletion inaktiv ist. d Der Vektor trägt
b das α-Peptid, das mit ΔLacZ einen enzymatisch aktiven Komplex
bilden kann (α-Komplementation). Dieser Komplex wandelt das im
Medium enthaltene, farblose X-Gal in einen blauen Indigo-Farbstoff
c um. O: Operator, P: Promotor, T: Terminator. (Nach Kempken und
Kempken 2004)

d
Technikbox
159 4

Technikbox 12

Two-Hybrid-Systeme

Für molekulare Prozesse in Zellen sind Protein- eine DNA-Bindungssequenz, die als Bindungs- Gen als Reportergene verwendet. Diese Gene
Protein-Interaktionen von außerordentlicher sequenz für die gewählte DBD geeignet ist, gestatten in Leucin- bzw. Histidin-freiem Medi-
Bedeutung. Viele zelluläre Mechanismen ver- mit einem Reportergen (z. B. lacZ). Dieses Re- um das Wachstum von LEU2−- bzw. HIS3−-
laufen unter der Beteiligung von Proteinkom- portergen erlaubt es, dass Zellen, in denen Mutanten, wenn sie durch Proteininteraktio-
plexen. Auf der Grundlage der Proteinstruktur miteinander interagierende Proteine mit den nen von Fusionsproteinen mit Aktivierungs-
kann man jedoch kaum Aufschluss darüber er- erforderlichen AD und DBD enthalten sind, an und DNA-Bindungsdomänen induziert wer-
halten, ob ein Protein – und eventuell mit wel- der Ausprägung des durch das Reportergen den.
chen anderen Proteinen – eine Interaktion ein- erzeugten Phänotyps erkannt werden können. Die Verwendung von zwei Reportergenen
geht. Im Falle von lacZ würde man eine Blaufärbung gestattet eine bessere Identifikation von Zel-
Eine wichtige Methode zum Auffinden der Zellen sehen. len, in denen DBD- und AD-Fusionsproteine
von Proteininteraktionen ist das Two-Hybrid- Man verwendet für Two-Hybrid-Experi- Interaktionen eingehen. Zunächst wird z. B. auf
System. Das Prinzip dieser Methode basiert auf mente im Allgemeinen Hefe (Saccharomyces Histidin-freiem Medium auf HIS3-Funktion von
der Erkenntnis, dass Transkriptionsfaktoren oft cerevisiae), obwohl mittlerweile auch Säuger- HIS3-Mutanten getestet. Positive Zellen kön-
zwei wichtige Proteindomänen besitzen: eine zelllinien erfolgreich verwendet worden sind. nen dann durch Induktion des lacZ-Gens auf
DNA-Bindungsdomäne (DBD) und eine Akti- Als DBD kann man beispielsweise die DNA- Medium mit X-Gal auf β-Galactosidase-
vierungsdomäne (AD). Die Aktivierungsdomä- Bindungsdomäne des LexA-Repressorproteins Aktivität geprüft werden.
ne ist zur Aktivierung der Transkription erfor- (7 Abschn. 10.6.6) oder die des Hefeproteins Im Two-Hybrid-Screen kombiniert man
derlich. In der Praxis fusioniert man eine DBD GAL4 einsetzen. Als AD wird die Aktivierungs- das Protein, zu dem man ein unbekanntes in-
mit einem Protein A und eine zugehörige AD domäne von GAL4 oder auch die des viralen teragierendes Protein sucht, mit der DBD oder
mit einem Protein B. Bringt man beide Protei- VP16-Proteins verwendet. Als Reportergene der AD und die Insert-DNA einer cDNA-Biblio-
ne in eine Zelle, so kann bei Interaktion beider sind Gene der Aminosäure-Synthesewege von thek mit der komplementären Domäne. Dann
Proteine aufgrund der Anwesenheit beider Hefe besonders nützlich, da sie auf geeigneten co-transfiziert man beide Komponenten ge-
Domänen die Transkription eines Gens indu- selektiven Medien ein differenzielles Wachs- meinsam mit dem Reportergenkonstrukt in
ziert werden, wenn es die für die Bindung der tum derjenigen Hefezellen ermöglichen, die Hefezellen und selektiert auf die Funktion des
DBD erforderliche Regulationssequenz besitzt. interagierende Proteine enthalten. So werden Reportergens.
In der Praxis kombiniert man für diesen Zweck beispielsweise das LEU2-Gen oder das HIS3-
160 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Spezialfall: GAL4/UAS-System zubringen. Bei Drosophila schafft das P-Ele- te Komponente ist eine Transformante mit
Die funktionelle Untersuchung von Genen ment-Transformationssystem diese Vorausset- dem untersuchten Gen, das unter der Tran-
rückt in das Zentrum molekularbiologischer zung. Zur gezielten Regulation hat sich das skriptionskontrolle einer UAS-Region steht.
Forschung. Hierzu ist es insbesondere erfor- GAL4/UAS-System (engl. upstream [transcrip- Der GAL4-Transkriptionsfaktor kann an die
derlich, Gene nach Bedarf zu unterschiedli- tion] activating sequence) bewährt. UAS-Region binden und dadurch das dahinter
chen Zeitpunkten in der Entwicklung und in Zur Durchführung eines GAL4/UAS-Experi- geschaltete Gen aktivieren. Es gibt bereits eine
unterschiedlichen Zelltypen exprimieren zu ments werden zwei genetische Komponenten Sammlung solcher Drosophila-Stämme, die aus
können. Voraussetzung für solche Versuche ist benötigt: Ein Stamm mit dem Gal4-Gen der den Stockzentren abgerufen werden können,
es, geeignete Genkonstrukte, insbesondere Hefe, das unter der Kontrolle gewünschter Re- sodass es oft nicht notwendig ist, diese Kon-
4 solche mit speziellen Regulationsregionen, in gulationselemente steht, die eine zellspezifi- strukte selbst herzustellen.
das Genom des untersuchten Organismus ein- sche Expression des Gens gestatten. Die zwei-

Enhancer P-Element mit Gal4 -Gen (Hefe)


Chromosom,
Stamm A

GAL4-Protein

Transkription

UAS Gen X

Chromosom,
Stamm B
UAS Gen X
Technikbox
161 4

Technikbox 13

Restriktionsanalyse von DNA und Southern-Blotting

Anwendung: Charakterisierung von DNA-Se- schiedlich. So kann sie genau in der Mitte lie- ve Klonierung von DNA-Restriktionsfragmen-
quenzen durch Kartierung von Restriktionsen- gen (Abb. a, HaeIII). In diesem Fall erhält man ten sehr wichtig.
zym-Schnittstellen; Ermittlung von Sequenz- eine glatte Schnittstelle (engl. blunt end). Unterschiedliche Restriktionsenzyme, die
homologien durch Hybridisierungsexperi- Wenn sie nicht in der Mitte liegt, erfolgt der die gleiche Erkennungssequenz haben, be-
mente. Schnitt meist symmetrisch in Bezug auf die zeichnet man als Isoschizomere. So erkennen
Restriktionsenzyme: Einer der entscheiden- Mitte. Als Ergebnis erhält man an der Schnitt- z. B. MboI und Sau3A das gleiche Tetranukleo-
den Fortschritte für die Analyse von DNA war stelle einen 5Ȼ- oder 3Ȼ-Einzelstrangüberhang tid (GATC), an dessen Enden die Schnitte erfol-
die Entdeckung der Restriktionsenzyme. Res- (staggered ends oder protruding ends; Abb. b gen. Diese Sequenz entspricht einem Teil der
triktionsenzyme sind Endonukleasen, die die und c, PstI und BamHI). Solche Einzelstrang- Erkennungssequenz von BamHI (Abb. c), ob-
DNA sequenzspezifisch schneiden. Die Erken- Enden sind für die Gentechnologie sehr nütz- gleich BamHI ein Hexanukleotid erkennt. Das
nungssequenzen sind für verschiedene Res- lich, da sie leicht mit einem komplementären ermöglicht es, MboI- oder Sau3A-geschnittene
triktionsenzyme unterschiedlich lang und lie- Einzelstrang-Ende assoziieren und somit einen DNA-Fragmente in BamHI-geschnittene Vekto-
gen für die meisten Enzyme im Bereich von neuen Doppelstrang bilden können. Die dann ren einzuligieren (nicht aber umgekehrt!).
vier bis acht Nukleotiden. Bei 50 % G+C-Gehalt noch vorhandenen Einzelstrangbrüche kön- Die Verwendung von Restriktionsenzy-
einer DNA und zufallsgemäßer Nukleotidver- nen mit einer DNA-Ligase entfernt werden, die men gestattet die Herstellung von Restrikti-
teilung ist der erwartete mittlere Abstand der eine kovalente Bindung in den DNA-Einzel- onskarten der DNA. Solche Restriktionskarten
Erkennungssequenzen in einem DNA-Molekül strängen herstellt, sofern das jeweilige 5Ȼ-Ende sind für Klonierungsexperimente wichtig, da
durch die Länge der Erkennungssequenz (L in ein Phosphat und das 3Ȼ-Ende eine OH-Gruppe sie wichtige Anhaltspunkte für sinnvolle wei-
Nukleotiden) bestimmt und kann nach der zur Bildung der Phosphodiesterbindung (Abb. tere Klonierungsschritte geben. Sie gestatten
Formel A = 4L errechnet werden, da für jede d) enthält. Man bezeichnet daher solche Ein- auch den Vergleich verschiedener DNA-Frag-
Nukleotidposition vier Basen möglich sind. Die zelstrang-Enden auch als sticky ends oder co- mente und können auch Hinweise auf Hetero-
Erkennungssequenzen sind in sehr vielen Fäl- hesive ends. Durch Dephosphorylierung der zygotien im Genom geben (Nachweis von Mu-
len symmetrisch und daher in der Lage, ein Pa- 5Ȼ-Enden lässt sich daher die Bildung von intra- tationen und Polymorphismen).
lindrom zu formen. Die Schnittstelle in Bezug oder intermolekularen kovalenten Ligations-
auf die Erkennungssequenz ist jedoch unter- produkten verhindern. Das ist für eine effekti-

In der . Abbildung (a–c) sind verschiedene Restriktion-


senzyme in ihrer Sequenzspezifität und die resultieren-
den Einzelstrang-Enden in der DNA gezeigt. Das Teilbild
d stellt die Struktur der 3Ȼ- und 5Ȼ-Enden der Einzel-
stränge dar.

d
162 Kapitel 4 · Molekulare Struktur und Regulation prokaryotischer Gene

Methode: DNA-Moleküle (z. B. klonierte DNA- men lassen sich die Positionen von Restrik- fluoreszierenden Agenzien zur Markierung,
Fragmente oder Genom-DNA) werden in Paral- tionsenzym-Schnittstellen relativ zueinander z. B. AMPPD; 3-(2Ȼ-Spiroadamantan)-4-methoxy-
lelreaktionen mit unterschiedlichen Restrikti- ermitteln. Es können so »Restriktionskarten« 4-(3ȻȻ-phosphoryloxy)phenyl-1,2-dioxetan)
onsenzymen geschnitten. Die Reaktionspro- einer unbekannten DNA-Sequenz erstellt oder durch Färbungen (bei DIG-markierten
dukte werden auf Agarosegelen in nebenein- werden. Nukleinsäuren und Reaktion mit Enzym-ge-
anderliegenden Spuren elektrophoretisch Nach alkalischer Denaturierung der zu- koppelten Antikörpern) erkannt. Diese Metho-
nach ihrer Größe aufgetrennt. Nach Inkubation nächst noch doppelsträngigen Fragmente im de wird nach ihrem Erfinder Edwin Southern
mit Ethidiumbromid lassen sich die Restrikti- Gel wird die DNA durch Diffusion auf Mem- als Southern-Blotting bezeichnet.
4 onsfragmente im UV-Licht sichtbar machen. branfilter übertragen, an denen sie irreversibel Beachte: Der Umgang mit radioaktiven Stoffen
Ihre Länge kann durch Vergleich mit Marker- fixiert wird. Diese Filter werden mit markierten unterliegt der Strahlenschutzverordnung; da-
DNA-Fragmenten errechnet werden. Durch Nukleinsäuren hybridisiert. Hybride werden bei sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen.
Vergleich der Resultate von Restriktionsexperi- durch Autoradiographie (bei radioaktiven
menten mit einzelnen oder mehreren Enzy- Nukleinsäuren und bei der Verwendung von

Southern-Blotting. a Es ist die technische Ausführung


eines Southern-Blots dargestellt: Aus einem Vorratsgefäß
a
wird Puffer über ein saugfähiges Papier zu dem darüber-
liegenden Gel gesaugt. Über dem Gel befindet sich eine
Membranfolie (häufig Nylon, blau), die wiederum mit
Filterpapier und Papiertüchern abgedeckt ist. Ein Gewicht
verteilt den Druck gleichmäßig auf das gesamte Gel und
stabilisiert den Aufbau. Durch diese Anordnung wird der
Puffer durch das Gel hindurchgesaugt und nimmt dabei
die DNA mit, die auf der Membranfolie haften bleibt. Die
Effizienz der Übertragung (üblicherweise über Nacht)
kann durch Färbung mit Ethidiumbromid überprüft wer-
den (. Abb. 10.29b). b Ergebnis eines Southern-Blots.
Genomische DNA verschiedener Hefestämme (YM4721)
b wurde mit dem Restriktionsenzym EcoRI geschnitten;
die Plasmide pGAD424 und pGC1 sind zusätzlich aufgetra-
gen. Die Restriktionsfragmente im Agarosegel sind nach
Anfärbung mit Ethidiumbromid im UV-Licht zu erkennen
(links). Nach dem Blotten und Hybridisieren mit einer radio-
aktiv markierten DNA-Probe werden im Autoradiogramm
(rechts) solche Restriktionsfragmente erkennbar, die mit
der verwendeten Probe Sequenzhomologien aufweisen;
der Marker deutet die Größe der erhaltenen Fragmente an.
(a nach Munk 2001; b nach Kück 2005, mit freundlicher
Genehmigung von Springer)
Technikbox
163 4

Technikbox 14

Northern-Blotting

Anwendung: Analyse von gewebe- oder ent- intramolekularer Basenpaarungen) elektro- auf den Erfinder zurück, sondern dient ledig-
wicklungsstadienspezifischen RNA-Fraktionen phoretisch nach Größe getrennt und dann lich der Unterscheidung vom Southern-Blot-
auf Sequenzhomologien in Hybridisierungs- durch Diffusion aus dem Gel auf Membranfil- ting, das ursprünglich nach seinem Entdecker
experimenten. terfolie übertragen. Diese wird dann in Hybri- Edwin Southern benannt wurde, aber auch:
Methode: Vergleichbar der Übertragung von disierungsexperimenten mit den interessieren- engl. southern für »südlich«, engl. northern für
DNA auf Membranfilter in Southern-Blotting- den Nukleinsäuren, die markiert sind, auf RNA- »nördlich«.
Experimenten (7 Technikbox 13), wird beim Fraktionen untersucht, die mit der markierten Beachte: Der Umgang mit radioaktiven Stoffen
Northern-Blotting zunächst RNA unter denatu- Nukleinsäure Komplementarität zeigen. Der unterliegt der Strahlenschutzverordnung; da-
rierenden Bedingungen (zur Lösung inter- und Name der Methode geht in diesem Fall nicht bei sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen.

Die Methode des Northern-Blotting entspricht im Prinzip der eines


Southern-Blots (7 Technikbox 13): Zunächst wird eine Gelelektropho-
rese von RNA durchgeführt, bei der die RNA-Moleküle im elektrischen
Feld nach Molekulargewicht aufgetrennt werden. Wegen der starken
Neigung der RNA, Sekundärstrukturen zu bilden, erfolgt die Elektro-
phorese unter denaturierenden Bedingungen. Nach der Trennung
wird die RNA vom Gel auf einen Membranfilter übertragen. Dieser
- wird mit radioaktiver (oder anders markierter) Nukleinsäure (Einzel-
strang-DNA oder RNA) hybridisiert. Anschließend erfolgt die Auto-
-
radiographie (oder Färbungsreaktion), die es gestattet, zur Probe
- homologe RNA-Fraktionen aufgrund ihrer Hybridbildung zu identifi-
-
zieren. Hier ist das Ergebnis eines Northern-Blots von RNA aus ver-
schiedenen Algenstämmen (CC406, CC1051) gezeigt, die mit einer
radioaktiv markierten Probe für das Exon 1 des psaA-Gens hybridisiert
wurde (das plastidäre psaA-Gen codiert für das Apoprotein des Photo-
system-I-Reaktionszentrums). a Die gesamte RNA zweier Algenstäm-
me wurde in einem denaturierenden Agarosegel aufgetrennt und mit
Ethidiumbromid angefärbt. Die Banden der prominenten rRNAs sind
a b am linken Rand als Größenmarker angegeben, wobei die cytoplasma-
tischen Moleküle durch Fettdruck hervorgehoben sind. b Das Auto-
radiogramm zeigt nach Hybridisierung, dass in den beiden Stämmen
die psaA-mRNA in unterschiedlicher Größe vorliegt; die jeweilige Grö-
ße der RNA-Fragmente ist am rechten Rand angegeben. (Nach Kück
2005, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
165 5

Die eukaryotische Zelle


und Modellorganismen

Immunfluoreszenz einer Leberkarzinomzelle: Das Keratin ist rot gefärbt, und in Blau ist der Zellkern sichtbar – das
Charakteristikum einer eukaryotischen Zelle. (Aus Moll et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

5.1 Die eukaryotische Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166


5.1.1 Die Entdeckung der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
5.1.2 Die Struktur der Zelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
5.1.3 Chloroplasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
5.1.4 Mitochondrien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
5.1.5 Der Zellkern und seine dynamische Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

5.2 Der Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180


5.2.1 Kontrolle des Zellzyklus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
5.2.2 Verschiedene Wege zum programmierten Zelltod . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
5.2.3 Genetik des Alterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

5.3 Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik . . . . . . 190


5.3.1 Hefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
5.3.2 Der Schimmelpilz Neurospora crassa . . . . . . . ......... . . . ......... 192
5.3.3 Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
5.3.4 Der Fadenwurm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
5.3.5 Die Taufliege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
5.3.6 Der Zebrafisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
5.3.7 Die Hausmaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
5.3.8 Die Ratte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
166 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

Überblick

Hauptmerkmal einer Zelle höherer Organis- Ein zentrales Element im Ablauf der Zell- Im Rahmen des Buches wird immer
men (Eukaryoten) ist ihre Untergliederung in teilungen ist die präzise Regulation der einzel- wieder auf verschiedene Modellorganismen
Cytoplasma und Zellkern. Der Zellkern enthält nen Teilschritte. Der Zellzyklus startet dabei in verwiesen, z. B. die Bäckerhefe Saccharomyces
dabei im Wesentlichen die Chromosomen als der G1-Phase; nach dem Überschreiten eines cerevisiae, Pilze wie Neurospora und Aspergil-
Träger der Erbinformation; sie erscheinen Kontrollpunktes ist die Zelle irreversibel auf lus, bei den Pflanzen die Ackerschmalwand
in der sich nicht teilenden Zelle als diffuses Teilung programmiert. In der anschließenden Arabidopsis thaliana, der oben bereits erwähn-
Chromatin in ihren jeweiligen Territorien. Die S-Phase wird die DNA repliziert, und nach der te Fadenwurm C. elegans, die Tau- oder Frucht-
Chromosomen, wie wir sie in der klassischen G2-Phase erfolgt die eigentliche Zellteilung. fliege Drosophila melanogaster, der Zebrafisch
Darstellung kennen, werden nur während der An der Regulation des Zellzyklus ist eine Reihe Danio rerio, die Hausmaus Mus musculus und
Mitose sichtbar (7 Kap. 6). Im Zellkern befin- von regulatorischen Proteinen beteiligt; schließlich die Ratte Rattus rattus. Von all die-
5 den sich außerdem Kernkörperchen mit einer von besonderer Bedeutung sind Cycline und sen Modellorganismen kennen wir inzwischen
Vielzahl verschiedener Funktionen. Der Zell- Cyclin-abhängige Kinasen. die Sequenz der genomischen DNA, und in
kern ist von einer Kernhülle umgeben, die aber Eng verknüpft mit der Regulation des Zell- vielen sind Mutanten beschrieben, die zum
durch ihre Poren und verschiedene Kanäle für zyklus ist der programmierte Zelltod (Apop- tieferen Verständnis grundsätzlicher biologi-
große und kleine Moleküle sowie für Ionen tose). Das Phänomen wurde zunächst in eini- scher Prozesse beigetragen haben. Jeder
passierbar ist. Im Cytoplasma der Zelle lassen gen Mutanten des Fadenwurms Caenorhabditis Modellorganismus hat aber auch seine eigene
sich ebenso andere Organellen erkennen, wie elegans beobachtet; heute wissen wir, dass Geschichte, und so ist es nicht verwunderlich,
z. B. Mitochondrien, Plastiden (in Pflanzen- Apoptose in der Entwicklung vielzelliger Orga- dass leider auch jedes Modell mit einer etwas
zellen), das endoplasmatische Reticulum oder nismen eine fundamentale Rolle spielt. Im Ge- anderen genetischen Nomenklatur beschrie-
der Golgi-Apparat. Dabei verfügen die Mito- gensatz dazu zeigen andere Mutanten von ben wird.
chondrien und Plastiden über ein eigenes klei- C. elegans ein eher gegensätzliches Phänomen,
nes Genom, das unabhängig vom Kerngenom nämlich eine verlängerte Lebenszeit. Die »Ge-
auf die Tochterzellen weitergegeben wird. netik des Alterns« steht aber noch am Anfang.

5.1 Die eukaryotische Zelle je eines Zellkerns mütterlichen und väterlichen Ursprungs als
Folge der Verschmelzung zweier Keimzellen beruht. Beide Wis-
5.1.1 Die Entdeckung der Zelle senschaftler schlossen daraus, dass die Erbeigenschaften im Zell-
kern enthalten sein müssen. In den 1870er-Jahren waren von
Die Zelle als ein Grundbaustein aller Organismen wurde bereits verschiedenen Cytologen färbbare Körperchen im Kern beob-
1665 durch Robert Hooke (1635–1703) bei seinen Untersuchun- achtet worden, die während der Zellteilungen sichtbar sind. Für
gen an Pflanzen beschrieben; er führte auch die Bezeichnung cell diese Kernbestandteile wurde 1888 von Wilhelm von Waldeyer-
ein. Diese Beobachtungen waren mithilfe eines einfachen Mi- Hartz (1836–1921) die Bezeichnung Chromosomen eingeführt,
kroskops gemacht worden (. Abb. 5.1). Obwohl in der Folge die auf die charakteristischen Färbungseigenheiten dieser Kern-
Nehemiah Grew (1614–1712) und Antoni van Leeuwenhoek strukturen Bezug nimmt (Chromosomen werden ausführlich in
(1632–1723) die mikroskopische Feinstruktur von Tieren und 7 Kap. 6 besprochen).
Pflanzen in vielen Details studierten, setzte das mangelhafte Auf-
lösungsvermögen der frühen Mikroskope solchen Studien enge
Grenzen. Erst die Verbesserungen der optischen Qualität, ins-
besondere durch die Korrektur sphärischer und chromatischer
Aberrationen, erlaubten es, Feinheiten im Bau tierischer Gewebe
zu erkennen.
So beschrieb Theodor Schwann (1810–1882) im Jahre 1839
tierische Zellen und erkannte, dass auch sie Zellkerne besitzen.
Der Zellkern war bereits 1831 von Robert Brown (1773–1858)
(nach ihm ist die Brown’sche Molekularbewegung benannt) bei
Orchideen entdeckt worden. Matthias Jacob Schleiden (1804–
1881) schloss, dass der Zellkern eine zentrale Rolle für die Zell-
entwicklung spielt, nahm jedoch an, dass Kerne während der
Zellteilung aus »Protoplasma«-Körnchen neu entstehen. Karl
Wilhelm von Nägeli (1817–1891) erkannte 1848, dass Zellen
durch Zellteilung auseinander entstehen, aber erst Rudolf Lud-
wig Virchow (1821–1902) kam zu der Erkenntnis, dass alle Zellen
stets durch Teilung aus bereits existierenden Zellen entstehen
(»omnis cellula e cellula«).
Die Bedeutung des Zellkerns wurde durch die Erkenntnisse
von Oskar Hertwig (1849–1922) im Jahre 1875 und Eduard
Strasburger (1844–1912) zwei Jahre später (1877) hervorgeho- . Abb. 5.1 Das Mikroskop von Robert Hooke. Die Beleuchtung erfolgte
ben. Sie erkannten, dass die Befruchtung auf einer Vereinigung mittels einer Öllampe
5.1 · Die eukaryotische Zelle
167 5
5.1.2 Die Struktur der Zelle bildendes Organell, sowie Mitochondrien (7 Abschn. 5.1.4) und
– in Pflanzen – Chloroplasten (7 Abschn. 5.1.3) und Vakuolen.
Hauptmerkmal einer Zelle höherer Organismen ist ihre Unter- Im Zellkern sind insbesondere ein oder mehrere Nukleoli auffäl-
gliederung in Cytoplasma und Zellkern (. Abb. 5.2). Beide Zell- lig sowie in vielen Fällen stark färbbare, meist amorphe Ein-
bereiche werden durch eine doppelte Kernmembran voneinan- schlüsse, das Heterochromatin. Der Nukleolus ist ein Organell,
der getrennt. Der Zellkern enthält den Nukleolus (7 Abschn. das in allen stoffwechselaktiven Zellkernen beobachtet wird, je-
5.1.5) und die Chromosomen (7 Kap. 6); das Plasma des Zell- doch in bestimmten Phasen des Zellzyklus aufgelöst bzw. neu
kerns wird auch als Karyoplasma bezeichnet. Organismen, die gebildet wird (7 Abschn. 5.1.5). Beim Heterochromatin handelt
einen Zellkern besitzen, bezeichnet man als Eukaryoten (der es sich um inaktives Chromatin (7 Abschn. 6.1.2).
Begriff »Eukaryonten«, der häufig gebraucht wird, ist sprachlich Die Struktur des Cytoplasmas wird durch ein Skelett von Mi-
nicht korrekt). Sie stehen im Gegensatz zu den Prokaryoten, die krofibrillen bestimmt, das Cytoskelett. Am Aufbau des Cytoske-
keinen durch eine Kernmembran abgesonderten Kern in ihren letts sind vor allem dünne Mikrofilamente (7 nm) und dickere
Zellen besitzen und dadurch grundlegende Unterschiede in ih- Mikrotubuli (25 nm) beteiligt. Mikrofilamente bestehen aus Ak-
rem zellulären Stoffwechsel aufweisen. Der Erwerb eines Zell- tinmolekülen, die zu Filamenten polymerisieren; Mikrotubuli
kerns dürfte evolutionär entscheidend für die Entstehung vielzel- werden aus Tubulinen zusammengesetzt. In vielen tierischen
liger Organismen mit Zellen und Geweben unterschiedlichster Zellen gibt es noch zusätzliche Elemente, die intermediären Fila-
Funktionen und Formen gewesen sein. mente (engl. intermediate filaments), deren Durchmesser genau
Innerhalb der Zelle setzt sich die Kernmembran in Mem- zwischen dem der zuvor genannten Filamente liegt (8–10 nm).
bransystemen fort, die das Cytoplasma durchziehen und daher Intermediärfilamente sind aus unterschiedlichen Proteinen zu-
endoplasmatisches Reticulum genannt werden. An diesen sammengesetzt, so unter anderem Vimentin, Desmin und ver-
Membransystemen laufen die meisten Stoffwechselprozesse ab, schiedene Keratine. Die verschiedenen cytoplasmatischen Fila-
und sie sind teilweise dicht mit Ribosomen besetzt (»raues« mente sind im Zellskelett auf komplexe Weise miteinander ver-
endoplasmatisches Reticulum). Zudem dienen diese Membra- woben und in der Zellmembran verankert. Dieses Cytoskelett ist
nen einer Kompartimentierung – also einer strukturellen Unter- nicht nur für die Regulation von Stoffwechselvorgängen, son-
teilung – der Zelle, die funktionell wichtig ist. Umgeben werden dern vor allem auch für die Ausbildung der jeweiligen Zellform
tierische Zellen von einer Zellmembran, pflanzliche Zellen zu- von entscheidender Bedeutung.
sätzlich noch von einer Zellwand. Die Verstärkung der zellulären
Umhüllung bei Pflanzen ist zur Erhaltung des Binnendrucks > Das Cytoplasma eukaryotischer Zellen ist durch ein
(Turgor) erforderlich. Beide Strukturen dienen nicht nur der Ab- Membransystem, das endoplasmatische Reticulum, durch-
grenzung der Zellen nach außen, sondern erfüllen auch wichtige setzt, das mit der Kernmembran verbunden ist. Die Ver-
Aufgaben für das jeweilige Gewebe – und damit letztlich für den bindung des Karyoplasmas mit dem Cytoplasma erfolgt
Gesamtorganismus – durch die Kontrolle von Transportvorgän- über Poren in der Kernmembran. Sowohl im Karyoplasma
gen sowohl in die Zelle hinein als auch aus der Zelle heraus. In als auch im Cytoplasma befinden sich fibrilläre Elemente,
ähnlicher Weise werden auch Transportvorgänge durch die die ein Kernskelett bzw. ein Cytoskelett aufbauen. Kern-
Kernmembran kontrolliert. und Cytoskelett sind nicht nur für die Form des Kerns und
Im Cytoplasma von Eukaryotenzellen (. Abb. 5.2) finden wir der Zelle bestimmend, sondern stehen auch im Dienste
verschiedene Organellen, wie den Golgi-Apparat, ein membran- des Stoffwechsels.

Tierische Zelle Pflanzliche Zelle

Exocytose

Golgi-Apparat
Mitochondrium Chloroplast
Mikrotubuli
Lysosom
Centrosom mit Centriolen

Zellkern mit Chromatin Oleosomen


Kemmembran
Nukleolus
freie Ribosomen
Mikrofilamente
Vakuole
Cytoplasmamembran Plasmodesmos
glattes ER Zellwand
raues ER Mittellamelle
Peroxisom
intermediäre Filamente
. Abb. 5.2 Die Struktur der Zelle. Grafische Darstellung einer tierischen Zelle (links) und einer Pflanzenzelle (rechts). Die Organellen sind nicht im richtigen
Maßstab angegeben. (Nach Munk 2000, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
168 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

Betrachten wir die Entwicklung eines vielzelligen Organismus, 5.1.3 Chloroplasten


so sehen wir, dass aus einer einzigen befruchteten Eizelle eine
Vielzahl von Zelltypen unterschiedlicher Form und Funktion Bei Pflanzen zeigen sich Vererbungsmuster, die offensichtlich
gebildet wird. Diese Zellen entstehen durch Zellteilungen, die als auf der genetischen Information aus Plastiden beruhen, insbe-
mitotische Teilungen bezeichnet werden (Details der Mitose sondere der Chloroplasten. Carl Erich Correns hat schon 1909
siehe 7 Abschn. 6.3.1). Im Ablauf des Lebenszyklus eines Orga- Beobachtungen an der Wunderblume Mirabilis jalapa ge-
nismus müssen neben der Vielzahl unterschiedlicher Zellen, die macht,  aus denen er darauf schloss, dass bestimmte erbliche
die verschiedenen Teile des Individuums aufbauen, auch Zellen Eigenschaften auch mit dem Cytoplasma übertragen werden.
entstehen, die dafür sorgen, dass sich das betreffende Individu- Diese Beobachtungen lassen sich in zwei Punkten zusammen-
um fortpflanzen kann: die Keimzellen, auch als Geschlechtszel- fassen:
5 len oder Gameten bezeichnet. In den meisten Tieren wird be- 4 Reziproke Kreuzungen geben unterschiedliche Phäno-
reits sehr früh in der Entwicklung eines Individuums festgelegt, typen.
welche Zellen sich später zu Keimzellen entwickeln. Später wer- 4 Der Phänotyp wird ausschließlich vom mütterlichen
den wir im Detail sehen, dass sich die Entwicklung der Keim- Phänotyp bestimmt.
bahnzellen mancher Organismen deutlich von der Entwicklung
somatischer Zellen unterscheiden kann (7 Kap. 12). Da die Ent- Während sich die erste dieser Beobachtungen noch mit einer
stehung eines neuen Organismus (außer bei vegetativer Vermeh- geschlechtsgebundenen Vererbung erklären ließe (7 Abschn.
rung) die Verschmelzung zweier Keimzellen voraussetzt, müssen 11.4.1), ist das für die zweite nicht mehr möglich.
wir erwarten, dass bei der Entstehung der Keimzellen eine Ver-
änderung in der Ausstattung dieser Zellen hinsichtlich ihrer Erb- C Die Beobachtungen von Correns beziehen sich auf die fle-
ckenartige Verteilung (Weißbuntheit) grüner und nicht ge-
eigenschaften erfolgt. Keimzellen müssen somit Besonderheiten
färbter Bereiche auf den Blättern der Pflanze in bestimmten
aufweisen, die sie grundsätzlich von anderen Zellen unterschei-
Kreuzungen. Bestäubt man Blüten von rein grünen Zweigen
den. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Halbierung des Chro-
mit Pollen von rein weißen oder weiß-grün gescheckten
mosomensatzes in der Meiose (7 Abschn. 6.3.2).
Zweigen oder führt man eine Selbstbestäubung einer Blüte
Im Gegensatz zu Tieren verfügen die Pflanzen über die Mög-
eines rein grünen Zweiges durch, sind alle Nachkommen
lichkeit der vegetativen Vermehrung. Um eine geschlechtliche
rein grün. Selbstbestäubung von Blüten eines rein weißen
Fortpflanzung von Pflanzen zu gestatten, die vegetativ vermehrt
Zweiges hingegen ergibt, ebenso wie die Befruchtung ihrer
wurden, muss in jedem so vermehrten Pflanzenteil die Fähigkeit
Blüten mit Pollen von grünen Pflanzen, ausschließlich weiße
zur Entwicklung von Keimzellen vorhanden sein. Die meisten
Nachkommen, die aber aufgrund des Chlorophyllmangels
Pflanzenzellen scheinen im Gegensatz zu tierischen Zellen die
bereits als Keimlinge absterben. Nachkommen von Blüten
Fähigkeit beizubehalten, sich zu regenerieren und zu Keimzellen
aus gescheckten Zweigen einer Pflanze, die mit Pollen grü-
zu entwickeln (Totipotenz).
ner Pflanzen bestäubt werden, ergeben grüne, gescheckte
> In mehrzelligen Organismen unterscheidet man zwischen oder rein weiße Nachkommen, wobei die letzteren wieder-
Keimzellen und somatischen Zellen. Keimzellen können um absterben. Das Phänomen ist bei Pflanzen weit verbrei-
bei Tieren bereits frühzeitig in der Entwicklung determi- tet; aktuelle Beispiele an der Ackerschmalwand Arabidopsis
niert sein. In einer Pflanze behalten Gruppen von Zellen thaliana zeigt . Abb. 5.3a–c. Eine Übersicht über mögliche
ihre Totipotenz, und es kommt erst im Laufe des Wachs- Segregationstypen gibt . Abb. 5.3d.
tums zu der Entscheidung, ob eine Keimzelle gebildet
Diese Beobachtungen zeigen uns, dass sich stets der mütterliche
wird.
Phänotyp ausprägt. Wir sprechen hierbei von einer mütterlichen
oder matroklinen Vererbung. Dieser Vererbungsmodus muss
C Bei Säugetieren gibt es zwei Zelltypen, die im Laufe ihrer unterschieden werden von mütterlichen Effekten (engl. maternal
terminalen Differenzierung den Zellkern verlieren: Das sind
effects), die als entwicklungsphysiologische Effekte nur für die
zum einen die roten Blutkörperchen (Erythrocyten), die
Entwicklung der befruchteten Eizelle wichtig sind (7 Abschn.
danach auch nur noch eine begrenzte Lebenszeit von ca.
12.4.2). Die mikroskopische Analyse der Zellen von Mirabilis
120 Tagen haben. Die anderen Zellen sind die Faserzellen
jalapa lässt uns erkennen, dass die matrokline Vererbung der
in der Augenlinse – im Gegensatz zu den Erythrocyten blei-
Blattfarbe durch die Chloroplasten (oder Plastiden) bedingt
ben sie für den Rest des Lebens erhalten, weil sie für die
wird, je nachdem, ob diese zur Chlorophyllsynthese befähigt
Form und Transparenz der Linse wichtig sind. Sie werden
sind oder nicht. Plastiden sind cytoplasmatische Organellen von
dauerhaft von den anterioren Epithelzellen der Linse mit
Pflanzen, die im Dienste der Photosynthese stehen und den dazu
den notwendigen Stoffen versorgt.
erforderlichen Mechanismus beherbergen. Plastiden enthalten
meistens Chlorophyll. Dieses verleiht den Zellen die grüne Farbe.
Ist kein Chlorophyll in den Plastiden vorhanden, erscheinen die
Zellen weiß. Beide Plastidenformen können gleichzeitig in der
Zelle vorkommen und führen zu einer schwächeren grünen Fär-
bung. Eine schematische Darstellung eines Chloroplasten zeigt
. Abb. 5.4.
5.1 · Die eukaryotische Zelle
169 5

a b c

d . Abb. 5.3 Cytoplasmatische Verer-


bung bei der Ackerschmalwand Arabido-
psis thaliana. a–c Die Pflanzen zeigen
grüne und weiße Bereiche, die durch
unterschiedliche Mutationen im Chloro-
plastengenom hervorgerufen werden.
d Die unterschiedliche Färbung erklärt
sich aus der Segregation der Plastiden.
Enthält eine Zygote Plastiden mit und
ohne Fähigkeit zur Chlorophyllbildung,
so kann es im Laufe der weiteren Zell-
teilungen zu einer Segregation beider
Plastidentypen kommen. Als Folge da-
von bildet die Pflanze grüne und unge-
färbte Bereiche aus. (a–c Nach Yu et al.
2007, mit freundlicher Genehmigung
von Wiley)

Mitochondrium Chloroplast . Abb. 5.4 Membranen von Mitochondrien


Stroma Lumen und Chloroplasten im Vergleich. Chloro-
Innenmembran plasten besitzen eine zusätzliche Membran,
die Thylakoidmembran, und damit einen
dritten Reaktionsraum, den Thylakoidraum
(auch als Lumen bezeichnet). Die Thylakoid-
membran ist während der Differenzierung
der Proplastiden zu Chloroplasten aus Ein-
stülpungen der inneren Chloroplastenmem-
bran hervorgegangen. (Nach Munk 2000,
innere äußere Matrixraum innere äußere Thylakoidmembran mit freundlicher Genehmigung von Springer)
Mitochondrienmembran Chloroplastenmembran

Der Schlüssel für den matroklinen Erbgang liegt darin, dass den benötigt werden. Die Tatsache, dass die Plastiden über ein
Plastiden rein mütterlich vererbt werden, da der Pollenschlauch eigenes Genom verfügen, hat natürlich dessen Analyse vorange-
keine Chloroplasten übertragen kann. Das allein würde als Er- trieben. Dabei hat sich gezeigt, dass deren Genome in ihren mo-
klärung nicht ausreichen, sondern wir müssen zusätzlich anneh- lekularen Eigenschaften weitaus mehr den Genomen von Proka-
men, dass die Plastiden eine eigene Erbinformation dafür enthal- ryoten gleichen als denen von Eukaryoten. Eukaryotische Zellen
ten, ob sie Chlorophyll bilden können oder nicht. In der Tat hat haben also offensichtlich im Laufe der Evolution prokaryotische
es sich gezeigt, dass die Chloroplasten ein eigenes Genom besit- Elemente in sich aufgenommen und funktionell für sich nutzbar
zen. Es codiert für eine Anzahl von Proteinen, die in den Plasti- gemacht (Symbiontenhypothese).
170 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

endosymbiotisches
5 Ereignis 3

endosymbiotisches endosymbiotisches Ereignis 1


Ereignis 2 Eukaryot
Prokaryot

Cyanobakterium Archaebakterium Proteobakterium


. Abb. 5.5 Schematische Darstellung des Erwerbs, der Reduktion oder des Verlustes von Genomen und Kompartimenten während der Evolution.
Schwarze Pfeile deuten evolutionäre Pfade an, weiße Pfeile endosymbiotische Ereignisse der Wirtszelle: (1) Der proteobakterielle Endosymbiont führte am
Beginn der Evolution der Eukaryoten zur Entstehung der Mitochondrien; (2) Beginn der Chloroplasten-enthaltenden Zellen; (3) die zweite Stufe der
Endosymbiose führte zu verschiedenen Algen, aber auch zu anderen Organismen wie Plasmodien (mit Resten von Chloroplasten) und Trypanosomen,
die keine Plastiden mehr besitzen. Schwarze Kreise: Zellkerne; Ellipsen in den Organellen: bakterielle Genome. (Nach Raven und Allen 2003, mit freundlicher
Genehmigung der Autoren)

C Diese Hypothese wurde zuerst von Constantin Mereschkowsky (. Abb. 5.6). Dazu gehören auch Teile der Chloroplastenmem-
(1905) formuliert und zunächst mit großer Skepsis aufgenom- bran und viele der in den Chloroplasten erforderlichen Enzyme.
men. Sie wurde dann aber später durch eine Reihe elektronen- Allerdings stammen nur etwa 800 bis 2000 von diesen Genen
mikroskopischer und biochemischer Experimente unterstützt, ursprünglich aus den endosymbiotischen Vorläufern.
die gezeigt haben, dass Plastiden DNA, RNA und Ribosomen
enthalten. Molekulargenetische Untersuchungen machen es C Die enge Kopplung zwischen nukleärem und cytoplasmati-
schem Erbmaterial wird durch ein wichtiges Enzym der Plas-
heute vollkommen klar, dass die nächsten bakteriellen Homolo-
tiden, die Ribulose-1,5-bisphosphat-Carboxylase (Rubisco),
ge der Plastiden in der Tat die Cyanobakterien sind (. Abb. 5.5).
besonders eindringlich veranschaulicht. Diese Carboxylase
Nur Cyanobakterien und Chloroplasten haben zwei Photo-
ist für die CO2-Bindung während der Photosynthese verant-
systeme und spalten Wasser, um Sauerstoff zu produzieren.
wortlich und kommt daher in den Blättern grüner Pflanzen
in großen Mengen vor. Sie ist aus 16 Proteinuntereinheiten
Die DNA der Plastiden besteht aus einem zirkulären, doppel-
zusammengesetzt, von denen acht aus je 450 Aminosäuren
strängigen DNA-Molekül von 120 bis 180 kb Länge. Im Allge-
bestehen und im Plastidengenom codiert werden. Sie wer-
meinen enthalten Plastiden mehrere identische Kopien dieser
den dementsprechend auch in matrokliner Weise vererbt.
DNA-Moleküle. Die DNA von Plastiden codiert für etwa 60 bis
Die übrigen acht Polypeptide von je 100 Aminosäuren wer-
200 Proteine, die grundlegend zur Zellfunktion der Pflanzenzel-
den jedoch im Zellkern codiert und vererben sich somit
le beitragen. Im Genom der Chloroplasten sind insbesondere
gemäß den Mendel’schen Regeln.
zwei Gruppen von Genen codiert: Gene, die für die Erhaltung
und Expression des eigenen genetischen Systems verantwortlich Photosynthetisch aktive Chloroplasten sind durch hohe Tran-
sind (Gene für rRNAs, tRNAs, ribosomale Proteine, Unterein- skriptions- und Translationsraten charakterisiert, wodurch eine
heiten von RNA-Polymerasen), sowie Gene, die für die Photo- große Menge des Enzyms Ribulose-1,5-bisphosphat-Carboxy-
synthese wichtig sind. Nur die genetische Information, die im lase synthetisiert werden kann. Damit ist auch ein schneller Aus-
Genom von Plastiden vorhanden ist, wird mütterlich (matroklin) tausch der Komponenten der Elektronentransferkette möglich
vererbt. – eine wichtige Voraussetzung für eine effiziente Photosynthese.
Chloroplasten sind nicht selbstständig lebensfähig, sondern Außer der Photosynthese führen die Chloroplasten noch weitere
funktionieren nur in engem Zusammenspiel mit dem Zellkern: essenzielle Funktionen für die Pflanzenzelle aus, z. B. Synthese
Etwa 5000 Genprodukte sind kerncodiert und müssen aus von Aminosäuren, Fettsäuren und Lipiden, Pflanzenhormonen,
dem Cytoplasma in die Chloroplasten transportiert werden Nukleotiden, Vitaminen und Sekundärmetaboliten.
5.1 · Die eukaryotische Zelle
171 5

Thylakoid-Vorläufer
SRP
SecA

Sec Tat SRP spontan


FtsΥ GTP
ATP ΔpH Alb3

Vorläufer des Stromas


und der inneren Hülle
Thylakoid-Lumen

Stroma

Cytosol

. Abb. 5.6 Die meisten Proteine des Chloroplasten werden im Cytoplasma synthetisiert und müssen zunächst über die beiden Hüllmembranen in das
Stroma transportiert werden. Dabei wird ein entsprechendes Leitpeptid durch eine stromaspezifische Peptidase entfernt (rechte Schere). Für den Weiter-
transport in das Lumen der Thylakoidmembran gibt es vier verschiedene Transportwege; drei davon sind abhängig von weiteren Leitsequenzen, die durch
eine thylakoidspezifische Peptidase entfernt werden (3 Scheren im Lumen). Zwei Prozesse werden durch energiereiche Phosphate angetrieben (ATP bzw.
GTP) und einer durch einen pH-Gradienten (ΔpH). Alb3: Translokase; FtsY: SRP-Rezeptor; Sec: sekretorisches Protein; SRP: signal recognition particle; Tat:
twin-arginine translocase. (Nach Leister 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

> Cytoplasmatische Organellen wie Chloroplasten besitzen dern das Organell in zwei wässrige Kompartimente: die Matrix
ein eigenes Genom aus doppelsträngiger zirkulärer DNA. im Inneren des Mitochondriums und den Intermembranraum
Diese Genome entsprechen in vielen Zügen denen von zwischen äußerer und innerer Membran. Neben verschiedenen
Prokaryoten (besonders Cyanobakterien); daher leiten Enzymen enthält die mitochondriale Matrix auch Ribosomen
sich Chloroplasten von prokaryotischen Symbionten eu- und mehrere ringförmige DNA-Moleküle, die allerdings kleiner
karyotischer Zellen ab. Der Erbgang von Plastidengenen sind als die der Plastiden. Ihre mittlere Größe liegt bei 15 bis
wird häufig auch unter dem Begriff der extranukleären 20 kb. Sie sind in einer bis zehn identischen Kopien in jedem
(oder cytoplasmatischen) Vererbung behandelt. Die zirku- Mitochondrium vorhanden. Eine Ausnahme machen jedoch hö-
lären Plastidengenome sind relativ groß (bis zu 200 Gene) here Pflanzen, deren mitochondriale Gene auf mehrere zirkuläre
und werden als Plastom bezeichnet. Sie kommen in den DNA-Doppelstrangmoleküle unterschiedlicher Größe verteilt
Plastiden in mehreren Kopien vor, die sich genetisch teil- sind.
weise unterscheiden. Die molekulare Struktur der mitochondrialen DNA ist in
einigen Organismen vollständig sequenziert (http://www.
*Man geht davon aus, dass zwischen 320 und 480 Gene für
die Letalität von Setzlingen verantwortlich sind, insgesamt
mitomap.org). Sie enthält im Allgemeinen etwa 40 Gene. Auch
Mitochondrien enthalten in ihrer DNA Gene für organellspe-
rechnet man mit etwa 1000 Genen, die für die Aufrechter- zifische ribosomale RNAs, die in ihrer Größe und Sequenz mit
haltung der Chloroplasten-Funktion benötigt werden. Wir der rRNA von Bakterien verwandt sind. Auch einzelne riboso-
werden sehen, ob neue Mutanten-Screens in Arabidopsis male Proteine und einige tRNAs werden, je nach Organismus, in
und anderen Pflanzen uns zeigen können, welche Gene der den Organellen codiert, während DNA- und RNA-Polymerasen
Chloroplasten für ihre Funktion essenziell sind. sowie Regulationsfaktoren und die meisten Strukturproteine der
Mitochondrien aus dem Kern stammen. Somit stellt das Orga-
nellengenom nur eine kleine Anzahl von Genprodukten für die
5.1.4 Mitochondrien Funktion des Organells selbst zur Verfügung. Welche dieser
Komponenten vom Kern und welche aus dem Organell stam-
Mitochondrien sind seit über 100 Jahren als Bestandteile von men, ist abhängig vom Organismus, also ganz offensichtlich
Zellen bekannt. In Leberzellen machen sie etwa 15–20 % des nicht funktionell bestimmt.
Zellvolumens aus. Ein Mitochondrium wird von zwei Membra- Die DNA von Mitochondrien trägt grundlegend zur Zell-
nen umgeben (. Abb. 5.4), die als äußere und innere Mitochon- funktion der Eukaryotenzelle bei. Im Genom der Mitochondrien
drienmembran bezeichnet werden. Die äußere Membran hüllt (. Abb. 5.7) sind insbesondere Enzyme des Energiestoffwechsels
das Mitochondrium vollständig ein und bildet seine äußere codiert, und ein Teil der organellspezifischen Translations-
Grenzschicht. Im Inneren des Organells befinden sich die Cris- maschinerie der Mitochondrien wird von der eigenen DNA zur
tae, eine Reihe doppelschichtiger Membranen, die am Rand des Verfügung gestellt. Dennoch sind Mitochondrien nicht selbst-
Organells auf die innere Mitochondrienmembran stoßen. Die ständig lebensfähig, sondern funktionieren nur in engem Zu-
Cristae enthalten einen Großteil des Apparates, der für die At- sammenspiel mit dem Zellkern. Selbst Teile der Mitochondrien-
mung und ATP-Bildung erforderlich ist. Die Membranen glie- membran und viele der in ihnen erforderlichen Enzyme sind im
172 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

IH1 Kern codiert und müssen daher in diese Organellen importiert


IH2 D-Loop werden. Außerdem kann auch ein Genaustausch zwischen Kern-
12S- genom und mitochondrialem Genom stattfinden. Genetische
rRNA Cyt b
F T schwerer Information, die im Genom von Mitochondrien vorhanden ist,
16S- Strang
rRNA V wird mütterlich (matroklin) vererbt; paternale Mitochondrien
IL P
E aus den Spermien sind selektiv mit Ubiquitin markiert und wer-
L
ND1 ND6 ND5 den abgebaut.
Der Unterschied in der rDNA zwischen nukleärem und mi-
I
Q Menschliche tochondrialem Genom hat die auch aus anderen Gründen disku-
M L
mitochondriale DNA S
ND2 (16.569 bp) tierte Ansicht unterstützt, dass Mitchondrien in den eukaryoti-
H
5 W A schen Zellen ursprünglich Symbionten prokaryotischen Ur-
N leichter Strang ND4 sprungs waren, bevor sie sich zu obligatorischen Bestandteilen
C
Y eukaryotischer Zellen entwickelt haben. Diese Symbiontenhy-
S pothese wird heute als Erklärung auch für die Entstehung von
R ND4L
G Mitochondrien weitgehend akzeptiert (. Abb. 5.8).
D 6
COI K 8 ND3
COIII > Mitochondrien besitzen ein eigenes Genom aus doppel-
COII ATPase strängiger zirkulärer DNA, das sich von prokaryotischen
. Abb. 5.7 Karte des mitochondrialen (mt) Genoms des Menschen. Das kleine Symbionten eukaryotischer Zellen ableitet. Dass mito-
menschliche mitochondriale Genom (16,6 kb) wird fast vollständig und von chondriale Gene sowohl Eigenschaften prokaryotischer
beiden Seiten transkribiert. Die Transkription beginnt am Promotor IL am leich- als auch eukaryotischer Gene zeigen können, ist dadurch
ten Strang oder an einem der beiden Promotoren (IH1, IH2) am schweren Strang.
zu erklären, dass ein Austausch von Genen zwischen Kern
Diese Elemente befinden sich alle in der D-Schleife (engl. displacement), die
an der DNA-Replikation beteiligt ist und die wichtigste nicht-codierende Re- und Mitochondrien stattfinden kann. Der Erbgang von
gion des mitochondrialen Genoms darstellt. Das mt-Genom codiert für 22 Mitochondrien-Genen erfolgt über die Mutter (matrokline
tRNA-Gene (schwarze Rauten), 2 rRNA-Gene (dunkelrot) und 13 Protein-codie- Vererbung).
rende Gene (grün: NADH-Ubiquinon-Oxidoreduktasen 1–6 [7 Gene]; violett:
Apocytochrom b; hellrot: Cytochrom-Oxidasen I–III; blaugrün: ATPasen 6 und Interessant ist in diesem Zusammenhang natürlich die Frage
8). (Nach Kyriakouli et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier) nach der Struktur der Protein-codierenden mitochondrialen

a Genexport und Verlust


α-proteobakterieller
Symbiont Mitochondrium

primitiver moderner
Eukaryot Eukaryot

b primitiver Zellkern Zellkern


Erwerb von
symbiotischen Genen und fremden Genen;
Gensubstitutionen
. Abb. 5.8 Das Schicksal der mitochondrialen Vorläufer-Gene. Die frühe Genwanderung erfolgte über zwei Routen: a Der α-proteobakterielle Symbiont
hat bei seinem Übergang in eine Organelle massiv Gene verloren. Viele Gene, die für die Funktion der Mitochondrien wichtig sind, wurden an den Zellkern
weitergegeben; nur ein kleiner Teil verblieb im Mitochondrium (mtDNA). b Ein hypothetischer primitiver Zellkern des Wirts erwarb mehrere Hundert Gene
des Symbionten. In einigen Fällen ersetzen Gene, die aus anderen Quellen für das Kerngenom erworben wurden, mitochondriale Funktionen, die ur-
sprünglich durch den α-proteobakteriellen Symbionten codiert wurden (z. B. enthält die mtDNA eines Flagellaten eine typische Eubakterien-ähnliche RNA-
Polymerase, wohingegen dieses Enzym in allen anderen Eukaryoten eine Struktur hat, die der RNA-Polymerase eines T3-Phagen ähnelt, und im Kern co-
diert wird). Farbcode: rot: α-proteobakterielle Gene; violett: Kerngene des ursprünglichen Wirts; gelb: α-proteobakterielle Gene, die Gene des Wirts ersetzt
haben; grün: Fremdgene, die aus anderen Quellen erworben wurden. (Nach Burger et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
5.1 · Die eukaryotische Zelle
173 5
a
. Tab. 5.1 Besonderheiten des mitochondrialen Codes des
Menschen – Dynamin-ähnliches Protein

– Fis1/hFis1
Codon Allgemeine Bedeutung in humanen
Bedeutung Mitochondrien – Mdv1 (in Hefe)

UGA Stopp Trp

AUG Initiations-Met Met (intern)

AUA Ile Met (intern)

AUA, AUU, AUC Alle Ile Initiations-Met

AGA, AGG Beide Arg Stopp

b
Gene. Von vielen Genen kennen wir nicht-translatierte DNA-
– Fzo1/mfn
Bereiche innerhalb von Genen (Introns; 7 Abschn. 3.3.5). Gibt es
Introns auch in mitochondrialen Genen? Die Antwort hängt – Mgm1/OPA1
vom Organismus ab, der betrachtet wird. In menschlichen Mito-
chondrien hat man keine Introns feststellen können, während in
Mitochondrien der Hefe Introns gefunden wurden. Überhaupt
erweist sich das menschliche mitochondriale Genom als beson-
ders kompakt: Es fehlen alle nicht-codierenden Zwischenstücke
zwischen Genen (oder Intergenregionen). Außerdem gibt es nur
einen einzigen Promotor, und selbst Translations-Terminations-
signale werden erst bei der Polyadenylierung der mRNA erzeugt,
nämlich durch Anhängen von (A)n an terminale U- oder UA-
Nukleotide.
In diesem Zusammenhang ist es umso überraschender, . Abb. 5.9 Schematische Darstellung sich teilender und sich vereini-
dass Mitochondrien dennoch einen sehr grundlegenden gender Mitochondrien. a Mitochondriale Teilung: Fis1 (engl. fission protein;
Unterschied in ihrem genetischen Material gegenüber dem grün) ist gleichmäßig über die äußere mitochondriale Membran verteilt;
dabei unterdrückt offensichtlich die Interaktion mit sich selbst eine Bin-
Kern aufweisen. Der genetische Code, der sonst universell ist
dung anderer Proteine. Zu diesen möglichen Interaktionspartnern gehört
(7 Abschn. 3.2), besitzt einige mitochondrienspezifische Abwei- Mdv1 (engl. mitochondrial division; rosa). Allerdings gibt es bei Menschen
chungen (. Tab. 5.1). Er wird daher auch als mitochondrialer kein Korrelat für Mdv1, sodass Fis1 mit Dnm1 (engl. dynamin-related; blau)
genetischer Code bezeichnet. direkt in Wechselwirkung treten muss. b Die Fusion von Mitochondrien
Die Replikation der mitochondrialen DNA ist zwar nicht an wird durch Interaktionen von Fzo1 (engl. fuzzy onions; codiert für Mitofusin)
oder eines seiner Homologen an gegenüberliegenden Membranen einge-
die S-Phase gebunden, ihre Kopienanzahl im Cytoplasma, und
leitet. Dieser Prozess wird durch Mgm1 (bei Hefen; engl. mitochondrial ge-
damit auch das Replikationsverhalten, wird jedoch vom Zellkern nome maintenance; codiert für eine GTPase. Beim Menschen OPA1 – Muta-
kontrolliert. Mitochondrien teilen sich während der Prolifera- tionen in dem entsprechenden Gen führen zu dominanter optischer Atro-
tion und werden auf die Tochterzellen aufgeteilt. Bei der Teilung phie) und durch Ugo1 (japanisch für Fusion) unterstützt. (Nach Kiefel et al.
der Mitochondrien können zwei Phasen unterschieden werden: 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

(Replikation und) Teilung der mitochondrialen DNA und die


daran anschließende Teilung der Matrix. Elektronenmikroskopi-
sche Studien identifizierten zunächst einen mitochondrialen Herschel Mitchell isoliert und als cytoplasmatische Mutation
Teilungsring an der Einschnürungsstelle der sich teilenden Mi- beschrieben wurde (Haskins et al. 1953). Diese Mutante, die
tochondrien. Eine wichtige Komponente ist Dynamin, eine eu- durch ihr schlechtes Wachstum gekennzeichnet ist, leidet an
karyotenspezifische GTPase. Dynamin ist aber auch an einem einem Verarbeitungsfehler, der zur Folge hat, dass ungenü-
weiteren wichtigen Vorgang des Mitrochondrien-Lebenszyklus gende Mengen an (mitochondrialer) 19S-rRNA bereitgestellt
beteiligt, nämlich der Fusion von Mitochondrien. Wir sehen also, werden. Das wiederum führt zu einem Mangel an kleinen
Mitochondrien sind sehr dynamische Strukturen, die rasch mitochondrialen Ribosomenuntereinheiten. Hierdurch wird
fusionieren können und sich ebenso schnell auch teilen können; die mitochondriale Proteinsynthese gestört, sodass es zu
eine Übersicht über den Mechanismus der Teilung von Mitochon- einem langsamen Wachstum der Zellen kommt.
drien und die beteiligten Spieler gibt . Abb. 5.9.
Erste mitochondriale Mutationen, die beim Menschen zu Erb-
C Wie in anderen DNA-Molekülen auch, können in mitochon- krankheiten führen, wurden 1988 in zwei Arbeitsgruppen ent-
drialer DNA Mutationen entstehen. Eine der ersten bekann- deckt (Holt et al. 1988, Wallace et al. 1988); heute sind Hunderte
ten mitochondrialen Mutationen war die Mutante poky von von Punktmutationen, Deletionen und Rearrangements bekannt
Neurospora crassa (auch mi-1 genannt), die von Mary und und mit Krankheiten assoziiert. Viele Krankheiten betreffen die
174 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

Gehirn- und Muskelfunktionen – die Organe mit hohem Ener-


gieverbrauch (7 Abschn. 13.3.5). Dazu kommt häufig eine Milch-
säure-Acidose, hervorgerufen durch die schlechte Verwertung
von Pyruvat. Allerdings sind die klinischen Bilder oft sehr hete-
rogen. Sie verschlimmern sich häufig mit fortschreitendem Alter
aufgrund der Anhäufung pathogener mitochondrialer DNA in
spezifischen Geweben. Eine Ursache dafür ist die mögliche un-
terschiedliche Verteilung von pathogener mitochondrialer DNA
und mitochondrialer DNA des Wildtyps von der befruchteten
Eizelle auf die Tochterzellen sowie die Akkumulation pathogener
5 mitochondrialer DNA in bestimmten Organen im Laufe des Le-
bens. Zellen, in denen pathogene und Wildtyp-DNA gemeinsam
vorkommen, werden als heteroplasmisch bezeichnet; homo-
plasmische Zellen enthalten nur pathogene mitochondriale
DNA oder Wildtyp-DNA. Mitochondriale Dysfunktionen wer-
den zunehmend auch mit Alterungsprozessen in Organismen in
Verbindung gebracht.

C Eine wichtige praktische Anwendung findet eine genetische


Eigenschaft, die dem mitochondrialen Genom von Pflanzen
zugeschrieben wird. Es handelt sich um die cytoplasmatische
männliche Sterilität (engl. cytoplasmic male sterility, CMS), die
auch als Pollensterilität bezeichnet wird. Sie wird ausschließ-
lich mütterlich vererbt, wie es für mitochondriale Vererbung
zu erwarten ist, da über die männliche Keimbahn keine funk- . Abb. 5.10 Der Interphasezellkern (eines weiblichen Säugetiers) zeigt
tionellen Mitochondrien in die Nachkommen gelangen. In eine kompartimentalisierte Struktur. Die Chromosomen sind in Territorien
angeordnet (hier sind vier Chromosomenterritorien dargestellt: CTa–CTd).
der Pflanzenzucht ist diese Form der Sterilität bei der Erzeu-
Chromozentren (C) bestehen aus inaktivem Heterochromatin; ihre Zahl
gung von Hybriden, die oft besonders günstige Eigenschaf- pro Zellkern ist unterschiedlich, da sie dazu neigen, sich zu vereinigen.
ten besitzen, von großem Nutzen, da sie Selbstbefruchtung Der Kernhülle, die von Poren durchsetzt ist, lagert sich innen eine Protein-
der zur Erzeugung von Hybriden verwendeten Linien verhin- schicht aus Laminmolekülen an. Die Kernporen sind mit dem Interchroma-
dert. Dadurch werden aufwendige manuelle Schutzmaßnah- tin-Kompartiment (IC) verbunden und können auch aktive Transkriptions-
einheiten beherbergen (Stern). Abgeschaltete, spät replizierende hetero-
men gegen Selbstbefruchtung überflüssig. Allerdings gibt es
chromatische Regionen (h) sind an der Peripherie des Zellkerns ange-
in vielen Fällen Gene, die im Zellkern codiert sind und die ordnet; ebenso das inaktivierte X-Chromosom (Xi). Genreiches, früh
Fertilität wiederherstellen (engl. restorer of fertility, Rf ). replizierendes Chromatin befindet sich im Inneren des Zellkerns. Die Chro-
mosomenterritorien sind radial nach innen angeordnet, und zwar entspre-
chend ihres Genreichtums, ihrer Größe und Expressionsstärke. CTa ist ein
großes Chromosom mit reprimierten heterochromatischen Domänen, die
5.1.5 Der Zellkern und seine dynamische mit der Kernmembran verbunden sind oder einen Teil eines Chromozen-
Architektur trums bilden (schwarze Pfeilspitzen). Kleine, genarme (CTb) Chromosomen
befinden sich in der Außenzone, während kleine und genreiche (CTc) Chro-
mosomen eher im Inneren des Zellkerns angetroffen werden. CTd und CTc
Im Vergleich zu seiner großen Bedeutung bei der DNA-Replika- bilden NORs (engl. nucleolar organizing regions), die funktionell in den
tion, Transkription und Weiterverarbeitung der mRNA hat der Nukleolus (N) übergehen (offene Pfeilspitzen). Das gestrichelte Rechteck deu-
Kern einer Eukaryotenzelle eine relativ unauffällige Morphologie tet die Möglichkeit von Wechselwirkungen von Genen verschiedener Chro-
(. Abb. 5.10). Sein Inhalt stellt sich als eine zähflüssige, formlose mosomen an (hier CTc und CTd). Aktive Chromatinschlaufen befinden sich
Masse dar, die durch eine kompliziert gebaute Kernhülle vom meistens an der Oberfläche der Chromosomenterritorien und reichen in
das IC hinein. Die Vermischung einzelner Domänen von CTa und CTb durch
Cytoplasma abgegrenzt wird. Im Kern einer Zelle, die sich nicht große oder mittelgroße Chromatinschlaufen (schwarze Pfeile) ermöglicht
teilt (»Interphasezelle«), erkennt man die Chromosomen als die gemeinsame Anwesenheit ihrer Gene in Regionen hoher Expression.
stark auseinandergefaltete Nukleoproteinfasern, die bestimmte (Nach Folle 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
Bereiche im Zellkern einnehmen (Chromosomenterritorien)
und in der Regel als Chromatin bezeichnet werden. Die Struktur
des Chromatins werden wir später im 7 Abschn. 6.2 genauer ken- Weg zwischen Zellkern und Cytoplasma zu versperren. An man-
nenlernen. Das Kernplasma (Karyoplasma) ist durch ein Kern- chen Stellen sind die Membranen verbunden und bilden runde
skelett, d. h. ein Netzwerk aus Proteinfibrillen, strukturell geglie- Poren; diese Kernporen spielen eine entscheidende Rolle bei
dert. Die Kernmatrix ist nicht zuletzt für die Verdoppelung und Transportvorgängen durch die Kernmembran (. Abb. 5.11). Der
die Positionierung der Chromosomen wichtig, bestimmt aber inneren Kernmembran ist eine Proteinschicht angelagert, die aus
zugleich auch die Form des Zellkerns. Laminmolekülen gebildet wird. Diese Laminschicht ist offenbar
Die Kernhülle besteht aus zwei Membranen, die eine Barriere nicht nur für die Strukturierung des Kerns und die Anheftung
bilden, um Ionen, gelösten Stoffen und Makromolekülen den der Chromosomen an die Kernmembran unentbehrlich (siehe
5.1 · Die eukaryotische Zelle
175 5
matinstrukturen einerseits und Kompartimentierung anderer-
seits gekennzeichnet. Beides ist für die Integration biologischer
Prozesse wie DNA-Replikation, Transkription und Reifung der
mRNA essenziell. Schon am Ende des 19. Jahrhunderts erkann-
ten Carl Rabl (1885) und wenig später Theodor Boveri (1888,
1909) durch lichtmikroskopische Untersuchungen, dass Chro-
mosomen während der Interphase als individuelle, voneinander
getrennte Funktionseinheiten vorkommen; eine besondere Form
wurde später für das X-Chromosom beschrieben (»Barr-Körper«;
Barr und Bertram 1949; 7 Abschn. 6.4.4). Seit den 1970er-Jahren
a haben es neue Methoden der Zellbiologie erlaubt, diese Chromo-
somenterritorien nicht nur wiederzuentdecken, sondern im
Kontext der Architektur des Zellkerns auch mögliche Funktio-
nen zu beschreiben. Farblich kombinierte Fluoreszenz-in-situ-
Hybridisierungen an einzelnen Zellen zeigten, dass einzelne
Chromosomen an bestimmten Stellen (»Territorien«) im Zell-
kern zu finden sind. Ein typisches Beispiel aus einer Hühnerzelle
zeigt . Abb. 5.12.
Es scheint dabei ein reproduzierbares Arrangement der
Chromosomen in den jeweiligen Zellkernen zu geben: Genarme
Chromosomenterritorien und stillgelegte Gene befinden sich
üblicherweise an der Peripherie des Zellkerns, wohingegen gen-
b reiche Regionen und aktive Gene eher im Inneren des Zellkerns
. Abb. 5.11 Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Kernporen in zu finden sind (. Abb. 5.13). Da die Frage nach der Aktivität von
Xenopus-Oocyten. a Querschnitt durch eine Oocytenkernmembran. Die Genen aber vom Entwicklungs- und Differenzierungsgrad eines
Doppelmembran ist deutlich zu erkennen, ebenso die in regelmäßigen Gewebes bzw. der jeweiligen Zelle abhängt, variiert auch die Lage
Abständen gelegenen Kernporen. b Aufsicht auf eine Kernmembran mit der entsprechenden Chromosomenterritorien.
Kernporen. Porenkomplexe sind in großer Anzahl vorhanden und regel-
Wie in . Abb. 5.13 gezeigt, ist die Lage des Heterochromatins
mäßig angeordnet. Das Zentralgranulum der Poren ist sichtbar.
(Fotos: C. Dabauvalle, Würzburg) an der Peripherie des Zellkerns davon abhängig, dass eine relativ
stabile Verbindung bestimmter Abschnitte der genomischen
DNA mit der Laminschicht hergestellt wird. Diese DNA-Ab-
unten: Chromosomenterritorien), sondern sie ist auch an der schnitte (engl. lamina-associated domains, LAD) umfassen etwa
Regulation der Genexpression sowie an der Kontrolle des Stoff- 40 % des Genoms (bei Maus und Mensch); sie variieren in ihrer
transports zwischen Zellkern und Cytoplasma beteiligt. Größe zwischen einigen 10 Kilobasen und etlichen Megabasen.
Wie wir oben schon angesprochen haben, ist die Architektur LADs sind arm an Genen und auch an Markierungen, die übli-
des Zellkerns durch dreidimensionale Netzwerke höherer Chro- cherweise aktives Chromatin kennzeichnen (7 Abschn. 8.1.1).

. Abb. 5.12 Chromosomenterritorien in einer


Hühnerzelle. a DAPI-gefärbte, diploide Meta-
phase einer Hühnerzelle. b Dieselbe Metaphase
nach in-situ-Hybridisierung mit verschiedenen
Fluoreszenzfarbstoffen. Die Proben zur Anfär-
bung der Hühnerchromosomen wurden mit
einem kombinatorischen Schema mit Östradiol
(1, 4, 5, 6), Digoxigenin (2, 4, 6, Z) und Biotin (3,
5, 6, Z) markiert. c Östradiol- und Digoxigenin-
a b c markierte Proben werden über Sekundäranti-
körper nachgewiesen, die mit Cy3 und FITC
markiert sind; biotinylierte Proben werden über
Cy5-gekoppeltes Streptavidin nachgewiesen.
d Der optische Schnitt in der Mitte eines Fibro-
blasten-Zellkerns des Huhns zeigt wechselseitig
ausschließliche Chromosomenterritorien, wobei
homologe Chromosomen an unterschiedlichen
Stellen lokalisiert sind (beachte, dass in diesem
Schnitt jeweils nur eines der beiden Chromo-
somenterritorien für die Chromosomen 4 und 6
sichtbar ist). (Cremer und Cremer 2001, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
d Group)
176 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

. Abb. 5.13 Modell einer funktionellen


Chromosomenarchitektur. a Die Kernhülle
besteht aus einer inneren und äußeren
Membran und wird durch Poren unterbro-
chen (korbartige Strukturen). Lamine bilden
ein Geflecht auf der inneren Oberfläche
(schwarzes Gittermuster). Innerhalb des
Zellkerns besetzen die Chromosomen
(dicke farbige Linien) bestimmte Bereiche
(entsprechend farbige Areale), durchsetzt
von freien Bereichen (weiß). Heterochro-
matin besetzt überwiegend die Peripherie
des Zellkerns und ist als dunkler Bereich
5 innerhalb des jeweiligen Chromosomen-
territoriums dargestellt. Kernkörperchen
kommen in den freien Bereichen zwischen
den Chromosomenterritorien vor und stel-
len Anhäufungen von Transkriptionsfak-
toren (gelb), Spleißfaktoren (violett), Poly-
comb-Proteinen (dunkelrot) oder RNA-
Polymerasen (grau) dar. b Ein Lamin-asso-
ziiertes Protein (grau) durchquert die
Laminschicht und heftet ein Chromosom
(blau) über eine Wechselwirkung mit
einem weiteren Protein (gelber Kreis) an die
Kernperipherie an. Dadurch werden die
benachbarten Gene stillgelegt (abgewin-
kelter Pfeil mit einem schwarzen X).
c Aktive Gene (abgewinkelter Pfeil) befinden
sich bei der Transkriptionsmaschinerie in-
nerhalb der freien Areale zwischen den
Chromosomen (RNA-Polymerase: graue
Ovale; Transkriptionsfaktoren: gelbe Kreise;
Spleißfaktoren: violette Kreise; RNA-Tran-
skripte: violette Linien). d Polycomb-Proteine
kommen an verschiedenen Stellen im Ge-
nom vor und bilden Polycomb-Körperchen
(dunkelrote Kreise). (Geyer et al. 2011, mit
freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Die Anheftung der DNA an die Laminschicht (und die damit schiedliche Wirkung zu beobachten: DNA-Regionen, die an
verbundene Abschaltung der entsprechenden Gene) benötigt NPCs binden, werden häufig auch aktiv transkribiert; mögli-
Proteine, die in der inneren Kernmembran verankert sind – ohne cherweise in Abhängigkeit von Signalmolekülen, die über die
diese Proteine findet keine Abschaltung der Gene statt. Abhängig Kernporen den Zellkern erreichen und damit unmittelbar auf
vom Differenzierungszustand der Zellen können reprimierte ihre Zielgene treffen. Die NPCs sind auch die Stellen, an denen
Gene oder Gengruppen auch wieder aus ihrer Bindung an die DNA-Reparaturmechanismen ablaufen; der NPC-Subkomplex
Laminschicht gelöst werden. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Nup84 trägt vermutlich wesentlich zur Verankerung der DNA-
offensichtlich die Bindungen von Transkriptionsfaktoren an die Strangbrüche an der Kernmembran bei.
Promotoren ihrer jeweiligen Zielgene (7 Abschn. 7.3.1). Die Po- Eine besondere Gruppe von Proteinen, die an der Abschal-
sitionierung von DNA an den Rand des Zellkerns hat aber nicht tung von Genen beteiligt sind, stellt die Polycomb-Gruppe dar
nur regulatorische Funktion, sondern kann auch eine Schutz- (PcG). PcGs spielen eine wichtige Rolle bei der Repression der
wirkung haben; dies gilt insbesondere für die Enden der Chro- Hox-Gene (7 Abschn. 12.4.5) während einiger Abschnitte der
mosomen (Telomere; 7 Abschn. 6.1.4), die ohne die Anhef- Entwicklung von Drosophila; PcGs binden dabei an bestimmte
tung  als Doppelstrangbruch erkannt und abgebaut werden »Antwort-Elemente« (engl. Polycomb-response elements, PRE),
könnten. die über den ganzen Hox-Cluster verteilt sind. Durch Aneinan-
Eine wichtige Rolle bei der Verankerung der DNA an der derlagerung mehrerer dieser Komplexe entsteht eine verdichtete
Laminschicht spielen auch die Proteinkomplexe der Kernporen chromosomale Struktur, und die Gene können nicht abgelesen
(engl. nuclear pore complex, NPC). Allerdings ist hier eine unter- werden (. Abb. 5.13d).
5.1 · Die eukaryotische Zelle
177 5

a b

. Abb. 5.14 Insulator-Elemente organisieren Chromatinfasern im Zellkern durch die Einrichtung getrennter Kompartimente höherer Chromatinstruk-
turen. a Die Domänen des offenen Chromatins (gelbe Nukleosomen) werden von Insulatoren begrenzt (rote Ovale), die durch ihre Wechselwirkungen eine
Schlaufe bilden. Hochkondensiertes Chromatin (blaue Nukleosomen) ist auf ein bestimmtes Kompartiment beschränkt. Das Chromatin wird im inneren
Kompartiment stark umgebaut, und die Histon-modifizierenden Enzyme, die zur Kondensation des Chromatins beitragen, sind hier reichlich vorhanden.
Dagegen werden Proteine, die an der Öffnung des Chromatins beteiligt sind, durch die Insulatoren gebunden und sind in den äußeren Segmenten ange-
reichert. b Das Diagramm zeigt einen Teil des Zellkerns mit kompartimentiertem Chromatin. Durch Wechselwirkungen der Insulatoren mit der Kernlamina
oder den Kernporenkomplexen ist dieser Teil des Chromatins mit der Peripherie des Zellkerns verankert. (Labrador und Corces 2002, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)

> Untersuchungen der höheren Ordnung des Chromatins men an ca. 500 Stellen im Drosophila-Genom vor. Diese 500 Insu-
zeigten, dass Chromosomen in bestimmten Komparti- latoren verschmelzen aufgrund von Wechselwirkung mit daran
menten des Zellkerns (Territorien) zu finden sind. Der Ort gebundenen Proteinen zu ca. 25 größeren Strukturen, die als »In-
eines Gens innerhalb eines Chromosoms beeinflusst sei- sulator-Körperchen« bezeichnet werden und überwiegend in der
nen Zugang zur Maschinerie spezifischer Kernfunktionen Peripherie diploider Zellen vorhanden sind. Dadurch trennen die
wie Transkription und Spleißen. Diese Betrachtungsweise Insulatoren die Chromatinfasern in Schleifen oder Domänen und
lässt sich mit einem topologischen Modell der Genregu- bilden dabei rosettenartige Strukturen. Diese sind wahrscheinlich
lation verbinden. an die Laminschicht gebunden, die als Gerüst dient, um die
Organisation des Zellkerns aufrechtzuerhalten (. Abb. 5.14).
An dieser Stelle kommen Strukturen ins Spiel, die als Insulatoren Obwohl Insulatoren bei den meisten Eukaryoten vorkom-
von Chromatinregionen bezeichnet werden. Insulatoren werden men, unterscheiden sie sich doch in den Details. Drosophila-
in vielen Organismen (von Hefen bis zu Menschen) gefunden. Es Insulatoren benutzen zwei Proteine, Mod(mdg4) (engl. modifier
sind Sequenzelemente, die die Wechselwirkungen zwischen En- of mdg4) und CP190 (engl. centrosome-associated zinc-finger pro-
hancern und Promotoren (7 Abschn. 7.3) verhindern, wenn sie tein), die mit einer Vielzahl von DNA-Bindeproteinen in Wech-
zwischen diesen lokalisiert sind. Sie verhindern auch Positions- selwirkung stehen. Die DNA-Bindeproteine stellen dann die
effekte auf die Wirkung von Transgenen. Sie markieren offen- Verbindung zu den entsprechenden Stellen im Genom her. In
sichtlich Grenzen zwischen größeren Transkriptionseinheiten Hefen sind Insulatoren meistens auf RNA-Polymerase-III-ab-
als dies einzelne Gene alleine darstellen. Daher sind sie Schlüssel- hängige Promotorsequenzen beschränkt, die Bindestellen für
elemente in dem Prozess, voneinander unabhängige Domänen TFIIIC enthalten. In Vertebraten ist das am besten untersuchte
der Genexpression zu etablieren. Insulatorprotein CTCF (engl. CCCTC-binding factor); CTCF be-
Erste Hinweise auf diese Rolle der Insulatoren beim Auf- nötigt Cohesin als Cofaktor. In . Abb. 5.15 sind am Beispiel des
bau  von Chromatindomänen erhielt man bei der Analyse des CTCF drei Möglichkeiten dargestellt, wie mithilfe von Insulato-
gypsy-Insulators von Drosophila. Drosophila eignet sich für ren verschiedene Aktivitätsdomänen des Chromatins voneinan-
solche Untersuchungen in besonderer Weise, da die polytänen der getrennt werden können. Dabei wird auch deutlich, dass das
Chromosomen (Riesenchromosomen mit vielen Chromatiden; Konzept der Insulatoren durch unterschiedliche posttranslatio-
7 Abschn. 6.4.1 und . Abb. 6.28) eine gute Auflösung bei geringer nale Modifikationen der Proteine ergänzt werden muss, die das
mikroskopischer Vergrößerung zeigen. Gypsy ist ein Retrotrans- Chromatin aufbauen. Dazu gehören vor allem Methylierungen
poson (7 Abschn. 9.1.2) bei Drosophila; eine andere Bezeichnung und Acetylierungen (für weitere Details siehe 7 Abschn. 6.2 und
ist auch mdg4. Proteinkomponenten des gypsy-Insulators kom- 7 Abschn. 8.1).
178 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

a
a b
b cc

5
CTCF CTCF CTCF

. Abb. 5.15 Strukturen von Insulatoren. Aktiv transkribierte Gene sind durch einen grünen Pfeil dargestellt, stillgelegte Gene durch einen roten. Aktives
Chromatin ist entsprechend mit grünen und reprimiertes Chromatin mit roten Kreisen gekennzeichnet; die DNA ist als schwarze Linie angegeben und CTCF-
Proteine als blaue Ovale. a CTCF bildet eine Schlaufe, um eine aktive Domäne von reprimierten Genbereichen zu trennen. b CTCF bildet eine Schlaufe, um
eine reprimierte Domäne von aktiven Genbereichen zu trennen. c CTCF bildet eine Schlaufe, um eine reprimierte Domäne oberhalb der Schlaufe (links) von
aktiven Genbereichen unterhalb der Schlaufe (rechts) zu trennen; die Schlaufe selbst liegt als offenes Chromatin vor, es wird aber kein Gen abgelesen.
(Yang und Corces 2012, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

β-Globin-Domäne
‚ ‚
kondensiertes 5 -HS4 HS3 HS2 HS1 βA/ε-Enhancer 3 -HS
Chromatin ρ βH βA ε CORs

5 kb

Blockade von Enhancern Blockade von Enhancern

FI CTCF FIII USF1 & USF2 FV CTCF

Barriere-Aktivität

. Abb. 5.16 β-Globin-Cluster des Huhns. Die β-Globin-Gene liegen als Cluster innerhalb eines Nuklease-sensitiven Bereichs (HS: hypersensitiv) unterhalb
eines langen Abschnitts mit kondensiertem Chromatin. Als Insulatoren wirken dabei die Bereiche 5’-HS4 und 3’-HS; sie grenzen den Bereich von den an-
schließenden Genen für Geruchsrezeptoren (CORs) ab. Die Locus-Kontrollregion besteht aus den Bereichen 5’-HS1–3 und ist für das hohe Expressions-
niveau der β-Globin-Gene ebenso nötig wie der β/ε-Enhancer. Das HS4-Element kann andere Enhancer blockieren und hat darüber hinaus eine Barriere-
Aktivität, sodass das β-Globin-Gencluster gegenüber einer Aktivierung von außerhalb geschützt ist, aber auch gegenüber einer Abschaltung durch die
benachbarte kondensierte Region. Die Blockade der Enhancer wird durch die Bindung des Transkriptions-Repressors CTCF vermittelt (CCCTC-bindender
Faktor); die Barriere-Aktivität wird durch die kombinierte Wirkung der Faktoren FI, FIII und FV zusammen mit den Faktoren USF1 und USF2 erzielt (engl.
upstream transcription factor). Die 3’-HS-Region bindet CTCF und wirkt nur über dessen Enhancer-blockierende Eigenschaft als Insulator. Der Balken deutet
eine Länge von 5 kb an. (Nach Gaszner und Felsenfeld 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Für das β-Globin-Cluster wurde gezeigt, dass die flankieren- Es gibt außerdem Hinweise, dass während der Evolution
den Insulatorsequenzen Bindestellen für das CTCF-Protein ent- verschiedene Klassen von Genen in solchen Domänen zusam-
halten. Werden Transgene mit CTCF-Bindestellen flankiert, be- mengefasst werden. Man schätzt, dass ca. 20 % der Drosophila-
halten sie den Zustand hoher Acetylierung bestimmter Proteine Gene in einer der etwa 200 Gruppen benachbarter Gene gefun-
des Chromatins unabhängig vom Transkriptionszustand des den werden, die in gleicher Weise exprimiert werden. Jede die-
Gens oder der Anwesenheit aktiver Enhancer (7 Abschn. 7.3.3) ser Gruppen umfasst ca. 10 bis 30 Gene. Obwohl die Art der
in der entsprechenden Domäne. Gerade das Beispiel der Insula- Cluster bei Hefen ähnlich ist, gibt es keine funktionelle Bezie-
toren des β-Globin-Genclusters zeigt aber auch, dass Insulatoren hung. Auch beim Menschen gibt es derartige Cluster, allerdings
dynamisch sein müssen, um die unterschiedliche Aktivierung entspricht der einzige signifikant co-replizierende Cluster Haus-
der individuellen β-Globin-Gene während der Embryonalent- haltsgenen.
wicklung zu erklären (7 Abschn. 7.2.1). Ein mögliches Modell
dazu wird in . Abb. 5.16 vorgestellt.
5.1 · Die eukaryotische Zelle
179 5
> Insulator-Elemente etablieren Domänen unterschiedlicher
Genexpression dadurch, dass die lineare Information
der Chromatinfasern in eine dreidimensionale Struktur
übersetzt wird (Kompartimentierung). Insulatoren beein-
flussen Enhancer-Funktionen durch die Veränderung der
DNA-Topologie. Die Anheftung der Insulatoren an die
Kernlamina oder Kernporenkomplexe bildet das notwen-
dige Gerüst.

*Neuere Arbeiten berichten über tRNA-Gene (»tDNA«) als In-


sulatoren. tDNAs kommen als Wiederholungselemente an
verschiedenen Stellen des Genoms vor und befinden sich
oft in unmittelbarer Nähe von Grenzen solcher Chromatin- . Abb. 5.17 Die Elektronenmikroskopie lässt einige Organellen im Zell-
domänen, deren Expression unterdrückt ist. Raab et al. kern einer Eizelle von Xenopus sichtbar werden: Die Cajal-Körperchen, die
(2012) zeigten in ihrer Arbeit, dass diese Grenzregionen in Sprenkel und die granuläre Komponente des Nukleolus enthalten hetero-
ihrer Sequenz evolutionär konserviert sind, was auf eine gene Partikel mit Durchmessern in der Größenordnung von 2,5–5 nm.
GC: granuläre Komponente; DFC: dichte fibrilläre Komponente; FC: fibrilläre
Funktion hinweist, die ebenfalls über lange Zeit erhalten
Komponente. (Nach Handwerger und Gall 2006, mit freundlicher Geneh-
blieb. In funktionellen Untersuchungen in Hefezellen konn- migung von Elsevier)
ten sie zeigen, dass humane DNA-Fragmente, die tDNAs ent-
halten, Enhancer-vermittelte Aktivierung von Genen unter-
binden können. Dabei treten verschiedene tDNA-Regionen den. Heute wissen wir, dass die Nukleoli Orte der Synthese von
in Wechselwirkung (vermutlich über Chromatinschlaufen rRNA sind. Für die Entstehung eines neuen Nukleolus ist der
(. Abb. 5.14 und . Abb. 5.15) und ermöglichen damit eine Beginn der Transkription ribosomaler DNA die Voraussetzung.
weitreichende Inaktivierung bestimmter Gruppen von Unterbleibt sie oder wird sie experimentell durch Hemmung der
Genen. RNA-Polymerase I verhindert, so wird kein Nukleolus gebildet.
Unter normalen Stoffwechselbedingungen entsteht der Nukleo-
Außer den Chromosomen finden wir im Plasma des Zellkerns lus bei Beginn der rRNA-Synthese nach einer beendeten Zelltei-
noch eine Reihe von elektronendichten Strukturen (. Abb. 5.17), lung durch die Zusammenlagerung von pränukleolären Kör-
die insgesamt als Kernkörperchen bezeichnet werden; eine pern (engl. prenucleolar bodies), die bereits vorgebildet sind und
Übersicht über die bekanntesten Strukturen und ihre Funktio- aus dem vorangegangenen Zellzyklus stammen. Offenbar sind
nen gibt . Tab. 5.2. Die Nukleoli wirken an der Synthese der ri- die wachsenden Transkripte erforderlich, um die Bildung eines
bosomalen DNA und dem Zusammenbau der Ribosomen mit, Nukleolus aus seinen verschiedenen Komponenten zu ermögli-
Cajal-Körperchen sind an der Biogenese von nukleärer RNA chen. Es wird angenommen, dass die 5’-Enden der Transkripte
beteiligt, und die Sprenkel (engl. speckles) sind für Spleißvorgän- unmittelbar nach ihrer Synthese mit Proteinen des Zellkerns,
ge wichtig. Die Kernkörperchen sind aber nicht durch eine Mem- insbesondere mit Fibrillarin, assoziiert werden und damit die zur
bran vom Kernplasma getrennt. Bildung von präribosomalen Partikeln erforderlichen RNA-Pro-
Bereits die klassischen Cytologen hatten erkannt, dass Nuk- teininteraktionen einleiten. Vergleichbare Vorgänge kennen wir
leoli in den sekundären Konstriktionen oder Nukleolusorgani- in Zusammenhang mit der Bildung von Lampenbürstenschleifen
sator-Regionen (NORs; 7 Abschn. 6.1.2; . Abb. 6.5) gebildet wer- (. Abb. 6.31 und . Abb. 6.32).

. Tab. 5.2 Die wichtigsten Kernkörperchen

Bezeichnung Zahl pro Kern Typische Größe (μm) Hauptbestandteil Funktion

Cajal-Körperchen 0–10 0,1–2,0 Coilin, SMN Aufbau, Modifikation und Transport von snRNAs
und snoRNAs, Regulation der Telomerlängen

Nukleolus 1–4 0,5–8,0 RNA-Polymerase I Transkription und Weiterverarbeitung von rRNA, Aufbau der
Ribosomen

PML-Körperchen 10–30 0,3–1,0 PML Stressantwort, Virusabwehr, Genomstabilität

Sprenkel 25–50 0,8–1,8 SRSF1, SRSF2, Malat1 Speicherung, Aufbau und Modifikation von Spleißfaktoren

Stress-Körperchen 2–10 0,3–3,0 HSF1, HAP Allgemeine Stressantwort, enthält nicht-codierende RNAs

HAP: engl. hnRNP A1 associated protein; HSF1: Hitzeschockfaktor 1; Malat1: große, nicht-codierende RNA (engl. metastasis associated lung adenocarci-
noma transcript 1); PML: Protein, das bei Fusion zu promyelocytärer Leukämie führt; SMN: Protein, das bei Veränderungen zu spinaler Muskelatrophie
führt; SRSF: Serin/Arginin-reicher Spleißfaktor (Nach Mao et al. 2011)
180 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

> Der Nukleolus ist der Ort der chromosomalen rRNA-Syn- Reifung der RNA, z. B. beim Spleißen, bei der Herstellung kleiner
these während der Interphase. In ihm ist die rDNA der RNA-Moleküle (besonders miRNA und siRNA; 7 Abschn. 8.2)
Nukleolusorganisator-Region für die Transkription dekon- und beim Abschalten von Genen.
densiert. Die Bildung eines Nukleolus erfolgt durch die
Anlagerung vorgefertigter Proteinkomplexe aus dem letz- *Inkörperchens
Pflanzen ist in den letzten Jahren ein neuer Typ eines Kern-
entdeckt worden: Lichtkörperchen (engl. photo-
ten Zellzyklus an die neu entstehenden Transkripte.
bodies). Sie enthalten verschiedene Photorezeptoren, variieren
in ihrer Größe und Zahl und werden durch externe Lichtreize
Ultrastrukturell kann man in den Nukleoli drei Komponenten
reguliert. Die Beobachtung dieser Sprenkel-artigen Lichtkör-
unterscheiden (vgl. . Abb. 5.17):
perchen wirft viele Fragen auf: Wie wird ihre Bildung reguliert?
4 im Inneren die fibrillären Zentren (engl. fibrillar centers),
Was ist ihre Funktion? Welche Faktoren werden zu ihrer Bil-
5 4 umgeben von dichten fibrillären Komponenten
dung benötigt? Am besten untersucht sind die Phytochrome,
(engl. dense fibrillar components),
die für rotes Licht empfindlich sind. Die Translokation der
4 und außen die granulären Komponenten (engl. granular
Phytochrome zu den Lichtkörperchen ereignet sich innerhalb
components).
weniger Minuten während des Übergangs vom Dunkeln zum
Hellen. Dabei werden die Phytochrome durch Cryptochrome
Diese Architektur reflektiert weitgehend die gerichtete Reifung
begleitet, die ebenso schnell unter ähnlichen Änderungen der
der Ribosomen-Vorläufer, wobei die Transkription der rRNA
Lichtverhältnisse in den Zellkern gelangen und dort in einem
wahrscheinlich an der Schnittstelle zwischen den fibrillären Zen-
Komplex mit den Phytochromen in den Lichtkörperchen nach-
tren und den dichten fibrillären Komponenten stattfindet. Die
gewiesen werden können. Die Funktion der Lichtkörperchen
wachsenden Transkripte reichen hinaus in den Körper der dich-
bewegt sich noch im Bereich der Hypothesen; die am weites-
ten fibrillären Komponenten, und die wachsenden Ribosomen-
ten verbreitete sieht die Rolle der Lichtkörperchen im Protein-
Vorläufer wandern in die granuläre Komponente. Diese deutli-
abbau. Andererseits befinden sich in den Lichtkörperchen
chen morphologischen Unterscheidungen sind nicht nur Aus-
auch viele Transkriptionsfaktoren, sodass sie als Organisations-
druck funktioneller Unterschiede, sondern natürlich auch der
zentren für die Regulation lichtabhängiger Gene dienen könn-
biochemischen Zusammensetzung:
ten. Auch wenn die Lichtkörperchen bisher nur bei Pflanzen
4 Fibrilläre Zentren enthalten DNA, einschließlich rDNA, in
gefunden wurden, so sei an dieser Stelle doch darauf hinge-
einer Form, die Transkription erlaubt, und darüber hinaus
wiesen, dass Cryptochrome auch im Tierreich eine weite Ver-
entsprechende Transkriptionsfaktoren, z. B. RNA-Polyme-
breitung haben und nicht nur in den Augen exprimiert wer-
rase I, DNA-Topoisomerase I und DNA-bindende Faktoren.
den. Für eine detailliertere Darstellung dieser spannenden,
Entsprechend kann man auch wachsende Vorläufer von
neuen Entwicklung sei auf eine aktuelle Zusammenfassung
rRNAs erkennen; die so gebildete morphologische Struktur
von van Buskirk et al. (2012) verwiesen.
lässt sich mit Silber anfärben.
4 Die dichte fibrilläre Komponente wird als der Ort be-
trachtet, an dem die frühe Vorläufer-rRNA nachbearbeitet
und modifiziert wird. Sie enthält außerdem Fibrillarin als 5.2 Der Zellzyklus
die Hauptkomponente von Riboproteinen (snoRNPs, engl.
small nucleolar ribonucleoproteins) und kann ebenfalls Eine Vermehrung von Zellen durch Zellteilungen ist nur dann
durch Silber angefärbt werden. möglich, wenn sichergestellt ist, dass die Erbinformation jeder
4 Die granuläre Komponente umfasst etwa 75 % der Masse Zelle vollständig und gleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt
des Nukleolus und enthält schon weitgehend reife Riboso- wird. Jede Zelle muss also über die Fähigkeit verfügen, ihre Erb-
men-Vorläufer; diese Struktur kann nicht mit Silber ange- information identisch zu verdoppeln, sodass beide Zellteilungs-
färbt werden. produkte, die Tochterzellen, eine gleiche Ausstattung an Erb-
information erhalten. Den Lebenszyklus einer Zelle können wir
> Die unterschiedlichen stoffwechselphysiologischen Prozesse,
nach zwei Gesichtspunkten unterteilen:
die im Nukleolus ablaufen, spiegeln sich in der Ultrastruktur
4 die Verdoppelung der Erbinformation und
des Nukleolus wider. Fibrilläre Zentren sind die Hauptsynthese-
4 die Zellteilung.
orte der rRNA. In der granulären Komponente des Nukleolus
befinden sich die reifen Ribosomen-Vorläufer.
Es hat sich herausgestellt, dass in den weitaus meisten Zellen die
Cajal-Körperchen wurden zuerst vor über 100 Jahren von Verdoppelung der Chromosomen auf eine erste Stoffwechsel-
Ramon y Cajal in neuronalen Zellen beschrieben. Moderne bild- phase folgt, die man G1-Phase (G von engl. gap = Lücke) nennt.
gebende Verfahren in lebenden Zellen zeigten, dass sie sich in Den Zeitraum des Zellzyklus, innerhalb dessen sich die Chromo-
Zellkernen von Pflanzen und Tieren bewegen, aber auch fusio- somen verdoppeln, nennt man Synthese- oder S-Phase. Es folgt
nieren und sich teilen können. Dabei interagieren sie intensiv mit ein weiterer Zeitabschnitt bis zur Zellteilung, währenddessen die
dem Nukleolus, mit dem sie manche Komponenten gemeinsam Zelle stoffwechselaktiv ist, die G2-Phase (. Abb. 5.18). Dieser
haben, vor allem snoRNAs und Proteine zur RNA-Bearbeitung schließt sich endlich die Zellteilung oder Mitose (M-Phase) an.
(z. B. Fibrillarin, das verschiedene RNA-Moleküle methylieren Die Abfolge von G1-, S- und G2-Phase und der Mitose bezeichnet
kann). Die wichtigste Funktion der Cajal-Körperchen liegt in der man als einen Zellzyklus.
5.2 · Der Zellzyklus
181 5
5.2.1 Kontrolle des Zellzyklus M-Kontrollpunkt

Im Jahre 1953 beschrieben Alma Howard und Stephen Pelc zum


ersten Mal im Detail den Zellzyklus. Sie ließen Pflanzen (Vicia
faba) mit einer 32P-Markierung wachsen und zeigten, dass es in
die DNA des Zellkerns nur während der Interphase eingebaut
wurde und dass es vom Ende der Zellteilung bis zur erneuten
Aufnahme des Isotops in neue DNA etwa 12 h dauerte. Aus der
Analyse der heterogenen Meristemzellen leiteten Howard und
Pelc ab, dass die DNA-Synthese etwa 6 h benötigt und die Zellen
in die Prophase der nächsten Mitose ungefähr 8 h nach dem Ende
der DNA-Synthese eintreten. Sie waren damit die Ersten, die
einen Zeitrahmen für das Leben einer Zelle angegeben haben.
Wie wir heute wissen, ist die Dauer eines Zellzyklus durch den
Kontrollpunkt
besonderen Charakter des jeweiligen Zelltypus bestimmt und
weist große Unterschiede auf (. Tab. 5.3). . Abb. 5.18 Der Zellzyklus. Der Zellzyklus beginnt mit der G1-Phase nach
Betrachtet man die relative Dauer der einzelnen Abschnitte der Mitose (M). Wird der Restriktionspunkt (R) überschritten, so beginnt die
Replikationsphase der DNA (S-Phase). Nach Abschluss der Replikation folgt
des Zellzyklus, so findet man Variabilität in der Länge überwie-
die G2-Phase, nach deren Abschluss die Zelle in eine neue Mitose eintritt.
gend in der G1-Phase. Zellen, die nicht mehr mitotisch aktiv sind Der Zeitraum vom Beginn der G1-Phase bis zum Beginn der nächsten Mito-
oder sich zumindest zeitweilig nicht mehr teilen, überschreiten se wird als Interphase bezeichnet. Die verschiedenen Phasen variieren, je
einen bestimmten Punkt in der G1-Phase nicht. Dieser Zeitpunkt nach Zelltyp, in ihrer Dauer (vgl. . Tab. 5.3). Im Schema sind die relativen
wird als Restriktionspunkt (R) bezeichnet. Er übt eine wichtige Längen der verschiedenen Phasen dargestellt, wie man sie beispielsweise
in Zellkulturen findet. Der gesamte Zellzyklus dauert in vielen Fällen etwa
Kontrollfunktion im Zellzyklus aus, da er dafür sorgt, dass eine
20 h
Zelle nicht in die Replikationsphase eintreten kann, bevor die not-
wendigen Voraussetzungen hierzu erfüllt sind. Besonders wichtig
ist es, dass die DNA keine Brüche oder anderweitige Veränderun- ren  Einzelkomponenten sowohl auf sich selbst regulatorisch
gen enthält, die zu Problemen bei der Replikation führen würden. zurückwirken als auch auf darauffolgende Prozesse Einfluss
Weitere Kontrollpunkte (engl. checkpoints), die den Fortgang nehmen.
des Zellzyklus regulieren, befinden sich in der G2-Phase vor dem Der Restriktionspunkt (R-Punkt; . Abb. 5.18), der ent-
Beginn der M-Phase und in der M-Phase. In den Regulations- scheidend für den Übergang der G1-Phase in die S-Phase ist,
prozessen, die erforderlich sind, um solche Kontrollpunkte im wird dadurch definiert, dass der Zellzyklus vorher Mitogen-
Zellzyklus zu überschreiten, spielt eine Reihe von Proteinen eine abhängig ist und sensitiv gegen Proteinsyntheseinhibitoren.
wichtige Rolle, die stadienspezifisch aktiviert werden. An allen Bis zum R-Punkt wird der Zellzyklus durch das Cytokin
diesen Kontrollpunkten sind Proteinkinasen und Proteasen be- TGFβ (engl. transforming growth factor) blockiert. Nach Durch-
teiligt sowie besonders die Regulationsproteine Cycline und die
Cyclin-abhängigen Kinasen (CDKs), deren Konzentration in
der Zelle den Übergang zwischen den einzelnen Phasen be-
stimmt (. Abb. 5.19). Das Aktivitätsspektrum der Proteinkina-
. Tab. 5.3 Zellzykluslängen in verschiedenen Zelltypen
sen selbst wird durch Modifikation des Grades ihrer Phosphory-
lierung beeinflusst. Hat eine Zelle den Restriktionspunkt in ei- Art Interphase Mitose
nem Zellzyklus überschritten, so ist sie irreversibel auf die Been- (min) (min)
digung des begonnenen Zellzyklus festgelegt und durchläuft eine
weitere Mitose. Zellen, die ihre Teilungsaktivität eingestellt oder Drosophila melanogaster, Ei 3 6

zeitweilig unterbrochen haben, sind in der G0-Phase. Sie haben Physarum polycephalum 420 40
den Restriktionspunkt nicht überschritten, und ihre Chromo- Psammechinus
somen sind nicht verdoppelt, da sie keine S-Phase durchlaufen (Embryo, erste Teilungen) 14 28
haben. (200–300-Zell-Stadium) 32
Zellen, die sich im normalen Proliferationszustand befinden, Hühnerfibroblasten (Zellkultur) 700 23
müssen eine Reihe von Schritten vollziehen, die jeweils für sich
Mausfibroblasten (Zellkultur) 1300 40
geregelt sind:
4 Wachstum, Hamsterfibroblasten (Zellkultur) 640 24
4 Replikation der DNA (Verdoppelung der Chromosomen), Säugerzellkultur 900 60
4 Chromosomensegregation während der Zellteilung,
Vicia faba, Wurzelmeristem 1000 120
4 Zellteilung.
Ratte, Corneaepithelzellen 14.000 70
Zum Durchlaufen dieser einzelnen Phasen des Zellzyklus sind
Nach Mazia (1961) und Kihlmann et al. (1967)
sich periodisch wiederholende Mechanismen erforderlich, de-
182 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

APC/C
G1-CDKs S-Phase-CDKs mitotische CDKs G1-CDKs
Sic1
APC/C

CDK-Aktivität

5
G1 S G2 Metaphase Anaphase G1

. Abb. 5.19 Cyclin-abhängige Kinase-Aktivität (CDK) in der Mitose. Während der G1-Phase steigt die G1-abhängige CDK-Aktivität (rot) und induziert den
Abbau von Sic1 (engl. stoichiometric inhibitor of cyclins) und die Inaktivierung von APC/C (engl. anaphase promoting complex/cyclosome). Dadurch wird der
Eintritt in den Zellzyklus und die Anhäufung der S-Phasen-CDKs (grün) ermöglicht; die S-Phasen-CDKs initiieren die DNA-Replikation. Mitotische CDKs
(blau) fördern dann den Eintritt in die Mitose. Am Ende der Mitose werden die mitotischen CDKs inaktiviert, was zum Abbau des mitotischen Spindelappa-
rates und zum Eintritt in die G1-Phase führt. Die mitotischen CDKs werden durch Cyclin B inaktiviert. Die Dauer der einzelnen Stadien ist nicht skaliert.
(Modifiziert nach Marston und Amon 2004, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

. Tab. 5.4 Gen-Bezeichnungen von Schlüsselregulatoren des Zellzyklus

Allg. Bezeichnung S. cerevisiae S. pombe C. elegans Xenopus Drosophila Säuger

G1-Phase-Cyclin-abhängiger CDC28-CLN1 cdc2-cig1, – – – Cdk4-Cyclin-D


Kinase-Komplex cdc2-puc1
CDC28-CLN2 Cdk6-Cyclin-D
CDC28-CLN3 Cdk2-Cyclin-E
S-Phase-Cyclin-abhängiger CDC28-CLB5 cdc2-cig2 – – – Cdk2-Cyclin-A
Kinase-Komplex CDC28-CLB6 Cdk2-Cyclin-E
M-Phase-Cyclin-abhängiger CDC28-CLB1 cdc2-cdc13 – – – Cdk1-Cyclin-B
Kinase-Komplex CDC28-CLB2 Cdk1-Cyclin-A
CDC28-CLB3
CDC28-CLB4
– MIH1 cdc25 CDC-25 CDC25 String CDC25A, CDC25B, CDC25C
– SWE1 wee1 WEE-1 WEE1 WEE WEE1
Separase ESP1 cut1 SEP-1 – Three Rows (THR), ESPL1
Separase (SSE)
Securin PDS1 cut2 IFY-1 PTTG Pimples (PIM) PTTG1
– SPO11 rec12 SPO-11 – MEI-W68 SPO11
Shugoshin SGO1 sgo1 – – MEI-S332 –
Polo-Kinase CDC5 plo1 PLK-2 PLX1 POLO PLK1

Aurora-Kinase – – AIR-1 Aurora-A (Eg2) Aurora-A Aurora-A


IPL1 ark1 AIR-2 Aurora-B Aurora-B Aurora-B
– – – – – Aurora-C
– CDC14 clp1 CDC-14 – – CDC14A,
CDC14B
– MAD2 mad2 MDF-2 MAD2 MAD2 MAD2L1,
MAD2L2

AIR: Aurora/Ipl1-related kinase; ark1: Aurora-Kinase-1; Cdk: cyclin-dependent kinase; CLB: Cyclin B; CLN: Cyclin; clp1: Cdc14-related protein phospha-
tase-1; ESP1: extra spindle poles-1; ESPL1: extra spindle poles-like-1; IFY-1: interactor of FZY-1; MAD2: mitotic arrest-deficient-2; MDF-2: mitosis-arrest-
deficient related-2; MIH1: mitotic inducer homologue-1; PDS1: prevents the dissociation of sisters-1; PLK/plo/PLX/POLO: Polo-Kinase; PTTG: pituitary
tumor-transforming protein; Rec: Rekombinationsprotein; SEP-1: Separase-1; SGO1: shugoshin-1; SPO: Sporulationsprotein; Swe1: Saccaromyces WEE1.
(Nach Marston und Amon 2004)
5.2 · Der Zellzyklus
183 5
. Abb. 5.20 Die Regulation des Zellzyklus. G0, M, G1, S
und G2 bezeichnen die einzelnen Phasen des Zellzyklus
(Ruhe, Mitose, erste »Lücke« [engl. gap], DNA-Synthese
und zweite »Lücke«). Der Restriktionspunkt (R) befin-
det sich zwischen G1- und S-Phase. RB bezeichnet das
unphosphorylierte Retinoblastoma(Rb)-Protein, RB-p
dagegen seine phosphorylierte Form. (CDC: cell division
cycle; CDK: cyclin-dependent kinase). (Nach Lundberg
und Weinberg 1999, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)

laufen des Restriktionspunktes ist der Zellzyklus Mitogen- Cycline und CDKs sind für sich genommen inaktiv. Die Bil-
unabhängig und wird durch Proteinsyntheseinhibitoren nicht dung von CDK-Cyclin-Komplexen ist stadienspezifisch und
mehr gehemmt. Mitogene sind extrazelluläre Wachstumsfak- wird durch extrazelluläre Signale (Mitogene) ausgelöst. Die Kon-
toren (auch »primäre Messenger«), die als Liganden an Rezep- formation der CDKs wird bei einer Komplexbildung mit Cycli-
toren in der Plasmamembran binden und dadurch eine Signal- nen so verändert, dass sie befähigt werden, Phosphatgruppen
kaskade induzieren. Diese führt letztlich zu Regulationsvor- von ATP auf Zielproteine zu übertragen. Zielproteine sind die
gängen auf der Transkriptionsebene. Wachstumsfaktoren Cyclin-CDK-Substrate, wie z. B. das Retinoblastoma-Protein
(Mitogene) sind extrazelluläre Signale (Proteine), die das Zell- (Rb-Protein). Die Funktion eines Cyclin-CDK-Substrat-Kom-
wachstum stimulieren und den Fortschritt des Zellzyklus kon- plexes lässt sich am Beispiel dieses Proteins gut darstellen. Das
trollieren. Es gibt allgemeine Wachstumsfaktoren, wie z. B. Rb-Protein (codiert von einem Tumorsuppressorgen, 7 Abschn.
PDGF (engl. platelet-derived growth factor), die auf unterschied- 13.4.1) hat zwölf Phosphorylierungsstellen, deren Phosphorylie-
liche Zelltypen wirken, und zellspezifische Faktoren, wie z. B. rung das Protein inaktiviert. Bis zum R-Punkt ist das Rb-Protein
NGF (engl. nerve growth factor). Ihre Bindung an den Rezep- hypophosphoryliert und somit aktiv, danach wird es bis zur Mi-
tor  führt über G-Proteine zu einer Induktion von »sekun- tose durch Phosphorylierung inaktiviert. Die Phosphorylierung
dären  Messengern« (kleine Moleküle wie cAMP, Inositoltri- erfolgt durch Cyclin-CDK-Komplexe. Im aktiven Zustand unter-
phosphat oder Diacylglycerol). Über die sekundären Messenger drückt das Rb-Protein die Transkription von Genen, die erfor-
werden intrazelluläre Zellzyklus-regulierende Proteine indu- derlich sind, um den Zellzyklus voranzutreiben, da es den Tran-
ziert. skriptionsfaktor E2F bindet (E2F-regulierte Gene codieren für
Die Zellzyklusregulation ist besonders gut an der Bäckerhefe Cyclin E, c-Ras, c-Myc). Hierdurch kommt es zur Unterbrechung
S. cerevisiae untersucht. Das Grundprinzip soll an diesem Orga- des Zellzyklus. Die Phosphorylierung des Rb-Proteins bewirkt
nismus dargestellt werden; es sind aber auch in vielen anderen eine Dissoziation des Rb-E2F-Komplexes, und der freigesetzte
Modellorganismen die entsprechenden Gene bekannt (für eine E2F-Faktor kann die Transkription E2F-abhängiger Gene indu-
Übersicht siehe . Tab. 5.4). zieren. Das führt zugleich zu einer Autoregulation der Synthese
Hauptkomponenten der Zellzyklusregulation der Hefe von Cyclin E.
sind zwei Proteinklassen:
4 Cycline; sie umfassen die Cycline A, B, D und E. Cycline
sind die primären Zellzyklus-regulierenden Proteine. Sie
*Dieser Regulationsmechanismus erlaubt es, eine der Ursa-
chen abnormaler Zellproliferation zu verstehen. Fehlt das
sind zyklisch aktiv und verleihen den CDKs (Cyclin-abhän- Rb-Protein aufgrund einer Mutation oder ist es durch Muta-
gige Kinasen, engl. cyclin-dependent kinases; . Abb. 5.19) tion defekt, kann kein (funktioneller) Rb-Komplex mehr
ihre Substratspezifität. gebildet werden. Infolgedessen kommt es zu ungehemmter
4 CDKs werden durch Komplexbildung mit Cyclinen aktiviert Zellproliferation, da nunmehr der E2F-Faktor uneinge-
und durch sterische Modifikation zur Substratbindung be- schränkt zur Verfügung steht. Das Rb-Protein liefert uns
fähigt. Die ATP-transferierenden Aminosäuren werden hier- somit ein erstes Beispiel für eine Ursache genetisch beding-
bei in eine geeignete sterische Position gebracht. CDKs müs- ter Tumorbildung. Die Zelle benötigt kein extrazelluläres
sen zu ihrer Aktivierung zudem phosphoryliert werden Signal mehr, um den Restriktionspunkt zu überschreiten:
(. Abb. 5.20). Ein mutiertes Gen kann die Funktion eines Wachstumsfak-
tors imitieren und somit zur ungehemmten Zellprolifera-
Für die Entschlüsselung dieser Hauptkomponenten der Zell- tion führen.
zyklusregulation haben Leland H. Hartwell, R. Timothy Hunt
und Paul M. Nurse 2001 den Nobelpreis für Physiologie oder Noch eine weitere Klasse von Proteinen ist an der Regulation des
Medizin erhalten Zellzyklus beteiligt, die CKIs (CDK-Inhibitoren). Ihre Funktion
184 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

besteht in der Inhibition des Zellzyklus durch Blockierung der


MyoD
p57 CDKs. Sie umfassen bei Säugern zwei Familien: CDK4- und
CDK6-Inhibitoren (INK4A, p15, p16, p18, p19) und die Cip/
Cylin p27 Kip-Familie (p21, p27, p57), die allgemein auf Cycline wirkt. Die
Ngn-2
CDK Cip/Kip-Proteine reprimieren über die Hemmung des Cyclin/
CDK-Komplexes und der damit verbundenen Hypophosphory-
p21
lierung der Rb-Proteinfamilie indirekt die Transkription. In die-
Rb sem hypophosphorylierten Zustand bleiben die Rb-Proteine von
p27 CBP
p107 den E2F-Proteinen getrennt, sodass deren Zielgene nicht tran-
p130 skribiert werden. Zusätzlich können die Cip/Kip-Proteine die
5 Aktivität von verschiedenen Transkriptionsfaktoren direkt mo-
dulieren (. Abb. 5.21).

E2F E2F1 c-Myc STAT3 > Der Zellzyklus ist einer komplizierten Regulation unter-
worfen. So ist der Eintritt in die S-Phase von der Über-
windung des Restriktionspunktes abhängig. Dessen Über-
. Abb. 5.21 Einfluss der Cip/Kip-Proteine auf die Transkription. Die CDK-
windung wird zentral durch eine Proteinkinase in Wech-
Inhibitoren p21, p27 und p57 reprimieren die Transkription indirekt über
die Hemmung des Cyclin-CDK-Komplexes. Dadurch bleiben die Rb-Proteine selwirkung mit anderen Proteinen, insbesondere Cyclinen,
(Rb/p110, p107 und p130) in einem hypophosphorylierten Zustand, in dem reguliert. Die Proteinkinase selbst wird durch phosphory-
sie auch von den E2F-Transkriptionsfaktoren getrennt bleiben. Cip/Kip-Pro- lierende Enzyme in ihrer Aktivität kontrolliert. Weitere
teine können die Transkription aber auch direkt beeinflussen: p57 und p27 Zellzykluskontrollpunkte gibt es am Übergang von der
können mit ihrem N-Terminus mit MyoD und Neurogenin-2 (Ngn-2) in
G2-Phase zur Mitose und während der Mitose.
Wechselwirkung treten, sie dadurch stabilisieren und so die Transkription
ihrer Zielgene fördern. Andererseits bindet p21 an E2F1, c-Myc und STAT3
Pflanzen enthalten deutlich mehr Cycline als andere Organis-
und hemmt so deren Aktivitäten. Wenn p21 an den p300/CBP-Komplex
bindet, wird dessen reprimierende Aktivität unterdrückt (und führt somit
men: So verfügt Arabidopsis thaliana über mindestens 32 Cycline
indirekt zu einer Aktivierung). (Nach de Besson et al. 2008, mit freundlicher mit verschiedenen Expressionsmustern, die eine große Plastizität
Genehmigung von Elsevier) der sesshaften Pflanzen gegenüber intrinsischen Signalen und

a b c

d e f

. Abb. 5.22 Pflanzliche Phänotypen mit Veränderungen in Zellzyklus-regulierenden Genen. a–c Phänotypen von E2Fa- und DPa-Überexpression in 12 Tage
alten Setzlingen. a Nicht transformierte Kontrolle; b E2Fa- und c E2Fa-DPa-Überexpression bei Pflanzen. Alle Pflanzen wurden in der gleichen Vergrößerung
fotografiert. d–f Trichom-Mutanten: elektronenmikroskopische Aufnahmen. d Wildtyp; e stichel-Mutante: Das STICHEL-Gen codiert für ein Protein mit Sequenz-
ähnlichkeit zur DNA-Polymerase-γ-Untereinheit von Eubakterien; f zwichel-Mutante: Das ZWICHEL-Gen codiert für ein Ca2+-Calmodulin-reguliertes Kinesin.
(a–c nach de Veylder et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier; d–f nach Schnittger und Hülskamp 2002, mit freundlicher Genehmigung der
Royal Society)
5.2 · Der Zellzyklus
185 5
sich verändernden Umweltfaktoren widerspiegeln. In der Pflan- vatoren. Inzwischen wissen wir, dass die wesentlichen
ze hat die Untersuchung der Funktion von Zellzyklus-Genen und Elemente des Apoptosemechanismus in der Evolution kon-
Genen, die die Zellteilung beeinflussen, in starkem Maße davon serviert sind. Das humane Homolog zu dem C. elegans-Gen
profitiert, dass nicht nur Zellen in Zellkultur untersucht werden ced-3 ist das Gen ICE (engl. interleukin-converting enzyme),
können, sondern auch transgene Pflanzen und Mutanten von und Apaf1 ist das homologe Säuger-Gen für ced-4. Für die
Pflanzen, insbesondere von Arabidopsis thaliana (. Abb. 5.22; Entdeckung und Charakterisierung der ced-3- und ced-4-
siehe aber auch 7 Abschn. 5.3.3). Mutanten erhielt Robert Horvitz 2002 den Nobelpreis für
Medizin.

5.2.2 Verschiedene Wege zum programmierten Für viele Jahre galt Apoptose als der Signalweg schlechthin, der
Zelltod zum programmierten Zelltod führt, und diese beiden Begriffe
wurden entsprechend häufig synonym verwendet. Wesentliche
Die Zellbiologie ist sich der Tatsache, dass es einen genetisch Merkmale der Apoptose sind Plasmamembranen, die über lange
programmierten Zelltod gibt, erst in den letzten 45 Jahren be- Zeit hinweg noch intakt bleiben, sowie die Aktivierung von Cas-
wusst geworden. Das ist umso erstaunlicher, als in entwicklungs- pasen und Ausbuchtungen der Membranen. Auslösendes Signal
biologischer Hinsicht Zelltod ein allgemeines biologisches Phä- für die Apoptose ist die Bindung von TNF (engl. tumor necrosis
nomen ist. Hinzu kommt, dass cytologische Hinweise auf Zelltod factor) an seinen Rezeptor. So wie es viele Mitglieder der TNF-
bereits in den Arbeiten von Walther Flemming (1882) und später Familie gibt, so gibt es auch viele verschiedene TNF-Rezeptoren;
in den Arbeiten anderer Cytologen vorhanden sind. Erst durch eine Untergruppe wird als »Todesrezeptoren« (engl. death recep-
John F. R. Kerr (1972) wurde das Phänomen des programmierten tors, DR) bezeichnet. Diese Todesrezeptoren haben eine gemein-
Zelltods als wichtiges biologisches Prinzip erkannt und als Apop- same, konservierte cytoplasmatische Domäne, die entsprechend
tose bezeichnet. Durch diesen neuen Begriff stand der pro- als »Todesdomäne« bezeichnet wird (engl. death domain, DD).
grammierte Zelltod im Gegensatz zur ungeregelten Zellnekrose, Diese Ligand-Rezeptor-Komplexe vermitteln dann das eigent-
bei der die Zelle üblicherweise platzt und ausfließt. Heute wissen liche apoptotische Signal, indem sie auf der cytoplasmatischen
wir aber, dass es veschiedene Formen des programmierten Zell- Seite weitere Proteine mit Todesdomänen anziehen, wie z. B.
tods gibt; neben der Apoptose kennen wir heute die program- FADD (engl. Fas-associated death domain), TRADD (engl. TNF
mierte Nekrose (auch als Nekroptose bezeichnet) sowie die receptor-associated death domain) und RIPK1 (engl. receptor-
Autophagie als Möglichkeiten, defekte Zellen oder solche, die interacting serin/threonine-protein kinase 1). In diesem Kom-
nicht (mehr) benötigt werden, auf einem geregelten Weg zu be- plex  wird die Caspase-8 aktiviert; dadurch wird die Caspase-
seitigen. Kaskade in Gang gesetzt, die in ihrer Wirkung auf die Mito-
Als Beispiel für Apoptose ist der Nematode Caenorhabditis chondrien kumuliert, insbesondere in der Freisetzung von
elegans besonders geeignet (7 Abschn. 5.3.4 und 7 Abschn. 12.3). Cytochrom c. Aufgrund dieses Signals wird dann der entschei-
Dieser nur 1,2 mm lange Wurm, dessen Generationszeit nur 3,5 dende Komplex aufgebaut, das Apoptosom, das durch Oligo-
Tage beträgt, ist zellkonstant. Der adulte Hermaphrodit enthält merisierung von APAF1 (unter ATP-Verbrauch!) entsteht. Da-
genau 959 somatische Zellen, adulte Männchen 1031. Zum Zeit- durch werden die Caspase-3 und Caspase-9 aktiviert, und jetzt
punkt der Gastrulation enthält der wachsende Organismus 650 ist der Prozess nicht mehr umkehrbar: Der Tod der Zelle ist
Zellen, die sich weiterhin teilen. Dennoch enthält der Wurm zum besiegelt.
Zeitpunkt des Schlüpfens nur 558 Zellen. Das Schicksal aller Zel- Neben den Apoptose-induzierenden Proteinen gibt es aber
len ist während der Entwicklung genau festgelegt. Das bedeutet, auch solche, die durch ihre Anwesenheit diese Induktion verhin-
dass auch der Tod bestimmter Zellen genetisch vorprogrammiert dern. Ein Beispiel ist das ced-9-Gen, dessen Genprodukt die
ist. Im Hermaphroditen werden insgesamt 1090 somatische Zel- Caspase-Aktivität inhibiert. Das entsprechende Säugergen, bcl-2,
len durch Mitose gebildet. Hiervon sterben 131 durch genetisch war das erste Gen, dessen Bedeutung für die Apoptose erkannt
programmierten Zelltod. worden war. Mittlerweile hat man gefunden, dass es nur ein Mit-
glied einer größeren Genfamilie ist, die zentrale Steuerungs-
C Mutanten von C. elegans, deren Gene ced-3 oder ced-4 funktionen in apoptotischen Prozessen ausübt. In Mäusen ver-
(engl. cell death abnormality) defekt sind, haben gezeigt, dass ursacht das Fehlen eines funktionellen bcl-2-Gens massiven
diese Gene eine zentrale Bedeutung für den Zelltod haben: Zelltod, z. B. in Lymphgeweben, und führt zu einem frühen Tod
In ced-3- oder ced-4-Mutanten überleben Zellen, die norma- der Maus. Die meisten Gene dieser bcl-2-Familie inhibieren
lerweise während der Entwicklung absterben. Das Gen ced-3 Apoptose (bcl-x, A1, mcl-1, bcl-w), während andere Gene aktivie-
codiert eine Cystein-Protease, die Proteine nach einer rend wirken (bax, bad, bak u. a.). So beruht die Apoptose-akti-
Asparaginsäure schneiden; solche Proteasen werden daher vierende Funktion von BAX oder BAK darauf, dass die mito-
auch als Caspasen bezeichnet. Sie spielen eine Schlüssel- chondrialen Membranen durchlässig werden und so Cyto-
rolle in apoptotischen Prozessen. Das Protein, das vom chrom c freisetzen können, im Englischen wird das als mitochon-
ced-4-Gen codiert wird, bindet mit seiner N-terminalen Region drial outer membrane permeabilization bezeichnet (MOMP)
an die ced-3-Caspase und aktiviert diese. Es handelt sich also oder (wenn die innere Membran betroffen ist) als mitochondrial
um einen Caspase-Aktivator. So wie es unterschiedliche permeability transition (MPT). Eine Übersicht über die Apop-
Caspasen gibt, existieren auch eine Reihe von Caspase-Akti- tose-Wege gibt die linke Seite der . Abb. 5.23.
186 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

. Abb. 5.23 Apoptose und regulierte Nekrose.


Auf der linken Seite ist der Apoptose-Weg dar-
gestellt (A): Nach Bindung von TNFα an den
entsprechenden Rezeptor laufen Signalwege
ab, die beide zur Bildung eines Apoptosoms
(B; Mitte) und damit irreversibel zum Tod der
Zelle führen. Auf der rechten Seite (C) ist die
regulierte Nekrose beschrieben; dieser Signal-
weg wird beschritten, wenn die Aktivierung der
Caspase-8 verhindert ist. Für Details siehe Text.
(Nach Galluzzi et al. 2012, mit freundlicher
Genehmigung der amerikanischen Herz-Gesell-
schaft)
5

Apoptose spielt nicht nur in jeder normalen Entwicklung strangbruch), der bei Fortschreiten des Zellzyklus zur Mani-
eines multizellulären Organismus eine Rolle, sondern hat auch festation als Mutation in der DNA führen würde, so wird inner-
große Bedeutung im Zusammenhang mit der Tumorentstehung. halb von ca. 30 min p53 posttranslational stabilisiert. Da p53 ein
Im Rahmen der normalen Zellzykluskontrolle werden Zellen, die Transkriptionsfaktor ist, induziert seine Akkumulation die ent-
Defekte aufweisen, wie etwa unvollständige Replikation oder sprechenden Zielgene, z. B. p21, das wiederum den Cyclin D/
DNA-Schäden, gezielt vernichtet. Bei einer mangelhaften Kon- CDK4/6- bzw. Cyclin E/CDK2-Komplex hemmt und somit die
trolle des Zellzyklus können solche beschädigten Zellen jedoch Dissoziation von Rb und E2F verhindert (. Abb. 5.20). Die p53-
überleben und unter Umständen in einen Zustand ungehemmter abhängige Arretierung in G2 hemmt die Cyclin B/CDC2-Aktivi-
Proliferation übergehen und somit eine Tumorbildung verur- tät (ebenfalls über p21), die Cyclin-B- und CDC2-Transkription
sachen. wird durch p53 selbst gehemmt. Bei diesem komplexen Vorgang
Eine wichtige Rolle in der Regulation der Apoptose spielen sind noch weitere Proteinkinasen und ihre Substrate daran betei-
auch Proteine, die von Tumorsuppressorgenen (7 Abschn. 13.4.1) ligt, Apoptose auszulösen.
codiert werden; eines davon ist das p53-Protein. p53 greift in den
Zellzyklus an zwei Kontrollpunkten ein: an dem G1-Restriktions- > Apoptose ist ein genetisch programmierter Prozess, der
punkt und dem G2/M-Kontrollpunkt. Normalerweise liegt p53 zum Tod einer Zelle führt. Er spielt nicht nur in der norma-
in der Zelle in einem labilen Zustand vor; wird aber während des len Entwicklung vielzelliger Organismen eine fundamen-
Zellzyklus ein Fehler in der DNA entdeckt (z. B. ein Doppel- tale Rolle, sondern ist auch für Kontrollprozesse, wie sie in
5.2 · Der Zellzyklus
187 5

. Abb. 5.24 Apoptose, Nekrose und Autophagie. Ein zentraler Regulator ist p53; dieses Protein kann sowohl Apoptose als auch Autophagie initiieren.
Nekrostatin (Nec-1) hemmt dagegen Apoptose und führt zu programmierter Nekrose. Wichtige Inhibitoren der Apoptose sind einige Proteine der Bcl-2-Familie.
Proteine mit der Bcl-2-homologen Domäne 3 (BH3) haben pro- oder anti-apoptotische Eigenschaften. (Nach Ouyang et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung
von Blackwell Publishing Ltd.)

jeder Zelle regelmäßig ablaufen, ein wichtiges Element stärkt als Schutzmechanismus zum Einsatz, wenn die Zelle ver-
zur Verhinderung der unkontrollierten Proliferation von schiedenen Stressfaktoren ausgesetzt ist. Andererseits spielt sie
Zellen. eine wichtige Rolle bei Entwicklungs- und Differenzierungsvo-
gängen – und entsprechend auch bei vielfältigen pathophysiolo-
Das Phänomen der regulierten Nekrose (in Analogie zur Apop- gischen Prozessen des Alterns, vor allem bei neurodegenerativen
tose auch als Nekroptose bezeichnet) kennen wir erst seit 2005, Erkrankungen und Krebs. Wie bei Apoptose und Nekroptose
als gezeigt wurde, dass chemische Moleküle (Nekrostatine) spe- stehen auch bei der Autophagie die Mitochondrien im Zentrum.
zifisch die RIP-Kinase 1 (RIPK1, engl. receptor-interacting protein Eine Übersicht über mögliche Zusammenhänge zwischen den
kinase 1) hemmen und dadurch einen Caspase-unabhängigen drei Prozessen gibt . Abb. 5.24.
Zelltod herbeiführen können. Unter diesen Umständen bildet
RIPK1 mit RIPK3 und anderen Kinasen (engl. mixed lineage
kinase domain like, MLKL) einen Komplex, der als Nekrosom
*Ein wichtiger Aspekt im apoptotischen Prozess ist die
Kondensation des Chromatins. Dieser Vorgang ist streng
bezeichnet wird. Dadurch wird ein anderer Weg des Zelltods gekoppelt mit der Phosphorylierung des Histons H2B, und
eingeschlagen, wobei reaktive Sauerstoffmoleküle (engl. reactive zwar genauer an den Serin-Resten 14 (in menschlichen
oxygen species, ROS) wesentliche Komponenten darstellen. Einen Zellen) bzw. Serin-10 (in Hefezellen). Neuere Arbeiten konn-
Überblick über unser derzeitiges Wissen der regulierten Nekrose ten nun zeigen, dass der Phosphorylierung eine Deacetylie-
vermittelt die rechte Seite in . Abb. 5.23. rung am Lysin-Rest 11 vorangeht, wenn wachsende Zellen
milde mit dem Stressor und Apoptose-Auslöser H2O2 behan-
*Seit wir wissen, dass auch Nekroptose ein regulierter und
genetisch determinierter Prozess ist, ist er auch für thera-
delt werden. Wenn die Zellen eine H2B-Mutante tragen, in
der der Lysin-Rest 9 gegen einen Glutamin-Rest ausgetauscht
peutische Interventionen interessant geworden. Das gilt ins- ist (der die acetylierte Form vorspiegelt), kann H2O2 keine
besondere für Herzinfarkte – hier gibt es deutliche Hinweise, Apoptose auslösen. Diese Arbeit von Ahn et al. (2006) deutet
dass durch eine chemische oder genetische Hemmung von darauf hin, dass an der Auslösung von Apoptose auch
RIPK1 und anderen Komponenten dieses Signalweges posi- epigenetische Vorgänge beteiligt sein können (vgl. auch
tive therapeutische Wirkungen entfaltet werden könnten. 7 Abschn. 8.4).
Verbunden mit neuen Befunden, dass es auch im Herzen
Stammzellen gibt, eröffnen sich neue interessante therapeu-
tische Möglichkeiten.
*Um komplexe Phänomene beschreiben zu können, müssen
wir oftmals einfache Modelle entwickeln und prägen dafür
neue Begriffe. Leider ist dieser Prozess auch oft missver-
Autophagie ist der dritte Prozess, der in diesem Zusammenhang ständlich, da diese neuen Begriffe häufig schon nach kurzer
erwähnt werden muss. Es handelt sich dabei um einen kataboli- Zeit abermals durch neue Begriffe überschrieben werden.
schen Signalweg, der schließlich zum lysosomalen Abbau cyto- Dies wird deutlich, wenn wir uns die Definition des Begriffs
plasmatischer Strukturen führt (einschließlich von Organellen, »Nekroptose« betrachten. 2005 wurde Nekroptose als regu-
Teilen des Cytoplasmas und eindringenden Pathogenen). Eine lierte Nekrose definiert, die durch TNF induziert wird, wenn
gewisse Grundaktivität von Autophagie stellt sicher, dass alte Caspase inhibiert ist. Im Jahr 2008 wurde dieser Begriff
oder beschädigte intrazelluläre Komponenten ausgetauscht wer- neu definiert; man verstand jetzt darunter die Abhängigkeit
den können. Ein wichtiges Protein zur Aktivierung der Autopha- der regulierten Nekrose von der RIPK1-Kinase-Aktivität.
gie ist Beclin-1; es entspricht dem Autophagie-Protein Atg-6 in Unmittelbar darauf wurde aber berichtet, dass die Kinase-
Hefe bzw. BEC1 in C. elegans. Zusätzlich kommt Autophagie ver- Aktivität von RIPK1 aber auch unter bestimmten Umständen
188 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

zur Apoptose beiträgt. Wiederum nur ein Jahr später wurde C. elegans Mensch
vorgeschlagen, dass RIPK1 und RIPK3 gemeinsam (als Teil
Insulin-ähnliche
des Nekrosoms) die Nekroptose regulieren. Später zeigte Liganden IGF1
sich, dass RIPK3 auch unabhängig von RIPK1 diesen Prozess INS-N?
initiieren kann. Und 2012 wurde schließlich berichtet, dass
MLKL (engl. mixed lineage kinase domain-like) als der ent- DAF-2 IGF1R
scheidende Vermittler unterhalb von RIPK3 wirkt. Es wird
also noch eine gewisse Zeit brauchen, bis wir diese Prozesse
Cytoplasma
in ihren Verästelungen und auch in ihren Gemeinsamkeiten
verstanden haben; insofern ist die Darstellung in diesem
AGE1
Pl3K
5 Buch auch nur eine Momentaufnahme. Für weitere Details PTEN
sei der interessierte Leser auf die Übersichtsarbeit von
PTEN
Vanden Berghe et al. verwiesen (2014).
IP3

5.2.3 Genetik des Alterns


PDK1 PDK1

C 1988 berichteten David Friedman und Thomas Johnson


von einer Mutante in C. elegans, die eine deutliche Verlän- AKT-1, AKT-2, SGK-1
gerung der Lebenserwartung zeigte: In Abhängigkeit AKT
TOR-Signalweg TOR-Signalweg
von der gewählten Umgebungstemperatur waren es zwi-
schen 40 und 60 % Zunahme im Durchschnitt und zwi- JNK- und RAS- JNK- und RAS-
schen  60 und 110 % im Maximum: Lebt ein »normaler« Signalweg Signalweg
Wurm höchstens 22 Tage, so bringt es »age-1« auf Spitzen- DAF-16 FOXO?
werte um 46 Tage. Die Autoren haben durch detaillierte
genetische Analysen nachgewiesen, dass die Ursache für
die Langlebigkeit eine einzige rezessive Mutation ist;
1996 wurde die kausale Mutation in dem Gen entdeckt, Zellkern DAF-16
das für die katalytische Untereinheit der Phosphatidylinosi- FOXO?
tol-3-Kinase (PI3K) codiert (Morris et al. 1996). Weitere
Untersuchungen machten deutlich, dass PI3K Teil eines
Signalweges ist, der auch bei Säugern bekannt ist und von Transkriptions-
kontrolle
dem Insulin-ähnlichen Wachstumsfaktor 1 (engl. insulin-like
growth factor 1, IGF1) ausgeht. Diese Signalwege beeinflus-
sen schließlich den Transkriptionsfaktor DAF-16, der die
Expression von vielen Genen beeinflusst, die Stressresis- viele Zielgene
tenz, angeborene Immunität und den Fremdstoffmetabo-
lismus betreffen. Eine Zusammenfassung dieser Signalkette . Abb. 5.25 Einige molekulare Signalwege, die an der Verlängerung der
Lebensspanne beteiligt sind. Der IGF1-Signalweg beinhaltet eine Kaskade
zeigt . Abb. 5.25. Die homologen Gene des Menschen
von Phosphorylierungsschritten, die schließlich den Transkriptionsfaktor
sind FOXO1, FOXO3A, FOXO4 und FOXO6. DAF-16 regulieren. INS-N ist ein Insulin-ähnliches Peptid und DAF-2 sein
Zelloberflächenrezeptor mit einer Tyrosinkinase-Aktivität; beim Menschen
Bei C. elegans wurden etwa 100 Gene identifiziert, bei denen Mu- hat der Insulin-ähnliche Wachstumsfaktor (IGF1) mit seinem Rezeptor (IG-
tationen zur Verlängerung der Lebenszeit führen. Es gibt also F1R) eine ähnliche Funktion beim Start der Signalkaskade. AGE-1 entspricht
der humanen Phosphatidylinositol-3-Kinase (PI3K). IP3 ist Phosphatidylinosi-
offensichtlich viele »Altersgene« – und die Genetik des Alterns
tol-3,4,5-triphosphat, das durch AGE-1 produziert wird und seinerseits PDK-1
steht erst am Anfang einer interessanten Entwicklung. Lang- aktiviert. PTEN ist eine Phosphatase mit IP3 als Substrat; es unterdrückt
lebigkeitsgene wurden aber auch in anderen Organismen gefun- AGE-1. PDK-1 ist eine IP3-abhängige Kinase, die die Serin/Threonin-Kinasen
den. Zwei wichtige Beispiele sind sir-2 und Tor, die ursprünglich AKT-1, AKT-2 und SGK-1 aktiviert. DAF-16 ist ein Transkriptionsfaktor mit
in Hefe identifiziert wurden. Das Gen sir-2 codiert für eine NAD- einer Forkhead-Domäne (ein humanes Homolog ist FOXO3A). Die TOR-, JNK-
und RAS-Signalwege münden ebenfalls auf dem Niveau der DAF-16-Regula-
abhängige Proteindeacetylase, die möglicherweise für die Le-
tion in diese Signalkette ein. TOR ist eine Kinase, die auf die intrazellulären
benszeit-verlängernde Wirkung der Nahrungseinschränkung Spiegel von Aminosäuren antwortet (besonders Leucin). (Nach Christensen
verantwortlich ist; Tor (engl. Target of rapamycin) codiert für eine et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
Kinase, die an der Erkennung von zugänglichen Aminosäuren
beteiligt ist. Identifiziert wurde Tor in der Hefe durch die Wachs-
tum-hemmende Wirkung von Rapamycin, das in der Medizin
zur Immunsuppression eingesetzt wird. In Säugern kooperiert
Tor mit PI3K-abhängigen Effektoren, um die Größe proliferie-
render Zellen zu regulieren.
5.2 · Der Zellzyklus
189 5

*Die Tor-Kinasen modulieren Signale für Zellwachstum, indem


sie auf den Status von Nährstoffen, Energie, Wachstumsfakto-
verminderte Produktion reaktiver Sauerstoffspezies schlie-
ßen. Allerdings ist die Gesamtmenge an ATP in der Zelle
ren und zellulären Stress antworten. Wenn Tor durch die Zu- nicht signifikant verändert, was durch eine entsprechend
gänglichkeit von Nährstoffen (insbesondere durch Amino- höhere Zahl an Mitochondrien in der Zelle der Mutanten her-
säuren) aktiviert wird, koordiniert es die Synthese und den vorgerufen sein könnte (Neretti et al. 2009). Allerdings be-
Abbau von Proteinen und fördert das Wachstum, wenn Nähr- hauptet eine andere Arbeitsgruppe (Toivonen et al. 2009),
stoffe reichhaltig vorhanden sind. Tor-Gene sind stark kon- dass die beobachtete Verlängerung der Lebensdauer der
serviert und wurden außer in Hefen auch in C. elegans, Droso- Drosophila-Mutanten nicht mit der Mutation im Indy-Gen
phila, der Maus und dem Menschen nachgewiesen. Es gibt co-segregiert. Vielmehr hängt die Verlängerung der Lebens-
inzwischen verschiedene Studien an Mausmodellen, die dar- dauer weitgehend von der Anwesenheit eines Tetracyclin-
auf hinweisen, dass die spezifische Hemmung eines der TOR- abhängigen Agens ab und wird weiter modifiziert durch
Komplexe, TORC1, durch Rapamycin zu einem Schutz vor ei- ein (oder mehrere) X-chromosomale Gene. Die Autoren
nigen altersabhängigen Erkrankungen führt (z. B. Krebs, die schließen ihren Kommentar mit den Worten: »It seems that
Huntington’sche Erkrankung, die Alzheimer’sche Erkrankung Neretti et al. have attempted to brush these inconvenient facts
und Herz-Kreislauf-Erkrankungen; für eine aktuelle Übersicht under the rug, and we feel that we should draw attention to
siehe Santos et al. 2011). Es gibt Autoren (Blagosklonny this.«
2012), die eine intermittierende Gabe von Rapamycin vor- Doch das war nicht das Ende der Kontroverse. In einer weite-
schlagen – quasi als »Anti-Aging-Pille«. ren Veröffentlichung zeigten Wang und Mitarbeiter (2009),
dass die beobachtete Unabhängigkeit der Verlängerung der
Andere Gene, wie z. B. methuselah (mth) oder I’m not dead yet Lebensdauer und der Indy-Mutation möglicherweise ein
(Indy) (ursprünglich in Fliegen identifiziert) oder klotho (Kl; das Fütterungseffekt ist. So kann die Verlängerung der Lebens-
erste Langlebigkeitsgen, das in der Maus identifiziert wurde), dauer offensichtlich nur beobachtet werden, wenn die INDY-
sind Gegenstand intensiver Untersuchungen. Dabei haben Aktivität um 25–75 % vermindert ist und wenn das Futter
Mutationen in den entsprechenden Genen unterschiedliche kalorienreich ist – unter Bedingungen eines kalorienreduzier-
Wirkungen auf die Lebensdauer. Homozygote methuselah(mth)- ten Futters wirkt sich die Mutation nicht weiter lebensver-
Mutanten in Drosophila überleben – wie der Name nahelegt – längernd aus (da die Kalorienreduktion per se schon zu einer
ihre Wildtyp-Artgenossen um durchschnittlich 35 % und zeigen Lebensverlängerung führt).
eine signifikante Widerstandsfähigkeit gegen oxidativen und Allerdings zeigt eine aktuelle Zusammenstellung der
Hitzestress sowie gegen Hunger; umgekehrt zeigen die Mutan- verschiedenen Daten von Würmern, Fliegen und Mäusen
ten eine Verminderung ihrer Reproduktionsfähigkeit. Das Gen (Frankel und Rogina 2012), dass jede Verminderung der
codiert für einen G-Protein-gekoppelten Rezeptor mit sieben Indy-Aktivität zu einem Zustand führt, der mit einer Kalo-
hydrophoben (Transmembran-)Domänen; eine Domäne auf der rienreduktion vergleichbar ist. Die Autoren diskutieren Indy
Außenseite wirkt als Ligandenbindungsstelle. Auch Mutationen als einen hervorragenden Angriffspunkt für therapeutische
im Gen, das für den Liganden des Mth-Proteins codiert (stunted; Maßnahmen, um vor Adipositas oder Insulinresistenz zu
Gensymbol: sun), bewirken ebenso eine Lebensverlängerung wie schützen bzw. um das metabolische Syndrom, Typ-2-Diabe-
die konstitutive Expression Mth-antagonistischer Peptide. Es tes und Übergewicht zu behandeln.
gibt eine Reihe von mth-Allelen, die sich in ihrer Lebensdauer
unterscheiden; populationsgenetische Untersuchungen machen Im Gegensatz zu den lebensverlängernden Mutationen bei Dro-
deutlich, dass damit eine Evolution der Lebensdauer möglich ist sophila führt die klotho-Mutation der Maus zu einem deutlich
(Paaby und Schmidt 2008). Überraschenderweise gibt es in beschleunigten Alterungsprozess (. Abb. 5.26). Dieser beschleu-
der menschlichen Genom-Datenbank keine Sequenz, die der nigte Alterungsprozess beinhaltet neben einer signifikanten Ver-
mth-Sequenz von Drosophila entspricht. kürzung der Lebensdauer (die Tiere sterben durchschnittlich im
Alter von ungefähr 60 Tagen) vor allem Unfruchtbarkeit, Arte-
*Kürzlich würde eine interessante Kontroverse über die
Funktion der Langlebigkeitsmutante Indy ausgetragen. Ur-
riosklerose, Atrophie der Haut, Osteoporose und Emphyseme.
Das klotho-Gen codiert für ein Membranprotein, das Sequenz-
sprüngliche Arbeiten zeigten, dass eine Verminderung der homologien zur β-Glucosidase aufweist. Denselben Phänotyp
Aktivität des INDY-Proteins mit einer Verlängerung der Le- wie die klotho-Mutanten weisen auch Fgf23-Mutanten der Maus
bensdauer verbunden ist, ohne dass dadurch andere wichti- auf (engl. fibroblast growth factor); diese neueren Arbeiten deu-
ge physiologische Systeme beeinträchtigt werden (so sind ten darauf hin, dass das Klotho-Protein als ein Cofaktor von
weder die Fruchtbarkeit noch die metabolische Rate oder die Fgf23 für dessen Bindung an den Fgf-Rezeptor verantwortlich ist
Beweglichkeit der Mutanten beeinträchtigt). INDY ist ein (Kurosu und Kuro-o 2009).
Transmembran-Transporter von Zwischenprodukten des Bei Menschen gibt es ähnliche Erkrankungen, die zu vorzei-
Krebs-Zyklus (Citrat, Succinat, Fumarat, α-Ketoglutarat). Eine tigem Altern (Progerie) führen. Dazu gehören unter anderem
Analyse der Indy-Mutanten zeigt, dass durch die verminderte das Werner-Syndrom und das Bloom-Syndrom; beide werden
Transporteraktivität offensichtlich die Enzymaktivität der durch Mutationen in Genen verursacht, die für verschiedene
Komplexe I und III der Elektronentransportkette der DNA-Helikasen codieren. Andere Formen vorzeitigen Alterns
Mitochondrien vermindert wird; man kann daraus auf eine (z. B. Cockayne-Syndrom oder Xeroderma pigmentosum) wer-
190 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

5.3 Wichtige eukaryotische Modellorganismen


a
in der Genetik

Wie wir in den vorangegangenen Kapiteln bereits gesehen haben,


wurden wesentliche genetische Erkenntnisse an verschiedenen
Modellorganismen gewonnen. Diese sind dadurch gekennzeich-
net, dass sie für die standardisierte Laborarbeit angepasst wurden
und viele Mutanten der jeweiligen Organismen bekannt sind.
Diese dienen als genetische Marker und können heute zusam-
men mit Daten der Genomsequenzierung zur Beantwortung
5 vieler Fragen genutzt werden. Je nach Fragestellung und mögli-
chen Ressourcen, die zur Verfügung stehen, werden verschiede-
ne eukaryotische Modellsysteme verwendet: Hefen, Pflanzen,
Würmer, Fliegen, Fische, Nager und auch höhere Tiere. Im
Rahmen dieser kurzen einführenden Darstellungen sollen exem-
plarische Vertreter dieser Modellsysteme vorgestellt werden,
ohne dass diese Zusammenstellung den Anspruch der Vollstän-
b digkeit hat.

5.3.1 Hefen

Der Begriff »Hefe« wird umgangssprachlich meistens für die


Bäcker- oder Brauhefe Saccharomyces cerevisiae genutzt
(. Abb. 5.27); als Modellsystem in der Genetik wird aber darüber
hinaus häufig auch die Spalthefe Schizosaccharomyces pombe
verwendet. Die Bäckerhefe ist ein einzelliger Pilz und einer der
. Abb. 5.26 Mutation im klotho-Gen der Maus führt zu vorzeitigem Alter. ältesten domestizierten Mikroorganismen; schon die Sumerer
a Es sind Wildtyp-Mäuse (+/+) und ihre homozygoten klotho-Wurfgeschwis- und Babylonier verwendeten die Hefe zum Bierbrauen und die
ter (kl/kl) im Alter von 8 Wochen gezeigt; links auf dem ursprünglichen Ägypter zur Herstellung von Wein und Sauerteig. In die Genetik
agouti-Hintergrund und rechts auf einem albino-Hintergrund. b Die Vergrö- wurde die Hefe 1949 durch Carl und Gertrude Lindegren einge-
ßerung der homozygoten klotho-Mäuse zeigt deutlich die Verkrümmung
führt, als sie das Kreuzungssystem von Hefen beschrieben und
der Wirbelsäule (Kyphose). Keine klotho-Mutante wird älter als 100 Tage (die
durchschnittliche Lebensdauer der Mutanten beträgt ca. 60 Tage; eine Wild- die erste genetische Karte für die Bäckerhefe erstellten. Danach
typ-Maus wird etwa 2 Jahre alt. (Nach Kuro-o et al. 1997, mit freundlicher wurde die Hefe immer stärker als Modellsystem genutzt; die
Genehmigung der Nature Publishing Group) erste Transformation (Einbringen von Fremd-DNA) gelang 1978
Gerald Fink und Mitarbeitern (Hinnen et al. 1978). Als 1985 die
Chromosomen der Hefe mithilfe der Pulsfeldelektrophorese auf-
den durch Mutationen in Genen verursacht, die die DNA-Repa- getrennt wurden (Carle und Olson 1985), schuf das die Möglich-
ratur betreffen (7 Abschn. 10.6). keit, die einzelnen Chromosomen zu isolieren und zu klonieren;
Unabhängig von einzelnen Genen spielt offensichtlich aber 1996 wurde die Hefe als erstes eukaryotisches Gesamtgenom
auch die Integrität der Chromosomen eine wichtige Rolle, insbe- publiziert (Goffeau et al. 1996). Die 16 Chromosomen enthalten
sondere der Schutz vor einem Abbau an den Enden der Chromo- eine Gesamtsequenz von 13,5 Mb (Mb: Megabasenpaare = 1 Mil-
somen (Telomere). Ein wichtiges Enzym in diesem Zusammen- lion Basenpaare), die für ca. 5700 Gene codieren. Nur etwa 5 %
hang ist die Telomerase, die für eine Verlängerung der Enden der Gene enthalten Introns; die Gendichte ist mit ca. 70 % ins-
verantwortlich ist. Während die Telomerase-Aktivität in Keim- gesamt relativ hoch und damit sind repetitive, intergenische
zellen üblicherweise relativ hoch ist, ist sie in somatischen Zellen Sequenzen selten. Dazu gehören auch einige Transposons,
meistens deutlich geringer – mit dem Ergebnis, dass in Körper- (7 Abschn. 9.1), die in fünf Klassen unterteilt werden (Ty-
zellen die Telomerlänge mit zunehmendem Alter abnimmt, was Elemente 1–5; engl. transposon yeast). Verteilt auf die 16 Chro-
zu einem entsprechenden Zellverlust führt (zur Übersicht siehe mosomen findet man auch ca. 750 DNA-Sequenzen, die als
Aubert und Lansdorp 2008). Wir werden diesen Aspekt ausführ- Replikationsursprung der DNA-Verdoppelung dienen (engl.
licher im 7 Abschn. 6.1.4 diskutieren. autonomously replicating sequence, ARS).

> Langlebigkeit ist offensichtlich auch – zumindest teilweise


– genetisch programmiert. Bei verschiedenen Modellorga-
*Neben der chromosomalen DNA findet man im Zellkern der
meisten Laborstämme von S. cerevisiae etwa 50 bis 190 Ko-
nismen wurden Mutanten identifiziert, die zur Lebensver- pien eines zirkulären Plasmids, das wegen seiner Größe als
längerung beitragen. Die detaillierten Untersuchungen »2-μm-Plasmid« bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um
stehen erst am Anfang. ein 6318 bp langes, doppelsträngiges DNA-Molekül, das au-
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
191 5
mehren können. Diploide Zellen, die sich unter guten Nährstoff-
bedingungen durch Teilung vermehren, beginnen bei Nährstoff-
mangel die Meiose und formen vier haploide Ascosporen, die
zunächst in der Mutterzelle verbleiben und dadurch einen Ascus
formen. Die Ascosporen gründen nach ihrer Freisetzung durch
Zellteilungen Kolonien von Einzelzellen, die im Prinzip unbe-
grenzt im haploiden Zustand verbleiben können. Sie gehören
jeweils einem von zwei gegensätzlichen Geschlechtstypen oder
Paarungstypen (engl. mating types), a und α, an. Zellen solcher
gegensätzlicher Paarungstypen können miteinander fusionieren
und ihre Kerne verschmelzen lassen, sodass wieder ein diploider
Zustand erreicht ist (vgl. dazu im Detail 7 Abschn. 9.3.4).
Die Bäckerhefe stellt auch ein bevorzugtes Objekt der For-
malgenetik dar (7 Kap. 11), da sie sowohl in der haploiden als
auch in der diploiden Phase im Labor kultiviert werden kann.
Außerdem werden die vier Produkte der Meiose (Tetrade; Meiose
siehe 7 Abschn. 6.3.2) im Ascus zusammengehalten und können
leicht analysiert werden (»Tetradenanalyse«, 7 Abschn. 11.4.3).
. Abb. 5.27 Die Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae wird in der Genetik Der Ascus von S. cerevisiae ist eine ungeordnete Tetrade; die Pro-
häufig als Modellorganismus eingesetzt. (Elektronenmikroskopische Auf- dukte der Meiose bleiben zwar zusammen, die Reihenfolge ihrer
nahme: Dr. Friederike Eckardt-Schupp, Helmholtz Zentrum München)
Entstehung kann aber nicht nachvollzogen werden (vgl. dagegen
die geordnete Tetrade bei Neurospora crassa). Wie bei vielen an-
deren Mikroorganismen ist eine kostengünstige Anzucht in der
tonom repliziert wird und vier Gene enthält, die im Wesent- Lage, eine große Zahl von Zellen für die Untersuchungen be-
lichen an der Aufteilung des replizierten Plasmids und an reitzustellen, wodurch die statistische Aussagekraft erhöht und
der Regulation der Kopienzahl beteiligt sind. Von besonde- auch seltene Ereignisse festgestellt werden können. Die Tetraden-
rem Interesse ist das FLP-Gen, das für eine sequenzspezifi- analyse wurde traditionell zur Genkartierung genutzt. Obwohl
sche Rekombinase codiert. Sie induziert eine Rekombination solche Analysen nach Aufklärung der Genomsequenz nicht mehr
an den FRT-Sequenzen (engl. FLP-recognition target sites), benötigt werden, wird die Tetradenanalyse z. B. für den Nachweis
die in invers-repetitiven Sequenzen liegen. Heute wird dieses eingesetzt, ob eine Mutation einen oder mehrere Genorte betrifft
System in der Molekulargenetik zum Austausch von Gen- oder aber zu einem letalen Phänotyp führt.
kassetten bei der Herstellung transgener Tiere verwendet S. cerevisiae wird häufig dazu genutzt, Gene mithilfe von Mu-
(7 Technikbox 27). tagenese zu identifizieren und zu charakterisieren (7 Kap. 10).
Ein Vorteil der Bäckerhefe gegenüber anderen Eukaroyten be-
S. cerevisiae wird wegen ihrer leichten Handhabung in vielen Fäl- steht darin, dass heterothallische Stämme im Labor sowohl in der
len ähnlich dem Bakterium E. coli als Modellorganismus verwen- haploiden als auch in der diploiden Phase stabil kultiviert werden
det. So werden künstliche Hefechromosomen (engl. yeast artifi- können. Um eine Mutation mit erkennbarem Phänotyp zu ent-
cial chromosomes, YACs) als Klonierungsvektoren für große decken, wird eine haploide Kultur physikalisch (z. B. durch UV-
Genomfragmente eingesetzt. Die Hybrid-Systeme von S. cerevi- Strahlung) oder chemisch (z. B. durch Ethylmethansulfonat,
siae bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Protein-Protein-, EMS) mutagenisiert. Durch geeignete Screening-Verfahren bzw.
DNA-Protein- und RNA-Protein-Wechselwirkungen zu analy- Untersuchungen in definierten Mangelmedien können entspre-
sieren (7 Technikbox 12). Aufgrund vieler in der Evolution kon- chende Mutanten zunächst isoliert und dann funktionell charak-
servierter Grundmechanismen können diese bei der Hefe mo- terisiert werden.
dellhaft für viele Eukaryoten relativ einfach untersucht werden; Abschließend soll noch ein Hinweis zur genetischen Nomen-
dazu gehören die Regulation der Genexpression, des Zellzyklus, klatur bei der Hefe gegeben werden. Jedes Gen wird bei der
der Zellteilung, des Paarungstyps, der Aminosäurebiosynthese Hefe in der Regel durch drei Buchstaben und eine Zahl symbo-
sowie allgemeine Mechanismen der Signaltransduktion. lisiert, wobei dominante Allele in Großbuchstaben (z. B. HIS3)
S. cerevisiae kommt in der freien Natur überwiegend in der und rezessive Allele dieses Gens in Kleinbuchstaben geschrieben
diploiden Wachstumsphase vor. Industriell genutzte Stämme werden (z. B. his3); das jeweilige Wildtyp-Allel wird mit einem
sind dagegen häufig polyploid; im Labor werden sowohl diploide zusätzlichen hochgestellten »+« dargestellt (z. B. HIS3+). Ein
als auch haploide Zellen verwendet. Hefestämme werden in der hochgestelltes »R« oder »S« kennzeichnet dagegen Resistenz
Regel bei 30 °C auf festen Nährböden oder in Flüssigkultur ange- oder Sensitivität gegenüber toxischen Substanzen. Deletionen in
zogen, die entweder ein Vollmedium oder ein Minimalmedium einem Gen werden durch die Verwendung des griechischen
enthalten können. In . Abb. 5.28 ist der Lebenszyklus der Buchstabens »Delta« (Δ) gekennzeichnet, und Insertionen durch
Bäckerhefe dargestellt. Wir sehen, dass die Hefezellen sowohl in einen doppelten Doppelpunkt (»::«, z. B. HIS3::LEU2 oder
haploidem als auch in diploidem Zustand über längere Perioden his3::LEU2). In dem gewählten Beispiel wurde ein funktionsfähi-
existenzfähig sind und sich durch Knospung (engl. budding) ver- ges LEU2-Gen in den HIS3-Genort inseriert; im Fall der Groß-
192 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

. Abb. 5.28 Lebenszyklus der Bäckerhefe Saccharomyces cerevisiae. Die Haplophase ist rot, die Diplophase blau dargestellt. Nach der Meiose, die in einem
Ascus vier haploide Ascosporen hervorbringt, vermehren sich diese vegetativ durch Teilung, oder zwei Zellen entgegengesetzten Paarungstyps (a oder α)
verschmelzen zu einer Zygote. Auch diese diploide Zelle kann sich vegetativ vermehren. Unter bestimmten Umweltbedingungen kann aber auch eine mei-
otische Teilung eingeleitet werden. Es erfolgt somit ein regelmäßiger Wechsel zwischen Haploidie und Diploidie. Die Ascosporen unterschiedlicher Paa-
rungstypen (a und α) können sich spontan auseinander bilden

schreibung bleibt HIS3 funktionsfähig, im Fall der Kleinschrei- nach einem Waldbrand (. Abb. 5.29), auf Zuckerrohr oder auf
bung nicht. Brotresten. Entsprechend leicht kann Neurospora auch im Labor
gehalten werden: Er braucht nur Salze, Zucker und Biotin. Die
> Die Bäckerhefe ist ein einzelliger Mikroorganismus, der unreifen Ascosporen zeigen ein nervenartiges Streifenmuster,
aufgrund seiner leichten Handhabbarkeit und seiner kur- was letztlich Ende der 1920er-Jahre zu der Bezeichnung »Neuro-
zen Generationszeit eine gewisse »Vorreiterrolle« bei der spora« durch Bernard Ogilvie Dodge führte.
Analyse eukaryotischer Genomstrukturen und -funktio- Dodge erkannte auch als Erster die Bedeutung der sexuellen
nen hatte. Entwicklung bei Neurospora und die Entstehung von zwei Paa-
rungstypen, die hier als A und a bezeichnet werden. Er beschrieb
auch zuerst den Lebenszyklus von Neurospora (. Abb. 5.30 in
5.3.2 Der Schimmelpilz Neurospora crassa einer aktuellen Darstellung). In den Folgejahren entwickelte
sich Neurospora zu einem klassischen Beispiel der Mendel’schen
Neurospora crassa gehört zur Gruppe der Schlauchpilze und war Genetik, da die vier Produkte der Meiose, die Tetrade, in
besonders in der früheren Zeit der Genetik einer der wichtigsten Form von geordneten Ascosporen analysiert werden konnten
Modellorganismen. Er ist durch seine pudrig wirkenden orange- (7 Abschn. 11.4.3). Dadurch war es auch möglich, Phänomene des
farbenen Konidiosporen besonders auffällig und wächst auf koh- Crossing-over bei Rekombinationsereignissen (7 Abschn. 6.3.3)
lenhydratreicher Nahrung, z. B. auf verkohlten Baumstämmen zu erklären. Im Folgenden führten George Beadle und Edward
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
193 5

. Abb. 5.29 Neurospora wächst an einem verbrannten Baumstumpf


nach einem Waldbrand. (Nach Raju 2009, mit freundlicher Genehmigung
der Indischen Akademie der Wissenschaften)

Tatum (1941) Mutationsexperimente durch, die zur Formulie-


rung der »Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese« führten: Danach
stehen Enzym-katalysierte Biosyntheseschritte unter genetischer
Kontrolle – und zwar codiert ein Gen für ein Enzym. Auch wenn
wir heute die Definition eines Gens etwas komplexer sehen
(7 Abschn. 1.1.3), so war dies Mitte der 1940er-Jahre eine bahn-
brechende Erkenntnis, und die beiden Forscher erhielten dafür . Abb. 5.30 Lebenszyklus von Neurospora crassa. Neurospora kann sich
sowohl sexuell als auch asexuell vermehren. Das vegetative Mycel ist in der
1958 den Nobelpreis für Medizin. Schon 1954 waren alle sieben
Lage, zwei verschiedene Formen von asexuellen Sporen zu bilden, nämlich
Chromosomen kartiert, aber es sollte dann doch noch fast die meist mehrkernigen, orangefarbenen Makrokonidien und die kleineren,
50 Jahre dauern, bis 2003 die vollständige Sequenz der genomi- oft einkernigen Mikrokonidien. Im Verlauf der sexuellen Entwicklung bilden
schen DNA veröffentlicht werden konnte. Sie hat eine Größe von sich am vegetativen Mycel Ascogone (weibliche Gametangien). Vom Asco-
etwa 40 Mb und codiert für etwa 10.000 Gene. gon geht eine Trichogyne (Empfängnishyphe) aus, die mit einem Konidium
oder auch dem vegetativen Mycel eines Neurospora-Stamms vom entgegen-
gesetzten Paarungstyp verschmelzen kann. Bei Neurospora gibt es zwei Paa-
C Bei Neurospora gibt es verschiedene Besonderheiten, die als rungstypen (A und a), und nur Stämme mit verschiedenen Paarungstypen
epigenetische Phänomene der »Genomverteidigung« die- können sich gegenseitig befruchten (heterothallischer Lebenszyklus). Nach
nen (Kück 2005). Zwar werden epigenetische Aspekte im Zu- der Befruchtung werden vom Ascogon die ascogenen Hyphen ausgebildet,
sammenhang in 7 Kap. 8 besprochen, dennoch sollen hier die jeweils zwei Kerne mit verschiedenen Paarungstypen (gelb und rot)
enthalten. Die Ascogone werden von sterilen Hyphen umschlossen, die die
drei dieser Aspekte angerissen werden:
Fruchtkörperhülle bilden und zuerst einen Vorfruchtkörper (Protoperithe-
5 Quelling ist ein Vorgang, der mit RNA-Interferenz bei an- zium) und später das Perithezium bilden. Im Inneren des Fruchtkörpers ent-
deren Organismen verglichen werden kann. Dabei werden wickeln sich die ascogenen Hyphen zu Asci, dabei kommt es zu Karyogamie
duplizierte Sequenzen im haploiden Genom erkannt und (K), Meiose (M) und postmeiotischer Mitose (PM), sodass acht Ascosporen pro
deren Expression in der vegetativen Phase verhindert. Ascus entstehen. Die reifen Asci werden aus dem Perithezium ausgeschleu-
dert. (Nach Nowrousian 2007, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
5 Das Phänomen der meiotischen Stilllegung durch un-
gepaarte DNA ist bisher nur bei Neurospora beschrieben.
Es ist wie Quelling ein RNA-vermittelter Prozess, aber
er basiert auf der Heterologie von DNA-Sequenzen, die bewirken, dass bei längeren duplizierten Sequenzen
während der Meiose nicht paaren können und ist des- während der prämeiotischen-dikaryotischen Phase eine
halb auch auf die sich entwickelnden Asci beschränkt. hohe Zahl von C→T- bzw. G→T-Transitionen eingefügt
5 Durch Wiederholungssequenzen induzierte Punkt- werden, die häufig zu Stoppcodons führen. Dadurch gibt
mutationen (engl. repeat-induced point mutation, RIP) es bei Neurospora relativ wenige Genfamilien.
194 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

Wie für viele andere Modellorganismen, so gibt es auch


a b
für Neurospora eine Reihe von Datenbanken, die bei Bedarf
weiterhelfen können. Verschiedene Stammkulturen sind beim
Fungal Genetics Stock Center (Kansas City, USA) erhältlich
(www.fgsc.net); Informationen zur funktionellen Annotation
finden sich beim Münchner Informationszentrum für Protein-
sequenzen (http://mips.helmholtz-muenchen.de/genre/proj/
ncrassa/) und allgemeine Informationen zu Neurospora auf der
entsprechenden Seite des Broad Institute (Cambridge, USA)
(http://www.broadinstitute.org/annotation/genome/neurospora/
5 MultiHome.html).
> Neurospora ist ein haploider Ascomycet, der sich vegetativ
und sexuell vermehren kann. Aufgrund seiner besonderen
Tetradenanordnung und einfachen Haltungsbedingungen c
im Labor ist er ein etablierter Modellorganismus der Ge-
netik mit einer erfolgreichen Geschichte.

5.3.3 Pflanzen

Wichtige pflanzengenetische Untersuchungsobjekte sind die


Ackerschmalwand Arabidopsis thaliana (Brassicaceae; . Abb.
5.31), das Löwenmäulchen Antirrhinum majus (Scrophularia-
ceae; . Abb. 5.32) und der Mais (Zea mays; . Abb. 5.33). War
früher eher Antirrhinum das klassische Modellsystem der Pflan-
zengenetiker (für eine Übersicht siehe Schwarz-Sommer et al. . Abb. 5.31 Arabidopsis thaliana, ein Modell für molekulargenetische
2003), so hat sich in neuerer Zeit Arabidopsis etabliert (Sommer- Studien in höheren Pflanzen. a Eine reife Arabidopsis thaliana-Pflanze.
ville und Koornneef 2002). Zu den vorteilhaften Eigenschaften b Reife Blüte des Arabidopsis-Wildtyps. c Die homöotische Blütenmutante
von Arabidopsis zählen eine kurze Generationszeit (Blüte 8–12 agamous-1 wurde in einem der ersten genetischen Screens auf Entwick-
lungsmutanten gefunden. (Nach Page und Grossniklaus 2002, mit freund-
Wochen nach der Aussaat), geringe Größe (15–20 cm) und viele
licher Genehmigung der Nature Publishing Group)
Nachkommen (1000 Samen pro Individuum). Arabidopsis hat das
kleinste bekannte Pflanzengenom (ca. 125 Mb; The Arabidopsis
Genome Initiative 2000); es enthält ca. 26.000 Gene, die auf
fünf Chromosomenpaaren liegen. Das mitochondriale Genom Mutanten, die vor allem in der Entwicklungsgenetik der Pflanzen
umfasst knapp 155 kb und codiert für 58 Gene; das Chloroplas- herausragende Fortschritte brachte (7 Abschn. 12.2).
tengenom umfasst knapp 367 kb und enthält die genetische In-
formation für 158 Gene (die aktuellen Informationen können im C Bei Arabidopsis hat sich eine von der üblichen genetischen
Nomenklatur teilweise abweichende Schreibweise entwi-
Internet unter den Adressen http://www.arabidopsis.org bzw.
ckelt: So werden Wildtyp-Allele durchgehend mit Großbuch-
http://mips.helmholtz-muenchen.de/plant/genomes.jsp abgeru-
staben und kursiv geschrieben (z. B. KNOX), ihre mutierten
fen werden). Überraschend war das Vorkommen von etwa 60 %
Allele dagegen klein und kursiv (kn1). Dominante Mutatio-
duplizierten Genomabschnitten; man vermutet heute, dass das
nen werden mit dem Zusatz »d« versehen. Gensymbole um-
Arabidopsis-Genom aus einem Vorläufer durch Duplikation und
fassen in der Regel drei Buchstaben (manche ältere nur zwei);
anschließende Eliminierung eines Teils dieser Sequenzen her-
bei Transgenen werden Promotor und cDNA-Konstrukte
vorgegangen ist.
durch zwei Doppelpunkte getrennt (z. B. 35S::KNAT1).
Die erste Beschreibung der Art erfolgte 1588 durch den säch-
sischen Arzt Johannes Thal; 1842 wurde diese Pflanze von Gustav Morphologisch lassen sich bei einer Pflanze drei Grundorgane
Heynold endgültig der Gattung Arabidopsis zugeordnet und unterscheiden: die Sprossachse, die Wurzel und die Blätter.
trägt seither die Bezeichnung Arabidopsis thaliana. Ein früher Den aus Sprossachse, Vegetationskegel (Meristem) und Blättern
»Meilenstein« in der Anwendung von A. thaliana in der Genetik gebildeten Bereich, in dem das Wachstum der Pflanze durch
war der Nachweis der Kontinuität der Chromosomen während Zellteilungen im Meristem erfolgt, bezeichnet man als Spross.
der Interphase durch Friedrich Laibach (1907). Danach dauerte Die Entwicklung der Organe erfolgt durch die Proliferation von
es bis in die 1980er-Jahre, bis A. thaliana wieder in großem Stil in Meristemen (Bildungsgewebe). Einen wichtigen Einfluss auf die
die genetischen Labors zurückkehrte: einmal bei der Transfor- Entwicklung hat die Organisation der Pflanzenzelle. Die Zell-
mation von A. thaliana mittels Agrobacterium tumefaciens unter wand sorgt dafür, dass die Zellen ihre Nachbarschaft nicht ver-
Verwendung gentechnisch hergestellter Ti-Plasmide, und dann lassen können. Gestaltveränderungen (Morphogenesen) in der
später mit der relativ leichten Herstellung einer großen Zahl von Entwicklung einer Pflanze werden daher durch lokale Aktivitä-
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
195 5

a b c . Abb. 5.32 Natürliche Variation bei Antirrhinum.


a Antirrhinum majus ist an den Küsten des Mittel-
meeres (besonders in Spanien und Frankreich)
weit verbreitet. Es wächst aufrecht, hat nur ge-
ringe seitliche Verzweigungen, große Blätter und
rote Blüten. b Antirrhinum charidemi kommt nur
in Südostspanien vor, einer der trockensten Ge-
genden auf dem europäischen Festland. Es hat
viele seitliche Verzweigungen, kleine Blätter und
rosa Blüten. c Antirrhinum molle wird an Klippen
und Geröllhalden in den Pyrenäen gefunden. Es
ist stark verzweigt, hat wuchernde Halme und
Organe mittlerer Größe, die mit vielen Haaren be-
deckt sind, elfenbeinfarbene Blüten und ein rotes
Muster der Blattadern. (Nach Schwarz-Sommer
et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung der
Nature Publishing Group)

schlauch erfolgt eine weitere Teilung eines der beiden Kerne.


Hierdurch werden zwei Gametenkerne geformt, von denen einer
mit dem Eizellkern verschmilzt. Bei der Bildung der Eizelle hat
die weibliche Megaspore zunächst in drei Mitosen den Embryo-
sack gebildet, der acht Kerne enthält. Einer der Kerne ist der Ei-
zellkern, der mit dem einen der beiden Gametenkerne des Pol-
lenschlauchs verschmilzt und den Zygotenkern (2n) formt. Der
zweite Gametenkern des Pollenschlauchs verschmilzt mit zwei
Kernen des Embryosacks und bildet dadurch einen triploiden
Kern (3n) mit zwei Sätzen mütterlicher und einem Satz väterli-
cher Chromosomen. Dieser triploide Kern teilt sich und bildet in
der Folge das triploide Endosperm, ein Nährgewebe für den Em-
. Abb. 5.33 Die Kultivierung des Mais. Es wird allgemein angenommen,
bryo. Diese beiden Komponenten, das Teilungsprodukt des Zy-
dass der Vorfahr des modernen Mais (Zea mays mays) ein mexikanisches
Gras ist: Teosinte (Z. mays parviglumis). Die zwei Unterarten sind untereinan- gotenkerns, der Embryo, und das Endosperm, formen die Mais-
der fruchtbar, zeigen aber viele morphologische Unterschiede: Teosinte körner. Die Zygote wächst zur diploiden Maispflanze heran,
(links) hat viele lange, seitliche Verästelungen. Die Verästelungen des Mais während das Endosperm degeneriert, wenn es seine Aufgabe als
(rechts) sind dagegen eher kurz. Der Maiskolben hat seine Körner auf der Nährstoffreservoir für den keimenden Samen erfüllt hat. Wichtig
Oberfläche, wohingegen sie bei Teosinte in den dreieckigen Hülsen einge-
für das Verständnis der Ergebnisse der Maisgenetik ist es zu rea-
schlossen sind. (Nach Doebley et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier) lisieren, dass das Endosperm in seiner genetischen Konstitution
der Konstitution der Zygote, also der F1-Generation, entspricht,
jedoch aufgrund seines triploiden Charakters eine doppelte Gen-
dosis mütterlichen Ursprungs besitzt. Für die experimentelle
ten von Zellen ausgeführt. Zur Koordination von Entwicklungs- Maisgenetik ist es außerdem entscheidend, dass durch geeigne-
vorgängen sind andererseits langreichende Signale (z. B. Phyto- te Maßnahmen unkontaminierte Pollen einer Pflanze erhalten
hormone) notwendig. Für die Kommunikation zwischen den und eine unkontrollierte Befruchtung verhindert werden kön-
Zellen einer Pflanze können die Plasmodesmen eine zusätzliche nen. Darüber hinaus hat der Mais natürlich als landwirtschaftli-
Rolle spielen, da sie Zellen miteinander verbinden. che Nutzpflanze eine enorme ökonomische Bedeutung, die dazu
Der Lebenszyklus einer Blütenpflanze (in . Abb. 5.34 am Bei- führt, dass (molekular-)genetische Untersuchungen und gen-
spiel Mais dargestellt) lässt sich grob in drei große Abschnitte technologische Verfahren am Mais in großem Umfang durchge-
gliedern: Embryogenese, postembryonale (vegetative) Entwick- führt werden.
lung und generative Entwicklung. Die Gameten werden in den Auch wenn der Mais eine gewisse »Vorreiterrolle« gespielt
Blüten gebildet: Zunächst bilden sich männliche haploide Mikro- hat, sind jetzt auch die Genome vieler weiterer Nutzpflanzen se-
sporen als Pollen in den Antheren und weibliche haploide Ma- quenziert; dazu gehören die Kartoffel, der Reis und die Tomate.
krosporen in den Fruchtknoten. Jeder haploide Pollenkern teilt Eine Übersicht über die verschiedenen Pflanzengenome bietet
sich noch einmal mitotisch, sodass jedes Pollenkorn zwei haplo- die Plant Genome Database (www.plantgdb.org). Dadurch ergibt
ide Kerne besitzt. Beim Auswachsen des Pollens zum Pollen- sich natürlich auch die Möglichkeit, die Genome der verschiede-
196 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

. Abb. 5.34 Lebenszyklus von Zea mays. Die Haplophase ist rot, die Diplophase blau dargestellt

nen Nutzpflanzen zu vergleichen. Wir können das am Beispiel Solanum-Arten haben zwei aufeinanderfolgende Verdreifachun-
der Tomate andeuten, deren Genom von dem Tomaten-Genom- gen des Genoms durchlaufen: eine ältere, die sie mit den Rosiden
Konsortium sequenziert und 2012 veröffentlicht wurde (The gemeinsam haben, und eine jüngere. Diese Genomverdreifa-
Tomato Genome Consortium 2012). Die kultivierte Tomate (So- chungen sind die Grundlage für neue Funktionen vieler Gene,
lanum lycopersicum) hat zwölf Chromosomen, und das gesamte die die Eigenschaften der Früchte kontrollieren, z. B. die Farbe
Genom umfasst 900 Mb. Sie unterscheidet sich von der Wildform und den fleischigen Charakter.
(S. pimpinellifolium) nur in 0,6 % der Nukleotidsequenz; der
Unterschied zum Genom der Kartoffel (S. tuberosum, auch ein > Pflanzen spielen in der Genetik eine herausragende Rolle
Nachtschattengewächs) beträgt dann schon 8 %. Dabei fallen be- als Modellorganismen; in den letzten Jahren hat sich
sonders neun große und mehrere kleinere Inversionen auf. Im Arabidopsis thaliana besonders unter entwicklungsgeneti-
Gegensatz zu Arabidopsis, aber ähnlich wie bei der Sojabohne, schen Gesichtspunkten breit etabliert. Hier können viele
kommen bei der Tomate und der Kartoffel kleine RNA-Gene Prozesse untersucht werden, die für die spätere Anwen-
(7 Abschn. 8.2) vorzugsweise in Gen-reichen Regionen vor. Die dung in Nutzpflanzen von großer Bedeutung sind.
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
197 5
5.3.4 Der Fadenwurm Fortbewegung der Würmer – ihre unkoordinierten Bewe-
gungen führten zu dem entsprechenden Gensymbol »unc«
Bereits im vorletzten Jahrhundert studierten Biologen, unter ih- (engl. uncoordinated); andere Mutationen betrafen die
nen Theodor Boveri, die Frühentwicklung der Nematoden. Da- Größe und Form des Wurms (z. B. dumpy; Gensymbol dpy-1).
mals waren parasitische Vertreter wie die Spulwürmer bevorzug- C. elegans wurde seither zu einem System entwickelt, das
te Untersuchungsobjekte. Mitte der 1960er-Jahre führte Sidney sich in vielerlei Hinsicht für genetische Studien eignet (für
Brenner, ursprünglich ein Phagengenetiker, den Fadenwurm Details siehe Übersichten bei Ankeny 2001 sowie Jorgensen
Caenorhabditis elegans als Modellsystem in die Genetik ein. und Mango 2002).
Eine erste wichtige Zusammenfassung wurde von ihm 1974
publiziert. Sidney Brenner bekam für seine Arbeiten 2002 den C. elegans kommt in zwei Geschlechtsformen vor, als Männchen
Nobelpreis für Medizin. oder als Zwitter (Hermaphrodit; . Abb. 5.35). Die Entscheidung,
ob ein Wurm zum Männchen oder zum Zwitter wird, hängt von
C Die ersten Untersuchungen in Sidney Brenners Labor wur- der Anzahl der X-Chromosomen ab: Neben den fünf autosoma-
den an Kulturen von C. elegans durchgeführt, die mit Ethyl- len Chromosomenpaaren besitzen Männchen ein, Zwitter zwei
methansulfonat (EMS; 7 Abschn. 10.4.3) als mutagenem X-Chromosomen. Die Zwitter produzieren zu Beginn ihres Le-
Agens behandelt wurden. So wurden in den Jahren ab 1967 bens Samen, später nur noch Eier. Mit dem gespeicherten Samen
bis in die Mitte der 1970er-Jahre über 300 EMS-induzierte können sie die Eier selbst befruchten. Selbstbefruchtung verein-
Mutationen identifiziert, die meisten davon mit einem rezes- facht die Untersuchung homozygoter Nachkommen, da neu in-
siven Erbgang. Die Hauptklasse der Mutanten betraf die duzierte Mutationen homozygotisiert werden können, ohne dass

. Abb. 5.35 Morphologie und Lebenszyklus von


Caenorhabditis elegans. a Der Wurm C. elegans kommt
in zwei Geschlechtern vor: als Hermaphrodit (oben)
und als männliches Tier (unten). Hermaphroditen sind
cytogenetisch durch zwei X-Chromosomen (X/X)
charakterisiert, wohingegen die Männchen nur ein
X-Chromosom besitzen (X/0). Morphologisch zeigen
Hermaphroditen eine Vulva (Pfeilspitze); männliche Tiere
verfügen über einen fächerartigen Schwanz (Pfeil).
b Die ersten 14 h des Lebenszyklus des Wurms umfassen
die Embryonalentwicklung, danach schlüpfen die Larven
aus der Eihülle und durchlaufen die vier Larvenstadien
L1–L4. Unter besonderen Umständen und eingeschränk-
tem Nahrungsangebot kann die L1-Larve einen alter-
nativen Entwicklungsweg einschlagen (Dauerzustand,
engl. dauer stage), bei dem die Larve über Monate hin-
a weg unter widrigen Umständen überleben kann.
(Nach Jorgensen und Mango 2002, mit freundlicher
Genehmigung der Nature Publishing Group)

b
198 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

Geschwister untereinander gekreuzt werden müssen. Die Zwitter 5.3.5 Die Taufliege
können aber auch von Männchen befruchtet werden, sodass
auch Mutationen kartiert und Komplementationstests durchge- Die Taufliege Drosophila melanogaster (. Abb. 5.36a) ent-
führt werden können. wickelte sich in den letzten 100 Jahren zu dem Standard-Modell-
Die Haltung der Tiere ist einfach: C. elegans wird auf einem organismus der Genetiker: Waren es zunächst die klassischen
Bakterienrasen plattiert, der als Nahrungsquelle dient. Sowohl Mutations- und Kartierungsexperimente (Thomas H. Morgan
die Ei- als auch die Körperhülle des Wurms sind durchsichtig. in den 1930er- und 1940er-Jahren; 7 Kap. 10 und 7 Kap. 11),
Mutanten können daher mithilfe eines Mikroskops oder eines so kam es in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einer Droso-
Binokulars einfach identifiziert werden. C. elegans ist als erwach- phila-Renaissance unter dem Stichwort Entwicklungsgenetik
senes Tier nur ca. 1 mm groß, hat einen Durchmesser von 70 μm (7 Abschn. 12.4). Die Geschwindigkeit der Generationsfolge
5 und besteht aus einer definierten Anzahl von Zellen: Das Männ- macht Drosophila so beliebt: Der gesamte Entwicklungszyklus
chen enthält 1031 somatische Zellen, der Zwitter dagegen nur von Eiablage zu Eiablage dauert bei 25 °C ca. 2 Wochen. Die
959 somatische Zellen; dazu kommt noch eine variable Zahl von Weibchen legen bis zu 100 Eier pro Tag (Durchmesser: ~ 0,2 mm,
Keimzellen. Diese Konstanz der Zahl seiner somatischen Zellen Länge: ~ 0,5 mm). Nur 1 Tag beansprucht die Embryonalent-
ist eine der hervorstechendsten Eigenschaften von C. elegans. wicklung, in 4 Tagen werden die durch Häutungen getrennten
C. elegans hat eine vollständig definierte und weitgehend unver- Larvenstadien durchlaufen, 5 Tage dauert die Metamorphose zur
änderliche Zellgenealogie; die Entwicklung der einzelnen Zel- Fliege in der Puppencuticula (. Abb. 5.36b). In den Morgenstun-
len kann in lebenden Tieren beobachtet werden. Obwohl der den (»Taufliege«) des 5. Tages nach der Verpuppung schlüpfen
erwachsene Zwitter nur 959 Zellen besitzt, werden ursprünglich die Fliegen; nach etwa 4 h sind die Fliegen geschlechtsreif.
1090 Zellen gebildet – 131 Zellen sterben ab. Die Untersuchung So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Genom von
dieses Phänomens hat zum Konzept des programmierten Zell- Drosophila zu den ersten gehörte, dessen vollständige Sequenz
tods (Apoptose) geführt (7 Abschn. 5.2.2). veröffentlicht wurde (Adams et al. 2000; aktualisierte Versionen
C. elegans kann eingefroren lange Zeit aufbewahrt werden, gibt es auf der ENSEMBL-Datenbank http://www.ensembl.org/
sodass es leicht möglich ist, viele Mutantenlinien im Labor zu Drosophila_melanogaster und FlyBase http://www.flybase.org).
halten. Mehr als 1000 Gene von C. elegans wurden durch Analyse Das Genom umfasst 160 Mb (davon ca. 117 Mb Euchromatin)
von Mutanten charakterisiert und kartiert. Das Genom von C. ele- und ist damit eine Größenordnung kleiner als ein Säugergenom.
gans wurde durch das C. elegans Sequencing Consortium bereits Die ca. 14.000 Gene sind in drei autosomalen Chromosomen-
1998 publiziert (die aktuelle Version kann im Internet unter paaren  und  einem Geschlechtschromosomenpaar organisiert.
der Adresse http://www.ensembl.org/Caenorhabditis_elegans Cytogenetische Untersuchungen werden durch das Auftreten
abgerufen werden). Es ist mit etwa 100 Mb nur etwa 20-mal so von Riesenchromosomen in den Speicheldrüsen erleichtert
groß wie das von E. coli und etwa 6-mal so groß wie das der (. Abb. 6.28).
Hefe. Es enthält ca. 19.000 Gene und damit ca. 50 % mehr als Ein wesentlicher Vorteil von Drosophila ist die leichte Er-
Drosophila. kennbarkeit vieler äußerer Charakteristika. Dazu gehören z. B.
die roten Augen, die klare Segmentierung des Körpers und die
> Der Fadenwurm Caenorhabditis elegans zeichnet sich
Musterung der Flügel (ein Beispiel einer Mutante ist in . Abb.
durch eine einzigartige Eigenschaft aus: die Konstanz der
5.37 dargestellt). Ein weiteres sicheres Merkmal – bei Männchen
Zellzahl. Dadurch konnten grundlegende biologische Pro-
– sind die Geschlechtskämme (engl. sex combs); für die Analyse
zesse wie Apoptose an diesem Modellsystem erarbeitet
der genetischen Steuerung der Neurogenese hat sich die stereo-
werden. Außerdem kann er einfach und kostengünstig
type Anordnung ihrer Makrochaeten (große Borsten) und
kultiviert werden; er weist eine kurze Generationszeit auf.
Mikrochaeten (kleine Borsten) als bedeutungsvoll erwiesen.
Neben seiner einfachen Anatomie erleichtert seine Trans-
Auch die Larve zeigt viele Marker, die die Charakterisierung klar
parenz die mikroskopische Beobachtung.
unterscheidbarer Phänotypen erlaubt. Diese Vielzahl der klar
*Die Einzigartigkeit von C. elegans hinsichtlich der konstanten
Zellzahl macht diesen Wurm zu einem hervorragenden Mo-
und einfach definierbaren äußeren Merkmale, verbunden mit
der leichten Handhabbarkeit und der kurzen Generationszeit,
dell, um daran systematisch funktionelle Genomforschung haben Drosophila lange Zeit zu dem Star unter den genetischen
zu betreiben. Dies wird natürlich auch dadurch unterstützt, Modellorganismen gemacht – und entsprechend groß ist heute
dass das gesamte Genom sequenziert ist und bereits eine die Sammlung der verschiedenen Fliegenstämme (erhältlich z. B.
Vielzahl genetischer Untersuchungsverfahren an C. elegans bei http://flystocks.bio.indiana.edu).
etabliert ist. Damit wird es möglich, die Zusammenhänge der Wichtige Hilfsmittel der Drosophila-Genetik sind die Balan-
verschiedenen, zunächst jeweils isoliert betrachteten Signal- cer-Chromosomen (7 Technikbox 22) oder die Transposon-ver-
und Stoffwechselwege zu beschreiben und auch deren Mo- mittelte Mutagenese (P-Element-Mutagenese; 7 Technikbox 23).
dulation durch variierende Umweltbedingungen. In diesem In Verbindung mit klassischer Mutagenese durch Röntgenstrah-
Zusammenhang ist die vergleichende Expressionsanalyse len oder Chemikalien (7 Abschn. 10.4.2 und 7 Abschn. 10.4.3) ist
von Genen besonders wichtig (7 Technikbox 32). Interessierte es möglich, Hochdurchsatz-Verfahren anzuwenden, um alle
Leser können sich auf der WormBase über aktuelle Fort- möglichen Mutationen zu identifizieren, die einen biologischen
schritte informieren (http://www.wormbase.org). Prozess betreffen (»Saturationsmutagenese«).
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
199 5

. Abb. 5.37 Muster der Flügeladern bei Drosophila. a Der Wildtyp zeigt in
seiner typischen Flügelform fünf Längsadern (L1–L5) und zwei Queradern
(a-cv und p-cv). b Wenn das knot-Gen deletiert ist, sind die Längsadern 3
und 4 fusioniert und die Querader a-cv fehlt. (Nach de Celis 2003, mit
freundlicher Genehmigung von Wiley)

*Christiane Nüsslein-Volhard und Eric Wieschaus publizier-


ten die ersten Ergebnisse ihres genomweiten Screens 1980.
Darin beschrieben sie die Mutagenese von Drosophila mit
Ethlymethansulfonat und analysierten die Musterbildung
im Embryo. Damit gelang zum ersten Mal in einem viel-
zelligen Organismus eine Saturationsmutagenese, noch
dazu in Bezug auf embryonale Stadien. Sie konnten dabei
Mutationen in den meisten wichtigen musterbildenden
Genen identifizieren; die Arbeiten wurden 1995 mit dem
Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Der genetische
Ansatz ist in . Abb. 5.38 dargestellt; die wesentlichen Aus-
sagen zur Entwicklungsgenetik werden im 7 Abschn. 12.4
besprochen.

> Die Taufliege Drosophila melanogaster ist seit den 1930er-


Jahren einer der wichtigsten Modellorganismen in der
Genetik. Aufgrund der einfachen Haltung, der schnellen
Generationszeit und der einfachen Phänotypisierung
in den Larvenstadien und im adulten Tier war Drosophila
. Abb. 5.36 a Drosophila melanogaster. b Lebenslauf von D. melanogaster.
(a nach Rosenthal und Ashburner 2002, mit freundlicher Genehmigung der
lange Zeit einzigartig. Besonders in der Entwicklungs-
Nature Publishing Group; b nach Müller und Hassel 2012, mit freundlicher genetik können viele Mechanismen erfolgreich auf höhere
Genehmigung von Springer) Organismen übertragen werden.
200 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

Homozygote Balancer-Mutanten Balancierter Mutantenstamm: Homozygot für das mutagenisierte


sterben als Larven lebensfähig Chromosom: Screenen der Embryos
für Phänotyp

. Abb. 5.38 Kreuzungsschema für Mutanten-Screen in Drosophila. Männliche Fliegen wurden mit Ethylmethansulfonat (EMS) mutagenisiert und mit
jungfräulichen Fliegenweibchen verpaart, die einen Balancer für das zu untersuchende Chromosom tragen (grau). Da die Mutation in den Spermatiden
induziert wird, vererbt jedes F1-Männchen ein mutagenisiertes Chromosom (rot) mit einem Spektrum an Mutationen. Einzelne F1-Männchen, die ein muta-
genisiertes Chromosom in trans zu dem Balancer tragen, werden zu dem Balancer-Stamm zurückgekreuzt, um F2-Männchen und -Weibchen zu erzeugen,
die dasselbe mutagenisierte Chromosom tragen. Etwa 25 % der F3-Fliegen zeigen einen Phänotyp. (Nach Johnston 2002, mit freundlicher Genehmigung
der Nature Publishing Group)

5.3.6 Der Zebrafisch ihres Lebens etwa 15.000 bis 35.000 Eier ablegen kann. Diese
konstant hohe Zahl an Nachkommen von definierten Zuchtpaa-
Der bei Aquarienliebhabern schon lange bekannte Zebra- ren prädestiniert den Zebrafisch natürlich für Hochdurchsatz-
fisch  Danio rerio (. Abb. 5.39a) ist seit Beginn der 1980er- Ansätze in der modernen Genomforschung. Seine Embryonal-
Jahre  durch die Arbeiten von George Streisinger für Ent- entwicklung verläuft sehr schnell (. Abb. 5.40): Nach 24 h sind
wicklungsgenetiker immer interessanter geworden (z. B. Strei- die meisten Organe erkennbar, nach 2 Tagen schlüpft die Larve
singer et al. 1981). Er ist ein Vertreter der Knochenfische und und beginnt zu schwimmen, und nach 5 Tagen sucht sie unab-
mit Medaka (Oryzias latipes) und Fugu (Takifugu rubripes) hängig nach Nahrung.
verwandt, zwei weiteren Fischmodellen (. Abb. 5.39b). Das Ein wesentlicher Vorteil des Zebrafisches ist die Transparenz
Genom des Zebrafisches ist in 25 Chromosomen organisiert; seiner Embryonen. Diese erlaubt es, nicht nur ihre Entwicklung
es gibt keine Geschlechtschromosomen. Das Genom umfasst genau zu verfolgen, sondern ermöglicht auch eine einfache Ma-
etwa 1,5 Gb und ist damit deutlich kleiner als das menschliche nipulation der Embryonen. Daher ist der Zebrafisch in den letz-
Genom (die aktuelle Fassung der Sequenz kann man unter ten Jahren zu einem besonders beliebten Studienobjekt der Ent-
http://www.ensembl.org/Danio_rerio einsehen); es sind etwa wicklungsgenetiker geworden (siehe auch 7 Abschn. 12.5). Für
26.000 Gene identifiziert. Eine weitere wichtige Datenbank der genetische Experimente, insbesondere auch zur Isolation und
Zebrafisch-Genetiker ist ZFIN (http://www.zfin.org). Charakterisierung von Mutanten (. Abb. 5.41), bietet der Zebra-
Die Zucht des Zebrafisches in Aquarien ist problemlos; ein fisch gegenüber anderen Wirbeltieren einen weiteren Vorteil:
Weibchen kann unter optimalen Bedingungen bis zu 200 Eier den der großen Zahl an Nachkommen. Das führte dazu, dass in
pro Woche ablegen. Bei einer durchschnittlichen Lebensdauer einer Reihe von Mutagenese-Experimenten viele Mutanten iden-
von 2 bis 4 Jahren und dem Beginn der sexuellen Reife im Alter tifiziert wurden. Allerdings erschwert das teilweise duplizierte
von 3 bis 4 Monaten bedeutet das, dass ein Weibchen im Laufe Genom die Analyse.
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
201 5
. Abb. 5.39 Zebrafische. a Ausgewachsene Zebra-
fische sind etwa 2–3 cm lang. b Evolutionäre Bezie-
hungen der Knochenfische und wahrscheinliche
Konsequenzen der Genomduplikation an der Basis
a ihrer Auffächerung. Wie auf der linken Seite angedeu-
tet, kann die Verdoppelung von Genen bzw. des
ganzen Genoms dazu führen, dass einzelne Gene
auch wieder verloren gehen oder dass die paralogen
Gene Teilfunktionen übernehmen bzw. ganz neue
Funktionen entwickeln. Diese Funktionsverände-
rungen sind nicht nur auf die nicht-codierenden
Regionen (farbige Symbole) beschränkt, sondern
Medaka können sich auf die codierende Region auswirken
(orange; Unterschiede rot). Die Genomduplikation
70 MJ hat auf die jeweiligen Modellsysteme unterschied-
liche Auswirkungen. MJ: Mio. Jahre. (a Foto: Dr. Laure
Bally-Cuif, CNRS, Gif-sur-Yvette; b nach Furutani-Seiki
und Wittbrodt 2004, mit freundlicher Genehmigung
Euteleostei 110–200 MJ von Elsevier)

Fugu

Genom-Duplikation

345 MJ Zebrafisch
b

*Der Zebrafisch eignet sich im Übrigen auch in hervorragender


Weise zur Analyse komplexer Verhaltensmuster, z. B. Beloh-
in einer Zoohandlung und wurde von Christiane Nüsslein-Volhard
für ihre großen Mutagenese-Screens verwendet. Dieser Stamm
nungsverhalten, Lernen und Gedächtnisleistungen, Aggres- wurde auch als Referenzstamm für die Sequenzierung des Zebra-
sion, Angst- und Schlafverhalten. Mit einfachen Testverfahren fischgenoms ausgewählt. Dagegen stammen zwei indische Linien
können entsprechende Verhaltensmutanten erkannt, isoliert aus Wildfängen: Der Stamm wild-type India Calcutta (WIK) ist für
und gezüchtet werden. Damit eröffnet sich auch die Möglich- Kartierungsexperimente mit dem Tübinger Stamm sehr gut geeig-
keit, die entsprechenden Gene zu identifizieren und ihre Funk- net; 68 % der Mikrosatelliten-Marker sind informativ. Der Stamm
tionen in neuronalen Kreisläufen zu charakterisieren. Aufgrund IND (India) wurde dagegen in Kartierungsexperimenten mit dem
der einfachen Haltungsbedingungen und der hohen Zahl an AB-Stamm eingesetzt; er ist aber schwieriger zu züchten und ent-
Nachkommen haben solche verhaltensgenetischen Untersu- hält offensichtlich einige Mutationen, die die Lebensfähigkeit be-
chungen am Zebrafisch einen gewissen Vorteil gegenüber einträchtigen. Ähnliche Züchtungsprobleme zeigt der Stamm SJD
vergleichbaren Untersuchungen an Nagern, auch wenn diese (von S. L. Johnson, St. Louis, USA); die Ursache liegt hier allerdings
dem Menschen als Säugetiere näherstehen. Ein weiterer As- in einem verzerrten Geschlechtsverhältnis.
pekt ist, dass auch komplexere Verhaltensmuster im Zebrafisch Aufgrund der noch relativ kurzen Geschichte des Zebra-
analysiert werden können: Untersuchungen, die nicht nur zum fisches als genetischem Modellorganismus ist der genetische
besseren Verständnis der »Personalität« bei Zebrafischen füh- Werkzeugkasten noch nicht ganz so ausgereift wie bei Drosophi-
ren, sondern auch Hinweise auf menschliche Persönlichkeits- la oder der Maus. Von besonderer Bedeutung sind Mutagenese-
strukturen geben können – die wichtigen Gene und Signal- Screens (. Abb. 5.41), bei denen Elterntiere mit einem mutage-
ketten sind ja über lange evolutionäre Distanzen ähnlich ge- nen Agens behandelt werden (in der Regel Ethylnitrosoharnstoff,
blieben (für eine aktuelle Übersicht siehe Norton und Bally-Cuif ENU; 7 Abschn. 10.4.3). Daneben hat sich aber auch eine In-
2012, Kalueff et al. 2012). sertionsmutagenese auf der Basis von Retroviren bewährt; die
Retroviren werden während des Blastula-Stadiums in Zebra-
Es sind mehrere Laborstämme des Zebrafisches etabliert. Die fisch-Embryonen injiziert. Zwar ist die Effizienz der ENU-Muta-
ursprünglichen Stämme, die für die Mutagenese-Experimente genese deutlich höher, aber die beiden Systeme zeigen unter-
verwendet wurden, sind der AB-Stamm und der Tübinger schiedliche Spezifität hinsichtlich der betroffenen Gene.
Stamm (Tü). Der AB-Stamm wurde von George Streisinger in Eine Methode, die Aktivität von Genen zu vermindern (und
Eugene (USA) begründet, indem Fische aus einer Zoohandlung im besten Fall ganz auszuschalten), besteht darin, die mRNA
gekreuzt wurden. Auch der Tübinger Stamm hat seinen Ursprung durch entsprechende antisense-RNA abzufangen (7 Abschn. 8.2.1).
202 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

. Abb. 5.40 Lebenslauf des Zebrafisches. Die Zygote


sitzt auf dem großen Dotter; 1 h nach der Befruchtung
(1 hpf; engl. hours post fertilization) ist das 4-Zell-Sta-
dium erreicht. Nach 4 h haben sich die Zellen bereits
mehrfach geteilt (Hohlkugelstadium). Die Gastrulation
beginnt etwa 6 h nach der Befruchtung (Keimscheiben-
stadium), und etwa 8 h nach der Befruchtung verdickt
sich die spätere Kopfregion; der Embryo bedeckt zu
etwa 80 % die Dotterkugel (80 % Epibolie). 10 h nach
der Befruchtung bilden sich die ersten Somiten, und
die Augen entstehen aus dem Diencephalon. Nach 18 h
(19 Somiten) wird der Körperplan erkennbar sowie
erste Muskelbewegungen des Schwanzes. Nach etwas
5 mehr als 1 Tag (29 hpf ) sind die wesentlichen Charakte-
ristika der Wirbeltiere sichtbar: Gehirn, Augen, Ohren
und innere Organe. Das Herz beginnt bereits vor dem
Ende des ersten Tages zu schlagen. Innerhalb der näch-
sten Stunden differenzieren viele Zelltypen und weitere
Organe können nach und nach ihre Funktionen aufneh-
men. Nach 2 Tagen schlüpft die Zebrafisch-Larve und
beginnt zu schwimmen. Nach 5 Tagen (engl. days post
fertilization, dpf ) schwimmen die Larven bereits größere
Distanzen und können selbstständig Futter suchen.
Die Entwicklung des Zebrafisches hängt stark von der
Temperatur ab; das hier dargestellte Schema bezieht
sich auf eine Umgebungstemperatur von 28,5 °C. (Nach
Haffter et al. 1996, mit freundlicher Genehmigung der
Company of Biologists)

Zur Verbesserung der Stabilität der eingesetzten antisense-RNA genoms erschwert. Kerstin Howe und eine Vielzahl von Ko-
werden dazu kurze Oligonukleotide eingesetzt, in denen die operationspartnern publizierten 2013 eine hochwertige DNA-
Ribose in der RNA durch einen Morpholinring ersetzt ist (Labor- Sequenz und zeigten, dass das Zebrafischgenom 1,4 Gb umfasst
jargon: »Morpholinos«; vgl. auch 7 Technikbox 31). Die Morpho- und etwa 26.000 Gene enthält; für etwa 70 % der menschlichen
linos werden in die befruchtete Eizelle injiziert und die Auswir- Gene gibt es mindestens ein orthologes Gen im Zebrafisch. Eine
kungen können im wachsenden Embryo beobachtet werden. Besonderheit stellt der lange Arm des Chromosoms 4 des Zebra-
Dabei kann die kontralaterale Seite eines Fisches auch als »inter- fisches dar: Er enthält wenige Protein-codierende Gene, aber
ne Kontrolle« herangezogen werden. Diese Methode ist beim dafür in großem Umfang 5S-rRNA-Gene, die sonst auf keinem
Zebrafisch weit verbreitet; neben RNA-Produkten können auch anderen Chromosom des Zebrafisches zu finden sind. Unter
Informationen für markierte Proteine injiziert und die Effekte in den wenigen Protein-codierenden Genen dieser chromosoma-
verschiedenen Zellen optisch verfolgt werden. len Region finden wir hier sehr viele Zebrafisch-spezifische
Die oben angedeutete Genomduplikation beim Zebrafisch Gene, d. h. Gene ohne offensichtliche Entsprechung in anderen
hat lange Zeit die vollständige Sequenzierung des Zebrafisch- Vertebraten.
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
203 5

. Abb. 5.41 Mutanten-Screen beim Zebrafisch. Mutationen werden durch chemische Mutagenese (Ethylnitrosoharnstoff, engl. ethylnitroso urea, ENU;
7 Abschn. 10.4.3) üblicherweise in männlichen Keimzellen induziert; die mutagenisierten Männchen werden mit Wildtyp-Weibchen (wt) verpaart. Die resul-
tierende F1-Generation ist heterozygot für einzelne Mutationen (m); dominante Mutationen zeigen schon hier ihren Phänotyp. Um rezessive Mutationen
zu erkennen, werden F1-Tiere zunächst erneut mit Wildtyp-Tieren gekreuzt, um viele F2-Fische zu erhalten (»F2-Familien«). In diesen Familien werden die
Fische dann zufällig untereinander gekreuzt; in der nächsten Generation (F3) treten auch rezessive Mutationen durch einen Phänotyp in Erscheinung (roter
Fisch in F3). Alternativ können die Männchen der F1-Gründergeneration auch dazu verwendet werden, gekoppelte DNA- und Spermien-Bibliotheken an-
zulegen. Diese Bibliotheken können dazu verwendet werden, gezielt nach Mutationen in individuellen Genorten zu suchen (Tilling, engl. targeting induced
local lesions in genomes). Bei dieser Methode werden Exons eines bestimmten Krankheitsgens von einer individuellen oder gepoolten DNA aus der F1-Biblio-
thek mit PCR amplifiziert. Wenn eine Mutation identifiziert wurde, kann der entsprechende Fisch in der Erhaltungszucht identifiziert werden oder das
eingefrorene Sperma zur in-vitro-Fertilisation verwendet werden, sodass er für eine Analyse des Phänotyps zur Verfügung steht. (Nach Lieschke und Currie
2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
204 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

> Der Zebrafisch ist noch ein relativ neues, aber sehr inte- schen Eigenschaften von Proteinen in der Elektrophorese oder in
ressantes Objekt zur entwicklungsgenetischen Unter- der Isoelektrischen Fokussierung veränderten.
suchung von Wirbeltieren. Seine Vorteile sind die hohe Als »Nebenprodukte« dieser Arbeiten entstand über die Jahr-
Geschwindigkeit der Embryonalentwicklung, die Durch- zehnte eine Vielzahl verschiedener Inzuchtstämme der Maus
sichtigkeit der Embryonen und die hohe Zahl der Nach- (. Abb. 5.42b), was später zu einer der Goldminen der Mausge-
kommen. Im Zebrafisch wurde eine Reihe von Hochdurch- netik werden sollte. Bis 1980 gab es etwa 300 verschiedene In-
satz-Untersuchungen auf dominante und rezessive Muta- zuchtstämme. Allerdings dauerte es auch bis 1980, bis die Zuord-
tionen durchgeführt. nung der 20 Kopplungsgruppen zu den 20 Chromosomen der

*Wir hatten zu Beginn dieses Abschnitts auch den Puffer-


oder Kugelfisch Fugu (Takifugu rubripes) als Verwandten des
Maus abgeschlossen war. Eine Übersicht über die züchterischen
Möglichkeiten der Maus zeigt . Abb. 5.43.
5 Neben der Zucht der verschiedenen Inzuchtstämme ist der
Zebrafisches erwähnt (. Abb. 5.39b). Fugu weist unter ge-
große Reichtum spontaner Mutanten ein wesentliches Merkmal
netischen Gesichtspunkten eine Besonderheit auf, da er mit
der Mausgenetik. Dies ist natürlich in erster Linie auch eine Fol-
400 Mb das kleinste Genom der Vertrebraten hat, aber dabei
ge der großen Zahl von Mäusen, die in den verschiedenen Labors
über ein Reservoir an Genen verfügt, das mit dem anderer
der Welt gezüchtet wurden (zu spontanen Mutationsraten siehe
Vertebraten vergleichbar ist. Die Ursache dafür sind nur
7 Abschn. 10.3), aber auch der Auffälligkeit verschiedener Phä-
kurze Abschnitte zwischen den Genen und zusätzlich kurze
notypen und der Möglichkeit, diese auffälligen Phänotypen zu
Introns; es fehlen die meisten repetitiven Elemente. Wir
züchten. Man hat auch sehr früh erkannt, dass diese Mausmutan-
können Fugu deshalb als eine Art »Minimalgenom« der Ver-
ten gute Modelle für menschliche Erkrankungen darstellen kön-
trebraten betrachten; die vergleichende Analyse der Regu-
nen. Ein solcher Fall ist die diabetes-Maus (Gensymbol db), eine
latorregionen gibt Hinweise auf konservierte Elemente,
rezessive, fettleibige Mutante (. Abb. 5.44). Diese Mutante wurde
die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch funktionell wichtig
in den 1950er-Jahren entdeckt und dient seither als ein Modell
sind.
für Fettleibigkeit bei Menschen. Heute wissen wir, dass es sich
um eine Mutation im Gen für den Leptin-Rezeptor handelt
(Gensymbol Lepr; die Mutante wird heute entsprechend als
5.3.7 Die Hausmaus Leprdb bezeichnet); über diesen Rezeptor steuert das Leptin-Pro-
tein (ein Cytokin) den Energieverbrauch in den entsprechenden
Die Maus (Mus musculus; . Abb. 5.42a) wurde seit den frühen Geweben. Inzwischen (2015) kennen wir 14 verschiedene spon-
Tagen der Genetik als Modell verwendet. Sogar Mendel selbst tane Mutationen in diesem Gen (Allele): Während die Fettleibig-
soll zunächst in seiner Klosterzelle Mäuse gezüchtet und ge- keit ein charakteristisches Merkmal dieser Mutanten ist, prägen
kreuzt haben, bis es ihm von der kirchlichen Hierarchie verboten nicht alle Mutanten auch das Krankheitsbild Diabetes aus. Dies
wurde – so hat er dann seine Experimente mit Gartenerbsen erscheint abhängig vom genetischen Hintergrund (d. h. in wel-
fortgesetzt. Und somit wurden die »Mendel’schen Gesetze« chem Stamm diese Mutation erscheint) und unterstreicht die
(7 Abschn. 11.1) statt an unterschiedlichen Mäusen (z. B. albino Komplexität dieses Phänotyps. Entsprechende Mutation im
versus pigmentierten) an glatten und runzligen Erbsen entwickelt. LEPR-Gen des Menschen führen zu einem vergleichbaren
Aber schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Mendels Krankheitsbild der Fettleibigkeit.
Ergebnisse an der Maus wiederholt, und in den darauffolgenden Eine neue Ära der Mausgenetik begann, als Ende 1980 die
Jahren konzentrierten sich die Arbeiten mit der Maus auf das erste transgene Maus publiziert wurde (Gordon et al. 1980).
Problem, Tumormodelle zu etablieren und zu verstehen, warum Schon ein Jahr später konnte Thomas E. Wagner und seine
sich Tumoren unter bestimmten Bedingungen transplantieren Gruppe zeigen, dass ein vollständiges β-Globin-Gen des Kanin-
lassen, aber unter anderen Bedingungen abgestoßen werden. chens in das Mausgenom überführt werden konnte und dann in
Diese Arbeiten mündeten schließlich in die Charakterisierung der Maus im richtigen »Gewebe«, also den Erythrocyten, expri-
des Haupthistokompatibilitätsantigens (engl. major histocom- miert wird. Damit hat sich die Maus zu einem der wichtigsten
patibility antigen, HLA). Der zweite wichtige Punkt der ersten Modellorganismen in der Genetik überhaupt entwickelt. Die
50 Jahre Mausgenetik konzentrierte sich auf die Frage, warum es Methoden zur Herstellung von transgenen Mäusen, zum Aus-
unterschiedliche Inzidenzen für das Auftreten von Tumoren bei und Abschalten von Genen, gezielter und zufälliger Mutagenese,
einzelnen Mausstämmen gibt – und die Beantwortung führte wurden entscheidend verfeinert; eine Übersicht über den gene-
dann zur Entdeckung der Retroviren (speziell des Brustkrebs- tischen »Werkzeugkasten« der Maus vermittelt . Abb. 5.45.
virus der Maus; engl. mouse mammary tumor virus, MMTV).
In den 1960er-Jahren änderten sich die Themen der Mausge- C Ein Gensymbol besteht üblicherweise aus drei Buchstaben
netik: 1961 publizierte Mary Lyon die nach ihr benannte »Lyon- (heute reicht das aber manchmal schon nicht mehr aus). Die
Hypothese« zur zufälligen Inaktivierung eines X-Chromosoms genetische Nomenklatur der Maus sieht vor, dass rezessive
in weiblichen Mäusen, um mit dieser Erklärung das Problem der Gene klein und kursiv geschrieben werden. Bei dominanten
Dosiskompensation bei Säugern zu lösen (siehe dazu im Detail Allelen ist der erste Buchstabe groß; Allelsymbole werden
7 Abschn. 8.3.2). Die Fortschritte der »biochemischen Genetik« hochgestellt. Mitglieder von Genfamilien werden durchnum-
ermöglichte die physiologische Charakterisierung einer größe- meriert (z. B. Pax6 für paired-box-Gen 6) oder durch Buchstaben
ren Zahl von Mutanten, die die Aktivitäten oder biophysikali- ergänzt (z. B. Cryga für γA-Kristallin). Eine ausführliche Darstel-
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
205 5
. Abb. 5.42 Die Hausmaus. a Links eine Wildtyp-Maus vom Stamm C57BL/6,
rechts eine gescheckte Fellfleckenmutante. b Stammbaum einiger wichtiger
Inzucht-Mausstämme, die häufig in den Labors verwendet werden. (a Foto:
Dr. Claudia Dalke, Helmholtz Zentrum München, Neuherberg; b nach Green
1966, mit freundlicher Genehmigung von McGraw Hill)

DBA/1
DBA
DBA/2
Littles Mäuse aus den C
Fellfarben-Experimenten
CBA
x CHI
C12I
C3H/St
C3H/Bi
C3H/An
C3H/He
C3H/HeJ
C3HeB/FeJ
Dealers Zucht
BALB/c
in Ohio
A/J
x A/St
A/Bi
A/He
Cold Spring Harbor A/HeJ
Albinos
C58
C57BL/6
C57BL
C57BL/10
Lathrops Zucht C57BR/cd
C57BR C57BR/a
C57L
AKR
Furths A & R-Zucht RF

Europäische weiße Mäuse SWR


SJL
Schweizer Webster-Mäuse

b (1909) 12 16 20 24 28 32 36 40 44 48 52 56 60

lung der international gültigen Bezeichnungen findet sich C Das Mausgenom ist seit 2001 vollständig sequenziert
auf der Homepage des Jackson-Labors (Bar Harbor, Maine, (ca. 2500 Mb, 30.000 bis 35.000 Gene;
USA), und zwar sowohl für die verschiedenen Mausstämme http://www.ensembl.org/mus_musculus) und entspricht
(http://www.informatics.jax.org/mgihome/nomen/strains.shtml) weitgehend dem des Menschen (ca. 2900 Mb, 36.000 Gene;
als auch für Gene, Mutationen und Allele http://www.ensembl.org/homo_sapiens; Venter et al. 2001;
(http://www.informatics.jax.org/mgihome/nomen/gene. International Human Genome Sequencing Consortium
shtml#genenom). 2001). Auch die chromosomale Organisationsform ist sehr
ähnlich: Die Geschlechtschromosomen X und Y entsprechen
206 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

a Rekombinante Inzuchtstämme c Kongene Stämme


x elterliche Chr. 6
Inzuchtstämme Kongen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY

50 % jeder d Chromosomen-Substitutionsstämme
F1 x
Elternteil
Chr. 1
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY
Bruder-Schwester-
F2 x x x Paarung für 20
Generationen Chr. 2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY

5 RI-Linien,
reine Inzucht Y-Chr
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY
b Erweiterte Kreuzungslinien
e Genomweit markierte Mäuse
x elterliche Chr. 1
Inzuchtstämme
Stämme
Stamm 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY

F1 x 50 % jeder Elternteil
Stamm 2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY
zufällige Kreuzungen
F2 x x (nicht Bruder- Stamm 3
Schwester) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY
zufällige Kreuzungen
F3 x x (keine gemeinsamen X-Chr.
Großeltern) Stämme
bis F8 oder weiter Stamm 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY

F6 x x weder Inzucht
noch homozygot Stamm 2
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 XY

. Abb. 5.43 Derivate von Inzuchtstämmen. a Rekombinante Inzuchtstämme (RI-Stämme) werden durch das Kreuzen von zwei verschiedenen Inzucht-
stämmen entwickelt. Die F1-Nachkommen sind an allen Genorten vollständig heterozygot. Ab hier wird eine Serie von Bruder-Schwester-Verpaarungen an-
gesetzt; die Nachkommen werden für 20 Generationen immer wieder untereinander gekreuzt. Im Ergebnis erhalten wir vollständige Inzuchtstämme, die
für eine einzigartige Kombination an allen Genorten der elterlichen Genome homozygot sind. b Bei den erweiterten Kreuzungslinien (engl. advanced inter-
cross lines) ist die Absicht, die Rekombinationsfrequenz zu erhöhen; daher werden Paarungen zwischen Geschwistern und Cousins vermieden. Durch die
große Zahl an Tieren wird es erleichtert, quantitative Merkmale besser zu kartieren (vgl. 7 Abschn. 11.4.5). c Kongene Stämme werden hergestellt, um ein
einzelnes (mutiertes) Gen von einem genetischen Hintergrund auf einen anderen zu überführen. In unserem Beispiel wurde eine Maus mit einem defi-
nierten Allel (blau) auf dem Chromosom 6 nach einem anderen Stamm (rot) ausgekreuzt. Die Heterozygoten werden dann selektioniert und erneut mit
dem roten Stamm gekreuzt; nach etwa 10 Generationen ist das blaue Allel mit einigen flankierenden Sequenzen vollständig auf dem roten Hintergrund.
d Bei der Chromosomen-Substitution wird ein ganzes Chromosom auf einen anderen genetischen Hintergrund überführt; solche Stämme werden auch als
»konsom« bezeichnet. e Genomweit markierte Mäuse (engl. genome tagged mice) sind von ihrem Konzept her den kongenen Stämmen ähnlich; allerdings
wird dabei nicht ein einzelnes Gen auf einen anderen Hintergrund übertragen, sondern überlappende Fragmente des Genoms, sodass am Ende eine
Stammsammlung aufgebaut ist, die das gesamte Genom in einzelnen Bruchstücken auf einem anderen genetischen Hintergrund repräsentiert. (Nach
Peters et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

sich funktionell, und den 23 Paaren autosomaler Chromoso- Auch biochemische und physiologische Abläufe sind in vie-
men des Menschen stehen 19 Chromosomenpaare der len Fällen bei Mensch und Maus ähnlich. Mäuse haben unter
Maus gegenüber. Über 90 % des Genoms von Maus und optimalen Lebensbedingungen eine Lebenserwartung von
Mensch können in entsprechende Abschnitte konservierter 2 bis 3 Jahren. Der Lebenszyklus der Maus von der Befruch-
Syntenie unterteilt werden. Dies entspricht den Regionen, tung bis zum geschlechtsreifen Tier dauert 9 Wochen – für
in denen die Reihenfolge der Gene in beiden Spezies in der einen Säuger eine relativ kurze Zeitspanne. (Eine interessan-
Evolution erhalten blieb. Die Maus hat aber in solchen Gen- te Zusammenfassung von 100 Jahren Mausgenetik mit vie-
familien eigenständige Entwicklungen durchlaufen, die für len Hinweisen auf Originalarbeiten findet sich in zwei Auf-
die Reproduktion, die Immunität und die Entwicklung des sätzen von Kenneth Paigen 2003a, b sowie bei Guénet
Geruchssinns verantwortlich sind. Das deutet darauf hin, 2011).
dass diese physiologischen Systeme für die Maus besonders
wichtig sind. In den frühen Abschnitten der Embryonalent- C Ein besonderer Ansatz zur systematischen, standardisierten
wicklung sind Maus und Mensch allerdings kaum zu unter- phänotypischen Charakterisierung der Maus wird in der
scheiden. Prinzipielle Abläufe wie Oogenese, Spermatoge- »Deutschen Mausklinik« verfolgt, die am Helmholtz Zentrum
nese, Befruchtung und Organentwicklung sind vergleichbar. München in Neuherberg im Jahr 2002 eröffnet wurde
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
207 5
(http://www.mouseclinic.de). Hier arbeiten Spezialisten aus
verschiedenen Gebieten zusammen, um Mausmutanten auf
(fast) alle möglichen Krankheitsbilder nicht-invasiv zu unter-
suchen. Dazu gehören Allergien, Augenerkrankungen, Ener-
gie-Metabolismus, Immunologie, klinisch-chemische Para-
meter, Knochen- und Knorpelentwicklung, Lungenfunktion,
Neurologie, Schmerzempfinden, Steroid-Metabolismus, Ver-
halten und schließlich pathologische Untersuchungen.

> Die Maus ist seit über 100 Jahren ein etablierter Modell-
organismus in der Genetik. Neben der relativ kurzen
Generationszeit besteht der große Vorteil der Maus darin,
dass es möglich war, viele verschiedene Mutanten- und
Inzuchtlinien zu generieren. In den letzten Jahrzehnten
wurden viele Verfahren zur gezielten genetischen Modifi- . Abb. 5.44 Diabetes-Maus: Das Bild zeigt eine homozygote Diabetes-
kation an der Maus entwickelt und etabliert. Mutante aus dem Pariser Institut Pasteur; die durch eine Mutation im Leptin-
Rezeptor-Gen charakterisiert ist. Da die rezessive Mutation ursprünglich
mit dem Gensymbol db abgekürzt wurde, ist die heutige Symbolisierung
Leprdb-Pas1. Durch die Mutation verliert die Maus das Gefühl des Sattseins
und frisst daher immer weiter. Die dicke Maus (oben) wiegt etwa 85 g; eine
Wildtyp-Maus (unten) nur etwa 20–25 g. (Nach Guénet 2011, mit freund-
licher Genehmigung von Springer)

. Abb. 5.45 Genetisch veränderte Mäuse


können heute auf sehr unterschiedlichen Wegen
gewonnen werden. Ausgangspunkt ist immer ein
elterlicher Inzuchtstamm. Zufällige Mutagenese
kann durch Gabe von Ethylnitrosoharnstoff (ENU)
erfolgen; das Abschalten von Genen durch direkte
Applikation von RNAi oder durch Herstellung
einer transgenen Maus. Andere Verfahren be-
nutzen embryonale Stammzellen der Maus, um
Gene auszuschalten (engl. knock out). Eine Mög-
lichkeit, um die Ausschaltung eines Gens räumlich
oder zeitlich zu steuern, erfordert die Kombina-
tion von loxP-Stellen und der Cre-Rekombinase
(7 Abschn. 4.3.3). Wenn die Cre-Rekombinase
aktiv ist (durch Verwendung von Tamoxifen oder
eines entsprechenden gewebespezifischen
Promotors), schneidet sie das von zwei loxP-
Stellen flankierte Gen aus; zurück bleibt nur eine
loxP-Stelle (7 Technikbox 27). (Nach Argmann
et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)
208 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

5.3.8 Die Ratte

Die Ratte war über lange Zeit eines der Standardmodelle in vielen
Gebieten der biomedizinischen Forschung, z. B. für Herz-Kreis-
lauf-Erkrankungen, Alterserkrankungen, Infektions- und Ent-
zündungskrankheiten, Autoimmunerkrankungen, Krebserkran-
kungen, Transplantationsbiologie, Pharmakologie und Toxikolo-
gie sowie für neurobiologische Fragen durch Verhaltens- und
Suchtuntersuchungen. In den letzten etwa 30 Jahren hat die Rat-
te allerdings gegenüber der Maus deutlich an Einfluss verloren
5 und ist erst jetzt wieder dabei, mit der Entwicklung entsprechen-
der genetischer Technologien diesen Einfluss wieder zurückzu-
gewinnen.
Die moderne braune Laborrate (Rattus norvegicus, Wander-
. Abb. 5.46 Eine chimäre Ratte (rechts) mit einem ihrer Nachkommen
ratte; engl. Stammbezeichnung: Brown Norway) stammt ur-
(links). Die chimäre Ratte wurde durch die Injektion von embryonalen
sprünglich aus Zentralasien und hat sich von dort aus als Beglei- Stammzellen aus einer DA-Ratte (gekennzeichnet durch das Blutgruppen-
ter des Menschen über die Welt verbreitet; in Norddeutschland allel d und das Fellfarben-Gen a) in die Blastozysten einer Fischer-344-Ratte
ist sie seit dem 9. Jahrhundert heimisch. John Berkenhout gab in und anschließenden Embryotransfer in eine scheinschwangere Sprague-
seinem Werk Outlines of the Natural History of Great Britain and Dawley-Ratte gewonnen. Das pigmentierte Fell ist kennzeichnend für die
Herkunft aus embryonalen Stammzellen von DA-Ratten. (Nach Li et al.
Ireland (1769) irrtümlicherweise Norwegen als ihren Ursprung
2011, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
an – daher der Namenszusatz »norvegicus«. Im Gegensatz dazu
kommt die schwarze Ratte (Rattus rattus, Hausratte) seit dem 4.
bis 2. vorchristlichen Jahrhundert in Europa vor (zunächst in
Korsika, später auch in Pompeji); in England ist sie seit der Mitte C Das Genom der Ratte wurde 2004 in Nature vom Rat Genome
des 3. Jahrhunderts n. Chr. bekannt – und im Mittelalter war Sequencing Project Consortium publiziert; als »Standard-
diese Rattenart die Überträgerin der Beulenpest. Die Hausratte Ratte« wurde eine weibliche Brown-Norway-Ratte (BN) ver-
R. rattus kam ursprünglich aus der indisch-malayischen Region; wendet (genaue Stammbezeichnung BN/SsNHsd): Diese
sie wurde in Europa allerdings durch die aggressivere und größe- braune Ratte stammt ursprünglich aus einer Zucht von He-
re Wanderratte R. norvegicus weitgehend verdrängt. len Dean King; sie wurde von Willys K. Silvers durch Bruder-
R. norvegicus war zu Beginn des 19. Jahrhunderts die erste Schwester-Verpaarungen seit 1958 als Inzuchtstamm über
Säugerspezies, die für wissenschaftliche Zwecke domestiziert 34 Generationen etabliert und 1972 an eines der National
wurde; der erste Bericht über eine gezüchtete Rattenkolonie Institutes of Health (USA) übergeben. Die zur Sequenzie-
stammt aus dem Jahr 1856. Die ersten genetischen Untersuchun- rung verwendete Ratte stammte dann aus einer davon ab-
gen an der Ratte wurden in den Jahren 1877 bis 1885 durchge- geleiteten Zucht von Harlan Sprague Dawley und wurde
führt und betrafen die Fellfarben. Nach der Wiederentdeckung von der Medizinischen Hochschule Wisconsin noch 13 Ge-
der Mendel’schen Gesetze (7 Abschn. 11.1) zeigte Bateson 1903, nerationen weitergezüchtet, um eine homogene Inzucht-
dass die Fellfarbe ein erbliches Merkmal ist. Der erste Inzucht- linie zu erhalten (BN/SsNHsd/MCWi, MCW für Medical
stamm der Ratte wurde 1909 durch Helen Dean King im Wistar- College of Wisconsin, i für Inzucht). Die Sequenzierung wurde
Institut in Philadelphia etabliert – im selben Jahr begannen auch federführend an der Baylor-Hochschule für Medizin
die entsprechenden systematischen Züchtungen der Maus. Im (Houston, USA) durchgeführt; in Deutschland war das
Folgenden wurde die Maus zum Modell der Wahl für die Säuge- Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin-
tiergenetiker, wohingegen die Ratte eher in der humanmedizini- Buch beteiligt.
schen Forschung eingesetzt wurde.
Inzwischen wurden über 220 Inzuchtstämme etabliert. Dar- Das Rattengenom umfasst 2,75 Gb und ist damit etwas kleiner als
unter verstehen wir Zuchten, die über mehr als 20 aufeinander- das Genom des Menschen (2,9 Gb), aber etwas größer als das der
folgende Generationen durch Bruder-Schwester-Verpaarungen Maus (2,6 Gb). Die Zahl der codierten Gene in der Ratte ent-
entstanden sind. Neben den schon erwähnten Brown-Norway- spricht etwa derjenigen, die wir auch von Menschen und Mäusen
Ratten und Philadelphia-Ratten (inzwischen ausgestorben) gibt kennen. Einige Gene, die in der Ratte gefunden wurden, aber
es weitere wichtige Inzuchtstämme, z. B. Lewis-Ratten, Long- nicht in der Maus, entstanden vor allem durch Expansionen
Evans-Ratten, Sprague-Dawley-Ratten oder Wistar-Ratten. Eine von Genfamilien, die für die Herstellung von Pheromonen
Übersicht über die verschiedenen Rattenstämme gibt es auf der verantwortlich sind, und solchen, die an der Immunität, der
Homepage der Ratten-Genom-Datenbank (http://rgd.mcw.edu). Wahrnehmung von chemischen Substanzen, der Entgiftung
Inzwischen sind auch für Ratten Verfahren etabliert, die es er- oder an der Proteolyse beteiligt sind. Aktuelle Sequenzinfor-
lauben, transgene Ratten herzustellen. Ein Beispiel dafür zeigt mationen der Ratte findet man auf der ENSEMBL-Homepage
(. Abb. 5.46). (http://www.ensembl.org/Rattus_norvegicus/Info/Index); außer-
dem enthält die Rattengenom-Datenbank (http://rgd.mcw.edu/)
viele praktische Informationen über Gene, Marker und die ver-
5.3 · Wichtige eukaryotische Modellorganismen in der Genetik
209 5
schiedenen Rattenstämme; die Nomenklatur der Gene, Mutatio- tion activator-like effector nucleases) auch für die Ratte hinzuge-
nen und Allele ist ähnlich wie bei der Maus (http://rgd.mcw.edu/ kommen (7 Abschn. 10.7.2). Schließlich sind inzwischen auch
nomen/nomen.shtml). Methoden etabliert, um Mutanten und transgene Ratten durch
Neuere Entwicklungen zeigen, dass auch in der Ratte durch das Einfrieren von Spermien und Embryonen über lange Zeit
verschiedene Methoden transgene Tiere bzw. Mutanten herge- kostengünstig zu archivieren (z. B. das Rat Resource & Research
stellt werden können. Dazu gehören vor allem die klassische Center an der Universität von Missouri in Columbia/USA: www.
DNA-Mikroinjektion und Gentransfer durch Lentiviren in frühe rrrc.us). Der Vergleich entsprechender transgener Ratten- und
Embryonen sowie die Keimbahnmutagenese durch Ethylnitro- Mausstämme zeigt in einigen Fällen, dass die Ratte ein »besseres«
soharnstoff (ENU). Außerdem sind in den letzten Jahren Tech- Modell als die Maus ist, weil sie das menschliche Krankheitsbild
niken wie konditionale Mutagenese (durch das Cre-loxP-System) genauer abbilden kann. Das gilt z. B. für Bluthochdruck, Arterio-
und die Einführung von Keimbahn-Mutationen durch Zinkfin- sklerose oder die Huntington’sche Erkrankung (weitere Beispiele
ger-Nukleasen bzw. die TALENs-Technologie (engl. transcrip- finden sich bei Tesson et al. 2005).

Kernaussagen
5 Die Zellen höherer Organismen zeichnen sich durch eine Un- zeichnet. Die dazwischenliegenden »Lücken« werden als
tergliederung in Zellkern und Cytoplasma aus (Eukaryoten). G1- bzw. G2-Phase bezeichnet.
Der Kern ist durch eine Kernmembran vom Cytoplasma abge- 5 Der Zellzyklus ist einer komplexen Regulation unterworfen:
grenzt; das Karyoplasma ist aber über Poren in der Kernmem- Der Eintritt in die S-Phase ist von der Überwindung des
bran mit dem Cytoplasma verknüpft. Sowohl im Cytoplasma Restriktionspunktes anhängig. Wichtige Proteine hierbei sind
als auch im Karyoplasma befinden sich fibrilläre Elemente, die Cycline und Cyclin-abhängige Proteinkinasen.
das Cytoskelett bzw. das Kernskelett aufbauen. 5 Apoptose (programmierter Zelltod) ist ein genetisch program-
5 Cytoplasmatische Organellen wie Mitochondrien und Plas- mierter Prozess zur Verhinderung von unkontrollierter oder
tiden besitzen ein eigenes Genom aus doppelsträngiger, unerwünschter Zellproliferation. Eine zentrale Rolle in der
zirkulärer DNA. Sie haben sich aus intrazellulären symbioti- Regulation der Apoptose spielt p53; dieses Protein wirkt auch
schen Parasiten entwickelt und ihre Eigenständigkeit zuguns- als Tumorsuppressor.
ten einer engen funktionellen Interaktion mit dem nukleären 5 Wichtige eukaryotische Modellorganismen sind bei den Mikro-
Genom aufgegeben. Das Plastidengenom enthält bis zu organismen Hefen und Pilze sowie bei den Pflanzen Arabidop-
200 Gene, das mitochondriale Genom jedoch nur etwa 40. sis und Antirrhinum. Die Taufliege Drosophila melanogaster war
Der genetische Code der Mitochondrien unterscheidet sich und ist bei den niederen Tieren der wichtigste Modellorganis-
teilweise vom Universal-Code, mitochondriale DNA wird mus, ergänzt seit einiger Zeit durch den Fadenwurm Caenor-
nur matroklin vererbt. habditis elegans. Unter den Vertebraten hat sich der Zebrafisch
5 Chromosomen sind in bestimmten Kompartimenten des Zell- als genetisches Modell etabliert, und die Maus ist bei den Säu-
kerns (Territorien) zu finden. getieren noch das Modell der Wahl. Die Ratte erobert sich al-
5 Insulator-Elemente trennen Bereiche unterschiedlicher lerdings in der biomedizinischen Forschung als genetisch ma-
Transkriptionsaktivitäten auf den Chromosomen. nipulierbares Modell ihre Bedeutung zurück.
5 Der Lebenszyklus einer Zelle ist durch die DNA-Replikation
(S-Phase) und die Teilung der Zelle (Mitose, M-Phase) gekenn-

Übungsfragen
1. Erklären Sie, warum es Vererbungsmuster 2. Beschreiben Sie kurz die Rolle der Lamin- 4. Nennen Sie einige Charakteristika, die die
gibt, die offensichtlich darauf beruhen, schicht an der Innenseite der Kernhülle des genetischen Modellsysteme Hefe, Arabi-
dass genetische Informationen mit dem Zellkerns. dopsis, Drosophila, Zebrafisch und Maus
Cytoplasma übertragen werden können. 3. Was verstehen wir unter »Zellzyklus«? gemeinsam haben.
210 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

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212 Kapitel 5 · Die eukaryotische Zelle und Modellorganismen

Technikbox 15

Autoradiographie an Geweben, Zellen und Chromosomen


Anwendung: Lokalisation radioaktiv markier- (DIG-spezifische Antikörper) oder Biotin (Avi- und für die erforderliche Zeit im Dunkeln ex-
ter Moleküle in biologischen Materialien. din oder Streptavidin) lässt sich durch die en- poniert. Der fotografische Film wird durch die
zymatische Umsetzung eines Substrats in beim Zerfall der Radioisotope emittierte Ener-
Voraussetzungen · Materialien: Zur Markie- Farbstoff oder durch Enzym-induzierte Che- gie lokal geschwärzt. Nach der Entwicklung er-
rung werden β-Strahler mit niedrigem Ener- mofluoreszenz nachweisen (z. B. mit AMPPD; möglichen die belichteten Stellen des Films
giespektrum verwendet. Besonders geeignet 3-(2’-Spiroadamantan)-4-methoxy-4-(3ȹ-phos- die Lokalisation der markierten Verbindungen
sind 3H-, 14C-, 32P- und 35S-markierte Verbin- phoryloxy)phenyl-1,2-dioxetan). innerhalb eines Gewebes, einer Zelle oder
dungen, aber auch 125I-markierte Moleküle Beachte: Der Umgang mit radioaktiven Stoffen eines Chromosoms. Die erreichte Auflösung ist
sind mit Einschränkungen einsetzbar. Neuer- unterliegt der Strahlenschutzverordnung; da- von den verwendeten Verbindungen abhän-
5 dings finden auch nicht-radioaktive Verbin- bei sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen. gig. Mit 3H-markierten Verbindungen werden
dungen wie Digoxigenin (DIG) oder Biotin, die Methode: Nach dem Einbau markierter Ver- die höchsten Auflösungen (ca. 1 μm bei cytolo-
an Nukleotide gebunden werden, mit einem bindungen in biologische Materialien (beson- gischen Präparaten) erzielt. Damit ist die Loka-
anschließenden Nachweis durch Antikörper ders Nukleinsäure und Proteine) werden cyto- lisation von Nukleinsäuren in definierten Be-
oder Avidin Verwendung. Diese sind mit alkali- logische oder elektronenmikroskopische Prä- reichen von Metaphasechromosomen (Phase
scher Phosphatase oder anderen Enzymen ge- parate hergestellt. Diese werden mit einem der Mitose) möglich.
koppelt (immunologische Nachweismetho- lichtempfindlichen Film überzogen (heute
den, 7 Technikbox 29). Deren Bindung an DIG meist mit flüssiger fotografischer Emulsion)

Fotografischer Film

Cytologisches
Präparat

Autoradiographie: Radioaktiv markiertes Gewebe wird auf einen Objektträger gebracht und mit lichtempfindlicher Emulsion bedeckt. Nach Exposi-
tion des Films wird er entwickelt. Die durch Silberkörnchen gekennzeichneten Regionen des Präparats lassen die Lokalisation radioaktiven Materials
im Gewebe erkennen. In den Fotos sind die Resultate einer Autoradiographie zu sehen (rechts). Im Phasenkontrast lassen sich cytologische Struk-
turen des Gewebes identifizieren (oben), während im Durchlicht (unten) die Silberkörnchen in der Emulsion deutlich erkennbar sind. Falls erforder-
lich, lassen sie sich nachträglich auch wieder durch Behandlung mit Abschwächerlösung entfernen, um die darunterliegenden Gewebeteile ge-
nauer erkennen zu können.
213 6

Eukaryotische Chromosomen

Teilung einer Drosophila-Zelle. Tubulinfibrillen erscheinen grün, Centrosomen magenta, Kinetochore rot und
DNA blau. (Nach Maiato et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

6.1 Das eukaryotische Chromosom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214


6.1.1 Chromosomen als Träger der Erbanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
6.1.2 Morphologie der Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
6.1.3 Centromer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
6.1.4 Telomer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

6.2 Organisation der DNA im Chromosom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227


6.2.1 Chromosomale Proteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
6.2.2 Nukleosomen und Chromatinstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

6.3 Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements . . . . . . . . . . 233


6.3.1 Mitose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
6.3.2 Meiose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
6.3.3 Rekombination bei Eukaryoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
6.3.4 Genkonversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

6.4 Variabilität der Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248


6.4.1 Polytäne Chromosomen (Riesenchromosomen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
6.4.2 Lampenbürstenchromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
6.4.3 Überzählige und keimbahnlimitierte Chromosomen . . . . . . . . . . . . . . . 251
6.4.4 Geschlechtschromosomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

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DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
214 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Überblick

Die Chromosomen sind die lichtmikroskopisch Während der Zellteilung (Mitose) werden während für die Keimzellentwicklung die
sichtbaren, materiellen Träger der Gene. Aus im Kern Chromosomen sichtbar, der Nukleolus Anzahl der Chromosomen halbiert wird. Die
cytologischen Beobachtungen wissen wir, dass hingegen verschwindet und die Kernmembran Untersuchung der Verteilung der Geschlechts-
die Chromosomen, und damit die Gene, in löst sich auf. Gleichzeitig bildet sich ein Spin- chromosomen zeigte, dass die meiotische
Mitose und Meiose gleichmäßig auf die Toch- delapparat, mit dessen Hilfe sich die Chromo- Paarung je zweier Chromosomen zwischen
terzellen verteilt werden. In den Centromerbe- somen gleichmäßig auf die zwei neu entste- den beiden elterlichen (homologen) Chromo-
reichen der Chromosomen dienen die Kineto- henden Tochterzellen verteilen. Während die somen des Organismus erfolgt.
chore als Ansatzpunkte für die Mikrotubuli des Kernmembran sich neu bildet, dekondensie- In einem Chromosom ist eine große Anzahl
Spindelapparates. Damit werden die Chromo- ren die Chromosomen und bilden das diffuse von Genen gekoppelt. Vor der ersten meioti-
somen bzw. deren Untereinheiten, die Chro- Interphasechromatin; auch der Nukleolus schen Teilung läuft ein Prozess ab, der für den
matiden, bei der Zellteilung auseinanderge- bildet sich neu. Austausch von Genen zwischen jeweils zwei
zogen und auf die Tochterzellen aufgeteilt. Untersucht man die Zellteilungen wäh- Chromosomen sorgt, die Rekombination. Wäh-
Besondere terminale Domänen, die Telomere, rend der Keimzellentwicklung, so stellt man ei- rend der Rekombination findet ein Crossing-
6 gewährleisten, dass die freien Enden der DNA nen grundsätzlichen Unterschied zwischen over, also ein Stückaustausch zwischen je einer
im Chromosom nicht von Exonukleasen abge- den letzten zwei Teilungen (Meiose) vor der Chromatide zweier homologer Chromosomen,
baut werden oder durch Reparaturenzyme Gametenbildung fest. In der ersten dieser Zell- statt. Das führt zu einer Vermischung von Alle-
mit den freien Enden der DNA eines anderen teilungen wird die Anzahl der Chromosomen len während der Keimzellentwicklung. Chromo-
Chromosoms verschmelzen. auf die Hälfte reduziert. Das geschieht durch somen sind demnach dynamische Strukturen,
Die chromosomale DNA wird in einer ers- die Paarung je zweier morphologisch gleicher die strukturell und funktionell eng mit dem
ten Stufe in der Form von kompakten Nukleo- Chromosomen, die während der ersten meioti- Stoffwechsel und dem Differenzierungsgrad
somen organisiert. Sie windet sich hierzu zwei- schen Zellteilung zu den entgegengesetzten der jeweiligen Zelle verbunden sind; wir kön-
mal um einen Komplex aus Histonproteinen. Spindelpolen wandern. In der zweiten meioti- nen daher auch aktive Chromosomenabschnit-
Eine Kette derartiger DNA-Histonpartikel bil- schen Teilung werden (wie bei der Mitose) die te (Euchromatin) und inaktive Regionen (Hete-
det eine Chromatinfibrille mit einem Durch- beiden Chromatiden eines jeden Chromosoms rochromatin) unterscheiden. Ihre Bedeutung
messer von 10 nm. Diese Fibrille wird jedoch auf die Tochterzellen verteilt. geht weit über das hinaus, was man von einem
zusätzlich in Fibrillen höherer Ordnung ver- Bei jeder gewöhnlichen Zellteilung wird reinen »Gen-Depot« erwarten würde.
drillt. Aktives und inaktives Chromatin unter- die gleichmäßige Verteilung des gesamten
scheiden sich dabei in dem Ausmaß der Kon- genetischen Materials bei unveränderter Ge-
densation. samtzahl der Chromosomen sichergestellt,

6.1 Das eukaryotische Chromosom 1895) isolierte 1871 im Keller des Tübinger Schlosses aus Eiter
die Nukleinsäuren als einen Hauptbestandteil des Chromatins.
6.1.1 Chromosomen als Träger der Erbanlagen Er selbst erkannte die Bedeutung seiner Entdeckung nicht, son-
dern vermutete wegen der chemischen Einförmigkeit dieser Ver-
Die wichtige Rolle der Chromosomen im Zellkern wurde durch bindungen, dass Proteine die wichtigeren Bestandteile des Chro-
die cytologischen Studien der Zellteilung deutlich. Hierbei spiel- matins seien.
ten vor allem Untersuchungen an befruchteten Eiern eine Rolle, Eine endgültige Vorstellung über die chromosomale Grund-
wie sie unter anderem von Walther Flemming (1843–1905) und lage der Vererbung zu entwickeln, gelang erst im ersten Jahr-
Carl Rabl (1853–1917) durchgeführt wurden. Eine der wichtigs- zehnt des 20. Jahrhunderts nach der Wiederentdeckung der
ten Erkenntnisse war, dass die Anzahl der Chromosomen wäh- Mendel’schen Regeln (1900), obwohl zahlreiche wissenschaft-
rend der Zellteilung (Mitose) (Flemming 1882) unverändert liche Beobachtungen, die eindeutige Hinweise auf die materielle
bleibt. Etwa gleichzeitig beschrieben Edouard van Beneden Basis des Erbmaterials enthielten, bereits in der zweiten Hälfte
(1846–1910), Theodor Boveri (1862–1915), Thomas Harrison des 19. Jahrhunderts gemacht worden waren. Edmund Beecher
Montgomery (1873–1912) und andere Cytologen, dass durch Wilson (1856–1939), Walter Stanborough Sutton (1876–1916)
einen besonderen Zellteilungsmechanismus während der Entste- und Theodor Boveri (1862–1915) zeigten zu Beginn des 20. Jahr-
hung männlicher und weiblicher Keimzellen eine Halbierung hunderts, dass das mitotische und meiotische Verhalten der
der Anzahl der Chromosomen stattfindet und dass durch die Chromosomen vollständig den Erwartungen der genetischen
Vereinigung der Keimzellen die ursprüngliche Chromosomen- Analysen über das Verhalten des Erbmaterials entspricht. Sie
anzahl, wie man sie in somatischen Zellen findet, wiederherge- schufen hierdurch die Chromosomentheorie der Vererbung.
stellt wird. Für diesen besonderen Teilungsmechanismus wurde Als endgültiger Beweis für die Richtigkeit dieser Theorie wird die
von J. B. Farmer und E. Moore (1905) der Begriff Meiose einge- Übereinstimmung zwischen dem Erbgang und dem cytologi-
führt (7 Abschn. 6.3.2). Bereits 1885 zieht August Weismann schen Verhalten der Geschlechtschromosomen und dem Erb-
(1834–1914) in seiner berühmten Abhandlung Die Continuität gang geschlechtsgebundener Merkmale gewertet.
des Keimplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung einen Ein Widerspruch zwischen den Mendel’schen Regeln
entscheidenden Schluss aus all diesen Befunden, ohne ihn jedoch (7 Abschn. 11.1) und cytologischen Beobachtungen scheint in
mit den Mendel’schen Beobachtungen in Verbindung zu bringen. der Feststellung zu liegen, dass die Anzahl der Chromosomen bei
Fast gleichzeitig wurden auch die chemischen Verbindungen den meisten Organismen relativ niedrig ist (. Tab. 6.1), jedenfalls
entdeckt, die, wie sich erst viel später (1944) herausstellte, die erb- zu gering, um mit der Vorstellung vereinbar zu sein, dass jedes
lichen Eigenschaften bestimmen: Friedrich Miescher (1844– Chromosom einer Erbeigenschaft zuzuordnen ist. Obwohl über
6.1 · Das eukaryotische Chromosom
215 6
die tatsächliche Anzahl der Erbeigenschaften (Gene) verschiede-
. Tab. 6.1 Die Chromosomenanzahlen verschiedener Organismen
ner Organismen noch bis in jüngste Zeit widerstreitende Ansich-
Art Chromosomen- ten vertreten wurden, wurde doch sehr bald erkannt, dass jedes
anzahl (2n) Chromosom Hunderte oder sogar Tausende von Erbeigenschaf-
ten tragen muss. Dieser Schluss steht nunmehr aber in eindeuti-
Aspergillus nidulans 8 (n)
gem Widerspruch zu der Regel Mendels, dass sich Merkmale
Neurospora crassa 7 (n)
unabhängig voneinander auf die Nachkommen verteilen, da alle
Saccharomyces cerevisiae 16 (n)
Chlamydomonas reinhardtii 16 (n)
in einem Chromosom gelegenen Gene gekoppelt bleiben, also
Vicia faba (Saubohne) 12 nicht unabhängig voneinander verteilt werden (7 Abschn. 11.1
Allium cepa (Zwiebel) 16 und 7 Abschn. 11.4). Dieser scheinbare Widerspruch zu Mendels
Antirrhinum majus (Löwenmäulchen) 16 experimentellen Ergebnissen konnte durch die Genetiker da-
Arabidopsis thaliana (Ackerschmalwand) 10 durch aufgelöst werden, dass sie erkannten, dass die in den
Zea mays (Mais) 20 Untersuchungen Mendels studierten Merkmale (. Tab. 11.1) auf
Oryza sativa (Reis) 42 unterschiedlichen Chromosomen liegen oder in einigen Fällen
Triticum aestivum (Weizen) 42 (6n) im Chromosom so weit voneinander entfernt liegen, dass stets
Hordeum vulgare (Gerste) 14 ein Crossing-over zwischen den gekoppelten Genen stattfindet.
Secale cereale (Roggen) 14 Daher verteilen sie sich während der Meiose tatsächlich schein-
Nicotiana tabacum (Tabak) 48 (4n)
bar unabhängig voneinander auf die Keimzellen.
Solanum tuberosum (Kartoffel) 48 (4n)
Im Gegensatz zur Uniformität der Chromosomen innerhalb
Lycopersicum esculentum (Tomate) 24
eines Organismus und zwischen Organismen einer Art steht
Pisum sativum (Erbse) 14
die große Variabilität der Zahlen und Morphologie der Chro-
Brassica oleracea (Kohl) 18
Pinus ponderosa 24
mosomen, die man beim Vergleich verschiedener Arten und
Ophioglossum reticulatum (polyploid) 1260 vor allem höherer Gruppen des Tier- und Pflanzenreichs findet
Caenorhabditis elegans (Fadenwurm) 11 ᄝ, 12 ᄛ (. Tab. 6.1). Weder die Anzahl noch die Gestalt der Chromoso-
Planaria torva 16 men weist dabei eine Korrelation zur Entwicklungshöhe des be-
Ascaris megalocephala var. univalens 2 treffenden Organismus auf. Einzellige Organismen, wie etwa
(Spulwurm) Ciliaten, können eine große Anzahl von Chromosomen besitzen,
Stylonychia mytilus ca. 300 komplexe Vielzeller hingegen wenige. In manchen Organismen-
Musca domestica (Hausfliege) 12 gruppen allerdings wird offensichtlich eine größere evolutionäre
Drosophila melanogaster (Fruchtfliege) 8 Erhaltung einer bestimmten Chromosomenanzahl angestrebt als
Culex pipiens (Mücke) 6
in anderen. Es bleibt offen, ob das mit der Tendenz zu einer rela-
Apis mellifera (Honigbiene) 32 ᄛ (2n)
tiv einheitlichen Genomgröße zusammenhängt oder ob hier
16 ᄝ (n)
Bombyx mori (Seidenspinner) 56
auch eine Stabilisierung der Chromosomenanzahl selbst eine
Lysandra atlantica (Schmetterling) 446 Rolle spielt. Beispielsweise liegen die Chromosomenzahlen von
Danio rerio (Zebrafisch) 25 Säugern im Allgemeinen zwischen 2n = 40–50. Knochenfische
Triturus viridescens (Salamander) 22 (Teleostei) hingegen besitzen meist sehr viele und kleine Chro-
Rana pipiens 26 mosomen; Vögel sind ganz allgemein durch den Besitz vieler
Xenopus laevis (Krallenfrosch) 36 Minichromosomen gekennzeichnet.
Gallus domesticus (Haushuhn) ca. 78
Columba livia (Taube) 80 C Die korrekte Zahl der menschlichen Chromosomen mit
Cavia porcellus (Meerschweinchen) 64 2n = 46 wurde erst 1956 publiziert und ist seither allgemein
Mus musculus (Hausmaus) 40 akzeptiert. Eine Ursache für diesen späten Befund bei Men-
Rattus norvegicus (Wanderratte) 42 schen war die Tatsache, dass in den 1920er- und 1930er-Jah-
Mesocricetus aureatus (Goldhamster) 44 ren der Zugang zu menschlichen und insbesondere zu
Cricetulus griseus (Chinesischer Hamster) 22
männlichen Spermatogonien sehr begrenzt war – »frisches
Oryctolagus cuniculus (Kaninchen) 44
Material« war nur von exekutierten Häftlingen zu erhalten.
Felis domesticus (Katze) 38
Spermatogonien waren eine der wenigen Quellen mensch-
Canis familiaris (Hund) 78
licher Zellen, die sich schnell teilen. 1921 publizierte Theo-
Bos taurus (Stier) 60
Equus caballus (Pferd) 64 philus S. Painter über die Anzahl menschlicher Chromoso-
Equus asinus (Esel) 62 men und kam bei vielerlei technischen Unzulänglichkeiten
Ovis aries (Schaf ) 54 zum Ergebnis: Es sind 48 menschliche Chromosomen. Erst
Sus scrofa (Schwein) 40 wichtige technische Verbesserungen (Einführung der hypo-
Macaca mulatta (Rhesusaffe) 48 tonen Schock-Methode zur Spreitung des Kernmaterials und
Gorilla gorilla (Gorilla) 48 die Kombination von Colchicin als Metaphase-Blocker mit
Pan troglodytes (Schimpanse) 48 der Zellkultur) machte die richtige Bestimmung mit 46
Pongo pygmaeus (Orang-Utan) 48 durch Joe Hin Tjio und Albert Levan im Jahr 1956 möglich
Homo sapiens (Mensch) 46 – übrigens zunächst als Poster auf dem 1. Internationalen
216 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Humangenetik-Kongress in Kopenhagen! Erst danach be- Emil Heitz (1892–1965), Hans Bauer (1905–1988) und Theophi-
gann die Entwicklung der humanen Cytogenetik und ihrer lus Shickel Painter (1889–1969), die diesen wichtigen Schluss
Anwendung in der Medizin (siehe dazu 7 Abschn. 13.2). zogen. Es ist heute eindeutig geklärt, dass Chromosomen wäh-
Die korrekte Zahl der Hefechromosomen wurde übrigens rend der Interphase nicht nur in ihrer Individualität erhalten
sogar erst 1985 durch Carle und Olsen publiziert (für weitere bleiben, sondern dass sie im Interphasekern auch bestimmte La-
historische Details siehe Gartler 2006). gebeziehungen zueinander eingehen (Chromosomenterritorien;
. Abb. 5.12).
Biochemische Natur der Chromosomen Wir wir später (7 Abschn. 6.3.1) noch genauer sehen werden,
Die Chromosomen als Träger der Erbsubstanz enthalten als zen- lässt sich die Mitose selbst auch in verschiedene Phasen untertei-
tralen biochemischen Bestandteil natürlich DNA. Der zweite len. Für die Chromosomenuntersuchungen ist dabei die Meta-
wichtige Bestandteil der Chromosomen sind eine Gruppe basi- phase die wichtigste: Hier liegen die Chromosomen noch dicht
scher Proteine, die als Histone bezeichnet werden. Histone haben beieinander in der Mitte der sich teilenden Zelle (. Abb. 6.17);
ein relativ niedriges Molekulargewicht (~ 20 kDa) und zeichnen im nächsten Schritt, der Anaphase (. Abb. 6.1 und . Abb. 6.17),
6 sich durch eine hohe Bindungsaffinität für DNA aus. Wir unter- werden sie dann auseinanderzogen. Wenn man also Chromoso-
scheiden fünf Haupttypen von Histonen, abgekürzt als H1, H2A, men während der Metaphase innerhalb eines Zellkerns beobach-
H2B, H3 und H4. Sie sind von fundamentaler Bedeutung für tet, stellt man fest, dass sie nicht gleich aussehen, sondern ver-
die dichte Packung der Chromosomen; die Histone H2A, H2B, schiedene Formen haben. Idealtypisch ist dies in . Abb. 6.1a
H3 und H4 bilden ein Oktamer, um das sich die DNA zwei- dargestellt; als Beispiel eines gesamten Chromosomensatzes ist
fach  herumwindet. Diese Einheit wird als Nukleosom bezeich- der des Menschen gezeigt (. Abb. 6.1b). Bei den menschlichen
net. Der Abstand zwischen zwei Nukleosomen beträgt etwa Chromosomen herrschen neben selteneren punktförmigen stäb-
160–200 bp, sodass sich eine Struktur ergibt, die an eine Perlen- chenartige oder v-förmige Gestalten vor. Die unterschiedlichen
kette erinnert (. Abb. 6.12). Wir werden diese Struktur später im Formen ergeben sich dabei aus der relativen Position des Centro-
Detail diskutieren (7 Abschn. 6.2.2). Die Histon-Gene werden im mers (7 Abschn. 6.1.3), an dem die Spindelfasern angreifen;
7 Abschn. 7.2.2 ausführlich vorgestellt. Die Gesamtheit aus daraus ergibt sich dann üblicherweise eine Unterteilung der
DNA und daran gebundenen Proteinen wird als Chromatin be- Chromosomen in zwei Arme. Bei den v-förmigen Chromoso-
zeichnet. men gibt es solche, bei denen die beiden Chromosomenarme
Histone können an vielen Stellen posttranslational modifi- annähernd gleich lang sind, und solche, bei denen ein Arm deut-
ziert werden; besonders häufig sind Methylierungen, Acetylie- lich kürzer ist als der andere. Sehen wir uns diese Chromosomen
rungen und Phosphorylierungen. Um diese komplexen bioche- während ihrer Anaphasebewegungen an, so erkennen wir, dass
mischen Veränderungen etwas übersichtlicher darzustellen, hat bei den stäbchenförmigen Chromosomen stets ein Ende des
sich eine Art »Histoncode« entwickelt: So bedeutet beispiels- Chromosoms in Richtung auf den Spindelpol orientiert ist, bei
weise »H4K20me3«, dass das Histon H4 am Lysin-Rest 20 drei- den v-förmigen aber der Bereich des Chromosoms, an dem
fach methyliert ist (und »K« ist die Ein-Buchstaben-Abkürzung sich beide Arme treffen. Aufgrund dieses Verhaltens nennt
für Lysin). Wir werden diese Modifikationen der Histone und man die betreffenden Chromosomen auch akrozentrisch (= telo-
ihre Konsequenzen für die Regulation der Genexpression aus- zentrisch) oder metazentrisch. Zwischen beiden Extremformen
führlich im Epigenetik-Kapitel (7 Abschn. 8.1.3) besprechen. der Chromosomenmorphologie gibt es ein Kontinuum von
Varianten, das von geringfügig ungleichen Chromosomen-
armlängen bis zu einer Morphologie reicht, bei der ein zweiter
6.1.2 Morphologie der Chromosomen Chromosomenarm kaum erkennbar ist. Man spricht demgemäß
von submetazentrischen oder subtelozentrischen Chromo-
Die Untersuchung des Zellzyklus (7 Abschn. 5.2; . Abb. 5.18) hat somen.
uns gezeigt, dass wir Chromosomen lichtmikroskopisch nur Die Chromosomenform kann uns auch wichtige Hinweise
während der Mitose, nicht aber in der Interphase erkennen kön- auf deren Evolution geben, denn metazentrische Chromosomen
nen. In der klassischen Cytologie hatte man sich die Frage ge- können durch Verschmelzung zweier akrozentrischer Chromo-
stellt, ob Chromosomen auch während der Interphase in ihrer somen entstanden sein oder akrozentrische durch Trennung bei-
Individualität erhalten bleiben oder ob sie sich am Ende der der Arme eines metazentrischen Chromosoms. Die Verschmel-
Mitose auflösen und erst zu Beginn der folgenden Mitose neu zung akrozentrischer Chromosomen wird auch Robertson’sche
ausbilden. Diese Frage hätte bereits durch die cytologischen Fusion (zentrische Fusion) (engl. Robertsonian fusion) genannt
Beobachtungen Walther Flemmings (1843–1905) und Edouard und ist ein für die Evolution von Säugerchromosomen charakte-
Gérard Balbianis (siehe . Abb. 6.29) definitiv beantwortet wer- ristisches Phänomen. Erscheinungen dieser Art sind insbeson-
den können, nachdem auch Carl Rabl (1853–1917) sich auf- dere für die Ermittlung populationsgenetischer und evolutionä-
grund cytologischer Untersuchungen an Amphibienzellkernen rer Zusammenhänge von Bedeutung.
bereits im Sinne einer chromosomalen Kontinuität durch den
gesamten Zellzyklus hindurch ausgesprochen hatte. Dennoch > Chromosomen sind in der kondensierten Form normaler-
wurde die Tatsache der Konstanz der Chromosomenindividua- weise nur während der Mitose und Meiose sichtbar (vor
lität erst auf der Grundlage der Beobachtungen von Cytologen in allem in der Metaphase). Ihre Größe und Form variiert
den 1930er-Jahren endgültig akzeptiert. Es waren gleichzeitig stark und ist jeweils charakteristisch für eine Spezies.
6.1 · Das eukaryotische Chromosom
217 6

. Abb. 6.1 Verschiedene Chromosomenformen. a Schematische Dar-


stellungen: links in der Metaphasekonfiguration, rechts in ihrer charakte-
ristischen Anaphaseanordnung. Es gibt Spindelfasern, die an den Centro-
meren (Kreise) ansetzen (Kinetochorfibrillen), und solche, die von Pol zu
Pol durchlaufen (Polarfibrillen). b Menschlicher Chromosomensatz mit
46 Chromosomen (unsortiert; historische Darstellung). (b nach Gartler 2006,
b mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Die zweite auffallende Eigenschaft eines Metaphasechromosoms > Grundeinheit eines Chromosoms ist die Chromatide.
ist dessen deutliche Längsteilung: Es besteht aus zwei Längs- Ein Chromosom besteht vor der Replikation aus einer
untereinheiten, die wir Chromatiden nennen. Sie sind das Pro- einzigen Chromatide, nach der Replikation in der S-Phase
dukt des Verdoppelungsmechanismus der Chromosomen, der aus zwei identischen Schwesterchromatiden. Eine Chro-
während der S-Phase abläuft (Replikation). Es entstehen dabei in matide besteht aus einem kontinuierlichen DNA-Doppel-
allen Chromosomen aus einer Chromatide zwei Schwesterchro- strang.
matiden. Die Chromatiden sind zunächst eng gepaart, trennen
sich aber mit der fortschreitenden Kondensation der Chromo- Bei der Anwendung von besonderen Färbungsverfahren, die als
somen und hängen schließlich in der Metaphase nur noch in Bänderungstechniken bezeichnet werden, kann man ein hohes
ihren Centromerbereichen zusammen. Erst in der Anaphase Maß an Auflösung in der Chromosomenfeinstruktur erreichen.
trennen sie sich unter dem Einfluss der Spindel und wandern Sie erlaubt die eindeutige individuelle Identifikation eines jeden
zu den entgegengesetzten Spindelpolen. Durch diesen Mecha- Chromosoms auch in Organismen, deren Karyotyp früher eine
nismus ist gewährleistet, dass beide Tochterzellkerne eine Unterscheidung der verschiedenen Chromosomen allenfalls in
Chromatide eines jeden Chromosoms erhalten. Eine Chroma- der sehr groben Form von Chromosomengruppen gestattete. Als
tide enthält einen DNA-Doppelstrang und ist damit das Karyotyp bezeichnet man die Gesamtheit der Eigenschaften
Grundelement eines Chromosoms; von der Anaphase bis zur eines Chromosomensatzes, also die Anzahl und die spezifische
S-Phase besteht ein Chromosom aus einer Chromatide – nach Form der einzelnen Chromosomen. Das beste Beispiel für die
der Verdoppelung der DNA und vor der Teilung der Zelle aus Vorteile der erhöhten Auflösung durch Bänderungstechniken
zwei (»Schwesterchromatiden«). Wenn man von einem Chromo- sind menschliche Chromosomen (. Abb. 6.2), bei denen man
som spricht, wird man daher – je nach dem Zusammenhang – zunächst lediglich sieben Chromosomengruppen und zwei Ge-
zuvor klären müssen, ob man ein Chromosom vor oder nach der schlechtschromosomen auf der Grundlage ihrer Größenunter-
S-Phase meint. Den Status des Zellkerns kennzeichnet man da- schiede identifizieren konnte.
her auch sinnvollerweise durch Angabe der Anzahl an Chroma- Man unterscheidet heute im Wesentlichen vier Färbe-
tiden (C-Wert) eines Chromosomenpaares: 2C oder 4C während methoden, die unterschiedliche, aber genau reproduzierbare
der Mitose (7 Abschn. 6.3.1) oder C, 2C oder 4C während der Färbungsmuster der Chromosomen ergeben. G-Banden erhält
Meiose (7 Abschn. 6.3.2). man nach einer Vorbehandlung in warmer Salzlösung oder
mit proteolytischen Enzymen (Proteinase K oder Pronase E) und
anschließender Giemsa-Färbung oder durch die Verwendung
6
218

Springer)
36,33
36,32
36,31
36,23
36,22
36,21
36,13
36,12
36,11
25,3
35,2 35,3
35,1 25,2
34,3 25,1
34,2 24,3
34,1 24,2
33 24,1
23,3
32,3 23,2
23,1
32,2 22,3
32,1 22,2
p p 22,1
31,3
31,2 21 26,3
26,2
16,3 26,1
31,1 16,2 25,3
16,1 25,2
15 25,1
22,3 14 24,3
22,2 13,2 24,2 25,3
13,2 24,1 15,33 25,2
22,1 13,1 25,1
23 15,32 22,3
12 16,3 24,3
21,3 22,3 15,31 22,2
21,2 22,2 16,2 15,2
24,2 24,1
22,1 23 22,1 15,5
21,1 p 16,1 15,1
11,2 22,3 21,3
13,3 21,33 15,33 21,2 15,4
13,2 14,2 14,3 22,2 24,3
11,1 21,32 15,32 14,1 22,1 21,1
13,1 24,2 15,3
Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

11,1 15,31 13,3 21,33 15,3 15,3


12 21,31 p p p 21,32 p 23,3 24,1 15,2
11,2 11,2 15,2 13,2 15,2 23 15,2
11,1 21,2 21,31 15,1 23,2 15,1 13,33
12,1 15,1 13,1 22,3 15,1 13,32
12,2 21,1 12 21,2 23,1
11 14,2 14,3 22,2 14 14,3
12,3 14 11 21,1 p p 22,1 p p p 13,31
14,3 14,1 22 13 14,2
13 14,2 13 11,1 21,3 14,1 13,2
12 14,1 12 13 21,3 21,2 12,33 13,1
14,1 11 11,2 12,3 21,1
14,2 12,2 12,3 21,2 12,32 13 12,3
13 11 12,1 12,31 12,2
14,3 12 12,1 11,2 11,1 12,2 12,1 21,1 13,3 12,2 12 12,1
21,1 12,3 12,1
21,1 13,1
12,2 12,3
11,2 12 13,2 11,23 11,23
21,2 12,1 11,2 11,1 11,23 13,1 11,2
21,2 13,2 13,1 11,1 12 11,22 11,22
21,3 11,1 12 11,22 11,12 11,21
21,3 13,3 13,2 11,1 11,21 11,2 11,21 11,1
11,1 13 11,1 11,1 11,1 11,11
22 22,2 22,1 11,2 21,1 13,3 11,21 11
22,3 21,21 14,1 14,1 11,1 11,1 11
23,1 23,1 12,1 21,23 21,2 11,22 11,21 11 12
23,2 14,2 14,2 11,21 21,1
12,3 21,3 11,22
(Aus Vogel und Motulsky 1997, mit freundlicher Genehmigung von

23,2 23,3 14,3 11,23 12 11,22 12,2 13,11


13,11 22,1 14,3 11,23 13,12
23,3 24,1 15 12,1 11,23 12,3
. Abb. 6.2 Menschliche Chromosomen mit 850 Banden. Die relative

13,13 22,2 21,11 13 13,1 13,13


24,1 24,2 22,3 15 16,1 12,2 21,1 13,2
Länge von Chromosomen und Banden basiert auf exakten Messungen.

24,2 24,3 13,31 23 21,1 16,2 21,12 12,3 21,11 21,2 13,2
24,3 21,2 13,1 21,12 13,3
25,1 13,33 24 21,13 13,2 21,13 21,3 14,1
21,1 21,3 16,3 21,2 13,3
25,2 31,1 25 22,1 13,3 21,2 14,2
21,2 22,2 21,3 22,1 13,4 14,3
21 21,11 21,31
25,3 31,2 21,3 22,3

etwa 350 Banden; hochauflösende Verfahren erhöhen die sicht-


Giemsa-Färbung hat den Vorteil, dass sie permanent erhalten
wird und nicht ausbleicht. Das klassische Bandenmuster umfasst

baren Banden auf 850 bis 1250. Q-Banden sieht man als fluores-
AT-spezifischer Fluoreszenzfarbstoffe (z. B. DAPI, DIPI).
26 22,1 21,12 21,32 22,2 13,5 15
31,3 22,1 23,1 22,1 21,13 21,33
31,1 22,2 27 22,3 14,1 21,1
31,2 32,1 28,1 23,2 22,2 22,2 21,2 22,1 21,2
32,2 22,3 22,31 22,3 21,3 23,1 14,2
31,3 23 28,2 23,3 22,2 21,31
q q q q q q 22,32 q 31,1 q q q 23,2 q 14,3 q
32,3 31,1 22,1 22,31 21,32
32,1 24 28,3 31,2 22,32 23,31 21
33,1 31,2 22,33 22,2 23,32 21,33
32,2 25,1 31,31 22,33 22,1 22
33,2 25,2 31,1 23,1 31,32 22,3 23,33
32,3 31,21 31,3 31,33 31,1 24,1 22,2
33,3 25,31 31,22 23,2 23,1 24,2 23,1
41 25,32 32 32,1 23,2 31,2 24,31 22,3 23,2
25,33 31,23 23,3 32,2 24,32 23,1 23,3
42,11 34 31,3 33,1 32,3 23,3 31,3 24,33 22,33
42,12 26,1 24,1 24,11 32 25,1 23,2 24,11
26,2 32,1 33,2 24,2 33 22,32
42,13 35 32,2 24,3 24,12 33,1 25,2 24,12
26,31 33,3 34 25,3 23,3 24,13
36,1 26,32 32,3 25,1 24,13 33,2 24,21 22,31
42,2 36,2 26,33 33 34 25,2 26,11 24,22
42,3 36,3 34,1 35 24,21 33,3 26,12 24,1 24,23 22,2
27,1 35,1 25,3 34,11
27,2 34,2 36,1 24,22 34,12 26,13 24,2 24,31
43 37,1 27,3 34,3 26 22,13
37,2 35,2 36,2 24,23 34,13 26,2 24,3
28 35,1 34,22 24,32 22,12
44 35,3 27 36,3 24,3 34,3 26,3
37,3 29 35,2 25 24,33 22,11
21,3
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 21,2
p 21,1
11,4
11,3
13 11,23
11,22
12 13 11,21
p 11,1
12 11,1
11,2 13 11,2
11,1 13,3 12
11 p p 12
11,2 13,2 13,3 13,1
12,12 12,11
11,1 11,2 p 13,13 p 13,2 13,2
12,13 11,1 13,12
12,2 11,1 13,1 13,3
12,3 11,1 13,11 21,1
13,1 11,2 11,2 12,3 12
13,2 12,2 p 11,32 21,2
12 12,1 11,2 11,31 21,31
13,3 12 13,1 11,23 13 21,32
14,11 13,1 13,2 11,2 11,22 13,3
14,12 13,2 11,1 p 21,33
13,3 13,3 11,1 11,1 11,21 p 12,3 13
14,13 12,2 22,1
14,2 21,1 14 11,1 11,1 13,2
21,2 11,2 12,1 22,2
14,3 21,3 15,1 12 13,13 p 12
15,2 11,2 11,1 13,12 11,23 22,3
21,1 22,1 15,3 21,1 11,22 11,2
21,2 22,2 21,2 11,2 13,11 13 23
22,3 21,1 11,21 11,1 q
21,31 21,2 12,1 11,1
21,31 12,1 12 12 11,1 24
21,32 23,1 21,3 12,2 p
21,33 23,2 21,32 11 11,1
23,3 22,1 13 21,33 12,2 11,21 11,2 11,21 11,32
22,1 22,2 11 25
q 22,2 q 24,1 q 22,31 q 21 q 22 q 12,3 12 11,22 11,1 11,22 11,31
22,3 22,32 23,1 11,23 11,23 p 11,2
31,1 24,2 22,33 21,1 13,11 26,1
24,3 23 22,1 13,12 12 21,2 11,1 12,1 11,1 26,2
31,2 23,3 23,2 13,11 11,1
31,1 24,2 24,1 22,2 24,1 21,2 13,13 21,1 12,2 26,3
31,3 31,2 24,3 24,2 21,31 13,2 13,12 q q 12,3 11,21
31,3 25,1 22,3 13,32 q 13,31 q 21,2 11,22 27,1
32,2 32,1 25,2 24,3 21,33 13,32 13,13 13,1 27,2
32,3 32,11 25,3 23,1 25,1 21,2 21,3 q 11,23
32,13 32,12 22,1 13,33 13,2 13,2 27,3
33,1 26,1 25,2 22,12
33,2 32,2 23,2 23,3
22,2 13,41 13,31 21,2 12
33,3 32,31 26,2 13,32 22,2 13,31
32,32 24,2 24,1 25,3 22,3 13,42 28
33,4 26,3 24,3 23 13,43 13,33 22,3 13,33 13,32
32,33
13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Y X

einer Behandlung mit Fluoreszenzfarbstoffen (z. B. Mithra-


Quinacrin färbt besonders AT-reiche Abschnitte an (drei oder
mehr AT-Basenpaare) und entspricht damit weitgehend den
zierende Chromosomenabschnitte nach Quinacrin-Färbung;

G-Banden. R-Banden (engl. reversed bands) erkennt man nach


6.1 · Das eukaryotische Chromosom
219 6
mycin, Acridinorange), die bevorzugt GC-reiche DNA anfärben. 3
Schließlich findet man C-Banden nach Behandlung der Chro- 3 2
3 1
p 1 2 1 2 ,2
mosomen mit Alkali und Säure und anschließender Giemsa- ,2 ,2 1 ,1
1 ,1 1 ,1
Färbung. Prominente C-Banden sieht man an den Chromoso- 1 ,1 ,1 ,1
,2 1 ,2 1
men 1, 9, 16 und dem distalen Y-Chromosom. Das C-Banden- 1 2 ,2
3 2
muster variiert beträchtlich innerhalb einer Population (»Hete- 1 1 3 1 2
romorphismus«). Die C-Banden entsprechen dem konstitutiven 2 1 3 ,2
,1
q 2 3 ,3
Heterochromatin (s. unten); das sind Bereiche, die nur wenige 2 ,1
Gene enthalten und nicht transkribiert werden. Die C-Banden- 4 2 3 1 ,2
,3
,1 ,1
muster sind erblich und wurden früher als genetische Marker 1
4 ,2 2 ,2
3 ,3
verwendet. 2 ,3
2 3
,1
,2
Die Arme der mitotischen Chromosomen bestehen aus früh 1 ,3
,1 ,1

Region

Bande
replizierenden Banden (den hellen Giemsa-Banden = R-Ban- 3 4 ,2

Arm
2 ,2
den), die sich mit den mittel bis spät replizierenden, dunklen ,3 ,3
Giemsa-Banden (= G-Banden) abwechseln. R-Banden haben Bande 14q32 ,1
eine höhere Gendichte und enthalten Haushaltsgene (engl. 1 ,2
,3
,11
housekeeping genes) und gewebespezifische Gene, wohingegen Unterbande 14q32.3 3 ,12
,13
G-Banden arm an Genen sind und nur gewebespezifische Gene 2 ,2
,31
enthalten. Die höchste Gendichte ist in einer Unterfraktion der ,32
,33
R-Banden, den T-Banden, enthalten. Spät replizierende C-Ban-
den, die nur wenige Gene enthalten, beinhalten das centromere
Unterbande 14q32.33
Heterochromatin und einige Elemente des konstitutiven Hetero-
chromatins. . Abb. 6.3 Idealtypisches Karyogramm des menschlichen Chromosoms 14
nach Giemsa-Färbung bei verschiedenen Auflösungen (Stufe 320, links;
Dass es sich hierbei um keine zufälligen Eigenschaften chro-
Stufe 500, Mitte; Stufe 900, rechts). Man teilt die Regionen in Banden ein, die
mosomaler Verpackung handelt, wird durch zwei Tatsachen be- vom Centromer weg nach außen gezählt werden, die mit q11 (eins-eins,
legt. Zum einen findet man, dass bestimmte Bänderungsmuster nicht elf!), q12, q13 usw. bezeichnet werden. Die Unterbanden, die bei Stufe
im Laufe der Evolution strikt konserviert erhalten bleiben, auch 500 sichtbar werden, werden mit einer Dezimalstelle angegeben; die Unter-
wenn sich die Muster in veränderten chromosomalen Positionen banden ab Stufe 900 mit zwei Dezimalstellen, jeweils mit einem Punkt
getrennt (kein Komma). (Nach Miller und Therman 2001, mit freundlicher
befinden. Solche Befunde wurden vor allem bei der vergleichen-
Genehmigung von Springer)
den Untersuchung von Primatenkaryotypen gemacht. Offenbar
bleiben bestimmte Genkombinationen in der gleichen Gruppie-
rung von Banden erhalten, durchlaufen aber chromosomale Ver-
schiebungen ganzer Gruppen von Banden. Zum anderen weisen
bestimmte Bandenmuster wie das G- und das R-Bandenmuster eines Arms werden vom Centromer aus mit steigenden Zahlen
eine enge Korrelation zur DNA-Synthese der betreffenden Chro- durchnummeriert: Die erste Bande in der zweiten Region des
mosomenabschnitte auf. Das zeigt, dass die Möglichkeit, be- kurzen Arms von Chromosom 1 ist 1p21. Die Verbesserung der
stimmte Chromosomenbereiche differenziell zu färben, eine Auflösung hat allerdings zu einer Ausweitung des Systems ge-
grundlegende strukturelle Eigenschaft der Organisation von führt. Im Beispiel in . Abb. 6.3 ist das Chromosom 14 in ver-
Chromosomen reflektiert. schiedenen Auflösungsstufen gezeigt: 14q32 bezeichnet Chro-
Die Erstellung von Bänderungskarten der menschlichen mosom 14, den langen Arm, Region 3, Bande 2. Hochauflösende
Chromosomen hat große Bedeutung für die genetische Kartie- Aufnahmen zeigen allerdings drei Unterbanden dieser Bande.
rung erlangt. Nicht nur Stammbaumanalysen in Zusammenhang Um dies darzustellen, wird nach einem Punkt die entsprechende
mit erblichen Krankheiten, sondern auch molekulare Techniken, Nummer der Unterbande angefügt; die distale Unterbande wird
mit denen die Isolierung menschlicher Gene möglich ist, gestat- also als 14q32.3 bezeichnet (Nummerierung vom Centromer
ten es, durch geeignete Methoden deren chromosomale Lokali- aus!). Bei noch höherer Auflösung erweitert sich die Bezeich-
sation in bestimmten Chromosomenbanden zu ermitteln. Es nung auf 14q32.33 für die letzte Bande. Die bisher letzte Fassung
sind umfangreiche Genkarten mithilfe dieser Techniken erstellt der Nomenklaturregeln stammt aus dem Jahr 2009 (Brothman
worden. Zu Details siehe 7 Technikbox 16. et al. 2009).
Die Darstellung und Beschreibung menschlicher Chromoso- Eine genauere Analyse ist jedoch aus humangenetischer
men wurde 1971 auf einer Konferenz in Paris normiert. Grund- Sicht, insbesondere für die Chromosomenanalyse in Zusam-
lage ist ein idealisiertes Karyogramm (»Ideogramm«; . Abb. 6.2), menhang mit genetischer Familienberatung, von entscheidender
das auf einer Giemsa-Färbung der Chromosomen basiert. Ent- Bedeutung. Die Anwendung differenzieller Färbungsmethoden
sprechende positive und negative Banden ergeben zusammen hat viele Möglichkeiten für eine genaue Kartierung jedes einzel-
mit den Einschnürungen des Centromers charakteristische Mus- nen Chromosoms gegeben. Hinzu kommen heute Techniken der
ter. Die unterschiedlichen Arme werden mit p (kurzer Arm; in-situ-Hybridisierung (chromosome painting), die den Anwen-
franz. petit) und q (langer Arm; franz. queue) abgekürzt. Die dungsbereich der Bänderungstechniken signifikant erweitern
einzelnen Regionen und die jeweiligen Banden in den Regionen (. Abb. 6.4).
220 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

6 . Abb. 6.4 Vielfarbenbänderung von Metaphasechromosomen aus dem


Knochenmark des Menschen. (Nach Liehr et al. 2006, mit freundlicher
Genehmigung von Karger)

Nukleolusbildungsorte
Betrachtet man Chromosomen genauer, so erkennt man in ein-
zelnen Chromosomen eines Chromosomensatzes neben der pri-
mären Konstriktion im Bereich des Centromers (7 Abschn. 6.1.3)
eine weitere Einschnürung (sekundäre Konstriktion; . Abb.
6.5a). In cytologisch günstigen Fällen kann man erkennen, dass
an dieser Stelle des betreffenden Chromosoms während der
Interphase und der frühen Prophase der Nukleolus (7 Abschn.
5.1.5) mit dem Chromosom verbunden ist (. Abb. 6.5b). Wir
wissen heute, dass der Nukleolus von diesem Chromosomenbe-
reich her gebildet wird. Er wird daher auch Nukleolusbildungs-
ort oder Nukleolusorganisator (Nukleolusorganisator-Region,
engl. nucleolus organizer region, NOR) genannt. NORs befinden
sich, je nach Organismus, nur an einem Teil der Chromosomen.
Sie sind für die Zelle lebenswichtig, da sie die Gene für riboso-
male RNA tragen, die als struktureller Bestandteil der Riboso- . Abb. 6.5 Lokalisation des Nukleolus im Chromosom. a Sekundäre Kon-
men für die Proteinsynthese erforderlich sind (7 Abschn. 3.4). striktion (Pfeile) an der Stelle des Nukleolusorganisators im X-Chromosom
von PtK1-Zellen (Marsupialia). b Elektronenmikroskopische Darstellung des
Der Nukleolus ist ein Organell, dessen Bildung den funktionellen
Nukleolus in Riesenchromosomen von Chironomus thummi. Der Nukleolus
Zustand der betreffenden Gene anzeigt, und er ist daher in allen umgibt das 4. Chromosom ringförmig. (a aus Robert-Fortel et al. 1993, mit
stoffwechselaktiven Zellen zu finden. Die Anzahl der NORs in freundlicher Genehmigung von Springer; b Foto: Ch. Holderegger, Zürich)
den Metaphasechromosomen stimmt nicht immer mit der An-
zahl der in der Interphase sichtbaren Nukleoli überein. Hierfür
gibt es zwei Ursachen: Erstens neigen Nukleoli in vielen Organis- durch die Analyse des Fragilen-X-Syndroms erhalten (7 Abschn.
men zur Verschmelzung. Diese kann so weit gehen, dass nur ein 13.3.3). Hier findet man, dass die erhöhte Bruchhäufigkeit mit
Nukleolus sichtbar ist, obwohl mehrere NORs im Genom enthal- einer besonderen Sequenzstruktur der DNA verbunden ist. Man
ten sind. Zweitens hat man beobachtet, dass in manchen Zellen kann allgemeiner davon ausgehen, dass hier eine strukturelle
nicht alle NORs aktiv werden und einen Nukleolus bilden. Organisation innerhalb der Chromatiden vorliegt, die vielleicht
mit der Anwesenheit von Heterochromatin korreliert ist. Der
> Die sekundäre Einschnürung (Konstriktion) in manchen
cytologische Begriff des Satelliten, wie er hier definiert ist,
Chromosomen kennzeichnet die chromosomale Region,
darf nicht mit dem Begriff Satelliten-DNA verwechselt werden
in der während der Interphase der Nukleolus gebildet
(7 Abschn. 6.1.3). Es besteht kein Zusammenhang zwischen
wird. Sie wird daher auch Nukleolusbildungsort genannt.
beiden Erscheinungen.
Es soll noch erwähnt werden, dass sekundäre Konstriktionen
bisweilen weit terminal im Chromosom auftreten und dann Euchromatin und Heterochromatin
einen kurzen Chromosomenbereich abtrennen, den man als Bereits an ungefärbten Metaphasechromosomen, deutlicher aber
Satelliten bezeichnet. Emil Heitz hat für solche Chromosomen in gefärbten Chromosomenpräparaten, kann man erkennen,
auch den Namen SAT-Chromosomen eingeführt. Die Konstrik- dass Chromosomen nicht gleichförmig strukturiert sind, wenn
tion kann in einem solchen Fall eine NOR enthalten oder auch man einmal von den bereits besprochenen Strukturelementen
nicht. Einige Hinweise auf eine besondere molekulare Chromo- absieht. Sie sind in kompaktere – und zugleich auch stärker an-
somenstruktur in solchen Bereichen hat man in jüngster Zeit färbbare – Abschnitte und weniger kompakte Bereiche unterteilt.
6.1 · Das eukaryotische Chromosom
221 6
c

d e
b

. Abb. 6.6 Hetero- und Euchromatin. a Ein mitotisches Chromosom mit unterschiedlicher Gendichte (Graustufen). b Molekulare Organisation der ver-
schiedenen Segmente. R-Segmente (Euchromatin): hohe Gendichte mit hohem Anteil GC-reicher Sequenzen, frühe Replikation, geringer Methylierungs-
grad der DNA. G-Segmente (dazwischen geschobenes Heterochromatin): geringe Gendichte mit hohem Anteil an AT-reichen Sequenzen, späte Replika-
tion, hoher Methylierungsgrad der DNA. C-Segmente (heterochromatische Centromerregion): nur sehr wenig Gene (wenn überhaupt), viele Wiederholungs-
einheiten, späte Replikation und hoher Methylierungsgrad der DNA. c Ein genomisches Fragment um das Centromer mit R-, G- und C-Segmenten;
die Rauten stellen die »Klammerproteine« dar. d, e Die Zeichnungen illustrieren die Bedeutung von »Klammerproteinen« (Nicht-Histonproteine) für die
Organisation der Verdichtung der DNA in G-Segmenten (d: kleine Schlaufen wegen mittlerer Klammerdichte) und in R-Segmenten (e: große Schlaufen
wegen geringer Klammerdichte); die Centromerregion selbst ist besonders stark verdichtet. Die grauen Kugeln repräsentieren die lichtmikroskopisch
auflösbaren Strukturen. (Nach Polyakov et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

Kompakte Chromosomenregionen findet man regelmäßig um Konfiguration hat, um so Transkriptionsfaktoren und RNA-
die Centromerbereiche herum, manchmal auch terminal, oder Polymerasen den Zugang zu erleichtern (aber eben auch den
sie umfassen ganze Chromosomenarme oder sogar ein ganzes Nukleasen). Wir werden auf diese Aspekte noch ausführlicher im
Chromosom (. Abb. 6.6). Aufgrund ihrer stärkeren Färbbarkeit 7 Abschn. 8.1.1 zurückkommen.
führte Emil Heitz (1928) für sie die Bezeichnung Heterochroma- In der selben Zeit, als Heitz das Heterochromatin beschrieb,
tin ein. Eine einfache Erklärung für die stärkere Färbbarkeit ist, beobachtete Hermann Joseph Muller bei Drosophila-Mutanten,
dass die Chromatiden in solchen Chromosomenbereichen stär- dass Gene, die aus dem Euchromatin durch chromosomale Re-
ker kondensiert (verpackt) sind, sodass sie höhere Konzentrati- arrangements in heterochromatische Bereiche umgelagert wur-
onen an DNA enthalten. Heterochromatische Chromosomenbe- den, dadurch inaktiviert werden (Muller 1930). Dieser Posi-
reiche bleiben auch in der Interphase sichtbar, da sie im Allge- tionseffekt wurde später für viele Gene nachgewiesen (engl.
meinen nicht an der Dekondensation der Chromosomen am position effect variegation, PEV) und gilt unabhängig davon, zu
Ende der Mitose teilnehmen, sondern in ihrem kondensierten welcher Zeit und in welchem Gewebe das jeweilige Gen ur-
Zustand verbleiben und zudem oft im Interphasekern miteinan- sprünglich exprimiert wurde (. Abb. 6.7). Weitere genetische
der verschmelzen. Auch dieses Verhalten weist auf besondere Tests ergaben, dass der Prozess der Inaktivierung selbst Gegen-
Eigenschaften des Heterochromatins hin. Chromosomale Regi- stand von Modifikationen sein kann; so wurden zwei Gene iden-
onen, die in allen Zellen in beiden homologen Chromosomen an tifiziert, die diesen Positionseffekt verstärken bzw. unterdrücken
der gleichen Stelle heterochromatisch bleiben, bezeichnet man können (engl. Enhancer of variegation, E(var), bzw. Suppressor of
als konstitutives Heterochromatin (z. B. Centromer-, Telomer- variegation, Su(var)). Su(var)3-9 codiert für eine Methyltrans-
und Nukleolusorganisator-Regionen). Kennzeichnendes Merk- ferase und methyliert im Histon H3 das Lysin an der Position 9;
mal für konstitutives Heterochromatin ist sein hoher Anteil an das so modifizierte Histon H3 wird als ein Dimer von HP1
repetitiven, nicht-codierenden Sequenzen, die wenige Gene ent- (heterochromatisches Protein 1) gebunden und führt zu einer
halten. Im Gegensatz dazu betrifft fakultatives Heterochroma- stärkeren Kondensation des Chromatins.
tin nur einen von zwei homologen Partnern; das bekannteste Die Regel, dass Gene im Heterochromatin nicht exprimiert
Beispiel sind die Barr-Körper als Ausdruck des inaktivierten werden, stimmt allerdings nicht vollständig. So veröffentlichte
X-Chromosoms bei Säugern (7 Abschn. 8.3.2). Im Gegensatz da- Jack Schultz 1936 seine Beobachtungen, dass das light-Gen von
zu findet man in den schwächer gefärbten Bereichen (Euchroma- Drosophila sogar heterochromatische Strukturen braucht, um
tin) aktive Gene. In diesen Bereichen kann die DNA von DNase I exprimiert zu werden. Mittels klassischer genetischer Analysen
leichter geschnitten werden, da das Chromatin eine offenere wurde diese Beobachtung bei Drosophila auf etwa 40 Gene aus-
222 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Heterochromatin Euchromatin entweder ganz unterbleibt (engl. nondisjunction) oder zumindest


− kondensiert in der − dekondensiert in der
fehlerhaft verläuft. Dabei werden die Begriffe »Centromer« und
Interphase Interphase »Kinetochor« leider oft als austauschbar benutzt. Um Unklarhei-
− spät replizierend − allgemein früh replizierend ten zu vermeiden, soll der Begriff Centromer verwendet werden,
− regelmäßige Anordnung − unregelmäßige Anordnung
um den Chromatin-Kern (mit den Histonen) an der primären
der Nukleosomen der Nukleosomen Konstriktion zu beschreiben (erkennbar als Einschnürung schon
− unzugänglich für − leicht zugänglich für zu Beginn der Mitose).
Nukleasen Nukleasen
> Die Form der Chromosomen wird durch das Centromer
− induziert Scheckung in cis − einheitliche Genexpression
bestimmt. Die Region des Centromers bildet in der Meta-
phase die primäre Konstriktion. Das Centromer enthält
Drosophila die Region (Kinetochor), an der die Spindelfasern ansetzen,
white
um die Chromatiden während der Zellteilung auf die
6 Tochterzellen zu verteilen.

Das Chromatin des Centromers ist cytologisch vom Rest des


Chromosoms verschieden und besteht aus konstitutivem Hetero-
Maus chromatin. Die DNA im Centromerbereich besteht aus einer Viel-
Transgene (CD2,
β-Globin, λ5) zahl repetitiver Elemente (die allerdings zwischen den Organismen
nicht konserviert sind), dazu gehören die α-Satelliten bei Men-
schen, die Minisatelliten bei der Maus oder AATAT- und TTCTC-
Satelliten bei Drosophila. Bei der Spalthefe umfasst der Centromer-
Saccharomyces ADE2 bereich 40–100 kb und ist aus einem Kernbereich und einer äuße-
cerevisiae ren Region zusammengesetzt; dabei bestehen die äußeren Bereiche
aus repetitiven Elementen und entsprechen dem transkriptions-
inaktiven Heterochromatin. Eine Übersicht über die repetitiven
DNA-Elemente und die verschiedenen Proteine, die spezifisch
. Abb. 6.7 Heterochromatin und Euchromatin – Positionseffekte: Die Um-
an den Centromerbereich binden, gibt . Abb. 6.8. Gene, die in
lagerung des white-Gens von Drosophila in die Nähe des Centromers führt diesen Bereich gelangen, werden transkriptionell abgeschaltet
zu einer mosaikartigen Expression im Auge. Die Einführung eines Transgens (Positionseffekt, 7 Abschn. 6.1.2). An den inneren Kernbereich bin-
in die pericentromere Region der Maus führt zu einer Expression in einem det das Kinetochor, das damit in ein Meer stillen Chromatins ein-
Teil der Zellen in den jeweiligen exprimierenden Geweben. Die Expression gebettet ist. Dieser Bereich ist sehr AT-reich; die jeweiligen Rand-
ist klonal über mehrere Zellgenerationen hinweg stabil, kann aber auch
zufallsbedingt zwischen dem aktiven und inaktiven Zustand schwanken.
sequenzen der zentralen Domäne sind spezifisch für jedes Chro-
Die Einführung des ADE2-Gens in die Telomerregion von Saccharomyces mosom.
cerevisiae führt zu einer metastabilen Abschaltung des Gens und damit zu Auch die Proteinzusammensetzung des Centromers unter-
sektoralen Kolonien mit weißen (aktiven) und roten (inaktiven) Zellen. scheidet sich deutlich vom Rest der Chromosomen, wie wir wei-
(Nach Dillon und Festenstein 2002, mit freundlicher Genehmigung von ter unten sehen werden. Zu den bisher identifizierten Centro-
Elsevier)
merproteinen (CENP) bei Säugern gehören:
4 CENP-A: Es ist nur in aktiven Centromeren vorhanden und
geweitet. Durch die vollständige Sequenzierung des Drosophila- zeigt Ähnlichkeit zu Histon H3.
Genoms konnte gezeigt werden, dass im Heterochromatin von 4 CENP-B: Es bindet an die DNA in der CENP-Box, die
Drosophila etwa 450 exprimierte Gene liegen, das sind ungefähr man in menschlicher α-Satelliten-DNA (Centromer-asso-
2,7 % aller Gene dieser Spezies. ziiert) und in der Minisatelliten-DNA der Maus findet.
Die Deletion des Gens für CENP-B in Mäusen hat in
> Einige Chromosomenbereiche zeichnen sich durch differen-
manchen Mutantenlinien vor allem einen Einfluss auf
zielle Färbungseigenschaften aus, die auf einem höheren
Wachstum und Körpergröße.
Kondensationsgrad dieser Chromosomenregion beruhen.
4 CENP-C: Es ist nur in aktiven Centromeren vorhanden. Im
Solche Chromosomenabschnitte werden als heterochroma-
Gegensatz zu CENP-B ist es für die Centromerfunktion er-
tisch bezeichnet; in diesen Bereichen findet üblicherweise
forderlich.
keine Transkription statt.
4 CENP-E: Es ist möglicherweise ein Motorprotein für die
Bewegung der Chromosomen in der Spindel.

6.1.3 Centromer Außerdem ist im Centromerbereich Topoisomerase IIa vertre-


ten, die für die Kondensation der Chromosomen und die Tren-
Das Centromer ist wichtig, um das Chromosom während der nung von Schwesterchromatiden erforderlich ist. Weiterhin sind
Mitose mit den Spindeln zu verknüpfen und damit eine korrekte Proteinkinasen gefunden worden, deren Funktion wahrschein-
Verteilung auf die beiden Tochterzellen zu gewährleisten. Fehl- lich mit der Anheftung der Chromosomen an die Spindel zusam-
funktionen des Centromers führen dazu, dass die Verteilung menhängt.
6.1 · Das eukaryotische Chromosom
223 6

Bäckerhefe H3-Nukleosom CENP-A-Nukleosom


Punkt-Centromer

CDEI
116–120 bp

Spalthefe
Regionales Centromer

Kernbereich

Euchromatin 40–100 bp

Mensch H3K4me2
Regionales Centromer H2A.Z

Euchromatin bis zu 5 Mb Heterochromatin


α-Satelliten- H3K9me2, H3K9me3, H4K20me3
Wiederholungseinheit
. Abb. 6.8 Das Centromer und die perizentrische Region. Das Punkt-Centromer der Bäckerhefe (Saccharomyces cerevisiae) bildet einen Ansatzpunkt für
einen Mikrotubulus pro Chromosom, wohingegen die längeren regionalen Centromere mehrere Ansatzpunkte ausbilden. Die DNA der Bäckerhefe ist aus
verschiedenen konservierten Elementen aufgebaut (engl. conserved centromere DNA elements; CDEI, CDEII, CDEIII). Größere regionale Centromere enthalten
keine konservierten DNA-Elemente, in diesem Fall ist das Protein konserviert, das an das Centromer bindet (Centromer-bindendes Protein A, CENP-A);
imr: innere flankierende invertierte Wiederholungseinheit (engl. inverted repeat), otr: äußere Wiederholungseinheit (engl. outer repeat). Die Histone sind
mehrfach methyliert; H2A.Z ist eine Variation des Histons H2A. (Nach Verdaasdonk und Bloom 2011, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)

> Repetitive DNA-Elemente sind Grundbestandteile aller nicht korrekt verteilt werden und gelangen entweder durch Zu-
Centromerbereiche. Sie sind in bestimmten Mustern orga- fall in die eine oder andere Tochterzelle oder gehen ganz verlo-
nisiert, und diese sind chromosomen- und artspezifisch. ren. Beispiele für solche Chromosomen sind manche B-Chromo-
Besondere Centromerproteine erlauben eine veränderte somen, die in der Keimbahn einiger Organismen vorkommen
Packungsdichte am Centromer. und durch Zufallsverteilung in den prämeiotischen und meioti-
schen Teilungen an die Tochterzellen weitergegeben werden
*Wenn es darum geht, bestimmte Genomabschnitte für die
Methylierung der Histone und die nachfolgende Ausbildung
(7 Abschn. 6.4.3). Andere centromerenlose Chromosomen ent-
stehen als Folge von strukturellen Veränderungen in Chromo-
von Heterochromatin zu kennzeichnen, spielen offensicht- somen und gehen bei der nächstfolgenden Zellteilung verloren
lich auch verschiedene RNA-Moleküle eine wichtige Rolle. (7 Abschn. 10.3). Das Centromer ist zudem für den Zusammen-
Dies gilt für die Ausbildung des Heterochromatins am Cen- halt der Chromatiden (Schwesterchromatiden) zu Beginn der
tromer in ähnlicher Weise, wie wir es später für die Inaktivie- Meiose verantwortlich.
rung des X-Chromosoms (7 Abschn. 8.3.2) und als generel- Das Kinetochor besteht aus zwei wichtigen Bereichen, der
len Mechanismus bei der RNA-Interferenz (7 Abschn. 8.2.1) inneren und der äußeren Platte (dazwischen liegt eine Mittel-
kennenlernen werden. Hinweise auf die Beteiligung kleiner zone). Dabei ist die innere Platte eng mit der DNA des Centro-
RNA-Moleküle lieferten Mutanten der Spalthefe, die diesen mers verbunden; hier spielen auch die oben beschriebenen Cen-
Mechanismus betreffen – diese Mutanten sind nicht in der tromerproteine (CENP) eine wichtige Rolle. Über CENP-A und
Lage, eingefügte Reportergene an dieser Stelle zu inaktivie- CENP-C ist die innere Platte mit der äußeren Platte verbunden.
ren. Eine wesentliche Rolle spielen hierbei die Transposon- Die äußere Platte besteht (außer aus CENP-A und -C) aus weite-
ähnlichen Wiederholungseinheiten, die die Centromer- ren Proteinkomplexen, in die auch die Plus-Enden der Mikrotu-
region flankieren (zur Übersicht siehe Chan und Wong 2012). buli integriert sind. Damit werden die Bewegungen möglich, die
für das Auseinanderziehen der Chromatiden in der Mitose und
Das Kinetochor ist der Proteinkomplex, der am Centromer Meiose verantwortlich sind. Eine Übersicht über den Aufbau ei-
die Anheftung der Spindel vermittelt und die Bewegung des nes typischen Kinetorchors von Vertebraten zeigt . Abb. 6.9; für
Chromosoms in der Metaphase der Mitose und Meiose bewirkt weitere Details sei auf Lehrbücher der Zellbiologie und spezielle
(7 Abschn. 6.3.1 und 7 Abschn. 6.3.2). Chromosomen, denen das Zusammenfassungen verwiesen (Takeuchi und Fukagawa 2012;
Centromer mit Kinetochor fehlt, können bei der Zellteilung Verdaasdonk und Bloom 2011).
224 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

. Abb. 6.9 Die Kinetochorstruktur in drei verschiedenen Ansichten: Durch ein Lichtmikroskop erscheint das Kinetochor als eine Struktur mit primärer Kon-
striktion (links unten). Im Elektronenmikroskop (EM) wird dagegen der trilaminare Aufbau deutlich (links oben). Inzwischen kennen wir auch viele Proteine, die
am Aufbau des Kinetochors beteiligt sind (rechts): KNL1, Mis12 und Ndc80 (KMN) bilden das Grundgerüst der äußeren Platte und sind über die N-terminalen
Regionen von CENP-T (rot) und CENP-C (CC, gelb) mit der inneren Platte verbunden. Die innere Platte besteht aus einem Netzwerk von Proteinen, das mit dem
konstitutiven Centromer verbunden ist (engl. constitutive centromer associated network, CCAN); dazu gehört das Histon H3 (blau), CENP-A (CA, orange), CENP-W,
-S und -X sowie Proteine, die mit CENP-H assoziiert sind (grün). (Nach Takeuchi und Fukagawa 2012, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

6.1.4 Telomer

Die Chromosomenenden (Telomere) sind cytologisch durch kei-


ne besonders auffälligen Strukturen gekennzeichnet; sie erschei-
nen heterochromatisch, wenn sie überhaupt als besonderer
Chromosomenabschnitt erkennbar sind. Ihre funktionelle Be-
deutung wurde jedoch schon in den 1930er-Jahren von Barbara
McClintock und Hermann Muller erkannt. Beide Forscher schlu-
gen aufgrund ihrer Arbeiten vor, dass die Chromosomen für ihre
dauerhafte Stabilität eine besondere Struktur an ihren Enden
brauchen. McClintock zeigte in ihren cytogenetischen Studien
am Mais, dass bei Verlust der Chromosomenenden diese fusio-
nieren oder brechen können; der Begriff »Telomer« wurde von
Hermann Muller geprägt. Verkürzte und damit instabile Telome-
re sind charakteristische Eigenschaften altersabhängiger Erkran-
kungen, des Vergreisungssyndroms (engl. premature ageing syn-
drome) und einiger Krebserkrankungen. Ein Beispiel von sol-
chen instabilen Chromosomen ist in . Abb. 6.10 gezeigt; hier
führt die Telomer-abhängige Instabilität zu Fusionen verschiede-
ner Chromosomenenden.
Funktionell sind den Telomeren besondere Aufgaben zuzu-
. Abb. 6.10 Verlust der Telomere führt zu genomischer Instabilität. Es sind
weisen:
Chromosomen einer embryonalen Fibroblastenzelle der Maus in der Meta-
4 Sie müssen Fusionen mit anderen Chromosomen verhin- phase gezeigt; die DNA fluoresziert rot und die Telomersignale grün (Oligonu-
dern und die Enden der DNA-Doppelhelix gegen exonukleo- kleotid gegen die repetitive Telomersequenz TTAGGG), was dann in der Über-
lytische Angriffe schützen. lagerung zu den gelben Punkten führt. Fusionen der Enden linearer Chromo-
4 Sie müssen besondere Eigenschaften besitzen, um die voll- somen treten auf, wenn die schützende »Kappe« verloren geht, die üblicher-
weise an den Chromosomenenden vorhanden ist. Da die Telomersequenz
ständige Replikation der Doppelhelix zu ermöglichen.
selbst noch vorhanden ist (grüne Fluoreszenz), ist die Ursache der Instabilität
4 Sie tragen zur spezifischen Lokalisation der Chromosomen hier also nicht der Verlust der Telomersequenz, sondern eines damit assoziier-
im Kern bei. Zu Beginn der Meiose sind sie oft mit der ten Proteins, TRF2 (engl. telomere repeat binding factor 2). (Nach Bertuch und
Kernmembran assoziiert. Lundblad 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
6.1 · Das eukaryotische Chromosom
225 6
a c Erläuterungen:
Telomere
1) Der TRF1-Komplex
TANK
G-Strang- POT1
Überhang
subtelomere
Regionen 150-200 nt TRF1
PTOP
RAP1
3‘ OH TRF2
TRF1 TRF2 TIN2
TTAGGG TTAGGG
AATCCC AATCCC 2) Der TRF2-Komplex
10-15 kb (Mensch) ERCC1 TRF2
25-40 kb (Maus) Telomerase
MRE11/ PARP2
NBS/RAD50 WRN
b

BLM
ATM KU86
3) Die Telomerase
T-Loop
TERT TERC

Eindringen des
G-Strang-Überhangs
D-Loop eingeschränkter
3‘ OH Zugang der
Telomerase an DKC1
das Telomer
. Abb. 6.11 Telomerstruktur, Telomerase-Aktivität und Telomer-bindende Proteine bei Säugern. a Telomere enthalten eine Doppelstrang-DNA mit
TTAGGG-Wiederholungselementen (grüne Pfeile); dieser Bereich umfasst beim Menschen üblicherweise 10–15 kb, bei der Maus 25–40 kb. Telomere sind
darüber hinaus durch einen 150–200 Nukleotide langen G-reichen Einzelstrang-Überhang (violette Pfeile) gekennzeichnet, dessen 3’-OH-Ende von der
Telomerase erkannt wird und für die Telomer-Verlängerung genutzt wird (. Abb. 2.21 und . Abb. 2.22). An diese Telomerstruktur sind zwei wichtige
Proteinkomplexe gebunden, TRF1 und TRF2 (engl. telomere repeat binding factor). b Der G-reiche Einzelstrang dringt in den Bereich der Wiederholungs-
elemente ein (rot) und bildet damit zwei Schleifen aus, die T-Schleife (engl. telomere loop) und die D-Schleife. Diese Konformation behindert den
Zugang der Telomerase an das 3’-OH-Ende. c Die einzelnen Teilkomponenten der jeweiligen Komplexe TRF1 (1), TRF2 (2) und der Telomerase (3) sind
gezeigt. ATM: Ataxia telangiectasia; BLM: Bloom-Syndrom; DKC1: Dyskeratosis congenita; ERRCC1: excision repair cross-complementing 1; KU86: Auto-
antigen  (andere Bezeichnung XRCC5: X-ray repair complementing defective repair in Chinese hamster cells 5); MRE11: meiotisches Rekombinations-
protein 11; PARP2: Poly[ADP-Ribose]-Polymerase-2; POT1: protection of telomers 1; PTOP: POT1- und TIN2-organisierendes Protein; RAD50: DNA-Reparatur-
protein 50; RAP1: Repressor-Aktivatorprotein; TANK: Tankyrase; TERC: RNA-Komponente der Telomerase; TERT: Reverse Transkriptase der Telomerase;
TIN2: TRF1-interagierender, nukleärer Faktor; WRN: Werner-Syndrom. (Nach Blasco 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Diese unterschiedlichen Aspekte der Funktion müssen sich in > Wichtige Strukturelemente der Chromosomen sind deren
einer entsprechenden molekularen Struktur widerspiegeln. Eine Enden, die als Telomere bezeichnet werden. Chromosomen-
besondere molekulare Struktur der DNA am Telomer ist auch zu arme ohne Telomer sind instabil.
erwarten, wenn man sich den Mechanismus der DNA-Replikation
vergegenwärtigt. Im Gegensatz zur Synthese des Leitstrangs, die Molekulare Telomerstruktur von Säugern
bis zum Ende der chromosomalen DNA durchläuft, kann der Telomere sind genarme chromosomale Regionen, die durch repe-
komplementäre Folgestrang nicht bis zum Ende repliziert werden, titive DNA-Elemente gekennzeichnet sind; diese bestehen in
da die DNA-Polymerase nicht imstande ist, Nukleotide an 5’-En- ihrem Grundgerüst aus dem Hexamer TTAGGG (zur Übersicht
den anzufügen. Die Synthese dieses Strangs muss daher über RNA- siehe . Abb. 6.11). Neben den repetitiven DNA-Elementen sind
Primersequenzen und Okazaki-Fragmente erfolgen. Es wäre bestimmte Proteine für das Telomer charakteristisch; dazu ge-
durchaus denkbar, dass an einem Ende der Chromatiden eine hören TRF1 und TRF2 (engl. telomere repeat binding factor), die
Einzelstrang-DNA vorhanden ist. Das würde aber Probleme bei an diese Hexamere und weitere Faktoren binden können. Ein
der folgenden Replikation ergeben: Dieser Bereich könnte über- drittes Charakteristikum ist ein einzelsträngiger Überhang von
haupt nicht mehr repliziert werden, sodass die Chromatide an insgesamt 150 bis 200 Nukleotiden, der aus dem TTAGGG-
einem Ende ständig kürzer werden würde. Diese Probleme Hexamer aufgebaut ist und als »G-reicher Überhang« bezeichnet
und verschiedene Formen ihrer Lösung wurden ausführlich in werden kann. Die Telomerase (Gensymbol Tert, für engl. telome-
7 Kap. 2 erörtert (. Abb. 2.21 und . Abb. 2.22). rase reverse transcriptase) ist eine Reverse Transkriptase, die die
226 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

3’-OH-Gruppe am Ende dieses Überhangs erkennt und von dort > An den Telomeren werden Proteinkomplexe gebildet, die
das Telomer verlängert, indem sie daran ein RNA-Molekül als zusammen mit Methylierungen von Histonen zu einer
Matrize anfügt (Gensymbol Terc, für engl. telomerase RNA com- sehr stabilen und hochkompakten Struktur führen. Die
ponent). Der G-reiche Überhang kann sich aber auch zurückfal- Ausbildung der T-Schleife durch den G-reichen Überhang
ten und mit der doppelsträngigen Region des TTAGGG-Elemen- erschwert der Telomerase den Zugang.
tes in Wechselwirkung treten. Die entstehende Struktur wird als
Telomer-Schlaufe (engl. T-loop) bezeichnet und behindert den C 1965 berichtete Leonhard Hayflick, dass menschliche Zellen,
Zugang der Telomerase. die in Zellkultur gehalten werden, nach etwa 50 bis 80 Zell-
Offensichtlich enthält das Telomer aber auch Histone, und teilungen aufhören, sich weiter zu teilen – wir nennen die-
zwar in Modifikationen, wie wir sie bereits oben für das konstitu- sen Vorgang heute replikative Alterung (engl. replicative
tive Heterochromatin kennengelernt haben (mehrfache Methylie- senescence), und die Obergrenze der Zellteilungen ist als
rungen am Lys-9 [Histon 3] bzw. Lys-20 [Histon 4]). An diesen »Hayflick limit« bekannt geworden. Alexei Olovnikov führte
Methylierungen sind auch Proteine der Retinoblastoma-Familie 1973 dieses Phänomen auf die Verkürzung der Telomere
6 beteiligt, die wir schon bei der Zellzyklusregulation kennengelernt während der Replikation zurück und entwickelte die Hypo-
haben (7 Abschn. 5.2.1) und die uns auch als klassische Tumorsup- these, dass die Länge der Telomersequenzen die mögliche
pressorgene wieder begegnen werden (7 Abschn. 13.4.1). In Abwe- Zahl von Replikationsrunden vorherbestimmen könnte.
senheit der Retinoblastoma-Proteine geht diese Histon-Methylie- Etwa ein Jahrzehnt später entdeckten Cooke und Smith
rung schnell verloren; außerdem werden die Telomere länger. (1986), dass die durchschnittliche Länge der Telomere in
Viele Argumente sprechen daher dafür, dass die Methylierung der Keimzellen wesentlich länger war als in adulten Körperzel-
Histone im Wesentlichen dazu führt, in Wechselwirkung mit der len. Sie zogen dabei auch in Betracht, dass adulte Zellen im
Vielzahl von Proteinen (. Abb. 6.11) eine hochkompakte Chroma- Gegensatz zu den Keimzellen keine Telomerase-Aktivität
tinstruktur zu schaffen. Veränderungen in dieser kompakten he- mehr enthalten – die Telomerase wurde in dieser Zeit zum
terochromatischen Struktur haben nicht nur Auswirkungen auf ersten Mal in Tetrahymena beschrieben. Der zunächst hypo-
die Telomerstabilität, sondern auch auf die Expression der Gene in thetische Zusammenhang zwischen Telomerlänge und repli-
den Subtelomerregionen. Dieses Phänomen ist auch als »Telomer- kativem Potenzial wurde zu einem anerkannten molekula-
Positionseffekt« bekannt und bei Säugern und Hefen beschrieben. ren Mechanismus, als gezeigt wurde, dass primäre mensch-
Auch wenn die Bildung der Telomere bei vielen Eukaryoten liche Fibroblasten unbegrenzt replizieren können, wenn das
ähnlich verläuft, gibt es im Detail manche Unterschiede. Diese Telomerase-Gen überexprimiert wird.
betreffen die Sequenz der Telomer-Wiederholungselemente
(z. B. in vielen Insekten TTAGG, in Pflanzen TTTAGGG), aber Allerdings ist es nicht einfach, dieses zelluläre Telomerase-
auch die Häufigkeit der Wiederholungselemente. So ergibt sich Modell auf Alterungsprozesse von Organismen zu übertra-
z. B. für Ciliaten eine Telomerlänge von nur 20 bp und bei Hefen gen,  da der Verlust der Telomerase-Aktivität in verschiedenen
einige Hundert Basenpaare. Bei Hefen konnte außerdem gezeigt Organismen unterschiedliche Konsequenzen hat. In Mäusen,
werden, dass das Zellzyklus-regulierende Protein Cdc13 bei der Hefen, Pflanzen und Würmern wird der Verlust der Telomerase-
Aktivitätskontrolle der Telomerase eine wichtige Rolle spielt. Hefe- Aktivität zumindest für mehrere Generationen toleriert. Im
mutanten, die keine Telomerase-Aktivität aufweisen, zeigen ein Gegensatz dazu sterben homozygote tert-Mutanten des Zebra-
hohes Maß an größeren chromosomalen Rearrangements. Bei fisches in der ersten Generation vorzeitig mit deutlich verkürzten
der Maus spielt allerdings eher die Verminderung des prolifera- Telomeren; insgesamt zeigen sie einen degenerativen Phänotyp
tiven Potenzials oder eine erhöhte Apoptose eine wichtige Rolle. mit vorzeitiger Unfruchtbarkeit und gastro-intestinaler Atro-
phie. Verbunden ist dieses Krankheitsbild mit verminderter Zell-
C Für die grundsätzliche Charakterisierung der Telomerase- proliferation, Anhäufung von Markern der DNA-Reparatur und
Funktion in verschiedenen Organismen wurden im Jahr 2009 schließlich Apoptose (besonders in den Keimzellen). In ähnli-
Elizabeth Blackburn, Carol Greider und Jack Szostak mit dem cher Weise ist die relativ mäßige Halbierung der Telomerase-
Nobelpreis ausgezeichnet. Eine lesenswerte und sehr persön- Aktivität in Menschen (z. B. durch Haploinsuffizienz) schon
liche Darstellung des langen Weges zwischen schwierig zu nach ein bis drei Generationen für eine Reihe von schweren kli-
interpretierenden experimentellen Ergebnissen und der Auf- nischen Symptomen verantwortlich. Diese eher indirekte Bezie-
klärung eines grundlegenden genetischen Phänomens haben hung zwischen dem klinischen Phänotyp und Mutationen in
die späteren Preisträger bereits 3 Jahre vorher veröffentlicht. Genen, die die Telomerlänge beeinflussen, erschwert eine gene-
Darin betonen die Autoren die besondere Bedeutung von tische Analyse und führt möglicherweise immer noch zu einer
Forschungsarbeiten, die durch Neugierde angetrieben sind Unterschätzung des Einflusses der Telomerlänge auf mensch-
und zunächst keine offensichtlichen Anwendungsmöglichkei- liche Erkrankungen.
ten bieten. Wenn durch eine falsche Einschätzung der Bedeu- Während der Embyonalentwicklung von Vertebraten ist die
tung der Grundlagenforschung der autokatalytische Kreislauf Telomerlänge in den meisten Geweben des Organismus iden-
zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung tisch, aber nach der Geburt werden die Telomere in proliferati-
durchbrochen werde, wird auch der kontinuierliche Fortschritt ven somatischen Zellen stark verkürzt. Einige Gewebe, wie die
in den angewandten Bereichen der Wissenschaft, Medizin Darmmukosa, aber auch die peripheren Blutzellen, haben einen
und Technik eher begrenzt sein (Blackburn et al. 2006). starken Umsatz und benötigen eine hohe Zellproliferation; diese
6.2 · Organisation der DNA im Chromosom
227 6
Zellen zeigen ein größeres Ausmaß an Telomerverkürzungen. > Die Telomerlänge in Körperzellen nimmt mit zunehmen-
Umgekehrt zeigen Gewebe mit einer geringe(re)n Mitoserate dem Alter ab (replikative Alterung). Dieser Prozess wird
(wie z. B. Muskel und Gehirn) eine stabile Telomerlänge. Und beschleunigt durch Mutationen in den Genen DKC1, TERC
wieder andere Gewebe (z. B. Leber, Nierenrinde) zeigen eine und TERT; entsprechende Erkrankungen sind durch vor-
altersabhängige Verkürzung der Telomere; es scheint im Übrigen zeitige Alterungsprozesse gekennzeichnet.
auch in Stammzellen zu einer Verkürzung des Telomers kommen
zu können.
Insgesamt lassen sich heute einige interessante Perspektiven
*Obwohl Körperzellen üblicherweise keine Telomerase-
Aktivität zeigen (mit Ausnahme von Stammzellen), wird
aufzeigen: Menschliche Granulocyten und Lymphocyten zeigen in über 90 % der Tumorproben eine Telomerase-Expres-
mit zunehmenden Alter eine deutliche Abnahme der Telomer- sion beobachtet. Eine mögliche Krebstherapie versucht
länge, wobei diese Abnahme bei den Lymphocyten stärker aus- daher, die Telomerase im Krebsgewebe gezielt zu hem-
geprägt ist (von ~ 10 kb bei der Geburt auf ~ 4 kb im Alter von ca. men,  wobei allerdings die lange Dauer bis zum Abster-
90 Jahren) als bei den Granulocyten, deren Untergrenze etwa bei ben der Telomerase-abhängigen Krebszellen nicht sehr
6 kb liegt. Die Telomerlänge kann heute als ein erbliches Merk- verheißungsvoll erscheint. Ein Molekül, das die RNA-Kom-
mal verstanden werden, wobei es aber auch Unterschiede zwi- ponente der Telomerase angreift, GRN163L, wurde be-
schen verschiedenen Chromosomen gibt: Besonders kurze Telo- reits mehrfach in der klinischen Prüfung (Phase II) für ver-
merlängen hat offensichtlich der kurze Arm des menschlichen schiedene Krebserkrankungen getestet; eine Prüfung
Chromosoms 17. Auch das inaktive X-Chromosom zeigt eine gegen Gehirntumore läuft noch (Stand März 2015;
beschleunigte Verkürzung der Telomerlänge gegenüber dem ak- https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT01836549). Ein
tiven X-Chromosom. anderer Ansatz ist die Stimulierung spezifischer Immun-
Dennoch greift es wohl zu kurz, die Telomerlänge nur in Ab- antworten gegen Telomerase-exprimierende Krebszellen,
hängigkeit einer unvollständigen Replikation zu betrachten. um sie so gezielt abzutöten. Auch hierzu werden klinische
Vielmehr kommen noch weitere Aspekte dazu, von denen wir Studien durchgeführt, von denen man sich besonders
wissen, dass sie das Telomer empfindlich machen, z. B. macht die bei Krebserkrankungen der Brust und Prostata deutliche
Guanin-reiche Natur der Telomere sie besonders anfällig für oxi- Therapiefortschritte verspricht. Eine interessante Übersicht
dative Schädigungen. Weiterhin sind Fehler bei der Auflösung zu dieser Thematik wurde von Aubert und Lansdorp 2008
der G-reichen Telomerstrukturen möglich sowie Deletionen der veröffentlicht.
T-Schlaufen durch homologe Rekombination, die offensichtlich
nur unzureichend korrigiert werden können.
Mutationen, die die Struktur und/oder Funktion der Protei- 6.2 Organisation der DNA im Chromosom
ne beeinträchtigen, die am Aufbau der Telomerkomplexe betei-
ligt sind, führen häufig zu Krebserkrankungen. Allerdings sind In den vorangehenden Kapiteln haben wir Chromosomen von
auch andere Krankheiten damit verbunden, die oft dem Formen- zwei Ebenen her betrachtet, ohne diese miteinander zu verbin-
kreis des frühzeitigen Alterns zuzurechnen sind. Dazu gehören den. Zunächst haben wir den wichtigsten molekularen Bestand-
vor allem die Dyskeratosis congenita, das Bloom- und das Wer- teil eines Chromosoms, die DNA, als Träger der Erbinformation
ner-Syndrom. Die X-chromosomale Form der Dyskeratosis con- erörtert. Später haben wir die lichtmikroskopisch erkennbaren
genita ist durch Mutationen im Dyskerin-Gen (DKC1) verur- Eigenschaften, also die Cytologie der Chromosomen, kennenge-
sacht; dieses Gen codiert für ein Nukleolusprotein, das an der lernt. Wir werden bei der Besprechung des mitotischen und des
Modifikation spezifischer kleiner RNA-Moleküle beteiligt ist, meiotischen Zellzyklus (7 Abschn. 6.3) sehen, dass die Chromo-
insbesondere ribosomaler RNAs und der RNA-Komponente der somen dabei massiven strukturellen Veränderungen unterliegen:
humanen Telomerase (TERC). Das TERC-Gen selbst war natür- Die Strukturen, die gemeinhin als Chromosomen bezeichnet
lich ebenso Gegenstand vieler Untersuchungen, und Mutationen werden, erscheinen in ihrer mikroskopisch erkennbaren Struk-
in TERC führen zu verminderter humaner Telomerase-Aktivität tur erst zu Beginn der Mitose, bleiben während der Zellteilung
(bis zu 50 % Restaktivität, da die RNA-Komponente für die volle erhalten und werden am Ende der Mitose wieder unsichtbar.
Telomerase-Aktivität benötigt wird). Mutationen in DKC1, Während des übrigen, zeitlich weitaus überwiegenden Teils des
TERC und TERT (codiert für die Telomerase selbst) führen alle Zellzyklus ist die Anwesenheit der Chromosomen (und die der
zu Defekten der enzymatischen Aktivität der Telomerase sowie DNA) im Zellkern nur mit besonderen Techniken festzustellen.
zu Fehlern in der Elongation oder Erhaltung der Telomere und Die chromosomale DNA muss mithin eine sehr grundlegende
damit zu einer fortschreitenden Verkürzung der Telomere, und strukturelle Reorganisation durchlaufen, um diese verschiede-
zwar bei den betroffenen Patienten mit zunehmendem Alter, nen Organisationszustände einzunehmen. Um diese Ebenen
aber auch bei nachfolgenden Generationen. Dieser Aspekt führt miteinander zu verbinden und um unser Verständnis der Chro-
zu einer Antizipation in Stammbäumen von Patienten mit Telo- mosomenstruktur zu erweitern, lassen sich nunmehr zwei Fra-
merase-Defekten, wobei allerdings keine offensichtliche Korre- gen formulieren:
lation zwischen dem Typ der Mutation, dem Eintrittsalter der 4 Wie ist die DNA im Chromosom strukturell organisiert?
Krankheit und deren Schweregrad besteht. 4 Gibt es außer der DNA noch andere molekulare Grundbau-
steine der Chromosomen, die von allgemeiner Bedeutung
sind?
228 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

. Tab. 6.2 Eigenschaften von Histonen

Typ Aminosäuren Molekulargewicht [Da] Lys/Arg-Verhältnis Bemerkungen

H1 215 21.000 20,0 Variabel

H2A 129 14.500 1,25 Reich an Lys, Variabilität begrenzt

H2B 125 13.700 2,50 Reich an Lys, Variabilität begrenzt

H3 135 15.300 0,72 Reich an Arg, sehr konserviert

H4 102 11.200 0,79 Reich an Arg, sehr konserviert

Während Histon H1 bereits zwischen nahe verwandten Organismengruppen starke Aminosäuresequenzunterschiede zeigt, ist die Variabilität der
Histone H2A und H2B begrenzt; Histone H3 und H4 hingegen unterscheiden sich in ihrer Aminosäuresequenz zwischen verschiedenen Organismen
6 kaum. Es gibt eine Reihe gewebespezifischer oder entwicklungsstadienspezifischer Histonvarianten, die die oben verzeichneten Zellzyklus-regu-
lierten Histone ersetzen können. Dazu gehören vor allem H2A.X, H2A.Z und H3.3.

Darauf sollen die nächsten Abschnitte Antworten geben: Durch


eine besondere Klasse basischer Proteine, die Histone, entsteht
eine perlenschnurartige Aufwicklung der DNA in Form von
Nukleosomen, die eine extrem hohe Packungsdichte im Zell-
kern erlaubt und in ihrer Gesamtheit als Chromatin bezeichnet
wird.

6.2.1 Chromosomale Proteine

Die Proteinbestandteile der Chromosomen haben schon lange


das Interesse der Forscher gefunden, bevor die DNA in ihrer
Funktion als Träger der Erbinformation erkannt worden war.
Friedrich Miescher hatte sich für die stark basischen Proteine des . Abb. 6.12 Nukleosomen im Chromatin aus Oocyten des Salamanders
Pleurodeles waltlii. (Aus Scheer 1987, mit freundlicher Genehmigung von
Chromatins interessiert, da man in der Variabilität der Proteine
Springer)
Aufschluss über die Art der Erbsubstanz gesucht hatte (7 Abschn.
2.1.2). Die Bezeichnung Chromatin war von Walther Flemming
1882 zur Kennzeichnung des färbbaren Materials im Interphase-
kern eingeführt worden. Albrecht Kossel beschrieb 1884 das Histone umfassen mengenmäßig jedoch nur die Hälfte der
erste Chromatin-assoziierte Protein, das er aus Gänseerythro- im Chromosom vorhandenen Proteine. Zu den anderen Protein-
cyten durch Extraktion mit Säure gewonnen hatte (für diese Ar- komponenten im Chromatin gehören insbesondere HMG-Pro-
beiten erhielt er 1910 den Nobelpreis für Medizin). Aus Inter- teine (engl. high mobility group), kleine basische Proteine, die
phasechromatin erhält man dabei vorwiegend eine Proteinfrak- universelle Bestandteile der Chromosomen sind. Weitere Prote-
tion, die aus mehreren verschiedenen Proteinen besteht, die wir ine gehören zur Familie der Nukleophosmine bzw. Nukleoplas-
als Histone bezeichnen; wir unterscheiden vier Histontypen mine. Diese Proteine sind im Tierreich weit verbreitet und haben
(H2A, H2B, H3 und H4; . Tab. 6.2). Die Histone sind, wie ihre vielfältige Aufgaben, z. B. bei der Chromatinbildung, der Ge-
Isolationsmethode anzeigt, stark basische Proteine, und sie bil- nomstabilität und als molekulare Chaperone bei der Erhal-
den das Grundgerüst fast aller eukaryotischen Chromosomen. tung der Nukleosomenstruktur. Nukleoplasmin wurde 1978 von
Die positive Ladung dieser Proteine wird durch zahlreiche basi- Laskey und Mitarbeitern aus Eiern des afrikanischen Krallen-
sche Aminosäuren bedingt (besonders Lysin- und Arginin-Res- frosches Xenopus laevis isoliert; Nukleophosmin wurde zuerst als
te). Sie dient dazu, die negative Ladung der Phosphatgruppen der Phosphoprotein identifiziert, das in hoher Konzentration im
DNA zu kompensieren. Histone können dadurch eine enge Bin- Nukleolus vorkommt.
dung mit der DNA eingehen. Durch die Bindung der Histone an Anders zusammengesetzt ist lediglich das Chromatin in
die chromosomale DNA werden charakteristische Strukturen, männlichen Keimzellen. Hier werden die Histone bei vielen
die Nukleosomen, gebildet, die im Elektronenmikroskop sicht- Organismen durch noch stärker basische Proteine ersetzt. Oft
bar gemacht werden können (. Abb. 6.12). Sie sind die Grund- handelt es sich dabei um Protamine, wie sie besonders charak-
elemente eukaryotischer Chromosomen in nahezu allen Zell- teristisch in Lachssperma vorkommen. Diese Proteine ver-
typen. Die Histone werden durch zahlreiche, sehr ähnliche Gene packen die DNA im Spermienkopf in einer nicht-nukleosomalen
codiert, die als Histon-Genfamilie zusammengefasst werden Struktur.
(7 Abschn. 7.2.2).
6.2 · Organisation der DNA im Chromosom
229 6

. Abb. 6.13 Atomstruktur eines Nukleosoms. a Nukleosomenkern (146 bp


DNA), links von oben, rechts von der Seite. Die DNA-Stränge sind orange
und grün dargestellt, die Histone blau (H3), grün (H4), orange (H2A) und rot
(H2B). b Die 73-bp-Hälfte des Nukleosomenkerns von oben. Die vertikale
Dyadenachse liegt bei dem zentralen Basenpaar (»0«, oben im Bild). Jede
weitere der sieben Doppelhelixwindungen ist nummeriert (1 bis 7). Die His-
tone sind in b farblich gekennzeichnet wie in a; die carboxy- (C) und amino-
terminalen (N) Enden sind angegeben. (Aus Luger et al. 1997, mit freund-
licher Genehmigung der Nature Publishing Group)

6.2.2 Nukleosomen und Chromatinstruktur zwei (genau 1,75) Linkswindungen (also gegen den Uhrzeiger-
sinn) anordnen. Ein Histonoktamer wird auch als Nukleo-
Ein Nukleosom wird von vier verschiedenen Histontypen, H2A, somenkern bezeichnet, im Englischen hat sich für die daran
H2B, H3 und H4 (. Tab. 6.2) gebildet. Von jedem dieser Histone beteiligten Histone der Begriff der core histones eingebürgert. Ein
sind je zwei Moleküle im Nukleosom vorhanden. Die vier His- Oktamer besteht aus einem zentralen H32/H42-Tetramer und
tone bilden daher ein Oktamer (. Abb. 6.13), um das sich im zwei seitlich daran anliegenden Dimeren aus H2A/H2B. Die
Chromosom 146 Basenpaare der DNA-Doppelhelix in knapp DNA windet sich durch Vertiefungen an der Oberfläche dieses
230 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Nukleosomenkerns. Positiv geladene Aminosäuren an den soge- für Regulationsfaktoren liefern können. Eine bekannte Erschei-
nannten β-Brücken zwischen den Histonen treten in Kontakt mit nung ist die aufgrund der Dyadenstruktur des Nukleosoms ab-
der negativ geladenen DNA. Diese relativ einfache Konstruktion weichende Konformation der DNA im Bereich von 1,5 Windun-
der Histon-DNA-Interaktion erlaubt eine leichte Dissoziation, gen beiderseits der Dyadenachse. Diese Eigenschaft wird von der
wie sie wahrscheinlich für Replikation und Transkription unab- im HIV (7 Abschn. 9.2.2) codierten Integrase benutzt, um bevor-
dingbar ist. zugt in der in diesem Bereich erweiterten großen Furche (engl.
Die Röntgenstrukturanalyse des Nukleosoms (. Abb. 6.13) major groove) der DNA zu binden und die Integration des Virus
hat wichtige Einzelheiten der Organisation der Histone auf- ins Genom zu bewirken.
gezeigt. Die C-terminalen Regionen der Histone sind einander Im Chromosom sind Nukleosomen im Allgemeinen in regel-
sehr ähnlich und bestehen aus zentralen α-Helices, die über mäßigen Abständen angeordnet. Abhängig vom Zelltyp folgen
β-Schleifen auf jeder Seite mit zwei kürzeren seitlichen α-Helices zwei Nukleosomen in Abständen von etwa 160 bis 200 Basenpaa-
verbunden sind. Je zwei β-Schleifen bilden durch Kontakt eine ren. Hiervon entfallen 20 bis 60 Basenpaare auf das Verbindungs-
β-Brücke. Die 16 β-Schleifen ergeben somit acht Brücken, von stück (engl. linker) zwischen den 146 Basenpaaren, die den Nu-
6 denen jede einen Kontaktpunkt mit der DNA schafft. Die zen- kleosomenkern umgeben (. Abb. 6.13). Ein Nukleosomenstrang
tralen Helices dienen der Dimerisierung der Histone, die sich in hat einen Durchmesser von etwa 10 nm und entspricht damit den
diesem Bereich berühren (man spricht von einer Handshake- elektronenmikroskopisch identifizierten 10-nm-Fibrillen. Die
Region). Die N-terminalen Enden der N-terminalen α-Helices Verpackung in Nukleosomen verkürzt die DNA um einen Faktor
berühren sich ebenfalls und formen vier weitere Kontaktstellen von 7. Durch DNA-sequenzspezifische Eigenschaften kommt es
mit der DNA in deren kleinen Furche (engl. minor groove). Somit jedoch oft zu bestimmten Anordnungen der Nukleosomen in
haben 12 der 14 Helixwindungen der DNA um das Nukleosom bestimmten Chromosomenbereichen, oder es werden nukleoso-
Kontakt mit den Histonen. Wahrscheinlich stehen auch die bei- menarme oder -freie Bereiche geschaffen.
den verbleibenden Windungen der DNA noch in Kontakt mit Die Röntgenstrukturanalyse des Nukleosoms hat einen wei-
dem Histonkern. Die zentrale Struktur aus den α-Helices be- teren sehr wichtigen Aspekt ergeben: Die terminalen Bereiche
zeichnet man auch als Histonfalte (engl. histone fold). der Histone dringen aus dem Nukleosom nach außen, sodass
Betrachtet man die sterische Konfiguration des Nukleosoms, sie zu Interaktionen mit anderen Molekülen in der Lage sind.
so wird erkennbar, dass es nahezu symmetrisch ist. Das Symme- Diese Histonbereiche unterliegen jedoch Modifikationen, die ihre
triezentrum liegt in der Mitte der DNA, die den Histonkern um- Konformation und damit auch Funktion beeinflussen. Insbeson-
gibt. Man nennt diese DNA-Position die Dyadenachse. Bei der dere die Lysine können acetyliert werden, aber auch Phospho-
Besprechung der DNA-Struktur wurde darauf hingewiesen, dass rylierung an Serinen, Methylierung an Lysinen, ADP-Ribosylie-
die DNA trotz ihrer scheinbaren Gleichförmigkeit sequenzspe- rung oder Ubiquitinierung werden beobachtet. Die Folgen von
zifische Unregelmäßigkeiten aufweist. Das bedeutet, dass auch Acetylierung sind besonders gut untersucht: Histone in tran-
die strukturelle Organisation im Nukleosom nicht einförmig ist. skriptionsaktiven Bereichen der Nukleosomenkette sind meist
Eine echte Symmetrie lässt sich nur erreichen, wenn die DNA- acetyliert, während sie in transkriptionsinaktiven Chromatinbe-
Sequenz aus einer invertierten Wiederholungseinheit von 73 bp reichen nicht acetyliert sind. Alle Modifikationen von Histonen
besteht, die im Bereich der Dyadenachse ihr Zentrum hat. Jede haben Konsequenzen für die Chromatinstruktur, und das genaue
Abweichung in der Sequenz führt zu veränderten Bindungsei- Verständnis der komplexen Muster der Modifikationen wird
genschaften zwischen DNA und dem Histonkern. Es ist auf die- eine notwendige Voraussetzung zum Verständnis von Genregu-
ser Grundlage leicht einzusehen, dass Nukleosomen dazu tendie- lationsvorgängen sein (7 Abschn. 7.3 und 7 Abschn. 8.1.3).
ren, sequenzspezifische, in ihrer Bindungsenergie bevorzugte Allerdings ist die Verteilung der Nukleosomen im Chroma-
und sterisch begünstigte Positionen in der DNA einzunehmen. tin nicht konstant; es muss ja möglich sein, die Positionen der
Das erklärt den Vorgang der »Nukleosomenpositionierung« Nukleosomen zu wechseln, wenn die Veränderungen des Diffe-
(engl. nucleosome positioning), d. h. es gibt DNA-Sequenzen, in- renzierungsmusters oder veränderte Umweltbedingungen einen
nerhalb derer Nukleosomen bevorzugte Positionen einnehmen, besonderen Zugang zur DNA nötig machen, um so Genaktivie-
oder andere, die aufgrund der DNA-Struktur nukleosomenfrei rung starten zu können. Hierfür gibt es besondere enzymatische
sind. Maschinen, die diese Aufgabe erledigen können. Dazu gehören
Ein Beispiel dafür sind DNA-Sequenzen, deren einer Strang vor allem die beiden Familien SWI/SNF (engl. switch) und ISWI
nur Purinbasen, deren anderer aber nur Pyrimidinbasen enthält (engl. imitator of switch); den möglichen Mechanismus erläutert
(also z. B. Poly(dA)/Poly(dT)). Diese DNA-Struktur gestattet es . Abb. 6.14.
aus sterischen Gründen nicht, Nukleosomen zu bilden. Entspre-
chende DNA-Sequenzen finden sich beispielsweise in Centro- > Die niedrigste Organisationsstufe der chromosomalen
merregionen der Chromosomen und im Heterochromatin, teil- DNA in der 10-nm-Fibrille wird durch die Bildung von
weise aber auch in Promotorbereichen. Das erleichtert die Er- Nukleosomen erreicht. Basische chromosomale Proteine,
füllung spezieller Aufgaben, da diese DNA-Bereiche andere die Histone, bilden Proteinoktamere, um die sich die
Proteine binden bzw. für die Bildung von Transkriptionskom- DNA in zwei Windungen mit einer Gesamtlänge von 146
plexen leicht zugänglich sein müssen. Basenpaarungen herumlegt. Nach etwa 20 bis 60 Basen-
Die strukturellen Eigenschaften der Nukleosomen sind von paaren folgt ein weiteres Nukleosom, sodass Nukleoso-
erheblichem biologischem Interesse, da sie Erkennungssignale menketten entstehen, die elektronenmikroskopisch als
6.2 · Organisation der DNA im Chromosom
231 6
a
oder

SWI/SNF CHRAC ACF

ungeordnet regelmäßig

b
oder

SWI/SNF

CHRAC ACF CHRAC ACF

und
verschiedene Positionen verschoben zentriert Endposition

. Abb. 6.14 Gleiteigenschaften der SWI/SNF- und ISWI-Remodellierungskomplexe. a Die SWI/SNF- und ISWI-Umformungsproteine, wie ACF (engl. ATP-
utilizing chromatin assembly and remodeling factor) und CHRAC (engl. chromatin accessibility factor), haben gegensätzliche Gleiteigenschaften an Nukleoso-
men. SWI/SNF-Proteine überführen eine geordnete Nukleosomenstruktur in eine unregelmäßige Anordnung, während die ISWI-Proteine den umgekehrten
Prozess steuern. b Die beiden Umformungsproteine haben unterschiedliche Effekte auf einzelne Nukleosomen, die als zweidimensionale Projektionen
dargestellt sind. Die Position des Histonoktamers auf der DNA ist als beiges Oval gezeigt. Die durchgehenden blauen Linien deuten die verschiedenen Posi-
tionen der DNA an; die punktierten Linien bezeichnen die DNA an verschiedenen Positionen entlang des Oktamers. Die Umformung durch die SWI/SNF-
Komplexe führt zu verschiedenen Positionen und erzeugt eine spezielle Nukleosomenspezies, bei der die DNA um ca. 50 bp verschoben ist. ISWI-Proteine
(wie ACF und CHRAC) bilden aber keine verschobenen Nukleosomen, sondern positionieren die Nukleosomen in Abhängigkeit von weiteren Proteinpart-
nern entweder zentriert oder am Ende. (Nach Saha et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

10-nm-Fibrillen erscheinen und eine etwa 7-fache Ver- C Welche große Bedeutung der strukturellen Organisation der
kürzung der DNA-Länge verursachen. Wegen des hohen DNA im Chromosom zukommt, wird deutlich, wenn wir uns
Proteinanteils (der Durchmesser der DNA beträgt ja nur den DNA-Gehalt eines diploiden Kerns vor Augen halten. So
etwa 2,4 nm) bezeichnet man diese 10-nm-Fibrillen auch enthält beispielsweise das menschliche Genom DNA in einer
als Nukleoproteinfibrillen (10 nm entsprechen 100 Å; Gesamtlänge von 94 cm. Bei 46 Chromosomen sind das im
diese Längeneinheit wurde früher für sehr kleine Abstände Mittel 2 cm DNA je Chromosom. Ein normaler Interphase-
verwendet, 10 Å = 1 nm). kern hat einen Durchmesser von nur etwa 10 μm, und ein
mittleres Metaphasechromosom des Menschen ist ungefähr
*Das Bild eines Nukleosoms suggeriert, dass wir es mit einem
dicht gepackten Proteinkomplex zu tun haben. Die physika-
5 mm lang. Um die DNA in einem Chromosom und dieses in
einem Zellkern unterzubringen, muss die DNA-Doppelhelix
lische Strukturanalyse von Nukleosomenkristallen zeigt je- also um das etwa 4000-fache verkürzt werden.
doch, dass im Inneren eines Nukleosoms viel freier Raum
vorhanden ist. Wahrscheinlich gewährt es dem gesamten Durch die Bildung von Nukleosomen erfährt die DNA gegen-
Nukleosom eine Flexibilität, wie sie für stoffwechselphysio- über der Länge einer freien Doppelhelix eine Verkürzung um
logische Veränderungen der Chromosomenstruktur erfor- einen Faktor 7. Wir müssen hieraus schließen, dass noch weitere
derlich ist, insbesondere in Zusammenhang mit der Tran- Schritte der Verpackung der DNA erfolgen müssen, um die in
skription. Elektronenmikroskopische Daten deuten zwar da- einem einzelnen Chromosom enthaltene DNA-Menge in einen
rauf hin, dass die Nukleosomenstruktur der DNA teilweise Interphasekern von 10 μm Durchmesser zu verpacken. Einen
auch während der Transkription erhalten bleibt. Welchen wichtigen Beitrag zu dieser Auffaltung liefert ein weiteres Histon-
Strukturveränderungen das Chromatin während der Tran- protein, das Histon H1 (. Tab. 6.2). Wir wissen heute, dass es sich
skription aber im Einzelnen unterworfen ist, ist noch unge- einerseits mit seinem globulären Mittelteil der DNA am Nukle-
klärt. Sicherlich müssen die Nukleosomen strukturell verän- osom so anlagert, dass die DNA-Spirale stabilisiert wird. Ande-
dert werden, wenn der durch die RNA-Polymerase geformte rerseits kommt es aber auch (zumindest mit seinem C-termina-
Transkriptionskomplex ein Nukleosom passiert. Von einem len Bereich) mit der DNA in Kontakt, die zwei aufeinanderfol-
Verständnis der strukturellen und funktionellen Konsequen- gende Nukleosomen verbindet. Es wird daher angenommen,
zen der Chromatinorganisation selbst auf diesem einfachen dass es an der Aufwindung der nukleosomalen 10-nm-Fibrille zu
Niveau sind wir noch weit entfernt. höheren Chromatinstrukturen beteiligt ist. Hierfür spricht auch
die Beobachtung, dass das Histon H1 in inaktivem Chromatin
232 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

a
. Abb. 6.15 Bindung von Histon H1 an Chromatin.
a Die Bindung von Histon H1 an das Chromatin ist
ein Mehrschrittprozess, der durch eine Ladungs-
abhängige Wechselwirkung von schwacher Affini-
tät der C-terminalen Domäne mit der Verbindungs-
DNA (engl. linker) eingeleitet wird. Diese schwache
Wechselwirkung erlaubt der globulären Domäne,
das Nukleosom nach einem optimalen Platz abzu-
suchen. Die passende Platzierung der globulären
Domäne induziert Konformationsänderungen im
H1-Histon und dem Chromatin. b Abhängigkeiten
der H1-Nukleosomen-Wechselwirkung: (1) Die ein-
Unspezifische Bindung an zigartigen strukturellen Eigenschaften des Histons
die linker-DNA H1 sind die Hauptursache für die Bindung an das
Chromatin; (2) regulatorische Cofaktoren verstär-
6 ken die Bindung; (3) posttranslationale Modifika-
tion an H1 oder dem Chromatin vermindern die
Bindung von H1; (4) Transkriptionsfaktoren (TF) und
ähnliche regulatorische Faktoren konkurrieren mit
H1 um spezifische Bindestellen am Chromatin;
(5) Proteine, die unspezifisch an das Chromatin bin-
den (z. B. HMGs), konkurrieren mit H1 um die Bin-
dung an das Chromatin und vermindern entspre-
chend die Wechselwirkung von H1 mit dem gesam-
ten Chromatin. (Nach Catez et al. 2006, mit freund-
licher Genehmigung der Nature Publishing Group)

b
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
233 6
a b c d e

Gen X

Gen X
. Abb. 6.16 Modelle der Chromatinorganisation. a 10-nm-Fibrille. b Seitenansicht und c Aufsicht einer 30-nm-Faser oder Solenoid. Die benachbarten Nu-
kleosomen sind radial um eine zentrale Achse herum angeordnet und die Verbindungs-DNA erscheint angewinkelt. d Akkordeonartiges Zickzack-Modell
einer 30-nm-Faser. Diese Anordnung entspricht einem Modell von vier Nukleosomen, das aber nur in vitro auftritt. e Verzahnung von zwei 10-nm-Fibrillen
(blau und grün), die schlangenförmig angeordnet sind. Wechselwirkungen zwischen nebeneinanderliegenden Fibrillen erhöhen die Verpackungsdichte.
Die nummerierten Kreise sind Nukleosomen, die in einer Reihe angeordnet sind; der rote Pfeil stellt die Orientierung der DNA dar, und der schwarze Pfeil re-
präsentiert den Promotor für das Gen X. (Nach Quénet et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

vorhanden ist, in transkriptionsaktivem Chromatin hingegen eine Reihe von höheren Chromatinstrukturen, diese lassen sich
nicht oder in nur geringeren Mengen gefunden wird. Eine sche- aber alle auf die 10-nm-Grundstruktur zurückführen. Als Ursa-
matische Vorstellung der Vorgänge, an denen das Histon H1 be- chen für die Fehlinterpretationen früherer Daten werden Konta-
teiligt ist und die zu einem entsprechend höheren Verpackungs- minationen mit Ribosomen und die Pufferbedingungen für die
grad führen, vermittelt . Abb. 6.15. Chromatinextraktion diskutiert.

*Eine Möglichkeit, die Funktion eines Proteins zu verstehen,


besteht in der Suche nach bzw. in der Herstellung von ent-
> Nicht alle DNA-Bereiche sind aufgrund ihrer Sequenz ge-
eignet, eine nukleosomale Struktur anzunehmen. Auch
sprechenden Funktionsverlust-Mutanten (engl. loss of func- während der Transkription müssen die Nukleosomen zu-
tion). Die entsprechende Histon-H1-Verlust-Mutante der mindest kurzfristig verändert oder entfernt werden, um
Maus ist als heterozygote Mutante lebensfähig, und der der Polymerase die Fortbewegung an der DNA während
Verlust von etwa 50 % der Histon-H1-Proteine führt in embryo- der RNA-Synthese zu gestatten. Chromosomale DNA ist in
nalen Stammzellen der Maus zwar zur Verkürzung der Nukleo- unterschiedlichen Hierarchiestufen organisiert. Die nied-
somen, aber nur zum Abschalten von 29 Genen – offensicht- rigste Organisationsstufe ist eine 10-nm-Fibrille, die durch
lich ist das Histon H1 also kein allgemeiner Repressor der Interaktionen zwischen DNA und Proteinen erzeugt wird;
Transkription. Allerdings ist ein vollständiger Verlust von eine besondere Bedeutung hat dabei das Histon H1.
Histon H1 in homozygoten Mutanten mit dem Leben nicht
vereinbar; die Embryonen sterben während ihrer Entwick-
lung an vielfältigen Defekten (zur Übersicht siehe Catez et al.
6.3 Mitose, Meiose und chromosomale
2006).
Rearrangements
Als nächsthöhere Struktur wurde über Jahrzehnte eine 30-nm-
Fibrille angenommen: Finch und Klug hatten 1976 aufgrund 6.3.1 Mitose
elektronenmikroskopischer Untersuchungen ein Modell ent-
wickelt, wonach sich Nukleosomen in einer eingängigen Helix Wie wir im 7 Abschn. 5.2 über den Zellzyklus gesehen haben, ist
(oder Solenoid) so aufwickeln, dass die nachfolgenden Nukle- die Zellteilung ein komplexer Vorgang, der über mehrere Kon-
osomen in der kompakten Struktur benachbart sind und durch trollpunkte genau reguliert wird. Hier wollen wir vor allem die
die Verbindungs-DNA verbunden bleiben. Die Verbindungs- Mitose betrachten (also die M-Phase des Zellzyklus; . Abb. 5.18),
DNA kann aber in das Innere der Faser abknicken und so varia- und zwar unter dem Gesichtspunkt der Chromosomen und ihrer
ble DNA-Längen annehmen (. Abb. 6.16). Allerdings gab es strukturellen Veränderungen. Die Chromosomen im Zellkern
in den letzten Jahren vermehrt Zweifel daran, dass die 30-nm- sind während der G1-, der S- und der G2-Phase nicht sichtbar.
Fibrille in der vorgeschlagenen Form überhaupt existiert, und Vielmehr ist der Kern mit diffusem Chromatin angefüllt, das den
neue Arbeiten haben diesen Verdacht bestätigt (zur Übersicht Chromosomen entspricht. Dieser Zeitabschnitt des Zellzyklus
siehe Quénet et al. 2012). Wir finden natürlich in vielen Zellen wird insgesamt auch als Interphase bezeichnet (= Phase zwi-
234 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Spindelpol

Mikrotubulus

6
Chromosom
Kinetochor
c

Mikrotubulus
am Kinotochor
a
b

. Abb. 6.17 Die Mitose. In der Interphase wächst die Zelle und die DNA wird repliziert. Nach der Replikation der Spindelpole und der DNA wächst die
Zelle weiter und tritt in die Mitose ein. Während der frühen Prophase liegen die Centriolen noch nahe beieinander und bilden mit ihren Spindeln einen Tei-
lungsstern (Aster). Später wandern sie zu entgegengesetzten Positionen an der Kernmembran, und das Chromatin beginnt, sich zu kondensieren, sodass
zunächst lang gestreckte Chromosomen sichtbar werden. Im Laufe der Prophase kontrahieren sich die Chromosomen weiter, und die zwei Chromatiden
werden erkennbar. In der späten Prophase (Übergang zur Metaphase; Prometaphase) löst sich die Kernmembran auf, die Spindel beginnt sich auszubilden,
und die Chromosomen wandern in die Äquatorialebene des ehemaligen Kerns (Bild a). In der Metaphase liegen alle Chromosomen in der Äquatorialebene.
Homologe Chromosomen sind hierbei im Allgemeinen zufallsgemäß verteilt und ungepaart (Bild b). In der Anaphase trennen sich die Chromatiden jedes
Chromosoms und wandern zu entgegengesetzten Spindelpolen (Bild c). Auf diese Weise ist sichergestellt, dass jede Tochterzelle einen vollständigen Satz
Chromosomen erhält. In der späten Anaphase liegen die Chromatiden nahe an den Spindelpolen und die Durchschnürung der Zelle beginnt. In der Telo-
phase bildet sich die neue Kernmembran, die Centriolen verdoppeln sich und die Dekondensation der Chromosomen beginnt (Bild d). Während der Inter-
phase haben sich die Chromosomen dekondensiert und formen ein Chromatingerüst im Zellkern. Die Bilder a–d zeigen die Mitose einer Drosophila-Zelle.
Die Zellen sind mit Antikörpern gegen Centrosomin behandelt, um die Centrosomen zu färben (magenta); α-Tubulin zeigt die Mikrotubuli der Spindel
(grün) und das Centromerprotein CID die Kinetochore (rot); die DNA ist mit DAPI angefärbt (blau). (Mitose-Schema nach Verdaasdonk und Bloom 2011, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group; a–d nach Maiato et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

schen zwei Mitosen). In der klassischen Cytologie nannte man verständlich handelt es sich bei der Zellteilung um einen konti-
einen Interphasekern auch Ruhekern, da man annahm, er befin- nuierlich fortlaufenden Prozess. Aber es ist gebräuchlich, auch in
de sich in einem Ruhestadium zwischen zwei Mitosen. Dieser solchen kontinuierlich verlaufenden Prozessen bestimmte Sta-
Begriff ist nach unserem heutigen Wissen jedoch falsch, da gera- dien durch leicht erkennbare Merkmale zu identifizieren. Wir
de in der Interphase die Erbinformation abgelesen und im Stoff- wollen uns in diesem Abschnitt auf die morphologischen Aspek-
wechsel der Zelle verwertet wird. Die Interphase ist daher der te und auf die Mechanismen konzentrieren, die in der Mitose zur
Teil des Zellzyklus, in dem eine hohe Stoffwechselaktivität Trennung der duplizierten Chromosomen führen.
herrscht. Während der Interphase sind die Chromosomen fast voll-
Mit Beginn der Mitose (. Abb. 5.18 und . Abb. 6.17) werden ständig in einen diffusen Zustand übergegangen. Man spricht
die Chromosomen im Zellkern als individuelle Einheiten sicht- hier von einer Dekondensation der Chromosomen. Während der
bar. Nach Maßgabe ihrer Struktur unterscheidet man verschie- Prophase beginnt eine Kontraktion der Chromosomen, die auch
dene Stadien während der Zellteilung, die durch den Zustand als Kondensation bezeichnet wird. Sie ist in der Metaphase ab-
und die Bewegung der Chromosomen definiert werden. Selbst- geschlossen. Gleichzeitig bildet sich der Nukleolus zurück und
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
235 6
verschwindet. Während der Metaphase kann man im Mikroskop Bewegungsprozess der Chromatiden beginnen die Polarfibrillen
kompakte, stark anfärbbare Chromosomen unterscheiden, die sich zu verlängern, sodass die Pole auseinanderrücken. Hierdurch
sich nunmehr in der Mitte des Zellkerns in einer Ebene angeord- wird der Platz für die Teilung der Zelle durch eine in der Mitte
net haben (Äquatorialebene). Man erkennt erst jetzt deutlich, zwischen den Polen gelegene Einschnürung geschaffen.
dass die Metaphasechromosomen in der Längsrichtung zweige- Während der späten Anaphase erreichen die Chromatiden
teilt sind – eine Folge der Verdoppelung in der S-Phase. Beide die Spindelpole, und die Zelle beginnt, sich in der Mitte zwischen
Untereinheiten – die Chromatiden – hängen nur noch in einem den Spindelpolen zu teilen. Hieran sind fibrilläre Elemente ent-
kleinen Bereich, dem Centromer, zusammen. Mittelpunkt des scheidend beteiligt, die vor allem aus Aktin aufgebaut sind. Die
Centromers eines jeden Chromosoms ist das Kinetochor, an dem Spindel löst sich auf, und in der Telophase beginnen die Chro-
ein Teil der Spindelfasern ansetzt (. Abb. 6.9). matiden zu dekondensieren. Eine neue Kernmembran wird aus-
Die Spindel ist für die Verteilung der Chromosomen verant- gebildet, ein neuer Nukleolus entsteht, und die Zellmembran
wortlich und wird im Allgemeinen von den Spindelpolen her schließt sich zwischen den beiden neu entstehenden Kernen
ausgebildet, die sich an gegenüberliegenden Stellen des Cytoplas- (Cytokinese), sodass die Bildung der Tochterzellen beendet ist
mas außerhalb des Bereichs der (ehemaligen) Kernmembran und ein neuer Zellzyklus beginnen kann. Zwischen den beiden
befinden (nur in Ausnahmefällen werden intranukleäre Spindeln Zellen bleibt ein Aggregat aus Polarfibrillen und aus anderen
ausgebildet). In tierischen Zellen wird dieses Organisationszen- Rückständen des Teilungsprozesses zurück, das als Phragmo-
trum der Spindel als Centrosom (Zentralkörperchen) bezeich- blast und später, in stark kondensiertem Zustand, auch als Flem-
net. Die Spindel besteht aus mikrotubulären Elementen, die im ming-Körper (engl. midbody) bezeichnet wird.
Wesentlichen aus Tubulinen aufgebaut sind: Für den Zusammenhalt von Chromatiden (engl. chromatid
4 Die Astralfasern (engl. astral fibers) nehmen an der Positio- cohesion) während der Mitose bis hin zur Anaphase ist ein Pro-
nierung der Spindel teil und verankern sie an den beiden tein, das Cohesin, verantwortlich. Eine Protease, genannt APC/C
gegenüberliegenden Zellpolen. (engl. anaphase promoting complex/cyclosome), aktiviert wäh-
4 Die Polfasern (auch Polarfibrillen genannt; engl. polar fib- rend der Anaphase einen anderen Proteasekomplex, der aus
rils) sind direkt mit dem gegenüberliegenden Centrosom einem zunächst inaktiven Komplex der Proteine Separase und
verbunden sind. Securin besteht. APC/C baut Securin, das ubiquitiniert ist, pro-
4 Die Kinetochorfasern (auch Chromosomenfibrillen ge- teolytisch ab und setzt dadurch Separase als aktive Protease frei,
nannt; engl. kinetochore fibers) setzen direkt an den Kineto- die nunmehr Cohesin abbaut und dadurch die Chromatiden-
choren der Chromosomen an. trennung ermöglicht. APC/C ist ein Multiproteinkomplex, der
die Progression des Zellzyklus durch die Anaphase in Mitose
Die Enden der Spindelfasern, die sich durch die Anlagerung von und Meiose kontrolliert. Seine Wirkung erstreckt sich auf Cohe-
Tubulinmolekülen verlängern und auf die Centromerregionen sine und Condensine sowie auf den Cyclin B/Cdc20-Komplex.
der Chromosomen zu wachsen, werden mit einem Plus-Zeichen APC/C überprüft den Zustand der Spindel: Stellt er eine ausrei-
(+), die zu den Polen hin gerichteten Enden mit einem Minus- chende Tension im Spindelapparat fest, wird der Mitose-Kon-
Zeichen (−) gekennzeichnet. Sie sind nicht nur für die korrekte trollpunkt aktiviert und der Zellzyklus kann in die Anaphase
Lokalisation der Chromosomen in der Äquatorialebene des eintreten. Bei Defekten im Spindelmechanismus oder bei der
Kerns verantwortlich, sondern steuern vor allem auch die Tren- Segregation wird der Zellzyklus blockiert.
nung der Chromatiden. Diese verschiedenen Prozesse werden Auch die Ausbildung der Kernmembran ist ein komplexer
durch unterschiedliche Proteine ermöglicht, die am Aufbau der Prozess, an dem sowohl cytoplasmatische als auch Chromoso-
Spindel beteiligt sind. So enthält eine Spindel Proteine wie Tubu- men-assoziierte Proteine (Lamine) beteiligt sind. Offenbar er-
line, die durch Polymerisation Fibrillen ausbilden, Dynein oder folgt die Organisation der Kernmembran unter Kontrolle der
Dynein-ähnliche Moleküle und Kinesine. Diese Motorproteine Chromosomen. Die verschiedenen Bestandteile des Kernskeletts
unterstützen die Bewegungsfunktionen innerhalb der Spindel. und des Karyoplasmas werden zunächst während der Bildung
der Kernmembran in der Telophase vom Kerninneren ausge-
> Mithilfe des Spindelapparates, der aus fibrillenbildenden
schlossen und danach, unter aktiver Kontrolle, durch die Kern-
Proteinen, vorwiegend Tubulin, und Motorproteinen auf-
poren in den Kern reimportiert.
gebaut ist, erfolgt die Verteilung der Chromosomen auf
die Tochterzellkerne. > Das diffuse Chromatin des Interphasekerns wird während
der Mitose inaktiv und kondensiert sich unter Bildung
Nach der Anordnung in der Äquatorialebene beginnen die Chro-
kompakter Metaphasechromosomen. Der Zusammenhalt
matiden, sich vollständig voneinander zu trennen; diese begin-
von homologen Chromosomen und Chromatiden wird
nende Trennung der Chromatiden kennzeichnet die Anaphase.
durch Proteine bedingt, deren kontrollierter proteolyti-
eine Übersicht über die daran beteiligten Proteine in Hefen und
scher Abbau in der Anaphase die Trennung von Chromo-
Säugern gibt . Abb. 6.18. Die Trennung der Chromatiden wird
somen bzw. Chromatiden ermöglicht. Nach Abschluss der
begleitet durch eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung auf
Zellteilung gehen die Chromosomen wieder in ihren stoff-
die Kernpole. Die Bewegung der Chromatiden in Richtung auf
wechselphysiologisch aktiven Zustand über und dekon-
den jeweiligen Pol wird dadurch erreicht, dass das Tubulin am
densieren zum Interphasechromatin.
kinetochornahen Ende der Kinetochorfibrillen depolymerisiert
und die Fibrille dadurch verkürzt wird. Gleichzeitig mit diesem
236 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

. Abb. 6.18 Chromosomentrennung während der Mitose. Die Ausrichtung der Chromosomen an der Metaphasen-Spindel und ihre nachfolgende Tren-
nung in der Anaphase hängen wesentlich davon ab, dass zwischen den Schwesterchromatiden zunächst Verbindungen geschaffen und später wieder
gelöst werden. In der Mitose ist dafür der Cohesinkomplex verantwortlich, der aus mindestens fünf Untereinheiten besteht. Der Cohesinkomplex bildet
dabei ringförmige Strukturen aus, die die Chromosomen in der Metaphase umschlingen. Um die Schwesterchromatiden in der Anaphase wieder zu tren-
nen, wird zunächst Scc1 (engl. sister chromatid cohesion protein 1) durch die Protease Separase gespalten. Separase wird durch Securin bis zum Beginn
der Anaphase inaktiv gehalten; die Aktivierung der Separase wird durch den APC/C-Komplex (engl. anaphase promoting complex/cyclosome) veranlasst,
worin er durch Cdc20 unterstützt wird und durch Anheftung von Ubiquitin-Resten zum Abbau am Proteasom vorbereitet. In Säugerzellen wird die Haupt-
menge des Cohesins an den Chromosomenarmen schon in der Prophase in einem Separase-unabhängigen Weg entfernt. Allerdings verbleibt ein Teil des
Cohesins an den Centromeren, was offensichtlich ausreicht, um die Schwesterchromatiden zusammenzuhalten. Die Schwesterchromatiden können sich
erst dann trennen, wenn Scc1 durch Separase gespalten wird. Der Spindel-Kontrollpunkt verhindert den Beginn der Anaphase, solange die Kinetochore
nicht an der Mitosespindel angeheftet sind. Die Bestandteile dieses Kontrollsystems binden an APC/C, was die Ubiquitin-Ligase inaktiv hält und damit die
Separase-Aktivierung verhindert. (Nach Marston und Amon 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

6.3.2 Meiose Diese wesentlichen Ereignisse der beiden meiotischen Tei-


lungen sind:
Bei der Entwicklung der Geschlechtszellen (siehe dazu auch die 4 die Trennung der homologen Chromosomen
entsprechenden Abschnitte im 7 Kap. 12 über Entwicklungsge- (im Gegensatz zur Mitose!) in der ersten meiotischen
netik) wird die Anzahl der Chromosomen halbiert, um bei der Teilung (Meiose I) und
Verschmelzung der männlichen und weiblichen Gameten wieder 4 die Trennung ihrer Chromatiden (wie in der Mitose!)
die für den jeweiligen Organismus charakteristische Zahl zu er- während der zweiten meiotischen Teilung (Meiose II).
reichen. Aber es genügt hierbei nicht, die Anzahl der Chromoso-
men willkürlich auf die Hälfte zu reduzieren, sondern es muss Die kontrollierte Verminderung der Chromosomenzahl auf
eine genau kontrollierte Verteilung erfolgen, die sicherstellt, dass die Hälfte erfolgt dadurch, dass sich zunächst die homologen
alle Tochterzellen die vollständige genetische Ausstattung erhal- (replizierten) Chromosomen zu Beginn der Prophase I paaren
ten. Bei mitotischen Zellteilungen werden nur die Chromatiden (Synapsis), sich aber nach den Rekombinationsereignissen
verteilt, und die Chromosomenanzahl bleibt somit unverändert. während der Prophase I in der darauffolgenden Anaphase I wie-
Hingegen sind für die Meiose zusätzliche zelluläre Mechanismen der trennen und zu den entgegengesetzten Spindelpolen wan-
erforderlich, um die Homologen gleichmäßig zu verteilen. Diese dern (Segregation). Damit erhält in dieser ersten meiotischen
Prozesse verlaufen in zwei Zellteilungen, die als meiotische Tei- Teilung jede Tochterzelle einen vollständigen Chromosomen-
lungen oder Reifeteilungen bezeichnet werden; die damit ver- satz. Ein wichtiger Gesichtspunkt hierbei ist, dass die Verteilung
bundenen besonderen Prozesse werden unter dem Begriff Meio- der väterlichen und mütterlichen Chromosomen zufallsmäßig
se zusammengefasst (. Abb. 6.19). erfolgt, sodass in den Tochterzellen jede mögliche Kombination
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
237 6

Die meisten DSBs in Nicht-


Crossing-over repariert;
DSB-Bildung DSB-Reparatur Paarung und Synapsis

Prämeiotische Leptotän Zygotän


Interphase Prophase I

Crossing-over-
SC verschwindet
Bildung

Meiose I
Pachytän Diplotän Diakinese
Prophase I

Metaphase I Anaphase I Telophase I Dyaden

Meiose II

Prophase II Metaphase II Anaphase II Telophase II Tetraden

zwei homologe axiale Elemente (AE) frühe Knoten


Chromosomen synaptonemaler Komplex (SC) späte Knoten

. Abb. 6.19 Die Meiose. Die aufeinanderfolgenden Stadien der Meiose sind schematisch für ein Chromosomenpaar dargestellt; die homologen Chromo-
somen unterscheiden sich in der Farbe (hellgrün/blau). Während der ersten meiotischen Teilung werden homologe Chromosomen voneinander getrennt,
während der zweiten meiotischen Teilung die Chromatiden der einzelnen Chromosomen. Jede (diploide) primäre Meiocyte ergibt auf diese Weise vier
haploide Meioseprodukte (Tetrade). Im männlichen Geschlecht differenzieren sich diese haploiden postmeiotischen Zellen zu Spermatozoen. Im weiblichen
Geschlecht degenerieren meist drei der Meioseprodukte, während die vierte haploide Zelle sich zur Eizelle entwickelt. In einigen Organismen durchlaufen
die haploiden Meioseprodukte zusätzliche mitotische Teilungen. Die Prophase der ersten meiotischen Teilung (Prophase I) wird aufgrund morphologischer
Kriterien der Chromosomenstruktur in eine Reihe von Stadien unterteilt, die bei den meisten höheren Organismen als charakteristische meiotische Chro-
mosomenzustände auftreten. Rekombinationsereignisse in der Prophase I führen für bestimmte Chromosomenabschnitte zu einem Austausch väterlicher
und mütterlicher Allele. DSB: Doppelstrangbruch; grün: Spindelapparat. (Nach Pawlowski und Cande 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

väterlicher und mütterlicher Chromosomen vorliegen kann. lung (Meiose I) durch die Trennung der homologen Chromoso-
Zusammen mit den Rekombinationsereignissen aus der Pro- men auf einen haploiden Wert reduziert worden ist, nennt man
phase I hat das zur Folge, dass die Keimzellen völlig neue Allel- diese Teilung auch Reduktionsteilung. Bevor sich diese Zellen
kombinationen besitzen können und somit nach der Befruch- zu Gameten differenzieren, erfolgt eine weitere Teilung, die
tung in den Nachkommen neue Genotypen und Phänotypen zweite meiotische Teilung (Meiose II), auch Äquationsteilung
entstehen. Da die Chromosomenzahl in dieser ersten Reifetei- genannt.
238 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Da sich bereits während der Interphase vor der ersten meio- cher Kombinationen hat, wird deutlich, wenn man sich die An-
tischen Teilung, also vor der Reduktionsteilung, die Chromoso- zahl der theoretisch möglichen Kombinationen vor Augen hält.
men, wie in jedem normalen mitotischen Zellzyklus, verdoppelt Diese werden durch den Ausdruck 2n beschrieben, wobei n die
haben, besteht jedes der homologen Chromosomen aus zwei Anzahl der Chromosomenpaare ist.
Chromatiden. In der Interphase, die auf die erste meiotische Tei-
lung folgt, durchlaufen die nunmehr haploiden Zellen keine wei- C Für eine menschliche Keimzelle (haploid 23 Chromosomen)
ergibt das 8.388.608 Möglichkeiten. Damit ist aber die Viel-
tere S-Phase, da die Chromosomen bereits repliziert sind. Wäh-
falt der möglichen Genotypen in der Nachkommenschaft
rend der zweiten meiotischen Teilung werden nun die beiden
noch keinesfalls beschrieben. Da zur Befruchtung eine zwei-
Chromatiden jedes Chromosoms genauso auf die Tochterzell-
te Keimzelle mit einer ebenso großen Anzahl von Möglich-
kerne verteilt wie während jeder mitotischen Zellteilung. Die
keiten ihrer genetischen Konstitution hinzukommt, beträgt
entstehenden haploiden Tochterzellen besitzen somit jeweils
die Anzahl möglicher genetischer Konstitutionen
eine Chromatide eines jeden Chromosoms. Eine S-Phase wird
(8,39 × 106)2 = 7 × 1013! Dabei sind Crossing-over-Ereignisse
auch während der darauffolgenden Entwicklung der haploiden
6 Zellen zu Gameten meistens nicht durchlaufen; vielmehr findet
noch nicht einmal berücksichtigt.

die nächste Verdoppelung der Chromosomen im Allgemeinen > Die zufallsgemäße Verteilung der väterlichen und mütter-
erst nach der Befruchtung in der Zygote statt. lichen Chromosomen in der ersten meiotischen Teilung
Von diesem grundlegenden Schema der Meiose gibt es eine führt zu einer beträchtlichen Variabilität in der genetischen
ganze Reihe von Abweichungen in verschiedenen Organismen. Konstitution der Keimzellen. Die Variabilität führt zu neuen
Beispielsweise können vor der Reifung der Gameten noch Mito- Genotypen und Phänotypen in der Nachkommenschaft.
sen durchlaufen und die Anzahl haploider Zellen dadurch erhöht Für Evolutionsprozesse ist die Variabilität von großer Be-
werden (7 Abschn. 12.4.1 und 7 Abschn. 12.6.5). Jedoch bleibt das deutung, da sie Ansatzpunkte für die Selektion bietet.
Grundprinzip stets erhalten: Aus einer diploiden Keimbahnzelle
entstehen haploide Geschlechtszellen. Die Zellen, in denen die erste Reifeteilung (Meiose I) erfolgt, wer-
Die Erkenntnis der Verteilung der Chromosomen während den Meiocyten I genannt. Nach der Interphase und der sich an-
der Entstehung der Keimzellen stellte einen grundlegenden schließenden S-Phase weisen die Meiocyten I, wie jede diploide
Schritt auf dem Weg zur Chromosomentheorie der Vererbung Zelle nach der S-Phase, einen 4C-Wert (= 4 Chromatiden) auf.
dar. Die endgültige Bestätigung der Richtigkeit dieser Theorie Zu Beginn der Prophase I werden Chromosomen sichtbar, die
erfolgte schließlich durch die Analyse des Erbgangs von Ge- sich bereits jetzt strukturell von mitotischen Prophasechromoso-
schlechtschromosomen (7 Abschn. 11.4.1). men unterscheiden. Wie wir bereits weiter oben gesehen haben,
lassen sich in der meiotischen Prophase I verschiedene wichtige
> In der Keimbahn wird die Anzahl der Chromosomen auf
Stadien unterscheiden, die wir nun im Detail besprechen wollen
einen haploiden Zustand reduziert. Die Meiose schließt
(. Abb. 6.20).
zwei Zellteilungen ein. Die erste (Reduktionsteilung) dient
Die lang gestreckten Chromosomen, deren zwei Chromati-
der Trennung homologer Chromosomen, die zweite (Äqua-
den während des frühesten Stadiums der Prophase I, Leptotän
tionsteilung), wie jede normale Mitose, der Trennung der
genannt, noch nicht getrennt erkennbar sind, haben ein perl-
Chromatiden. Zur Trennung der Homologen während der
schnurartiges Aussehen, da sie Verdickungen aufweisen. Diese
Reduktionsteilung ist es erforderlich, dass sich die Homo-
Verdickungen werden als Chromomeren bezeichnet. Oft sind
logen zuvor paaren (Synapsis). Im Unterschied zu norma-
die Chromosomenenden der Kernmembran angelagert.
len Mitosen erfolgt während der Interphase zwischen der
Mit fortschreitender Kondensation, d. h. Verkürzung der
ersten und zweiten Reifeteilung keine DNA-Synthese. Da-
Chromosomen, beginnen sich die Homologen an einzelnen Stel-
durch erhält jede Zelle nach der Meiose nur einen einzigen
len zu paaren. Dieses Stadium heißt Zygotän. Die Paarung schrei-
Chromosomensatz und ist also haploid.
tet allmählich, ausgehend von bereits gepaarten Bereichen, über
Wir haben bei der Besprechung der meiotischen Teilungen gese- die gesamte Länge der Chromosomen fort. Sie erfolgt hierbei nicht
hen, dass die Verteilung väterlicher und mütterlicher Chromoso- kontinuierlich, sondern beginnt an mehreren Stellen gleichzeitig.
men während der Reduktionsteilung zufallsgemäß erfolgt. Das Im Pachytän sind die Homologen vollständig gepaart (es be-
ist für die Entstehung eines neuen Individuums genau genom- steht Synapsis). Man spricht bei dieser Chromosomenkonfigura-
men nicht erforderlich, sondern die Reduktionsteilung könnte tion von Bivalenten (= zwei gepaarte homologe Chromosomen.
im Prinzip auch so erfolgen, dass es zu einer Trennung der väter- Die Zelle ist noch diploid oder 2n!). Gelegentlich kann man nun
lichen von den mütterlichen Chromosomen kommt. Bei der Be- bereits die beiden Chromatiden jedes der homologen Chromo-
trachtung populationsgenetischer Gesichtspunkte (7 Abschn. somen erkennen, obwohl diese meist erst im folgenden Stadium,
11.5) werden wir aber sehen, dass die zufallsgemäße Verteilung dem Diplotän, deutlich sichtbar werden. Für den chromosoma-
der Chromosomen eine wichtige Bedeutung für die Evolution len Strukturzustand, in dem alle vier Chromatiden der zwei ho-
hat: Die Mischung väterlicher und mütterlicher Allele führt zur mologen Chromosomen sichtbar sind, ist daher auch die Be-
Entstehung neuer Genotypen und Phänotypen, die neue Mög- zeichnung Tetrade gebräuchlich.
lichkeiten für Selektionsprozesse und andere evolutionäre Me- Im Allgemeinen kann man in allen Tetraden eine oder meh-
chanismen bieten. Welche Konsequenzen die zufallsgemäße rere Stellen erkennen, an denen sich die Chromatiden der homo-
Verteilung der elterlichen Chromosomen für die Anzahl mögli- logen Chromosomen zu überkreuzen scheinen. Man nennt eine
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
239 6

Chromatinschlaufen

Centromer
Leptotän

Schwesterchromatiden

Zygotän

Pachytän

Diplotän

. Abb. 6.20 Überblick über die Prophase I in der Maus. Im Mittelpunkt steht dabei die Bildung des synaptonemalen Komplexes. In der Immunfluoreszenz
sind dessen wichtigen Proteine Cor1 grün und Syn1 rot dargestellt; Centromere sind blau. Wenn sich die Chromosomen in der Synapsis zusammenlagern,
verschmelzen die roten und grünen Einzelsignale zu einem gelben Fluoreszenzsignal. Im Pachytän sind die X- und Y-Chromosomen die einzigen, die keine
vollständige Synapsis zeigen. Paarung ist bei den beiden Geschlechtschromosomen nur in den pseudoautosomalen Regionen sichtbar, wie man an der be-
grenzten Co-Lokalisation von Syn1 und Cor1 erkennen kann (nur eine kleine Region mit gelber Färbung). Die Proteine Scp1–3 sind meiosespezifische Pro-
teine des synaptonemalen Komplexes (engl. synaptonemal complex protein, Scp). (Nach Cohen und Pollard 2001, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

solche Überkreuzung ein Chiasma. Chiasmata zeigen an, dass gemeinen bereits bald nach dem Rekombinationsereignis die
innerhalb der betreffenden Tetrade Rekombination, also ein Chiasmata in Richtung auf die Chromosomenenden verlagern.
Austausch der Chromatiden homologer Chromosomen stattge- Man bezeichnet diesen Vorgang als Terminalisierung der Chias-
funden hat. Den Vorgang, der zur Bildung eines Chiasmas führt, mata. Möglicherweise steht die Terminalisierung mit den mole-
nennen wir Crossing-over. Wir werden später bei der Darstel- kularen Mechanismen der Rekombination in Zusammenhang
lung der Rekombination (7 Abschn. 6.3.3) überwiegend diesen (7 Abschn. 6.3.3). Insgesamt nimmt die Anzahl der Chiasmata
Begriff verwenden. Die genaue Stelle des Austausches im Chro- innerhalb eines Bivalentes proportional zur Länge der Chromo-
mosom kann man hieraus jedoch nicht ableiten, da sich im All- somen zu.
240 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Während des Diplotänstadiums kontrahieren sich die Chro- keine Verdoppelung der Chromosomen stattfindet. Meiocyten II
mosomen weiter, und die homologen Paarungspartner beginnen sind haploid (n), besitzen jedoch noch zwei Chromatiden (2C)
sich zu trennen, sodass schließlich ein Zwischenraum zwischen in ihren Chromosomen. Diese werden in der zweiten Reifetei-
ihnen entsteht. Der Zusammenhalt erfolgt im Wesentlichen nur lung, die vergleichbar zu einer Mitose verläuft, auf die Tochter-
noch durch die Chiasmata. Chiasmata haben damit eine wichtige zellen verteilt. Diese sind natürlich – wie die Meiocyten II –
Funktion, denn sie garantieren den Zusammenhalt der Homo- haploid (n), besitzen aber nur noch eine Chromatide je Chromo-
logen bis zur Anaphase und damit gleichzeitig deren gleichmä- som (1C). Der Verlauf der zweiten Reifeteilung weist im Übrigen
ßige Verteilung auf die zwei Tochterzellen. keine Besonderheiten auf.
In der Diakinese wird die Kondensation der Chromosomen
> In der zweiten meiotischen Teilung werden die Chroma-
abgeschlossen. Die Abstoßung (Repulsion) der Homologen ist
tiden verteilt. Jeder Tochterkern besitzt nunmehr einen
besonders ausgeprägt. Der Nukleolus ist nicht mehr zu sehen,
haploiden (n), nicht replizierten Chromosomensatz.
und die Kernmembran beginnt sich aufzulösen. Eine Spindel
entwickelt sich, und die Spindelansatzstellen (Centromere) der Zur Verdeutlichung soll an dieser Stelle die Terminologie der
6 homologen Chromosomen beginnen, sich nach den Spindelpo- Chromosomenstruktur während der Meiose nochmals zusam-
len zu orientieren. Dieser Prozess ist während der Metaphase I mengefasst werden. Während der Interphase vor der ersten Rei-
beendet. Die Chromosomen haben sich in der Äquatorialebene feteilung kommt es zunächst zur Replikation der Chromosomen.
angeordnet. Die Centromere der Homologen sind in Richtung Ein Chromosom besteht zu diesem Zeitpunkt aus einer einzigen
auf die gegenüberliegenden Spindelpole orientiert. Damit kann Chromatide. Durch die Replikation verdoppelt sich die in jedem
in der Anaphase I die Verteilung der Chromosomen beginnen. Chromosom enthaltene DNA-Doppelhelix. Nach der S-Phase
Die Homologen trennen sich nunmehr unter Auflösung der besteht jedes Chromosom daher aus zwei Chromatiden (die je
Chiasmata vollständig und wandern zu den entgegengesetzten eine DNA-Doppelhelix enthalten). Gepaarte homologe Chromo-
Spindelpolen. In der Telophase I beginnen die Dekondensa- somen (auch Bivalent genannt, da aus zwei Chromosomen ge-
tion der Chromosomen und die Ausbildung einer neuen Kern- bildet) bestehen somit aus insgesamt vier Chromatiden und wer-
membran. den daher auch als Tetrade bezeichnet. Endergebnis der Meiose
ist die Verteilung dieser vier Chromatiden (= DNA-Doppel-
> Die Chromosomenstruktur in der meiotischen Prophase I
helices) einer Tetrade auf vier Zellen.
zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus. Zunächst
kommt es zur allmählich fortschreitenden Paarung der > Die wesentlichen Punkte der zwei meiotischen Teilungen
Homologen, die mit einer Kondensation beider Homolo- lassen sich im folgenden Schema zusammenfassen:
gen einhergeht. Während dieser Paarungs- und Kondensa- Die Hauptereignisse während der ersten meiotischen
tionsvorgänge kommt es zur Rekombination, die in der Teilung sind
späten Prophase durch Chiasmata (Überkreuzungen) 5 die Chromosomenkondensation,
sichtbar wird. Die Chiasmata sind zum Zusammenhalt der 5 die Paarung der Homologen,
Homologen notwendig. Durch diese Paarung wird sicher- 5 die Rekombination und Bildung von Chiasmata,
gestellt, dass die Tochterzellen jeweils eines der Homolo- 5 die Trennung der Homologen und Verteilung auf zwei
gen jedes Chromosomenpaares erhalten. Tochterkerne.

Das Hauptereignis während der zweiten meiotischen


C Wie wir später noch im Detail sehen werden, gibt es bei
Säugern deutliche Unterschiede im Zeitverlauf der Meiose I Teilung ist
zwischen weiblichen und männlichen Keimzellen. Während 5 die Trennung der Chromatiden.
die Bildung der männlichen Spermien mit der Meiose I in
Ein entscheidender Prozess in der Meiose ist die Bildung synap-
der Pubertät beginnt und dann kontinuierlich weiterläuft,
tonemaler Komplexe, die im Zygotän und Pachytän zwischen
beginnt die Bildung der Oocyten schon während der
den homologen Chromosomen zu beobachten sind (. Abb. 6.21).
Embryonalentwicklung, wird aber dann nach Abschluss
Voraussetzungen für die meiotische Paarung von Chromo-
der Prophase I bis zur Pubertät unterbrochen. Wir nennen
somen sind letztlich Sequenzhomologien auf der DNA-Ebene.
dieses Ruhestadium Diktyotän. Eine zweite Stillstands-
Barlow und Hultén (1996) konnten mithilfe von Fluoreszenz-
periode erfolgt bei der Reifung der Oocyten nach der Meta-
in-situ-Hybridisierung (7 Technikbox 16) zeigen, dass die Bil-
phase II bis zur Befruchtung. Einen guten Überblick über
dung der Synapsis an den Chromosomenenden (den Telomeren,
diese unterschiedlichen zeitlichen Verläufe findet man bei
7 Abschn. 6.1.4) beginnt. Sie konnten insbesondere nachweisen,
Morelli und Cohen (2005). Viele geschlechtsspezifische
dass die Wiederholungssequenzen an den Telomeren (TTAGGG)
Unterschiede in der Entstehung von Chromosomenaber-
eng mit den synaptonemalen Komplexen assoziiert sind, wohin-
rationen sind auf diese unterschiedlichen Verläufe der Meio-
gegen andere Wiederholungselemente der DNA sich in Schleifen
sen in männlichen und weiblichen Keimzellen zurückzu-
außerhalb des synaptonemalen Komplexes befinden.
führen.
Während des Zygotäns beginnt die Homologenpaarung
In der Meiose II werden die Zellen jetzt Meiocyten II genannt. (Synapsis), die im Pachytän die Chromosomen in ihrer ge-
Ihre Interphase ist meist kurz und unterscheidet sich von den samten Länge erfasst hat. Etwa gleichzeitig mit der Paarung der
bisher besprochenen Interphasen grundsätzlich dadurch, dass meiotischen Prophasechromosomen bildet sich zwischen den
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
241 6
präsynaptische
Ausrichtung SC

paternales Chromosom

laterale
Elemente Zentral-
region

maternales Chromosom

Chromatinschlaufen

. Abb. 6.22 Schema eines Chromosoms im Zygotän. Die maternalen


Schwesterchromatiden sind rot und orange dargestellt, die paternalen hell-
und dunkelblau. Die Chromatiden sind in einem Satz von Schlaufen entlang
der lateralen Elemente (schwarze Balken) angeordnet. In der Region, in der
. Abb. 6.21 Der synaptonemale Komplex. Klassische Morphologie eines sich die DNA-Stränge vor der Bildung des synaptonemalen Komplexes (SC)
synaptonemalen Komplexes, dargestellt am Beispiel eines elektronen- aneinander ausgerichtet haben, strahlen die Schlaufen von den Achsen aus
mikroskopischen Längsschnitts eines Käfers (Blaps cribrosa). LE: laterales und können miteinander in Berührung kommen. Im Bereich des synaptone-
Element; CE: zentrales Element; RN: Rekombinationsknoten; ch: Chromatin. malen Komplexes sind die lateralen Elemente (schwarz) an den zentralen
(Nach Schmekel und Daneholt 1998, mit freundlicher Genehmigung von Elementen (grün) ausgerichtet. (Nach Bishop und Zickler 2004, mit freund-
Springer) licher Genehmigung von Elsevier)

beiden Homologen der synaptonemale Komplex aus. Es han- Komplexe beteiligten Proteinen. Der Zusammenbau des synap-
delt  sich dabei um eine proteinreiche Struktur, die aus zwei tonemalen Komplexes beginnt schon im Leptotän mit der Bil-
lateralen und einem zentralen axialen Element besteht, die dung des Achsenelementes entlang jedem der 46 Chromosomen
durch transversale Filamente zusammengehalten werden des Menschen. Im frühen Zygotän, wenn jedes Paar der homo-
(. Abb. 6.21). logen Chromosomen schon etwas aneinanderhängt, kommen
Zusätzlich findet man auf ultrastrukturellem Niveau beson- die beiden Achsenelemente an mehreren Stellen zusammen und
ders elektronendichte Strukturen, die Rekombinationsknoten bilden die lateralen Elemente des sich bildenden synaptonema-
(engl. recombination nodules). Diese Rekombinationsknoten len Komplexes, das durch Brückenproteine der zentralen Region
besitzen einen Durchmesser von etwa 100 nm. Detaillierte Un- stabilisiert wird (. Abb. 6.22). SCP1 (engl. synaptonemal complex
tersuchungen haben gezeigt, dass die Rekombinationsknoten protein 1) ist dabei eine der Hauptkomponenten der transver-
den enzymatischen Apparat enthalten, der für die Rekombina- salen Filamente; es hat strukturelle Ähnlichkeiten mit Lamin
tion erforderlich ist (für Details siehe 7 Abschn. 6.3.3). Außerdem (. Abb. 5.10). Die Phosphorylierung von SCP1 ist wahrschein-
stimmen sie zahlenmäßig recht gut mit der Anzahl von Rekom- lich ein Signal, um den synaptonemalen Komplex wieder auf-
binationsereignissen überein; diese Argumentationskette wird zulösen. Diese Auflösung benötigt weiterhin einen Ubiquitin-
durch ihre Lokalisation im Bereich von Chiasmata im späten abhängigen Abbau von Proteinen, der durch das Ubiquitin-kon-
Pachytän unterstützt. Wir können frühe und späte Rekombina- jugierende Enzym Ubc9 (engl. ubiquitin-conjugating enzyme)
tionsknoten unterscheiden: Während die frühen eher die Stellen vermittelt wird.
eines nicht reziproken Austauschs markieren (Genkonversion),
markieren die späten Rekombinationsknoten eher die Bereiche
der homologen Rekombination. Die Rekombinationsknoten
*Für eine lange Zeit war es umstritten, inwieweit Doppel-
strangbrüche zur Ausbildung des synaptonemalen Komple-
sind nicht zufällig über das Chromosom verteilt; sie zeigen viel- xes notwendig sind. Nun scheint diese Frage von der Biolo-
mehr regionale und geschlechtsspezifische Unterschiede. Eine gie unterschiedlich beantwortet zu sein: In Weibchen der
Erklärung könnte sein, dass sie bevorzugt in Regionen vorkom- Taufliege Drosophila und im Fadenwurm C. elegans ist die
men, die besonders DNase-I-sensitiv sind, d. h. in der Umgebung Synapsis in der Abwesenheit von Doppelstrangbrüchen
von Promotoren aktiver Gene. Das erklärt zumindest die regio- möglich. In einer großen Zahl von Organismen setzt dage-
nal unterschiedliche Verteilung; wir wissen auch, dass ge- gen die Bildung der Synapsis Doppelstrangbrüche in der
schlechtsspezifisch unterschiedliche Muster der Genexpression DNA voraus. Dazu gehören insbesondere Hefen, Arabidopsis
in der Keimbahn vorkommen. und die Spermatocyten der Säuger (Page und Hawley 2003).
Die geschilderte Grundstruktur des synaptonemalen Kom- Mutanten bieten immer interessante Hinweise auf die jewei-
plexes ist von der Hefe bis zum Menschen praktisch identisch lige Funktion der betroffenen Gene:
und zeigt kaum Variabilität. Die ersten molekularen Befunde 5 Mutationen im Zip1-Gen der Hefe führen zu einer um
sprechen demgemäß auch für eine beträchtliche evolutionäre 50–70 % verminderten Rekombinationsrate (Page und
Stabilität zumindest von mehreren am Aufbau synaptonemaler Hawley 2003).
242 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

5 In der Drosophila-Mutante Nmr4 dissoziiert C(3)G, eine Chromosomensatz erhalten. Meiotische Rekombination ist also
Komponente der transversalen Filamente, fehlerhaft von eng mit anderen meiotischen Mechanismen verbunden, ins-
den Chromosomen ab. Das bewirkt einen Phänotyp, in besondere mit der Bildung des synaptonemalen Komplexes
dem die Chromosomen in der Oocyte verteilt sind, an- (. Abb. 6.23). Das Verständnis dieses Mechanismus ist auch für
statt im Karyomer gruppiert zu sein (Minikern). die Formalgenetik und hierbei insbesondere für Kopplungsana-
5 In Mäusen, denen das Protein des synaptonemalen Kom- lysen und genetische Kartierungen von fundamentaler Bedeu-
plexes Scp3 fehlt, kommt es vermehrt zu Aneuploidien, tung (7 Abschn. 11.4).
da sich keine Chiasmata zwischen homologen Chromo- Austauschereignisse können natürlich auch zwischen den
somen ausbilden. In den Scp3−/−-Mutanten ist das Scp2- Chromatiden desselben Chromosoms (Schwesterchromatiden)
Protein eher punktförmig im Zellkern lokalisiert als an stattfinden. Man spricht dann von Schwesterchromatid-Aus-
den Filamenten der Oocyten im Pachytän; und die Disso- tausch. Ein Schwesterchromatid-Austausch hat normalerweise
ziation der Cohesine von den Chromosomen ist verän- jedoch keine erkennbaren Folgen, da einerseits die genetische
dert (Castro und Lorca 2005). Information in beiden Chromatiden identisch ist, sich der Aus-
6 tausch andererseits aber auch nicht in Form eines Chiasmas äu-
Wenn wir die Lage der Chromosomen in der frühen Prophase ßert, da die Schwesterchromatiden eng gepaart bleiben. Es stehen
betrachten, kann es vorkommen, dass bei der schrittweisen Paa- uns heute jedoch cytologische Techniken zur Verfügung, die es
rung der Homologen im Leptotän gelegentlich nicht-homologe gestatten, Schwesterchromatid-Austauschereignisse sichtbar zu
Chromatiden (oder Chromosomen) zwischen zwei sich paaren- machen (7 Abschn. 10.5.1). Immerhin können als Folge von Feh-
den Homologen liegen. In diesem Fall ist die vollständige, konti- lern bei der Rekombination Veränderungen in Schwesterchro-
nuierliche Ausbildung des synaptonemalen Komplexes für zwei matiden auftreten, die zu genetisch veränderter Information in
Chromosomenpaare unmöglich. Man bezeichnet eine solche einer oder beiden Schwesterchromatiden führen.
physische Verknüpfung zweier gepaarter Bivalente mit dem
> Durch Austausch von Chromosomenbereichen zwischen
englischen Begriff interlocking. In solchen Fällen würde es zu
den homologen Chromosomen (Rekombination) wird die
Komplikationen bei der Homologentrennung in der Anaphase
Variationsbreite der genetischen Konstitution noch zu-
kommen. Die Zelle verfügt jedoch über Korrekturmechanismen,
sätzlich zur Zufallsverteilung der väterlichen und mütterli-
die eine derartige Verknotung von Chromosomen dadurch auf-
chen Chromosomen erhöht. Der molekulare Mechanismus
lösen, dass die DNA geöffnet und nach einer Verlagerung der
der Rekombination kann auch zwischen Schwesterchro-
Chromatiden wieder kovalent verknüpft wird. Beide Chromo-
matiden ablaufen. Solche Austauschereignisse sind je-
somenpaare liegen nunmehr voneinander getrennt vor, und der
doch normalerweise wegen des identischen Informations-
synaptonemale Komplex kann sich über die volle Länge der
gehalts der Schwesterchromatiden genetisch nicht zu er-
Chromosomen ausbilden. Hierbei spielt wahrscheinlich die
kennen.
Topoisomerase II eine wichtige Rolle. Dieses Enzym ist in der
Lage, DNA-Doppelstränge zu öffnen und wieder zu schließen Genetische Analysen haben gezeigt, dass Rekombination nicht
(. Abb. 2.14). Es ist in den lateralen Elementen der synaptone- grundsätzlich auf die meiotische Prophase beschränkt ist, son-
malen Komplexe nachweisbar. dern auch in mitotischen Zellen erfolgt. In späteren Kapiteln
wird noch deutlich werden, dass Rekombinationsereignisse für
> Meiotische Rekombination wird von der Ausbildung
bestimmte Gensysteme (z. B. Paarungstypwechsel bei Hefen,
synaptonemaler Komplexe begleitet.
7 Abschn. 9.3.4; Reifung der Antikörper, 7 Abschn. 9.4) eine wich-
tige Rolle spielen. Rekombination erweist sich somit als ein allge-
meiner biologischer Mechanismus, der nicht nur evolutionär
6.3.3 Rekombination bei Eukaryoten (durch Rekombination in Keimzellen), sondern auch entwick-
lungsphysiologisch (durch Rekombination innerhalb bestimmter
Wir haben im Kapitel über Rekombination bei Prokaryoten Gene in somatischen Zellen) von grundlegender Bedeutung ist.
(7 Abschn. 4.4.2) schon einige grundsätzliche Elemente dieses
Mechanismus gelernt. Bei Eukaryoten werden durch die Rekom-
bination in der Meiose homologe Regionen väterlicher und müt-
*Das wirft die Frage nach dem evolutionären Ursprung von
Rekombinationsmechanismen auf. Zweifellos sind Rekom-
terlicher Chromosomen ausgetauscht. Im Ergebnis besitzt ein binationsereignisse in den Keimzellen für die Nachkommen
Partner eines solchen Austauschereignisses nunmehr sowohl primär nicht relevant oder können sich sogar nachteilig
Allele väterlichen als auch mütterlichen Ursprungs, während das auswirken, falls hierdurch ungünstige Allelkombinationen
andere an der Rekombination beteiligte Chromosom über die entstehen oder durch den Crossing-over-Mechanismus
komplementäre Allelkombination verfügt. Die Anzahl der mög- Defekte erzeugt werden (7 Abschn. 10.2). Die Aufklärung
lichen Allelkombinationen in den Nachkommen wird also durch der molekularen Mechanismen, die an Rekombinations-
Rekombinationsereignisse noch einmal erhöht. Eine entschei- ereignissen beteiligt sind, lässt erkennen, dass sie auf
dende Grundlage für die Rekombination ist die Homologen- Mechanismen beruhen, die ursprünglich wohl für DNA-
paarung und die Bildung des synaptonemalen Komplexes. Reparaturen (7 Abschn. 10.6) entstanden sind. Wir hatten
Ohne Homologenpaarung wäre es der Zelle nicht möglich, da- bereits bei der Besprechung der Replikation gesehen, dass
für  zu sorgen, dass beide Tochterzellen einen vollständigen für die DNA-Synthese ein Korrekturmechanismus erforder-
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
243 6

. Abb. 6.23 Aufbau des synaptonemalen Komplexes


und Chromatidenaustausch in der Meiose (der Hefe).
a In der schematischen Darstellung sind die wichtigsten
Proteine gezeigt, die an der Bildung des synaptonema-
len Komplexes (SC) beteiligt sind. Zip3 (engl. zipper; eine
SUMO-E3-Ligase; engl. small ubiquitin related modifier)
aktiviert dabei zunächst Zip1, das Hauptprotein des
zentralen Elementes des synaptonemalen Komplexes.
Unter Beteiligung einer 5’-3’-DNA-Helikase (Mer3) und
den MutS-Homologen Msh4 und Msh5 (DNA-Reparatur-
proteine) bildet sich ein Komplex, der sich an die Holli-
day-Strukturen anlagern kann. Die Sporulationsproteine
16 und 22 (Spo16, Spo22) sind dagegen für die Stabili-
sierung der entsprechenden DNA-Strukturen verantwort-
lich. Beide Wege gemeinsamen führen dann schließlich
zur erfolgreichen Bildung des synaptonemalen Kom-
plexes und der Ausbildung von Crossing-over-Strukturen
(Holliday-Struktur). b Es ist die Bildung des synaptone-
malen Komplexes während der verschiedenen Phasen
der Meiose gezeigt. Die beteiligten Proteine sind mit
ihrer jeweiligen Wirkung angegeben. DSB: Doppelstrang-
bruch; SEI: Einwanderung eines DNA-Strangs (engl. single-
end invasion); CO: Crossing-over; NCO: kein Crossing-over.
(Nach Shinohara et al. 2008, mit freundlicher Genehmi-
gung der Nature Publishing Group)

lich ist, der Replikationsfehler eliminiert, die durch Fehlein- achtungen, unter anderem von Harriet B. Creighton und Barbara
bau von Nukleotiden durch die DNA-Polymerase verursacht McClintock, die eine direkte Korrelation zwischen genetischem
werden. Es zeigt sich nun, dass sich ein zellulärer Mechanis- Austausch und cytologisch sichtbaren Veränderungen in den
mus, der für die Evolution höherer, diploider Organismen Chromosomen bewiesen, hatten bereits darauf hingedeutet, dass
eine wahrscheinlich entscheidende Rolle gespielt hat, aus Rekombination mit einem Stückaustausch zwischen homologen
einem grundlegenden Mechanismus entwickelt hat, der für Chromatiden verbunden ist. Wir wissen heute, dass das Bruch-
die identische Verdoppelung und für die Instandhaltung und-Wiederverheilungsmodell (engl. breakage and reunion),
des genetischen Materials unentbehrlich ist. das von Robin Holliday (1964) ausgearbeitet wurde, die Ereignis-
se im Prinzip richtig beschreibt. Es ist heute als »Holliday-
Der molekulare Mechanismus der Rekombination war lange Modell« nach verschiedenen Ergänzungen im Detail weitgehend
Zeit Gegenstand kontroverser Meinungen. Cytologische Beob- akzeptiert (. Abb. 6.24).
244 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

a
a
a

a
d
a a
a
A
A a
a
A
2:2
A A

A
b
6 a
A
a
A
a
a
e
A a
A a

A a

A a
3:1
a
c
a a
a A
a A

A
a

A
A

. Abb. 6.24 Das Holliday-Modell. a Nach der DNA-Replikation und vor der meiotischen Zellteilung werden an definierten Punkten in zwei homologen
Chromosomen Einzelstrangbrüche in die DNA eingeführt. b, c Es findet ein Strangaustausch statt, um eine Überschneidung (Crossing-over) zu erzeugen
(engl. Holliday junction; benannt nach Robin Holliday). c Die symmetrische Auflösung in zwei mögliche Orientierungen (violette oder grüne Pfeile) erlaubt
die Trennung der rekombinierenden Chromosomen. d, e In Abhängigkeit von der Orientierung der Auflösung werden Produkte mit oder ohne Crossing-
over gebildet. DNA-Fehlpaarungen, die in der Heteroduplex-DNA vorhanden sind, können repariert werden, was zu Genkonversion führt. (Nach Liu und
West 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

C Beobachtungen, die für einen Bruch- und Wiederverhei- Die wesentlichen Schritte eines Rekombinationsereignisses
lungsmechanismus sprechen, hatten bereits Herbert Taylor bei Eukaryoten sind in . Abb. 6.25 zusammengefasst. Der erste
und seine Mitarbeiter 1957 beschrieben. In seinen Experi- Schritt eines Rekombinationsereignisses ist die Induktion eines
menten, mit denen er Beweise für den semikonservativen Einzel- oder Doppelstrangbruchs in der chromosomalen DNA.
Charakter der Replikation erbracht hatte, hatte er auch fest- Erste experimentelle Hinweise auf die Bedeutung derartiger Brü-
gestellt, dass regelmäßig Chromatiden zu finden sind, die che als erster Schritt der Rekombination ergab deren Induktion
nur teilweise radioaktiv markiert waren, während die homo- bei Hefe durch Bestrahlung oder chemische Agenzien (7 Abschn.
loge Chromatide genau das komplementäre Muster aufwies. 10.4). Durch derartige Ereignisse wird die Häufigkeit von Re-
Das war nur mit direktem Stückaustausch zwischen den kombinationsereignissen in einer Größenordnung von 1000- bis
beiden Chromatiden zu erklären. 3000-fach erhöht. Die molekulare Analyse von Hefechromoso-
men hat darüber hinaus zeigen können, dass eine erhöhte Anzahl
> Rekombination erfolgt durch Bruch und Wiederverheilung von Doppelstrangbrüchen in einer bestimmten, genau definier-
zweier DNA-Doppelhelices. ten Chromosomenregion direkt mit einer erhöhten Rekombina-
tionsrate von Genen im betreffenden Chromosomenbereich ge-
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
245 6

RAD51

RAD54

(SRS2) RAD52

SDSA

. Abb. 6.25 Homologe Rekombination. Rekombination wird eingeleitet durch einen Doppelstrangbruch, der zu Genkonversion mit oder ohne Crossing-
over führt. Zunächst werden die Enden der Doppelstrangbrüche herausgeschnitten, um einzelsträngige DNA zu erzeugen, an die das Rekombinations-
protein RAD51 bindet. Der Zusammenbau eines RAD51-Nukleoproteinfilaments führt zu Wechselwirkungen mit der homologen Doppelstrang-DNA und
zur Strang-Einwanderung. Dieser Prozess wird auch als Einzelstrang-Einwanderung bezeichnet; die Übergangsstrukturen werden durch RAD54 stabilisiert.
In manchen Rekombinationswegen (Mitte) wird daraufhin das zweite DNA-Ende erfasst; daran ist wahrscheinlich RAD52 beteiligt. Dieses Zwischenprodukt
kann doppelte Holliday-Verbindungen ausbilden, und die verbleibenden Lücken können durch neue DNA-Synthese gefüllt werden. Die daraus resultieren-
de Holliday-Verbindung kann auf »klassische« Weise unter Beteiligung von RAD51C, XRCC3 aufgelöst werden. Alternativ können sich die DNA-Stränge
durch die gemeinsame Wirkung von BLM (Blooms-Syndrom-Protein) und Topoisomerase IIIα (TopoIII) trennen. Die BLM-TopoIII-Reaktion führt überwiegend
zu Produkten ohne Crossing-over; Mutationen in BLM verursachen einen Anstieg in der Bildung von Crossing-overs. Rekombinanten können aber auch in
einem MUS81-abhängigen Weg gebildet werden, der keine Holliday-Verbindung ausprägt (rechts). In ähnlicher Weise können Doppelstrangbrüche in einer
DNA-Synthese-abhängigen Reaktion repariert werden; dieser Weg bedarf der SRS2-Helikase (links). (Nach Liu und West 2004, mit freundlicher Genehmi-
gung der Nature Publishing Group)

koppelt ist. Bei der meiotischen Rekombination werden Doppel- Das RAD51B-RAD51C-Dimer besitzt eine Einzelstrang-DNA-
strangbrüche durch ein Topoisomerase-ähnliches Protein abhängige ATPase-Aktivität.
(SPO11) erzeugt; dieses Protein ist bei Hefen, Maus und Mensch
konserviert; bei Mäusen und Menschen ist es überwiegend in *IntesBakterien ist eine Verschiebung des Überkreuzungspunk-
vom ursprünglichen Austauschpunkt durch eine reißver-
den Ovarien, Testes und im Thymus exprimiert.
schlussartige Verschiebung der Basenpaarungen in beiden
Die Enden der DNA werden so zurechtgeschnitten, dass Ein-
Doppelhelices möglich (branch migration; vgl. . Abb. 4.24).
zelstrangüberhänge entstehen. Dadurch können sich Rekombi-
Ein ähnlicher Mechanismus ist bei Eukaryoten noch nicht in
nationsproteine anlagern, wie z. B. das Replikationsprotein A
der Klarheit wie bei Bakterien bewiesen. Von Mitgliedern der
(RPA), RAD51 und RAD52. Dabei ist RAD52 ein DNA- und
RecQ-Familie der DNA-Helikasen, wie dem Bloom-Syndrom-
Protein-bindendes Protein, das die RAD51-Rekombinase stimu-
Protein (BLM) oder dem Werner-Syndrom-Protein (WRN),
liert. Die Montage des RAD51-Nukleoproteinfilaments führt zu
konnte in vitro gezeigt werden, dass sie in der Lage sind,
Wechselwirkungen der homologen Doppelstrang-DNA und
eine Wanderung des Verzweigungspunktes zu bewirken.
zum Eindringen eines Einzelstrangs (engl. strand invasion).
Anderseits ist es eher unwahrscheinlich, dass Proteine wie
RAD54 stabilisiert diese Übergangsstrukturen und ermöglicht
das BLM eine dem bakteriellen RuvB-Protein vergleichbare
es, dass die nachfolgenden Reaktionen stattfinden können. In
Funktion als Motor der Verschiebung des Verzweigungs-
manchen Rekombinationswegen wird daraufhin das zweite
punktes ausüben, da Mutationen im humanen BLM-Gen
DNA-Ende erfasst; daran ist wahrscheinlich RAD52 beteiligt.
zu einem Anstieg der Schwesterchromatid-Austausche
Dieses Zwischenprodukt kann doppelte Holliday-Verbindungen
führen.
ausbilden, und die verbleibenden Lücken können durch neue
DNA-Synthese gefüllt werden. Die daraus resultierende Holli- Rekombinationen können aber auch Nebenwege einschlagen,
day-Verbindung kann auf »klassische« Weise unter Beteiligung die keine Holliday-Verbindung beinhalten. So kann die doppelte
von RAD51C und XRCC3 (engl. X-ray repair cross-complemen- Holliday-Struktur beispielsweise durch den MUS81-Komplex
ting protein 3; gehört zur RecA-Proteinfamilie) aufgelöst werden. vermieden werden. Dabei handelt es sich um ein Hefe-Protein
246 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

a mit endonukleolytischen Aktivitäten, das die Zwischenprodukte


der eindringenden Einzelstränge schneidet, bevor sie zu wah-
ren Holliday-Strukturen reifen können. In ähnlicher Weise kann
der Doppelstrangbruch auch durch einen anderen Nebenweg
repariert werden; daran ist wesentlich die SRS2-Helikase (engl.
suppressor of RAD six screen mutant 2) beteiligt. Dabei kann
SRS2 RAD51 von einem der beiden Einzelstrang-Enden ent-
b + sn fernen. Das verhindert, dass ein zweites Einzelstrang-Ende
1
zwischen die beiden Doppelstränge eindringt und so eine dop-
2
pelte Holliday-Struktur hergestellt wird; dadurch vermindert
3
4 SRS2 schließlich die Wahrscheinlichkeit einer Crossing-over-
y +
Bildung.

6 C Viele Proteine, von denen heute bekannt ist, dass sie an den
1 Rekombinationsereignissen essenziell beteiligt sind, wurden
2 ursprünglich in strahlengenetischen Experimenten in Hefen
3
identifiziert; die entsprechenden Mutanten wurden mit RAD
4 (engl. radiation) bezeichnet und einfach nach ihrem Auftre-
ten durchnummeriert.

Auch in höheren Organismen gibt es offenbar spezifische


1 2 Rekombinationsstellen in der DNA, wie beispielsweise Unter-
3 4
suchungen an Pilzen gezeigt haben. Es erscheint durchaus
möglich, dass solche Rekombinationssequenzen generell vor-
singed (versengter) Fleck yellow (gelber) Fleck
handen sind. Die höhere Struktur eukaryotischer Chromo-
somen, die Ausbildung synaptonemaler Komplexe mit Rekom-
binationsknoten sowie die Anreicherung spezifischer DNA-
Sequenzen in deren lateralen Elementen (. Abb. 6.21 und
. Abb. 6.22) sind als Anzeichen für die Existenz solcher spe-
ziellen Sequenzen zu werten. Wir wissen außerdem, dass die
Rekombinationsraten bei Männern und Frauen unterschied-
lich sind, dass sie in Richtung der Telomere höher ist als an den
Centromeren und dass sie positiv mit dem GC-Gehalt der
DNA korreliert sind. Die detaillierte Aufklärung dieser Rekom-
binations-hotspots ist sicherlich eine der spannenden Aspekte
der nächsten Zukunft. Interessanterweise gibt es solche hotspots
nicht bei C. elegans und D. melanogaster, den beiden Spezies, in
denen die Bildung einer Synapse der Rekombination voraus-
geht. Lesenswerte und detailliertere Zusammenfassungen, als
es im Rahmen eines Lehrbuches möglich ist, bieten die Auf-
sätze  von Coop und Przeworski (2007) für die Evolution der
humanen Rekombination und von Gaut et al. (2007) für die der
Pflanzen.

> Bei der Rekombination wird durch Brüche und kreuz-


c
weise Wiederverheilung der DNA-Enden eine viersträngige
. Abb. 6.26 Zwillingsflecken. a Zwei unterschiedliche klonale Zellpopula-
Holliday-Struktur gebildet.
tionen auf dem Hintergrund von gesundem Gewebe. b Zwillingsflecken
als Ergebnis eines mitotischen Crossing-overs. Vor dem Crossing-over sind C Rekombinationen können auch in mitotischen Zellen statt-
die jeweiligen Chromosomen heterozygot für rezessive Mutationen. Die
finden; allerdings ist dies etwa 100- bis 1000-mal seltener
Tochterzellen werden hemizygot für die rezessiven Allele. Es ist hier ein Bei-
spiel aus Drosophila gezeigt; sn: singed, y: yellow. c Paarweise Hautanoma-
als in der Meiose. Im Allgemeinen wird man Rekombinatio-
lien beim Menschen: ein Becker-Nävus (großer, unregelmäßig braun ge- nen in der Mitose jedoch nicht erkennen, da sie nicht in der
färbter Hautfleck) mit verstärktem Haarwuchs auf der linken Seite und ein abweichenden genetischen Konstitution von Nachkommen
Naevus depigmentosus (angeborener, schwach pigmentierter Fleck) mit sichtbar werden und geeignete zelluläre Marker für diese
Leber flecken auf der rechten Seite. Die Mittelline ist nicht betroffen. (Aus
Art von Mosaikmustern im Allgemeinen nicht vorliegen.
van Steensel et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)
Unter geeigneten experimentellen Bedingungen können
wir aber auch mitotische Crossing-over-Ereignisse sichtbar
machen und diese sogar für entwicklungsbiologische
Untersuchungen einsetzen. Das Ergebnis mitotischer Re-
6.3 · Mitose, Meiose und chromosomale Rearrangements
247 6
kombination wurde zuerst an Drosophila beschrieben zwei Markergenen in der Nachkommenschaft eigentlich er-
(. Abb. 6.26a, b). Erfolgt ein solches mitotisches Rekombi- wartet wird. Man bezeichnet diese Abweichungen als nicht-
nationsereignis während der frühen Entwicklung in Zellen, reziproke Rekombination oder als Genkonversion. Genkon-
so können wir später in den daraus entstehenden Gewebe- version ist eine allgemeine Erscheinung. Sie wird jedoch be-
bereichen unterschiedliche Färbungsmuster erkennen. sonders leicht nachweisbar, wenn nach den zwei meiotischen
Registriert man viele solcher Muster, so macht man die be- Teilungen noch eine Mitose folgt, wie das bei Neurospora crassa
merkenswerte Beobachtung, dass sie bestimmte Grenzen oder Sordaria brevicollis der Fall ist. In beiden Arten findet
einhalten, die nicht überschritten werden. Curt Stern hat man die acht Ascosporen in einer Anordnung im Ascus, die
(1936) den Begriff Zwillingsfleck (engl. twin spot) für solche den Teilungsschritten während der Meiose und der darauf-
Konstitutionen eingeführt. In der Dermatologie sind solche folgenden Mitose entspricht, da die Teilungsspindeln wegen der
Zwillingsflecken als Didymosis bekannt und bedürfen engen Asci keinen Überlappungen oder Verschiebungen unter-
noch der molekularen Untersuchung; ein Beispiel zeigt liegen können (7 Abschn. 5.3.2 und 7 Abschn. 11.4.3). Zwei hin-
. Abb. 6.26c. tereinanderliegende Sporen reflektieren daher stets die geneti-
sche Konstitution einer DNA-Doppelhelix zu Beginn der ersten
meiotischen Teilung.
6.3.4 Genkonversion
C Die Tetradenanalyse in Neurospora crassa (7 Abschn. 5.3.2)
Das Holliday-Modell der Rekombination gestattet es, weitere erlebt ihre Blütezeit am Ende der 1940er-Jahre. Damals er-
genetische Beobachtungen molekular zu erklären, die in Ex- kannte George Beadle (1946), dass die linear angeordneten
perimenten gemacht werden, in denen man die genetische acht Ascosporen die aufeinanderfolgenden Ereignisse in
Analyse aller Nachkommen eines einzelnen Rekombinations- Meiose und Mitose widerspiegeln. Damit war es zunächst
ereignisses durchgeführt hat. Hierfür hat sich vor allem die möglich, Centromerregionen zu kartieren, indem die
Tetradenanalyse in Hefen und Schimmelpilzen besonders be- Häufigkeiten der Segregationen in der zweiten meiotischen
währt (. Abb. 11.25). Einer der wichtigsten Befunde solcher Teilung betrachtet wurden: Nach jeder Meiose teilen sich
Tetradenanalysen war die gelegentliche Abweichung vom die Zellen noch einmal mitotisch, sodass schließlich acht
1:1-Verhältnis, das bei Rekombinationsereignissen zwischen haploide Ascosporen gebildet werden. Liegt nun eine

1
a b

keine
Genkonversion
2

Genkonversion
4

. Abb. 6.27 Rekombination, Genkonversion und Tetradenanalyse. a Ein einzigartiger Vorteil der fluoreszierenden
Arabidopsis-Pollen ist die Möglichkeit, zweifelsfrei Genkonversion aufgrund des klassischen 3:1-Aufspaltungsmusters
zu erkennen. Wir sehen das Segregationsmuster eines heterozygoten Markerallels nach Rekombination in qrt-Mutan-
ten von Arabidopsis. Eine unerwartete Verteilung des gelb fluoreszierenden Markers (3:1 statt 2:2) kann bei der Tetra-
denanalyse zweifelsfrei beobachtet werden. b Diese Beobachtung lässt sich nach dem Holliday-Modell des Rekombi- 5
nationsmechanismus erklären, wenn man annimmt, dass in Heteroduplexregionen der DNA ein Korrekturmechanis-
mus einen Angleich der Nukleotidsequenz des einen Strangs an den anderen vornimmt: Rekombination wird durch
das Meiose-Protein SPO11 (blaue Ovale) initiiert (1), das Brüche in einer Chromatide erzeugt und zunächst kovalent
an den entstehenden Doppelstrangbruch gebunden bleibt. Nach der Ablösung von SPO11 (2) werden weitere Nu-
kleotide abgebaut, sodass Einzelstränge entstehen. Ein Strang-Ende wandert in die homologe Chromatide ein (3),
bildet eine D-Schlaufe und kann durch eine DNA-Polymerase verlängert werden (4). Danach kann sich der eingewan- 6
derte Strang wieder von der homologen Chromatide lösen (5); die verbleibenden Lücken werden durch Polymerasen
und Ligasen geschlossen (6). Andere Mechanismen der Reparatur von Doppelstrangbrüchen wurden aus Gründen
der Vereinfachung weggelassen; sie werden im 7 Abschn. 10.6 besprochen. (a aus Francis et al. 2007, mit freundlicher
Genehmigung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA; b verändert nach Sun et al. 2012)
248 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

heterozygote Mutation vor, spalten sich die Ascosporen 1:1 6.4 Variabilität der Chromosomen
auf, wobei die ersten vier Ascosporen (»Quartett«) das
eine elterliche Geschlecht repräsentieren und das zweite 6.4.1 Polytäne Chromosomen
Quartett das andere. Wenn jedoch zusätzlich in der Meiose (Riesenchromosomen)
noch eine Rekombination auftritt, unterscheiden sich die
Ascosporen innerhalb der beiden Quartetts im Verhältnis Bisher haben wir eine Form von Variabilität der Chromosomen-
2:2. Diese Untersuchungen waren bahnbrechend für die struktur betrachtet, die den Organismus insgesamt betrifft, also
Charakterisierung der Rekombination und der Genkonver- mit seiner genetischen Ausstattung in Beziehung steht. Variabi-
sion. lität der Chromosomenstruktur findet man aber auch, wenn man
verschiedene Zelltypen vergleicht. Es gibt gute Gründe zu ver-
Derartige Untersuchungsmöglichkeiten gab es bei höheren muten, dass solch eine Variabilität mit der Funktion der Chro-
Eukaryoten zunächst nicht, da sich deren Meiose-Produkte mosomen in den betreffenden Zelltypen zu tun hat. Ein beson-
trennen (männliche Meiose) oder selektiv absterben (weibliche derer Typ von cytologisch ungewöhnlichen Chromosomen lässt
6 Organismen). Jetzt können solche Untersuchungen aber auch bei sich in manchen Geweben, vor allem von Insekten, beobachten.
Arabidopsis durchgeführt werden, nachdem die Quartett-Mu- Sie zeichnen sich durch eine ungewöhnliche Größe und einen
tante identifiziert werden konnte (Gensymbol: qrt). In den großen strukturellen Detailreichtum aus (. Abb. 6.28). Aufgrund
qrt-Mutanten können die Pektin-Bestandteile der Pollenkörner ihrer Größe werden diese Chromosomen Riesenchromosomen
nicht getrennt werden, sodass sie aneinandergeheftet bleiben; oder polytäne Chromosomen genannt. Diese Bezeichnung be-
. Abb. 6.27a zeigt ein typisches Ergebnis; in . Abb. 6.27b ist ein schreibt den Aufbau dieser Chromosomen: Sie bestehen aus ei-
vereinfachtes Schema des Mechanismus der Genkonversion an- ner großen Anzahl exakt gepaarter Chromatiden, die durch wie-
gegeben. derholte Replikation der chromosomalen DNA ohne darauffol-
Abschließend muss noch darauf verwiesen werden, dass gende Zell- und Kernteilungen entstehen. Sie wurden zuerst von
Genkonversion auch zwischen nicht homologen Chromo- Theophilus S. Painter 1933 beschrieben und in hervorragender
somenregionen auftreten kann, sofern beide am Konversions- Qualität zeichnerisch dargestellt. Diese Karten blieben in modi-
ereignis beteiligten Chromosomenbereiche eine homologe fizierter und ergänzter Form etwa 40 Jahre gültig.
DNA-Sequenz besitzen. Hier kann es dann zu lokal begrenz-
ten  Austauschereignissen kommen, die den zuvor beschrie-
benen im Prinzip entsprechen. Eine detaillierte Darstellung des
Mechanismus der Genkonversion finden wir bei Chen et al.
(2007); für die Genkonversion sind im Wesentlichen ver-
schiedene Formen von DNA-Reparaturprozessen verantwort-
lich (7 Abschn. 10.6).
> Außerordentliche Segregationsverhältnisse, Konver-
sion genannt, sind besonders bei Tetradenanalysen in
Pilzen leicht nachweisbar. Sie lassen sich durch die
Entstehung und nachfolgende Korrektur von Hetero-
duplexregionen in der DNA als Folge der Rekombination
verstehen.

*Genkonversion ist ein wichtiger Mechanismus bei der Ent-


stehung von manchen Erbkrankheiten. In diesen Fällen
kommt es bei einer Rekombination zu einem nicht-homolo-
gen Austausch zwischen einem Gen und einem benachbar-
ten Pseudogen, wobei ein Teil der Pseudogensequenz die
Sequenz des funktionellen Gens ersetzt. In vielen Fällen
führt das zu Veränderungen der Aminosäuresequenz und/
oder einem vorzeitigen Stoppcodon. Bekannte Beispiele da-
für sind die Gene CRYBB2 (βB2-Kristallin, Genkonversion
führt zu Katarakt), CYP21A2 (Steroid-21-Hydroxylase; Gen-
konversion führt zur angeborenen Nebennierenhyperplasie)
oder VWF (von-Willebrand-Faktor; Genkonversion führt zu
einer Blutgerinnungsstörung, der von-Willebrand-Erkran-
kung). Für eine genomweite Übersicht sei auf den Aufsatz
von Bischof et al. (2006) verwiesen. . Abb. 6.28 Mitotischer Karyotyp (oben) und Teil des polytänen Karyo-
typs von Drosophila melanogaster in der gleichen Vergrößerung (unten).
Es sind die Chromosomen 3L, 3R und X gezeigt. (Nach Aulard et al. 2004,
mit freundlicher Genehmigung von Springer)
6.4 · Variabilität der Chromosomen
249 6

. Abb. 6.29 Balbiani-Ringe im Chromosom IV von Chironomus tentans


nach metachromatischer Toluidinblaufärbung. DNA-reiche Chromosomen-
bereiche (Querscheiben) erscheinen dunkel, während RNA-reiche Regionen
(Balbiani-Ringe, Puffs) rot gefärbt sind. (Foto: W. Hennig, Mainz)

Eine wichtige Eigenart von Riesenchromosomen ist ihr


Querscheibenmuster. Man spricht auch von Banden, die auf
den Chromosomen quer zu ihrer Längsrichtung zu beobachten
sind. Die Banden entstehen dadurch, dass die chromosomale . Abb. 6.30 RNA-Synthese in Riesenchromosomen. Durch den Einbau
DNA in diesen Chromosomenbereichen stärker konzentriert ist radioaktiv markierten Uridins in die neu synthetisierte RNA lässt sich zeigen,
als in den beiderseitig angrenzenden Chromosomenabschnit- welche Chromosomenbereiche aktive Gene enthalten. Hier wurde eine
ten, den Interbanden. Die Banden sind zwar in ihrer Anord- Speicheldrüse von Chironomus tentans für 6 h mit 3H-Uridin-haltigem Me-
dium inkubiert. Die Riesenchromosomen wurden anschließend autoradio-
nung längs der Chromosomenachse sowohl in ihrer Dicke als
graphisch analysiert. Die schwarzen Regionen im Chromosom sind Silber-
auch ihrem Abstand sehr variabel, kennzeichnen aber gerade körnchen, die im autoradiographischen Film an belichteten Stellen nach
dadurch eine bestimmte Chromosomenregion eindeutig. In Entwicklung sichtbar werden (7 Technikbox 15). Einbau radioaktiver
unterschiedlichen Zellen und Entwicklungsstadien sind die RNA-Vorstufen wird in den Aufblähungen beobachtet, wie nach der Inter-
Banden eines bestimmten Chromosomenabschnitts im Prinzip pretation Beermanns zu erwarten ist. (Aus Pelling 1964, mit freundlicher
Genehmigung von Springer)
stets gleich. So kann man sie zur Identifizierung nicht nur
des Chromosoms, sondern auch der Position innerhalb eines
Chromosoms benutzen. Man hat daher für Organismen, für die
eine Kartierung von Interesse ist, Chromosomenkarten auf der blähungen (engl. puff). Diese Aufblähungen können bisweilen
Grundlage der Bandenmuster erstellt; sie wurde eine wichtige mehrere benachbarte Banden einschließen oder sich sogar
Grundlage für genetische und molekulare Analysen des Droso- schrittweise über eine Reihe von Banden hinwegbewegen. Be-
phila-Genoms. Bereits frühzeitig hat man eine Verbindung zwi- sonders große Aufblähungen nennt man nach ihrem Entdecker
schen den Banden und den Chromomeren der meiotischen Édouard-Gérard Balbiani (1881) Balbiani-Ringe. Am bekann-
Prophasechromosomen vermutet. Übereinstimmend mit der testen sind die Balbiani-Ringe in den Riesenchromosomen von
Interpretation der Bedeutung von Chromomeren hat man ge- Chironomiden (Zuckmücken; . Abb. 6.29). Dass in solchen Auf-
schlossen, dass die Banden die chromosomalen Orte der Gene blähungen RNA synthetisiert wird, lässt sich durch den Einbau
sind, während Interbanden eine Art Brückenfunktion zuge- radioaktiv markierten Uridins nachweisen (. Abb. 6.30). Bei
schrieben wurde. Einstellung der Transkription erfolgt eine Kondensation der
Dieses Modell wurde auch durch die Beobachtung unter- chromosomalen DNA und damit eine Rückbildung in die stärker
stützt, dass die Konstanz der Bandenstruktur eines Chromosoms lichtbrechenden Querscheiben.
nicht absolut ist. Genaue Vergleiche ließen erkennen, dass sehr Die Tatsache, dass in Riesenchromosomen eine intensive
charakteristische lokale Veränderungen in unterschiedlichen RNA-Synthese zu beobachten ist, kennzeichnet diese Chromo-
Geweben oder im Laufe der Entwicklung des Organismus auftre- somen als Interphasechromosomen. Das erklärt auch ihre
ten können. Wolfgang Beermann hatte 1952 erkannt, dass diese Länge: Wie bei normalen Interphasechromosomen ist die chro-
Veränderungen eine Folge sich ändernder Genaktivität sind. Bei mosomale DNA der Riesenchromosomen dekondensiert, und
Beginn der Transkription eines Gens wird die DNA einer Bande die Chromosomen sind nur dadurch sichtbar, dass sie aus
dekondensiert und damit für die an der RNA-Synthese beteilig- einer Vielzahl lateral gepaarter Chromatiden bestehen. Der
ten Moleküle und Enzyme zugänglich. Die Region verliert ihre Interphasecharakter dieser Chromosomen wird auch dadurch
starke Lichtbrechung im Phasenkontrastmikroskop (und zu- deutlich, dass in ihnen durch Autoradiographie mit radioakti-
gleich ihre verstärkte Färbbarkeit durch DNA-spezifische Farb- vem Thymidin Replikation nachgewiesen werden kann. Sie
stoffe). Man bezeichnet solche Chromosomenregionen als Auf- durchlaufen also gewissermaßen sich wiederholende S-Phasen,
250 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

ohne zwischendurch einen vollen Zellzyklus, der eine Mitose C Besonders auffallend und daher besonders ausgiebig unter-
beinhaltet, abzuschließen. Messungen des DNA-Gehalts haben sucht sind die überreplikativen Bereiche in Larven von Sciara-
ergeben, dass die Vermehrung der DNA in den Riesenchromo- und Rhynchosciara-Arten (Trauermücken der Familie Sciaridae).
somen mit dem Faktor 2n erfolgt. Die Anzahl der Verdoppe- In Rhynchosciara angelae werden gegen Ende des 4. Larven-
lungsschritte (n) kann mehr als 13 betragen, sodass der Polytä- stadiums (Tag 62 der larvalen Entwicklung) gleichzeitig meh-
niegrad in diesem Fall über 8192 liegt (z. B. in Speicheldrüsen- rere große Aufblähungsbereiche gebildet, in denen die DNA
chromosomen von Zuckmücken). Durch die Angabe des Poly- bis zu 16-fach überrepliziert wird (Amplifikation). Gleichzeitig
täniegrades kennzeichnet man die Anzahl der Chromatiden im erfolgt eine intensive Transkription, die mRNA für Sekretprote-
Riesenchromosom. In Drosophila-Polytänchromosomen von ine liefert; während der Präpuppenperiode bildet sich die Am-
Speicheldrüsen liegt der endgültige Polytäniegrad bei 1024 oder plifikation allmählich wieder zurück. Die fibrillären Sekretpro-
2048. In anderen Geweben (z. B. Malpighigefäßen, Darmepithel) teine sind in großen Mengen zur Bildung des Kokons erforder-
ist er niedriger (64 oder 128). lich (7 Abschn. 7.1.1). Wir lernen hiermit einen der Mechanis-
Vergleichen wir einen mitotischen Metaphasechromoso- men kennen, die Zellen zur Verfügung haben, um große
6 mensatz mit einem Riesenchromosomensatz aus den Speichel- Mengen bestimmter Moleküle in kurzer Zeit zu produzieren.
drüsen von Drosophila, so müssen wir einige grundsätzliche
Unterschiede feststellen. Der auffallendste Unterschied liegt da-
rin, dass die Chromosomenanzahl in den Speicheldrüsenkernen 6.4.2 Lampenbürstenchromosomen
der einer haploiden Zelle entspricht. Die Ursache hierfür ist
nicht Haploidie dieser Zellen, sondern die somatische Paarung Eine ungewöhnliche cytologische Struktur finden wir auch bei
der Chromosomen. Somatische Paarung ist eine Besonderheit den Prophasechromosomen einiger Organismen während der
von Drosophila und anderen Insekten. Im Gegensatz zu den ersten meiotischen Teilung. Ganz allgemein sind meiotische Pro-
meisten anderen Organismen sind hier homologe Chromoso- phasechromosomen durch die vielen Chromomeren charakteri-
men in allen Geweben, also nicht nur in meiotischen Zellen, siert, die sich perlschnurartig auf den Chromosomenachsen zei-
gepaart. In den Riesenchromosomen erfolgt diese Paarung so gen. In manchen Organismen bilden sich – meist in der weibli-
intensiv, dass eine Unterscheidung der beiden Homologen nor- chen Keimbahn – von diesen Chromomeren schleifenartige
malerweise nicht mehr möglich ist. Liegen allerdings Chromo- Strukturen aus, die den Chromosomen ein diffuses Aussehen
somenaberrationen vor, z. B. eine Inversion, so werden beide geben. Wegen ihres Erscheinungsbildes werden diese Chromo-
Homologe im Bereich der Aberration sichtbar. Liegt dagegen somen auch Lampenbürstenchromosomen (engl. lamp-brush
eine Deletion in einem der Homologen vor, bildet sich eine Paa- chromosomes) genannt, da sie im Extremfall den früher zur Rei-
rungslücke. nigung von Petroleumlampen gebräuchlichen Bürsten ähnlich
Solche Heterozygotien waren von großer Bedeutung für die sehen (. Abb. 6.31). Solche Lampenbürstenchromosomen sind
praktische genetische Arbeit, da sie die cytologische Kartierung vor allem in den primären Oocyten vieler Organismen zu beob-
von Genen sehr erleichterten. Durch vergleichende Analyse der achten, treten jedoch bisweilen auch im primären Spermatocy-
Phänotypen von Heterozygoten mit dem cytologischen Bild der tenstadium auf.
Speicheldrüsenchromosomen kann man ein Gen auf einen Teil-
bereich einer Bande genau kartieren. Durch solche Analysen
wurde der white-Locus von Drosophila melanogaster einem Teil-
bereich der Bande 3C2 des X-Chromosoms zugewiesen. Auch
heute haben solche cytologischen Karten eine wichtige Bedeu-
tung für die Identifizierung der chromosomalen Lokalisation
von Genen, zumal der Aufwand hierfür durch moderne in-situ-
Hybridisierungstechniken gering ist.

> In vielen spezialisierten Zellen von Insekten findet man


Riesenchromosomen (Polytänchromosomen), die durch
mehrfach aufeinanderfolgende Replikation der Chroma-
tiden ohne deren Trennung und ohne Zellteilungen ent-
stehen. Es handelt sich dabei um Interphasechromosomen.
Sie zeigen eine Gliederung in Banden (oder Querscheiben)
und Interbanden. Dieses Muster ist chromosomenspezi-
fisch und gestattet eine Kartierung von Genen bis auf Teil-
bereiche einer Bande. Banden können sich dekondensieren
und sich aufblähen. Solche Aufblähungen (engl. puff) sind . Abb. 6.31 Schematische Darstellung der Feinstruktur der Lampenbürsten-
chromosomen. Links oben ist ein Bivalent in seiner Grundstruktur wiederge-
ein Anzeichen für Transkription im betreffenden Chromo-
geben. Die paarigen lateralen Schleifen sind rechts und unten vergrößert zu
somenbereich. Die Anzahl von Riesenchromosomen in sehen. Jede der Schleifen wird von einer der Chromatiden eines Chromosoms
Drosophila entspricht der eines haploiden Chromosomen- durch Dekondensation der DNA im Zusammenhang mit der Transkription ge-
komplements. bildet. (Aus Gall 1956, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
6.4 · Variabilität der Chromosomen
251 6
C Am eindrucksvollsten sind Lampenbürstenschleifen bei eini-
gen Amphibienarten ausgebildet. An der Basis einer jeden
Schleife befindet sich ein Chromomer. Die Anzahl der
Schleifen entspricht ungefähr der der Chromomeren. Es
werden also Tausende von Schleifen geformt, jedoch scheint
nicht jedes Chromomer Schleifen auszubilden. Da es sich
um Prophasechromosomen handelt, ihre Chromatiden also
bereits verdoppelt sind, wird jeweils ein Paar von Schleifen
gebildet, dessen einer Partner jeweils einer Chromatide zu-
zuordnen ist. Während der Oocytenentwicklung, die bei Am-
phibien normalerweise ein halbes Jahr oder noch viel länger
andauern kann, sind einige Veränderungen in der Ausbil-
dung von Schleifenpaaren zu beobachten, d. h. nicht alle
Schleifenpaare sind während der gesamten meiotischen
Prophase I zu sehen. Während nun die Mehrzahl dieser
Schleifen eine sehr einheitliche Struktur aufweist und sich
a
nur in der Länge unterscheidet, fällt eine Minderheit durch
eine besondere, für jede Schleife charakteristische Morpho-
logie auf. Da sie hierdurch zur Identifikation und Kartierung
der jeweiligen Chromosomen geeignet sind, werden sie in
der englischen Literatur als landmark loops bezeichnet.

Wir müssen Lampenbürstenschleifen jedenfalls als aktive Gene


ansehen (. Abb. 6.32). So stellt sich die Frage, welche Beziehung
zwischen Lampenbürstenschleifen und Genen besteht. Die Län-
ge der Lampenbürstenschleifen in manchen Arten, wie beispiels-
weise Notophthalmus, übersteigt bei Weitem die Länge einzelner
Gene. Durch in-situ-Hybridisierungsexperimente konnten S. E.
Bromley und J. G. Gall (1987) zeigen, dass zumindest ein Teil der
Schleifen mehrere Transkriptionseinheiten beherbergt. Diese
Beobachtung schließt an die Befunde von Riesenchromosomen
an, deren Banden ebenfalls oft mehr als eine Transkriptionsein- b c
heit enthalten.
. Abb. 6.32 Transkription in Lampenbürstenschleifen. a Lampenbürsten-
C Offenbar ist die Ausbildung solcher großer Lampenbürsten- chromosomenschleifen von Notophthalmus viridescens. Durch Hybridisie-
rung mit 3H-markierter RNA wurden die wachsenden Transkripte an der
schleifen, wie sie besonders gut ausgebildet bei Drosophila
Schleife radioaktiv markiert und anschließend autoradiographisch sicht-
hydei gefunden werden, eine Besonderheit einer begrenzten bar gemacht. Die markierte Probe ist komplementär zu den neu syntheti-
Anzahl von Drosophila-Arten, während kleinere Schleifen des sierten RNA-Molekülen an der DNA-Achse. Es wird spezifisch die RNA im
Y-Chromosoms wohl bei den meisten, wenn nicht allen Droso- sphere-Locus im Chromosom 6 markiert. b Immunlokalisation von RNA-
phila-Arten zu finden sind. Besonders deutlich wird das an Polymerase II in den Schleifen von Triturus vulgaris. Der Antikörper erkennt
die unphosphorylierte Form der C-terminalen Domäne; Balken: 10 μm.
Lampenbürstenschleifen, die von Fertilitätsgenen im Y-Chro-
c Phasenkontrast-Darstellung zu b. (a nach Gall et al. 1981; b, c Morgan
mosom von Drosophila während des primären Spermatocyten- 2002, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
stadiums ausgebildet werden, wie Meyer, Hess und Beermann
zu Beginn der 1960er-Jahre feststellten (Meyer et al. 1961).
Große Lampenbürstenschleifen in D. melanogaster, D. hydei
und einigen anderen Arten enthalten mehr als 250.000 Basen-
6.4.3 Überzählige und keimbahnlimitierte
paare (bisweilen weit über 1 Mio. bp) DNA, wie die elektronen-
Chromosomen
mikroskopische Darstellung transkriptionsaktiver Lampen-
bürstenschleifen beweist. Die DNA dieser Y-chromosomalen
Eukaryotische Genome enthalten nicht nur Gene, die in norma-
Lampenbürstenschleifen ist in sehr komplexer Weise aus repe-
len Chromosomen gefunden werden (A-Chromosomen), son-
titiven (wiederholten) DNA-Sequenzen aufgebaut.
dern auch vielfältige »egoistische« genetische Elemente, die
> In manchen Organismen werden in der Prophase der ers- nicht den Mendel’schen Gesetzen gehorchen. Nennenswert
ten Reifeteilung Lampenbürstenchromosomen gebildet. davon sind vor allem die B-Chromosomen, die von Edmund
Von den Chromomeren auf der Chromosomenachse wer- B. Wilson bereits 1907 beschrieben wurden, wenngleich ihre
den zwei lateral-symmetrische Schleifen ausgebildet, die egoistische Natur erst später erkannt wurde. B-Chromosomen
transkriptionsaktiv sind. Jede dieser Schleifen ist einer der (auch als überzählige Chromosomen bezeichnet) werden in
Chromatiden zuzuordnen. allen wesentlichen Gruppen von Tieren und Pflanzen gefunden.
252 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

. Abb. 6.33 Chromosomenkonstitution in verschiedenen Keimzell- und Somazellstadien von Sciara coprophila. Oben: Chromosomenelimination in Sper-
matogenese und Soma des Männchens. Unten: Chromosomenelimination in somatischen Zellen des Weibchens. Die somatischen Zellen von Männchen und
Weibchen unterscheiden sich lediglich in der Elimination der X-Chromosomen: Im Männchen werden beide paternalen X-Chromosomen eliminiert und
nur das maternale X-Chromosom bleibt erhalten, während im Weibchen eines der paternalen X-Chromosomen im Genom verbleibt. Die L-Chromosomen
sind auf die Keimbahn beschränkt und werden beim Männchen teilweise nach einem komplizierten Mechanismus in der Frühentwicklung bzw. während
der Meiose entfernt. Ungewöhnlich ist auch die unterschiedliche X-Chromosomenkonstitution in Keimzellen und somatischen Zellen des Männchens.
(Aus Metz 1938)

Sie sind wahrscheinlich aus A-Chromosomen entstanden, folgen Geschlecht des Individuums bestimmt. Somatisch besteht
jetzt aber ihrem eigenen evolutionären Weg. Ihr irreguläres das Genom von Sciara coprophila aus drei Autosomen-
mitotisches und meiotisches Verhalten erlaubt ihnen, sich eigen- paaren und einem X-Chromosom im männlichen Soma
nützig in der Keimbahn zu etablieren, und ermöglicht eine hö- oder zwei X-Chromosomen in weiblichen Somazellen.
here Übertragungsrate als wir das von normalen Chromosomen Ungewöhnlich ist nun bereits, dass in (haploiden) Spermato-
kennen. zoen neben je einem Autosom zwei X-Chromosomen (müt-
B-Chromosomen sind in ihren cytologischen Eigenschaften terlichen Ursprungs) vorhanden sind, während ein (haploi-
als heterochromatisch zu bezeichnen, und damit stimmt auch des) Ei einen Autosomensatz, jedoch nur ein X-Chromosom
überein, dass sie offenbar vorwiegend aus repetitiver DNA auf- besitzt. Die Geschlechtschromosomenkonstitution ist also
gebaut sind. Die B-Chromosomen können als ein Nebenprodukt in Soma und Keimbahn umgekehrt. Als Folge dieser Ge-
der Evolution betrachtet werden; viele Hinweise deuten darauf schlechtschromosomenkonstitution erhält die Zygote drei
hin, dass sie von A-Chromosomen abstammen, z. B. von polyso- X-Chromosomen. Je nach Geschlecht werden ein oder zwei
men A-Chromosomen, von zentrischen Fragmenten, die aus der X-Chromosomen während der frühen Furchungsteilun-
Fusionen hervorgegangen sind, oder von Amplifikationen peri- gen bei der Bildung somatischer Zellen eliminiert. Der zur
zentrischer Regionen fragmentierter A-Chromosomen. Es gibt Elimination erforderliche Mechanismus kann zwischen den
außerdem Hinweise, dass B-Chromosomen auch beim geneti- X-Chromosomen männlichen und weiblichen Ursprungs un-
schen Austausch naher verwandter Arten entstehen können. terscheiden, denn im Männchen bleibt stets das mütterliche
Für eine detaillierte Darstellung sei der interessierte Leser auf X-Chromosom somatisch erhalten, während im weiblichen
eine ausführliche Übersichtsarbeit von Camacho et al. (2000) Soma stets ein X-Chromosom mütterlichen und eines väter-
verwiesen. lichen Ursprungs zu finden ist. Die X-Chromosomen müssen
also in ihrem Ursprung gekennzeichnet sein, ein Zustand,
C Es gibt jedoch auch keimbahnspezifische Chromosomen den man mit dem Begriff »genetische Prägung« (engl. im-
(limitierte Chromosomen, L-Chromosomen), die in den printing) charakterisiert (7 Abschn. 8.4). Eine solche chromo-
Keimzellen durch besondere Mechanismen verteilt werden. somale Prägung scheint auch bei den Autosomen vorzulie-
Am bekanntesten sind die limitierten Chromosomen der zu gen, denn die Autosomen in den Spermatozoen sind stets
den Mücken (Nematocera) gehörenden Gattung Sciara mütterlichen Ursprungs.
(Diptera), deren komplizierter Verteilungsmechanismus in
. Abb. 6.33 dargestellt ist. Die Verteilung der Chromoso- Diese bereits hochgradig spezialisierte Chromosomenkonsti-
men ist bei Sciara nicht allein durch die Unterscheidung von tution wird noch zusätzlich durch die Anwesenheit keimbahn-
somatischen und Keimbahnzellen, sondern auch durch das limitierter Chromosomen kompliziert. In der Zygote finden wir
6.4 · Variabilität der Chromosomen
253 6
drei große metazentrische L-Chromosomen, zwei väterlichen Meiose I
und eins mütterlichen Ursprungs. Diese L-Chromosomen wer-
den in einem Eliminationsschritt nach der 5. oder 6. Zellteilung,
noch vor der Elimination der X-Chromosomen, aus den somati-
schen Zellen entfernt. Im Gegensatz zu den früher beschriebe-
nen B-Chromosomen werden die limitierten Chromosomen
gezielt eliminiert. Sie durchlaufen einen normalen Zellzyklus
bis zur Metaphase, bleiben dann aber zwischen den Tochterzell- Meiose II
kernen liegen, da die Chromosomenenden sich offenbar nicht in
zwei Chromatiden spalten und dadurch voneinander trennen
können.
Auch in der männlichen Keimbahn erfolgen mehrere kom-
plexe Eliminationsschritte. Zunächst wird eines der L-Chromo-
somen entfernt, in einem nächsten Schritt verliert die Zelle eines
der väterlichen X-Chromosomen. Diese ersten Eliminations-
schritte erfolgen während der Spermatogonienmitosen. Die üb- . Abb. 6.34 Schematische Darstellung der ersten und zweiten meiotischen
rigen Eliminationsereignisse fallen ins Spermatocytenstadium. Teilung in der männlichen Keimbahn von Sciara coprophila (vgl. . Abb. 6.33).
In einer ersten meiotischen Teilung (. Abb. 6.34), die als mono- Oben: In der ersten meiotischen Teilung bildet sich eine monopolare Spin-
del, die die noch vorhandenen L-Chromosomen, das mütterliche X-Chromo-
zentrische Mitose verläuft, werden die väterlichen Chromoso-
som und ein Homologes jedes der zwei Autosomenpaare zum Pol wandern
men von den Homologen mütterlicher Herkunft getrennt, wobei lässt, während die übrigen vier Chromosomen aus der Zelle eliminiert wer-
alle verbliebenen L-Chromosomen unabhängig von ihrem Ur- den. Unten: In der zweiten meiotischen Teilung wandert das X-Chromosom
sprung mit den mütterlichen Chromosomen segregieren. Die mit beiden Chromatiden vorab zum Spindelpol. Von den übrigen Chromo-
väterlichen Chromosomen sammeln sich in einem kleinen Eli- somen folgt jeweils nur die eine Chromatide, während die andere eliminiert
wird. Die Abbildung lässt noch die klumpenförmigen Reste des Eliminations-
minationsvesikel und degenerieren. Aus dieser Teilung entsteht
chromatins aus der ersten Teilung erkennen. (Aus Gerbi 1986, mit freund-
demnach eine einzige sekundäre Spermatocyte. Diese teilt sich licher Genehmigung von Springer)
mittels einer normalen bipolaren Spindel (. Abb. 6.34). Hierbei
erfährt jedoch das X-Chromosom, das den übrigen Chromoso-
men in der Verteilung vorausläuft, keine Chromatidenverteilung, können, dass sich ein oder mehrere Chromosomen auf der Basis
wie sie für die übrigen Chromosomen stattfindet, sondern beide ihrer identischen Morphologie oder Bänderung nicht als homo-
Chromatiden werden zusammen an einen Pol verlagert. Die Zel- loge Chromosomen klassifizieren lassen (. Abb. 6.35b). Es lässt
le, die diesen Zellkern erhält, wird zum Spermatozoon, während sich leicht feststellen, dass diese Schwierigkeit meist nur für ein
die andere Zelle degeneriert. Geschlecht besteht, während sich im anderen Geschlecht alle
Der komplizierte Eliminationsmechanismus hat sich offen- Chromosomen völlig normal in Zweiergruppen sortieren lassen
bar in einer Reihe verwandter Nematocera-Arten erhalten. Das (. Abb. 6.35a): Hierbei fehlt das eine der beiden ungleichen
deutet auch darauf hin, dass der Besitz von keimbahnlimitierten Chromosomen des anderen Geschlechts, während das andere
Chromosomen für diese Gruppe von Organismen selektive Vor- doppelt, also diploid vorhanden ist wie alle übrigen Chromoso-
teile bietet. Wie schon im Falle der B-Chromosomen müssen wir men auch. Ganz offensichtlich besteht also ein Zusammenhang
davon ausgehen, dass die heterochromatischen L-Chromosomen des Vorhandenseins dieses morphologisch abweichenden Chro-
in der Keimbahn eine biologische Funktion haben. mosoms mit dem Geschlecht des Organismus. Derartige Chro-
mosomen werden daher als Geschlechtschromosomen be-
> In manchen Organismen kommen überzählige Chromo-
zeichnet – im Gegensatz zu allen übrigen Chromosomen, die
somen vor (B-Chromosomen) oder solche, die auf die
man Autosomen nennt. Cytologen bezeichnen im Übrigen Ge-
Keimbahnzellen beschränkt sind (L-Chromosomen).
Die vorhandenen hochkomplexen Verteilungsmechanis-
men – z. B. bei Sciara – deuten an, dass mit dieser Aus-
stattung selektive Vorteile verbunden sein müssen. In
einigen Fällen ist die Verteilung von limitierten Chromo-
somen mit chromosomalem Imprinting verbunden,
das in den Nachkommen diese Chromosomen nach väter-
licher oder mütterlicher Herkunft unterscheiden lässt.

6.4.4 Geschlechtschromosomen a b
. Abb. 6.35 Metaphasechromosomen von Drosophila melanogaster.
Betrachten wir den diploiden Karyotyp (die Gesamtheit der a Weibchen mit zwei X-Chromosomen. b Männchen mit einem X- und einem
Chromosomen in ihrer spezifischen Form und Größe) eines be- Y-Chromosom. Zwei der Autosomenpaare sind metazentrisch, das dritte
liebigen Organismus, so werden wir in vielen Fällen feststellen Paar ist punktförmig
254 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

schlechtschromosomen aufgrund der unterschiedlichen Mor- Organismen fehlt das zweite Geschlechtschromosom
phologie auch als heteromorph und nennen sie dementspre- im heterogametischen Geschlecht ganz (X/0-Typ) oder
chend Heterosomen. es sind mehr als zwei Geschlechtschromosomen vor-
Die wichtigste Konsequenz des Besitzes von unterschied- handen.
lichen Geschlechtschromosomen wird uns bei der Betrachtung
der Meiose deutlich: Die Gameten besitzen zur Hälfte jeweils Die Evolution der Geschlechtschromosomen ist vielfach von
das eine oder das andere Geschlechtschromosom. Im Ge- besonderem Interesse, da sie gegenüber der Evolution der Auto-
schlecht mit identischen Geschlechtschromosomen gibt es somen einige Besonderheiten aufweist. Aus vergleichenden Ge-
diesen Unterschied in den Gameten natürlich nicht. Welches nomanalysen wissen wir, dass sich die Geschlechtschromosomen
Geschlecht dabei die »normale« und welches die abweichende jeweils aus einem Autosomenpaar entwickelt haben und dass
Chromosomenkonstitution zeigt, hängt vom Organismus ab. diese Entwicklung unabhängig voneinander in mehreren Linien
Bei Säugern beispielsweise ist das Männchen das heteroga- abgelaufen ist. Das erklärt die Vielfalt der Systeme in verschiede-
metische Geschlecht, während bei Vögeln oder bei Schmetter- nen Spezies, wie wir es oben schon betrachtet haben; die wesent-
6 lingen (Lepidopteren) das Weibchen heterogametisch ist. Zur lichen Aspekte für Vertebraten sind in . Abb. 6.36 zusammenge-
nomenklatorischen Kennzeichnung von Geschlechtschromoso- fasst. Dabei können wir davon ausgehen, dass sich die verschie-
men verwendet man generell die Namen X- und Y-Chromosom, denen Spezies vor ca. 300 Mio. Jahren getrennt haben. Bei Vögeln
wenn das Männchen heterogametisch ist, oder W- (≈ Y) und (Z/W-System) entspricht das Z-Chromosom in weiten Bereichen
Z-Chromosom (≈ X), wenn das Weibchen heterogametisch ist. den menschlichen Chromosomen 5, 9 und 18, und das ursprüng-
In einem Fall haben also die Weibchen die Geschlechtschromo- liche X-Chromosom der Theria (Beutelsäuger und Höhere Säu-
somenkonstitution XX, die Männchen die Konstitution XY, im getiere) weist Homologien zum Chromosom 4 des Huhns auf.
anderen die Weibchen die Geschlechtschromosomen WZ, die Das menschliche X-Chromosom umfasst etwa 155 Mb und
Männchen ZZ. enthält 1669 Gene; es repräsentiert damit etwa 5 % des mensch-
Nicht bei allen Organismen findet man unterschiedliche Ge- lichen Genoms und ist eines der größeren Chromosomen. Es ist
schlechtschromosomen in einem der Geschlechter. Bei manchen unter den Säugetieren relativ stark konserviert, und zwar in Be-
Tiergruppen besitzt das heterogametische Geschlecht lediglich zug auf Größe und Anordnung der Gene. Das X-Chromosom ist
ein Geschlechtschromosom im diploiden Satz, während dasselbe allerdings nicht für die Ausbildung eines weiblichen Phänotyps
Chromosom im homogametischen Geschlecht doppelt vor- verantwortlich – dieser entspricht vielmehr der »Grundeinstel-
handen ist. In diesem Fall kennzeichnen wir die Geschlechts- lung« des menschlichen Genoms. Das menschliche X-Chromo-
chromosomenkonstitutionen mit XX und X0. Wir können diese som enthält eine Reihe von »Haushaltsgenen« sowie Gene für
Beobachtung, mehr noch als die Strukturunterschiede in Orga- spezialisierte Funktionen, z. B. für das Farbensehen und für Blut-
nismen mit zwei verschiedenen Geschlechtschromosomen, als gerinnungsfaktoren. Allerdings enthält es eine Anhäufung von
Hinweis darauf verstehen, dass Geschlechtschromosomen funk- Genen, die für Männer Vorteile bringt: Da diese Gene in hemi-
tionell, also hinsichtlich ihrer genetischen Information, nicht zygoten Männern wirksam werden, wird ein neues Gen (bzw. ein
identisch sind. Im Prinzip sind die Geschlechtschromosomen im neues Allel) unmittelbar fixiert, wenn es für die Fortpflanzung
heterogametischen Geschlecht stets haploid, ein Zustand den des Mannes einen selektiven Vorteil bietet. Dieser Selektionspro-
man auch als hemizygot bezeichnet. Für die Ausprägung der auf zess ist unabhängig von der Funktion des Gens in Frauen, da
hemizygoten Chromosomen lokalisierten Gene hat das schwer- eine rezessive Variation in homogametischen Frauen selten eine
wiegende Konsequenzen, denn ein dort vorhandenes Allel wird phänotypische Bedeutung hat. Daneben finden wir auf dem
stets voll ausgeprägt, unabhängig davon, ob es im anderen (ho- X-Chromosom viele Gene, die für die Gehirnfunktion von Be-
mogametischen) Geschlecht rezessiv oder dominant erscheint deutung sind; Mutationen in diesen Genen führen zu Einschrän-
(7 Abschn. 13.3.3 und 7 Abschn. 13.3.4). Aus der Tatsache, dass kungen geistiger Fähigkeiten (mentale Retardierung; Beispiele
im homogametischen Geschlecht die entsprechenden Chromo- siehe 7 Kap. 13).
somen doppelt vorhanden sind, ergibt sich die zwangsläufige Wenn wir dagegen das menschliche Y-Chromosom betrach-
Folge, dass für dieses Chromosom eine Dosiskompensation er- ten, so erscheint es zunächst als ein degeneriertes Chromosom
folgen muss. Dafür gibt es verschiedene Mechanismen, die wir (etwa 60 Mb), das nur wenige Gene enthält (156 Transkriptions-
im 7 Abschn. 8.3 diskutieren werden. einheiten, davon codieren 78 für Proteine) und weitgehend von
der Rekombination ausgeschlossen ist. Wie in allen Säugetieren
> Bei vielen Organismen findet man Geschlechtschromoso- gibt es nur noch zwei kurze Regionen an den beiden Enden des
men (Heterosomen), die sich von den übrigen Chromoso- Y-Chromosoms, die mit dem X-Chromosom während der Mei-
men (Autosomen) dadurch unterscheiden, dass sie sich ose rekombinieren können – da sich diese Regionen wie Autoso-
trotz ihres homologen Charakters morphologisch unter- men verhalten, spricht man von »pseudoautosomalen Regionen«
scheiden. Während das eine Geschlecht zwei identische (PAR) mit einer Länge von 2,6 Mb am kurzen Arm und 0,3 Mb
Geschlechtschromosomen besitzt (es ist homogametisch), am langen Arm. Dazwischen befindet sich die »männliche« Re-
ist das andere durch zwei unterschiedliche Geschlechts- gion (engl. male-specific region of the Y, MSY). In dieser Region
chromosomen heterogametisch. Heterogametie kann befindet sich vor allem ein Gen, das für die Ausbildung des
im männlichen (X/Y-Chromosomen) oder weiblichen Ge- männlichen Phänotyps verantwortlich ist (SRY, engl. sex-deter-
schlecht (W/Z-Chromosomen) auftreten. In manchen mining region Y), sowie Gene, deren Verlust zu männlicher Un-
6.4 · Variabilität der Chromosomen
255 6
310 Mio. Jahre

220 Mio. Jahre 285 Mio. Jahre


166 Mio. Jahre

148 Mio. Jahre


90 Mio. Jahre

Eidechse Schlange Huhn Schnabeltier Känguru Maus Mensch


XY, ZW, TSD ZW ZW X 1 –X 5 XY XY XY
Y 1 –Y 5

1 4 15 18 5 X
6
Y X
Y

X5
Z W
X3 X4 Y5
X1 X2 4 3
Y4 5 9
Y3

Y2
Y1

. Abb. 6.36 Evolution der Geschlechtschromosomen mit abgeschätzten Daten der Trennung der Arten. Die Orthologie der Geschlechtschromosomen
und Autosomen ist durch verschiedene Farben für repräsentative Säuger und Vögel dargestellt. Ockerfarbene Regionen repräsentieren das ursprüngliche
ZW-System in Amnioten (Reptilien, Vögel und Säugetiere), das heute in Vögeln, Geckos und Kloakentieren anzutreffen ist. Die blaue Region wurde erst in
jüngerer Zeit in Beuteltieren und höheren Säugern zu X- und Y-Chromosomen. Die schwarze Region blieb mit Ausnahme der Säuger autosomal; hier wurde
die schwarze Region den X- und Y-Chromosomen hinzugefügt. TSD: Temperatur-abhängige Geschlechtsbestimmung. (Nach Livernois et al. 2012, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

fruchtbarkeit führen (. Abb. 6.37; für humangenetische Details unterschiedliche Inversionen auf den jeweiligen Chromosomen,
siehe auch 7 Abschn. 13.3.4). Etwa ein Drittel des Y-Chromosoms die Rekombinationen in der Meiose mehr und mehr verhinder-
besteht aus Euchromatin, die anderen zwei Drittel sind hetero- ten – und damit konnten sich die beiden so entstandenen Ge-
chromatisch. Der Bereich zwischen den beiden pseudoautoso- schlechtschromosomen unabhängig voneinander entwickeln.
malen Regionen (also MSY) ist von der Rekombination ausge- Ein weiteres Charakteristikum des Y-Chromosoms besteht da-
schlossen. rin, dass es immer vom Vater auf den Sohn weitergegeben wird,
Wie kam es nun zu dem Zustand, in dem sich unser Y-Chro- es gelangt nie in die weibliche Linie. Damit besteht die Möglich-
mosom heute befindet? Der erste und entscheidende Schritt in keit, dass sich auf dem Y-Chromosom solche Gene anhäufen, die
der Evolution eines Autosoms zum Y-Chromosom bestand die Anzahl der Nachkommen der jeweiligen Männer erhöhen –
wahrscheinlich darin, dass das Ur-Y-Chromosom ein Gen aufge- andere Gene werden dagegen eher verloren gehen. Genomweite
nommen hat, das für die Entwicklung des männlichen Ge- Sequenzanalysen stützen diese Hypothese auch für andere Spe-
schlechts entscheidend ist (das SRY-Gen). Unmittelbar damit zies. Wenn wir allerdings die jüngere Evolution des menschli-
verbunden ist die Unterdrückung von Rekombinationsereignis- chen Y-Chromosoms betrachten, zeigen sich interessante Unter-
sen zwischen den beiden ursprünglich homologen Chromoso- schiede zu anderen Y-Chromosomen bei Säugern; wir werden
men. Ein wichtiger Schritt in diesem Zusammenhang waren diese Aspekte im 7 Abschn. 15.1.1 besprechen.
256 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

PAR 5 Die Form der Chromosomen wird durch die Lage des Centro-
mers bestimmt. Über die Kinetochore dient das Centromer in
der Metaphase als Ansatz für die Spindelfasern, die für die Ver-
teilung der Chromatiden während der Zellteilung sorgen.
5 Weitere wichtige Strukturelemente der Chromosomen sind
deren Enden, die als Telomere bezeichnet werden. Chromoso-
MSY menarme ohne Telomere sind instabil.
5 Repetitive DNA-Elemente sind Grundbestandteile von Centro-
meren und Telomeren.
5 Der Hauptanteil chromosomaler Proteine dient der Verpackung
NPX der DNA, die trotz ihrer hohen negativen Ladung auf kleins-
tem Raum im Zellkern untergebracht werden muss. Demge-
Y
mäß sind stark basische Proteine zur Kompensation der nega-
6 tiven Ladungen der Phosphatgruppen der DNA notwendig.
In somatischem Gewebe dienen hierzu vor allem die Histone.
5 Je zwei Moleküle der Histone H2A, H2B, H3 und H4 bilden ein
Nukleosom, um das sich die DNA-Doppelhelix windet. Zur Sta-
bilisierung dient ein Molekül des Histons H1. Nukleosomen bil-
den eine 10-nm-Fibrille, die die niedrigste Organisationsstufe
der Chromatide darstellt. Im Chromosom gibt es Chromatin-
X
fibrillen höherer Ordnung, deren Organisation sich mit den
. Abb. 6.37 Das menschliche X- und Y-Chromosom im Vergleich. An bei- dynamischen Veränderungen der Chromosomen im Laufe des
den Enden befindet sich eine pseudoautosomale Region (PAR), die Rekom- Zellzyklus ändert.
bination zwischen den beiden Chromosomen an dieser Stelle ermöglicht.
Die jeweiligen Bereiche dazwischen können nicht rekombinieren (NPX,
5 In der Mitose werden die Chromosomen mithilfe des Spindel-
engl. non-pseudoautosomal portion of the X chromosome; MSY, engl. male- apparates auf die Tochterzellkerne verteilt.
specific portion of the Y chromosome). (Nach Arnold 2004, mit freundlicher 5 In der Keimbahn wird die Anzahl der Chromosomen in zwei
Genehmigung der Nature Publishing Group) Schritten auf den haploiden Zustand reduziert (Meiose): In der
ersten Zellteilung (Reduktionsteilung) werden die homologen
Chromosomen getrennt, in der zweiten Zellteilung (Äquations-
teilung) werden die Chromatiden getrennt.
> Geschlechtschromosomen entwickelten sich aus gewöhn- 5 Durch Austausch von Chromosomenbereichen zwischen homo-
lichen Autosomen, wobei das Y-Chromosom ein Gen trägt, logen Chromosomen (Rekombination) wird die Variabilität der
das für die Ausbildung des männlichen Geschlechts verant- genetischen Konstitution erhöht.
wortlich ist. Es gibt nur noch zwei kurze Regionen (PAR), 5 Neben reziproker Rekombination gibt es auch nicht-reziproke
an denen Rekombination zwischen den beiden Geschlechts- Rekombination (Genkonversion). Genkonversion erklärt sich
chromosomen möglich ist. Das Y-Gen enthält im Wesentli- durch die molekularen Mechanismen der Rekombination,
chen Gene, die für die männliche Reproduktion wichtig kann aber auch bei DNA-Neusynthese im Rahmen der DNA-
sind; viele andere Gene sind in der Evolution verloren ge- Reparatur auftreten.
gangen. Mehrere Palindrome ermöglichen intrachromoso- 5 Bei vielen Organismen findet man Geschlechtschromosomen
male Rekombinationen, sodass das Y-Chromosom als ein (Heterosomen), die sich von den übrigen Chromosomen (Auto-
dynamisches Chromosom betrachtet werden kann. somen) unterscheiden. Das Geschlecht mit zwei identischen
Geschlechtschromosomen wird als homogametisch bezeich-
net; das andere Geschlecht mit zwei unterschiedlichen Ge-
Kernaussagen schlechtschromosomen ist heterogametisch. Heterogametie
5 Chromosomen sind normalerweise nur im kondensierten Zu- kann im männlichen (X/Y-Chromosomen) oder im weiblichen
stand während der Pro-, Meta- und Anaphase der Mitose bzw. Geschlecht (W/Z-Chromosomen) auftreten.
Meiose im Lichtmikroskop sichtbar. 5 Geschlechtschromosomen entwickelten sich aus gewöhnli-
5 Die Grundeinheit eines Chromosoms ist die Chromatide; nach chen Autosomen, wobei das menschliche Y-Chromosom ein
der Replikation (aber vor der Verteilung auf die Tochterzellen) Gen trägt, das für die Ausbildung des männlichen Geschlechts
besteht ein Chromosom aus zwei identischen Schwesterchro- verantwortlich ist. Es gibt nur noch zwei kurze pseudoautoso-
matiden. male Regionen, an denen Rekombination zwischen X- und Y-
5 Durch verschiedene Färbemethoden können unterschiedliche Chromosom möglich ist. Mehrere Palindrome auf dem Y-Chro-
Bereiche auf den Chromosomen sichtbar gemacht werden mosom ermöglichen dagegen intrachromosomale Rekombi-
(Bänderung). nationen.
Literatur
257 6

Übungsfragen
1. Unterscheiden Sie Chromosomen, Chroma- 3. Worin besteht die Bedeutung der Meiose 5. Warum wird das menschliche Y-Chromo-
tiden und DNA-Doppelstrang. im Vergleich zur Mitose? som nicht aussterben?
2. Erläutern Sie die Funktion und Bedeutung 4. Was sind Riesenchromosomen?
der Telomerase.

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Technikbox
259 6

Technikbox 16

Chromosomenbänderung und chromosome painting


Anwendung: Identifizierung bestimmter Chro- delt. Die dunklen Banden bezeichnet man cin A3, Olivomycin, Mithramycin) gebunden
mosomen oder chromosomaler Regionen in dann als G-Banden, helle Banden sind G-ne- werden.
Präparaten von Pflanzen, Tieren und Men- gativ (. Abb. 6.2 und . Abb. 6.3). Neue Möglichkeiten der Chromosomen-
schen. Diese Techniken haben insbesondere in Q-Banden. Man färbt die Chromosomen mit identifizierung auch im Interphasekern, also
der diagnostischen Humangenetik große Be- einem Fluoreszenzfarbstoff, der bevorzugt im dekondensierten Zustand, bietet die in-situ-
deutung. an AT-reiche DNA bindet (z. B. Quinacrin, 4’,6- Hybridisierung mit einer Mischung unter-
Voraussetzungen: Gewinnung von Zellen, Diamino-2-phenylindol [DAPI] oder Hoechst schiedlich markierter, repetitiver DNA-Frag-
Wachstum der Zellen in Kultur, Arretierung der 33258), und betrachtet sie anschließend unter mente, die chromosomenspezifisch sind
Chromosomen in der Metaphase durch Zuga- UV-Licht. Die fluoreszierenden Banden be- (. Abb. 6.4). Nach geeigneten Erkennungs-
be von Colchicin in die Kultur und Analyse am zeichnet man als Q-Banden; sie sind identisch reaktionen für die markierten Nukleotide
Mikroskop. mit den G-Banden. (meist durch Bindung fluoreszenzmarkierter
Methode: In Metaphasechromosomen-Präpa- R-Banden. Dabei sind alle Banden gefärbt, Antikörper) lässt sich das betreffende Chromo-
raten wird nach unterschiedlicher Vorbehand- die G-negativ sind (reverses G-Bandenmuster). som hochspezifisch darstellen. Durch unter-
lung eine Bänderung der Chromosomen sicht- Man denaturiert die Chromosomen vor der schiedliche Markierungen verschiedener DNA-
bar: Giemsa-Färbung durch Erhitzen in einer Salz- Fragmente lassen sich auch mehrere Chromo-
G-Banden. Vor der Färbung mit Giemsa-Lösung, lösung; dabei denaturiert besonders die somen oder Chromosomenabschnitte gleich-
einem DNA-bindenden Farbstoff (Azurblau: AT-reiche DNA. R-Banden sind Q-negativ. zeitig differenziell färben (engl. chromosome
demethyliertes Methylenblau), werden die Dasselbe Muster erhält man, wenn GC-spezifi- painting; siehe auch in-situ-Hybridisierung,
Chromosomen kontrolliert mit Trypsin behan- sche Chromomycin-Farbstoffe (Chromomy- 7 Technikbox 30).

Colchicin, Alkaloid der Herbstzeitlose, Colchicum autumnale.


Die giftige Wirkung beruht auf einer Mitosehemmung, verur-
sacht durch Interaktionen mit Tubulin, dem Hauptbestandteil
der mitotischen Spindel. Durch die Bindung an Tubulin verhin-
Differenzielle Färbung von Chromosomen mit Fluoreszenzfarbstoffen. dern Colchicin und verwandte Verbindungen (wie Colcemid)
(Foto: Ilse Chubda) die Entstehung von Mikrotubuli
260 Kapitel 6 · Eukaryotische Chromosomen

Technikbox 17

Homologe Rekombination
Techniken zum gezielten Ersatz einer genomi- wieder entfernt. Das Experiment macht zu- Transformanten, die einen Austausch in der
schen DNA-Sequenz durch eine andere sind nächst von einer positiven Selektion, danach gewünschten Genomregion besitzen: Zufällige
heute in vielen Gebieten der Genetik von von einer negativen Selektion Gebrauch. Integration des Vektorkonstrukts in das Ge-
wesentlicher Bedeutung. Man nutzt für solche Im hier gezeigten Beispiel enthält das Vek- nom hat nämlich einen TK+- und HPRT+-Phäno-
Zwecke homologe Rekombinationsmechanis- torkonstrukt zwei Markergene. Einer dieser typ zur Folge. TK+-Zellen aber können durch
men (engl. site-specific recombination). Marker liegt innerhalb der Sequenzregion, die Behandlung mit dem Thymidinanalogon Gan-
Im Idealfall soll ein Rekombinationsexperi- bei der Rekombination ins Genom eingeführt cyclovir abgetötet werden. Die aus der ersten
ment dieser Art zum Austausch genomischer werden soll. Es kann beispielsweise das Transformation erhaltenen Zellen werden nun
DNA-Sequenzen führen. Eine solche Situation menschliche HPRT-Gen (HPRT: Hypoxanthin- in einem zweiten Schritt mit einem Vektor
lässt sich durch ein zweistufiges Experiment er- phosphoribosyltransferase) verwendet wer- transformiert, der lediglich die gewünschte
reichen, wie es im Folgenden dargestellt wird. den, wenn man HPRT−-Zellen zur Transforma- modifizierte Gensequenz (z. B. mit einer Punkt-
Es beruht auf dem Gebrauch von Replacement- tion verwendet und in HAT-Medium selektiert mutation) enthält. Durch eine erneute Gen-
6 Vektoren. Bei solchen Vektoren befindet sich ein (HAT-Medium: Hypoxanthin, Aminopterin, konversion im gewünschten Genbereich wird
Markergen innerhalb der Sequenz, die zur ge- Thymidin). Aminopterin blockiert die Synthese nun das HPRT-Gen durch die mutierte Gen-
nomischen DNA-Sequenz homolog ist. Der Ein- von Purinen und Thymidylat. Das Hypoxanthin sequenz ersetzt. Transformanten können als
satz solcher Vektoren erfordert ein doppeltes ermöglicht durch die HPRT die Purinsynthese. HPRT−-Zellen in Medium mit 6-Thioguanin se-
Rekombinationsereignis (Genkonversion!) in- Als zweites Markergen dient beispielsweise lektiert werden. Auf diese Weise ist der geziel-
nerhalb der homologen Sequenzbereiche. das Thymidinkinase-Gen (TK) von Herpes sim- te Ersatz eines Allels durch ein beliebig modifi-
Dem Genom wird hierbei zunächst zusätzlich plex. Es liegt außerhalb des homologen Se- ziertes Allel möglich, ohne dass zusätzliche
fremde DNA (die des Markergens) hinzugefügt. quenzbereichs. Selektiert man nach der Trans- fremde DNA im Genom verbleibt.
In einem zweiten Schritt wird dieses Markergen formation auf TK− und HPRT+, so erhält man
261 7

Molekulare Struktur und


Regulation eukaryotischer Gene

Das Hämoglobin-Tetramer wird aus vier Globinmolekülen aufgebaut, die eine komplexe dreidimensionale Struktur
bilden (Anbari et al. 2004, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

7.1 Protein-codierende Gene (I): Einzelkopiegene . . . . . . . . . . . . . . . 262


7.1.1 Fibroin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
7.1.2 Proopiomelanocortin – ein polycistronisches Gen . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
7.1.3 Titin – ein Riesengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

7.2 Protein-codierende Gene (II): Multigenfamilien . . . . . . . . . . . . . . 269


7.2.1 Globin-Genfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
7.2.2 Histon-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
7.2.3 Tubulin-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
7.2.4 Kristallin-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

7.3 Regulation eukaryotischer Genexpression . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279


7.3.1 Promotor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
7.3.2 Transkriptionsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
7.3.3 Enhancer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
7.3.4 Locus-Kontrollregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
262 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

Überblick

Die Struktur und Funktion eukaryotischer opiomelanocortin (Gensymbol: POMC) vor- werden jedoch in späteren Kapiteln weitere
Gene ist in vielerlei Hinsicht komplexer als die gestellt – eines der wenigen polycistroni- Beispiele kennenlernen.
prokaryotischer Gene, und das nicht nur we- schen Gene der Säugetiere, das posttranslatio- Die Kontrolle der Genexpression erfolgt auf
gen des wesentlich größeren Umfangs des nal in mehrere kleinere Proteine gespalten verschiedenen Ebenen und umfasst zunächst
Genoms, der Trennung von Transkription (im wird, darunter das Melanocyten-stimulierende Promotor, Enhancer und Locus-Kontrollregio-
Zellkern) und Translation (im Cytoplasma) und Hormon (MSH), das adrenocorticotrope Hor- nen. In diesem Zusammenhang werden wir
der großen funktionellen Differenzierungs- mon (ACTH) und β-Endorphin. Titin ist das auch die Transkriptionsfaktoren besprechen,
fähigkeit somatischer Zellen. Zu dieser höhe- dritte Beispiel und repräsentiert die Gruppe die mit den jeweiligen DNA-Elementen in
ren Komplexität gehören auch die Intron/ der »Riesengene«: Das Gen umfasst ca. Wechselwirkung treten und damit die RNA-Po-
Exon-Struktur und die Zusammenfassung 300 Mbp mit 363 Exons, die eine mRNA von lymerase in die Lage versetzen, die Transkrip-
vieler Gene zu Familien identischer oder ähn- über 100.000 Basen bilden und für ein Protein tion zu beginnen, sodass wir häufig eine zeitli-
licher DNA-Sequenzen. mit knapp 35.000 Aminosäuren codieren – che und räumliche Spezifität der Genexpression
Als ein Beispiel eines Einzelkopiegens das größte Protein, das wir beim Menschen beobachten können. Am Beispiel der Glucocor-
werden wir das Fibroin-Gen besprechen, das kennen. ticoid-Rezeptoren wollen wir dies aus der Sicht
der Hauptbestandteil der Seide ist. Wir lernen Die Globin-Genfamilie als Bausteine des eines Transkriptionsfaktors darstellen – umge-
dabei etwas über den modularen Aufbau eines Hämoglobins zeigt uns, wie durch evolutionä- kehrt zeigt die Betrachtung aus der Sicht des
7 Gens und wie sich darin auch schon ein Teil re Mechanismen verwandte, aber funktionell Insulin-Promotors, wie verschiedene Transkrip-
der biochemischen Funktion des Proteins wi- verschiedene Proteine entstehen können. His- tionsfaktoren und einzelne Metaboliten (hier:
derspiegeln kann. Als weiteres Beispiel eines ton-, Tubulin- und Kristallin-Gene runden die Glucose) miteinander kooperieren, um die
Einzelkopiegens wird das menschliche Pro- Beispiele für Multigenfamilien zunächst ab; wir Transkription des Insulin-Gens zu starten.

7.1 Protein-codierende Gene (I): Muskelmyosinkette (engl. myosin heavy polypeptide, Myh),
Einzelkopiegene während in Säugern mehrere Myh-Gene vorhanden sind.
Es lassen sich also nur bedingt Voraussagen über die geneti-
Die Zahl der Gene eines Genoms verändert sich während der sche Konstitution eines bestimmten Gens in einem be-
Evolution immer dann, wenn eine erbliche Änderung der Kopi- stimmten Organismus treffen, und man muss in unter-
enzahl eines Gens auftritt (verursacht durch Duplikation, Gen- schiedlichen Organismen mit jeweils anderen genetischen
verlust oder Polyploidisierung) und wenn die Individuen, die Konstitutionen rechnen.
diese Mutationen tragen, unterschiedlich viele Nachkommen
haben. So werden sich die Unterschiede in der Zahl der Gene Auch wenn der Aufbau von Proteinen nicht der zentrale Gegen-
entweder durch Zufall (»genetische Drift«, 7 Abschn. 11.5.2), als stand der Genetik, sondern vielmehr der Biochemie ist, sollen
Ergebnis einer besseren Überlebensfähigkeit oder einer höheren hier einige grundlegende Aspekte der Proteinstruktur kurz ange-
Reproduktionsrate verfestigen. Die Genomanalysen der letzten deutet werden. Wir können im Wesentlichen zwei Grundstruk-
Jahre haben deutlich gemacht, in welchem Ausmaß Gen- und turen unterscheiden, die α-Helix und das β-Faltblatt mit jeweils
Genomduplikationen in der Evolution vorkommen. Dabei stell- unterschiedlichen Eigenschaften (. Abb. 7.1).
te sich heraus, dass eine beachtenswerte Zahl von Genen eng
> Die α-Helixstruktur vergegenwärtigt die neben der
verwandt ist mit anderen Genen in demselben Genom; die Zahl
β-Faltblattstruktur wichtigste Proteingrundkonformation.
der Gene, die »jüngst« dupliziert wurden, variiert von Spezies zu
Beide Formen spielen eine große Rolle für die Entwick-
Spezies zwischen 11 % und 65 % (11,2 % bei Haemophilus in-
lung quarternärer Proteinstrukturen.
fluenzae, 27,5 % bei Drosophila melanogaster, 28,6 % bei Saccha-
romyces cerevisiae, 44,7 % bei Caenorhabditis elegans, 65 % bei
Arabidopsis thaliana; Otto und Yong 2002). Die Zahl der neuen 7.1.1 Fibroin
Duplikationen wird bei Fliegen auf etwa 31 Duplikationen pro
Genom und 1 Mio. Jahre geschätzt, auf 52 in Hefen und auf 383 Als ein erstes Beispiel für ein Einzelkopiegen soll an dieser Stelle
in Nematoden. Diese Häufigkeit von Duplikationen im Genom das Fibroin-Gen des Seidenspinners Bombyx mori näher bespro-
ist die Ursache dafür, dass wir heute immer mehr »Genfamilien« chen werden, das unter anderem wegen seiner praktischen Be-
entdecken. Wie sich aber schon aus diesen wenigen Beispielen deutung für die Seidenherstellung viel Interesse auf sich gezogen
ableiten lässt, ist die Situation in verschiedenen Organismen hat. Seide gehört zu den fibrillären Proteinen, die in tierischen
durchaus sehr unterschiedlich. Zellen in großen Mengen synthetisiert werden. Fibrilläre Pro-
teine kommen im Cytoskelett aller Zellen, in der extrazellulären
C Bei der Hefe Saccharomyces cerevisiae gibt es z. B. nur ein Matrix und in vielen spezialisierten Zelltypen wie Muskelzellen
einziges Gen für Aktin (ACT1), während in allen übrigen bis- oder keratinisierenden Zellen (Epithelzellen) vor. Seide gibt es in
her untersuchten Eukaryoten mehrere Aktin-Gene gefunden vielen unterschiedlichen Varietäten, und sie übersteigt in ihrer
wurden. Solche Unterschiede bestehen aber nicht nur zwi- Vielfalt die Variabilität anderer fibrillärer Proteine bei Weitem.
schen niederen und höheren Eukaryoten. So besitzt Droso- Das bekannteste Beispiel des Vorkommens von Seide ist der Ko-
phila beispielsweise nur ein einziges Gen für die schwere kon, den die Seidenspinnerraupe bei ihrer Verpuppung erzeugt.
7.1 · Protein-codierende Gene (I): Einzelkopiegene
263 7

C N

N C

0,54 nm
C N

Wasserstoff-
bindung

b C N
Seitenketten

. Abb. 7.1 Grundstruktur von Proteinen. a α-Helix. Die Peptidkette ist


schraubenartig (helikal) rechtshändig aufgewunden. Dabei windet sich die
Peptidkette im Uhrzeigersinn um die Helixachse (Blickrichtung NൺC; kleines
Bild). Die Wasserstoffbrückenbindungen stehen mehr oder weniger parallel
zur Helixachse. Eine C=O-Gruppe bildet immer mit der Aminogruppe des
viertnächsten Aminosäurerestes eine Wasserstoffbrückenbindung (die
Sauerstoffatome sind dunkelrot hervorgehoben). Die starren Ebenen der
Peptidbindungen sind parallel zur Helixachse angeordnet. Die Helix bildet
keinen Zylinder, sondern eine eckige Struktur mit den Cα-Atomen in den
Ecken (kleines Bild). Die Ganghöhe ist 0,54 nm; die Seitenketten sind radial
nach außen orientiert, sodass die Möglichkeiten einer sterischen Behinde-
rung minimalisiert sind. b β-Faltblatt. Die C=O-Gruppe bildet eine Wasser-
stoffbrückenbindung mit der Aminogruppe des drittnächsten Aminosäure-
restes; dadurch ändert die Peptidkette ihre Richtung um fast 180°. (Nach
a Christen und Jaussi 2005, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
264 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

Seide wird in ähnlicher Weise von vielen anderen Lepidopteren mRNA-Moleküle befinden, werden von jedem mRNA-Molekül
erzeugt, aber z. B. auch von Spinnen zum Bau ihrer Netze ver- in 4 Tagen etwa 105 Fibroinmoleküle hergestellt. Das würde be-
wendet. deuten, dass an jedem der beiden Allele in einer diploiden Zelle
Seide ist aufgrund ihrer besonderen Struktur, die einen wei- mehr als 104 Transkripte in jeder Sekunde synthetisiert werden
ten Bereich verschiedener Proteinkonformationen einschließt, müssten. Eine solche Syntheseleistung ist auch bei höchster
die stabilste Naturfaser. Sie hat daher sowohl theoretisches Inte- Transkriptionsrate nicht erreichbar. Die hohe Syntheserate von
resse im Zusammenhang mit dem Studium von Proteinketten- Fibroin hat daher bereits frühzeitig zu der Frage Anlass gegeben,
strukturen als auch praktische Beachtung wegen ihrer Bedeu- ob eine Amplifikation des Fibroin-Gens in den hinteren Seiden-
tung in der Seidenherstellung gefunden. Seidenproduzierende drüsen erfolgt. DNA-Messungen an den Seidendrüsen hatten
Schmetterlinge gehören zu den wenigen genetisch intensiv un- ergeben, dass jede Zelle der hinteren Seidendrüsen DNA enthält,
tersuchten Insekten. Hauptlieferant für Seide ist seit über 4000 wie sie einem Ploidiegrad der Zelle von 400.000 entsprechen würde.
Jahren der Seidenspinner, Bombyx mori. Zur Klärung der Frage, ob es hier zur Amplifikation der Fibroin-
Gene, ähnlich der der rDNA in Xenopus-Oocyten (7 Abschn. 3.5),
> Der Hauptbestandteil der Seide ist das Fibroin. Es wird
oder einfach zur Vervielfachung des Genoms durch Polyploidisie-
von einem Einzelkopiegen in bestimmten Zellen der
rung oder Polytänisierung kommt, wurden von Yoshiaki Suzuki
Seidendrüsen des Seidenspinners synthetisiert. Das Fi-
7 broin bildet zusammen mit anderen Proteinen den Sei-
Hybridisierungsexperimente durchgeführt. Diese bewiesen, dass
der relative Anteil der Fibroin-DNA im Verhältnis zur Gesamt-
denfaden, der seinem Aufbau aus fibrillären Proteinen
DNA (0,0022 %) in diploiden Zellen und in der hinteren Seiden-
seine besondere Stabilität verdankt. Ähnliche fibrilläre
drüse gleich ist. Damit war eine spezifische Amplifikation des
Proteine sind Bestandteile des Cytoskeletts der Zelle.
Fibroin-Gens ausgeschlossen (Suzuki et al. 1972). Auch eine
Für die Synthese des wichtigsten Bestandteils des Seidenfadens, Polytänisierung lässt sich ausschließen, da die Drüse keine Poly-
des Fibroins, ist das Fibroin-Gen verantwortlich. Am Aufbau des tänchromosomen besitzt. Die Drüsenzellen erzielen also ihre
Seidenfadens bei B. mori sind noch die Produkte eines weiteren hohe Syntheseleistung für Fibroin durch Polyploidisierung des
Fibroin-Gens, des Gens für die leichte Fibroinkette (engl. light gesamten Genoms um einen Faktor von etwa 105 bis 106.
chain fibroin gene), sowie die Produkte mindestens zweier Seri-
> Obwohl Fibroin in den Seidendrüsen der Seidenraupe
zin-Gene beteiligt. Die Synthese des Fibroins beginnt am 4. bis 5.
innerhalb weniger Tage in besonders großen Mengen
Tag des 5. Larvalstadiums der Raupe, und zwar ausschließlich in
synthetisiert wird, ist es im Genom nur als Einzelkopiegen
den großen hexagonalen Zellen der hinteren Seidendrüsen. Die
vorhanden. Die hohe Syntheseleistung wird durch ein
Seidenproteine werden im Lumen dieser Drüsen in Form einer
besonders hohes Maß von Polyploidisierung der Fibroin-
wässrigen Lösung gesammelt. Diese besteht zu 30 % aus Protein.
synthetisierenden Zellen ermöglicht.
Das ist eine Konzentration, die man in vitro gar nicht herstellen
kann, da sie unmittelbar zur Gelierung der Lösung führen würde. Das Fibroin-Gen von B. mori besteht aus zwei Exons (. Abb. 7.2),
Während das Fibroin im stark gefalteten hinteren (posterioren) die mRNA umfasst 16 kb und codiert für insgesamt 5263 Ami-
Teil der Drüse synthetisiert wird, entstehen die Serizinbestand- nosäuren; das entsprechende Protein hat ein Molekulargewicht
teile im mittleren Abschnitt der Drüse. Im vorderen (anterioren) von ca. 350.000 kDa. Jedes Exon codiert für kristalline und nicht-
Bereich der Drüse mischen sich beide Bestandteile miteinander kristalline Proteindomänen. Das Exon 1 enthält 25 bp, die nicht
und mit den Produkten der zweiten Drüse und werden dann translatiert werden, und 42 bp, die für 14 Aminosäuren codieren.
durch einen gemeinsamen ausführenden Gang als Seidenfaden Ein kurzes Intron (970 bp) befindet sich zwischen Exon 1 und
ausgeschieden. Dieser besteht daher aus zwei umeinander ge- Exon 2; Exon 2 besteht aus 12 repetitiven Unterdomänen, die in
wundenen Fibroinketten, die in eine Lage amorphen Serizins ihrer Größe zwischen 111 und 255 bp schwanken (für weitere
eingebettet sind. Der entstehende Seidenfaden ist nur schwer Details hinsichtlich der einzelnen Motive siehe . Abb. 7.2).
wieder in Lösung zu bringen. Die besondere Struktur des Fi- Der Aufbau dieses Polypeptids ist im Hinblick auf die Evolu-
broins wird durch die mechanische Streckung beim Spinnen er- tion seiner Struktur interessant. Die tandemartige Anordnung
zielt: Die Moleküle des Fibroins orientieren sich hierbei in einer der identischen Untereinheiten spricht sehr dafür, dass die heu-
Längsstruktur. tige Struktur des Gens im Laufe der Evolution durch Duplika-
Die Seidendrüsen beanspruchen schließlich bis zu 40 % des tionen von Grundsequenzen entstanden ist. DNA-Sequenz-
gesamten Körpergewichts der Larve. Sie vermögen innerhalb duplikationen spielen also nicht nur für die Vervielfachung gan-
von etwa 4 Tagen einen Seidenfaden von 13–25 μm Durchmesser zer Gene eine Rolle, sondern sind auch für die innere Struktur
und von bis zu 4000 m Länge zu produzieren. Mit dessen Hilfe von Genen wichtig. Es gibt auch andere Proteine, die einen
wird der Kokon geformt, aus dem nach weiteren 9 bis 14 Tagen gleichartigen Aufbau aus wiederholten gleichen oder sehr ähnli-
der Seidenspinner schlüpft. chen Untereinheiten zeigen. Zu diesen Proteinen gehören bei-
Das Fibroin wird von einem einzigen Gen im Genom des spielsweise die Proteine der Augenlinse (Kristalline).
Seidenspinners codiert. Das ist überraschend, wenn man sich die Die Hypothese, dass das Fibroin-Gen aus duplizierten Mo-
Menge an Genprodukt vor Augen hält, die in einer sehr kurzen dulen aufgebaut ist, wird auch dadurch unterstützt, dass hier die
Zeit bereitgestellt werden muss. Es werden in jeder Zelle der verschiedenen Codons für Alanin, Serin und Glycin nur selektiv
Drüse in 4 Tagen etwa 300 μg Fibroin gebildet, das sind etwa gebraucht werden. Für Glycin wird im Wesentlichen GGU und
1015 Fibroinmoleküle. Da sich in einer Zelle etwa 1010 Fibroin- GGA verwendet, für Serin UCA und für Alanin GCU. Wir be-
7.1 · Protein-codierende Gene (I): Einzelkopiegene
265 7
Wiederholungs-Motive Grenz-Motive
(kristalline Regionen)
GGAGCAGGAGCAGGAAGC

(GGNGCN) m GGNTCW (GGNGCN) n GGNTAY GGAGCTGCCTCT

Exon 1 Exon 2 3‘
A01 A02 A03 A04 A05 A06 A07 A08 A10 A11
5‘ R01 R02 R03 R05 R06 R07 R08 R09 R10 R11

R04 A09 R12


(nicht-kristalline Regionen)

GGTGCAGGAGCTGGTGCAGGTGCTGCCGCTGGTTCT

GGTGCGGGTGCCGGAGCTGGTTATG
GGAGCTGCTGCTTCT

. Abb. 7.2 Das Fibroin-Gen von B. mori. Die Wiederholungssequenzen des Fibroin-Gens sind hierarchisch organisiert. Das Diagramm zeigt den Aufbau aus
zwei Exons und einem Intron. Exon 2 enthält die integrierten kristallinen Wiederholungseinheiten, die nicht-kristallinen Regionen sowie die Grenzmotive.
Das Exon 2 ist aus 12 repetitiven Untereinheiten aufgebaut (R01–R12); dazwischen liegen Bereiche, die für amorphe Domänen codieren (A01–A11). Die ein-
zelnen Einheiten sind in der Größe variabel. n = 0–6; m = 1–8; N: jede Base; W: A oder T; Y: T oder C. (Nach Craig und Riekel 2002, mit freundlicher Genehmi-
gung von Elsevier)

gegnen hier einem Beispiel für selektiven Codongebrauch (engl. β-pleated sheets) aus den antiparallel gelagerten, durch Wasser-
codon usage), der darauf hinweist, dass auch die dritte Basenpo- stoffbrücken miteinander verbundenen Polypeptidketten ausbil-
sition eines Codons einem selektiven Evolutionsdruck unterlie- den können. Die Faltblattstrukturen sind für die hohe Stabilität
gen muss. des Seidenfadens verantwortlich (. Abb. 7.1). Die β-Faltblatt-
struktur ist in vielen fibrillären Proteinen und als Teilstruktur
> Das Gen für Fibroin ist ein Beispiel für den selektiven
globulärer Proteine zu finden. Die beim Fibroin zu beobachtende
Gebrauch von Codons (engl. codon usage), der bei vielen
Aneinanderlagerung von vier antiparallel orientierten Strängen
Eukaryoten als gruppenspezifisches Charakteristikum zu
wird auch in anderen Proteinfasern gefunden (. Abb. 7.3). Hier-
beobachten ist.
bei kann es generell zur Assoziation von zwei bis fünf Peptidket-
Aufgrund der repetitiven Genstruktur ist auch das Fibroin-Pro- ten kommen.
tein sehr gleichförmig. Es ist sehr reich an Glycin-, Serin- und Die gestreckte Anordnung der Fibroinmoleküle im Seidenfa-
Alanin-Resten und baut sich aus identisch wiederholten Unter- den wird durch die mechanischen Vorgänge während der Entste-
einheiten auf: hung des Seidenfadens beim Verlassen der Spinndrüse hervorge-
rufen. Eine gewisse Dehnbarkeit des Fadens wird durch einen
Gly – Ala – Gly – Ala – Gly – [Ser – Gly – (Ala –Gly)n]8 – Ser –
Tyrosin-Rest erzeugt, der im amorphen Endbereich der Mole-
Gly – Ala – Ala – Gly – Tyr.
küle liegt, aber auch dadurch, dass die Wasserstoffbrücken eine
Im Wesentlichen alternieren also in diesem Molekül Ser-Gly- leichte Kontraktion der im kristallinen Proteinbereich (β-Falt-
und Ala-Gly-Gruppen miteinander. Im Polypeptid weist das blätter) gestreckten Polypeptidketten verursachen. Diese fügen
Glycin als Seitenkette in die zur Alanin- oder Serinorientierung sich zudem unter einer geringfügigen Spiralisierung der Poly-
entgegengesetzte Richtung. Das hat zur Folge, dass sich im Sei- peptidketten aneinander. Auch das trägt zur Dehnbarkeit des
denfaden kristalline β-Faltblattstrukturen (engl. β-sheets oder Seidenfadens bei.
266 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

Neuere Entwicklungen ermöglichen die Herstellung steriler,


pyrogenfreier und biokompatibler Fäden; durch rationales
»Design« können künstliche Spinnenfäden in naher Zukunft
für viele biomedizinische Anwendungen entwickelt werden
(Rising et al. 2011).

7.1.2 Proopiomelanocortin –
ein polycistronisches Gen

Seit Mitte der 1960er-Jahre kennen wir Proteine, die durch prote-
olytische Spaltung aktiviert werden; das klassische Beispiel aus
dieser Zeit ist das Pro-Insulin, das durch Abspaltung der C-Kette
in die aktive Form überführt wird (7 Abschn. 13.4.3). Ein weite-
res  Beispiel sind Faktoren aus der Blutgerinnungskaskade; im
7 7 Abschn. 13.3.3 werden wir dazu den Faktor VIII kennenlernen.
Das Beispiel Proopiomelanocortin (Symbol für das menschliche
. Abb. 7.3 Aufbau eines Seidenmoleküls. Der Seidenfaden besteht aus Gen: POMC) ist insofern einzigartig, weil es nicht nur für ein
vier antiparallel (horizontale Pfeile) orientierten Fibroinmolekülen (rot). Die- Protein codiert, sondern gleich für mehrere, die durch Spaltungen
se antiparallel angeordneten Polypeptidketten bilden β-Faltblattstrukturen aus der Vorstufe des Proopiomelanocortins herausgeschnitten
(. Abb. 7.1) aus. Die Glycinseitenketten (kleine rote Kreise) je zweier Fibroin-
werden; wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem
moleküle einerseits und die Alanin- und Serinseitenketten (große grüne
Kreise) andererseits sind zueinander orientiert. Dieser Strukturaufbau zeigt
polycistronischen Gen. Das ist uns von Bakterien her schon in
die Bedeutung des Aufbaus des Polypeptids mit jeweils einem Glycin in je- einem anderen Kontext sehr vertraut, nämlich von dem Operon-
der zweiten Position der Ketten. Die unterschiedlichen Seitenketten der modell (7 Abschn. 4.5.2). . Abb. 7.4 zeigt die verschiedenen Spal-
Aminosäuren (Glycin einerseits, Alanin und Serin andererseits) bedingen tungsschnitte des POMC-Proteins und die daraus entstehenden
zugleich unterschiedliche Abstände der Moleküle (rechts angegeben).
Produkte.
(Nach Marsh et al. 1955, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
POMC ist ein kleines Gen auf dem menschlichen Chromo-
som 2: Es besteht aus drei Exons; davon ist das erste Exon nicht-
*stellen
Im Gegensatz zur Seidenproduktion durch Bombyx mori
Spinnen beim Bau ihres Netzes nur wenige Spinnen-
codierend – der Transkriptionsstart befindet sich also im zweiten
Exon. Das Transkript umfasst 1426 Basen und das primäre Trans-
fäden her, obwohl die Eigenschaften der Spinnenfäden viele lationsprodukt 267 Aminosäuren, was zu einem Molekularge-
Vorteile gegenüber denen der Seidenraupe besitzen: Sie wicht des ungeschnittenen Vorläuferproteins von 29,4 kDa führt.
sind dehnbarer, stabiler und weniger immunogen. Sie er- Dabei wird offensichtlich, dass die Exon-Intron-Struktur des
möglichen das Wachstum von Säugetierzellen in Kultur und POMC-Gens keinen Einfluss auf die posttranslationale Bearbei-
können ohne Abstoßungsreaktionen implantiert werden. tung von POMC hat. Das POMC-Gen wird bei Menschen vor
Deswegen gibt es viele Versuche, rekombinante Spinnen- allem im Hypothalamus und in der Hypophyse exprimiert; die
fäden für eine großtechnische Anwendung herzustellen. posttranslationalen Spaltmuster unterscheiden sich allerdings

POMC

NH2 COOH

ACTH β-LPH

γ3-MSH α-MSH CLIP γ-LPH β-end

γ1-MSH β-MSH
. Abb. 7.4 Proopiomelanocortin wird posttranslational gespalten (Pfeile); daraus entstehen verschiedene biologisch aktive Peptide (violett): das adreno-
corticotrope Hormon (ACTH), verschiedene Melanocyten-stimulierende Hormone (α-, β- und γ-MSH), verschiedene lipotrope Hormone (β- und γ-LPH), ein
Corticotropin-ähnliches Peptid (CLIP) sowie das β-Endorphin (β-end). (Nach Yeo und Heisler 2012, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)
7.1 · Protein-codierende Gene (I): Einzelkopiegene
267 7
aufgrund des unterschiedlichen Expressionsmusters der beteilig- Sprungfeder« (engl. molecular spring) der Muskeln und ist ein
ten Proteasen in den verschiedenen Geweben. Die durch die Spal- wichtiges Gerüstprotein, das den Zusammenbau der Myofibril-
tung gebildeten Peptidhormone wirken über verschiedene Rezep- len unterstützt. Eine Myofibrille besteht aus einer Kette identi-
toren, die auf der cytosolischen Seite an G-Proteine gekoppelt scher kontraktiler Einheiten, den Sarkomeren, die wiederum
sind; ihre Funktion ist dabei durchaus unterschiedlich: ACTH ist aus Myosin-, Aktin- und Titin-Filamenten aufgebaut sind (ne-
ein wichtiger Faktor für die Stressantwort und die Regulation der ben einer Reihe weiterer struktureller und regulatorischer Pro-
Glucocorticoide, MSH spielt bei der Ausprägung von Haar- und teine). Das Titinmolekül ist mit seinem Aminoterminus in der
Hautfarben eine Rolle, und die Endorphine sind als »endogene Z-Scheibe fest verankert und reicht dann bis zum Zentrum des
Opiate« bedeutsame Modulatoren der Schmerzempfindung. Sarkomers, der M-Linie – das entspricht einer Länge von 0,9–
Das POMC-Gen ist in seiner Grundstruktur ein sehr altes 1,5 μm, abhängig von der Dehnung des Sarkomers. Der Bereich
Gen der Wirbeltiere, das schon bei den Kieferlosen (Agnatha) zu des Titins unmittelbar im Anschluss an die Z-Scheibe ist relativ
finden ist; die Grundstruktur bezieht sich dabei auf die Anwesen- starr, danach beginnt der dehnbare Bereich bis zum Beginn des
heit von Sequenzen, die für ACTH-, MSH- und Endorphin-Vor- A-Streifens; dieser dehnbare Bereich ist verantwortlich für die
läufer codieren. In der Folgezeit entwickelte sich diese Grund- passive Spannung (die Federwirkung), die sich durch die Gleit-
struktur weiter, und wir finden heute bei verschiedenen Wirbel- bewegung der Myosinmoleküle ergibt. Einen Überblick über die
tieren unterschiedliche Peptidmuster, die nach der Spaltung Organisationsform der Sarkomere vermittelt . Abb. 7.6. Der
entstehen. dehnbare Bereich des Titinmoleküls besteht aus zwei Bereichen,
dem N2B-Element mit seiner einzigartigen Sequenz (engl.
*Mutationen im POMC-Gen des Menschen, die zu einem voll-
ständigen Funktionsverlust führen, konnten bisher nur in
unique sequence, Abk. US) sowie einem Bereich, der überwie-
gend aus den Aminosäuren Prolin, Glutaminsäure, Valin und
wenigen Kindern beobachtet werden. Sie führen zu früh Lysin aufgebaut ist und deswegen aufgrund des Ein-Buchsta-
einsetzender Fettleibigkeit, ACTH-Defizienz und roten Haa- ben-Codes für Aminosäuren (. Tab. 3.1) als PEVK-Domäne
ren. Mutationen in den codierenden Bereichen des POMC- bezeichnet wird.
Gens spielen bei etwa 1 % adipöser Patienten eine Rolle; Aufgrund seiner zentralen Stellung im Herzmuskel sind
man diskutiert daher Mutationen in regulatorischen Regio- Veränderungen im Titin-Protein natürlich wichtige Kandi-
nen des POMC-Gens als eine weitere wichtige Ursache für daten  für Herzerkrankungen. Besonders die N2B-US- und
allgemeine Formen von Fettleibigkeit. Für die Ausprägung die PEVK-Region können durch eine Reihe verschiedener
von roten Haaren kann dagegen auch eine Mutation im Re- Proteinkinasen phosphoryliert werden; diese Phosphorylie-
zeptor 1 des MSH-Liganden verantwortlich sein (MC1R): Der rungen beeinflussen die Elastizität der Federfunktion des
Funktionsverlust dieses Rezeptors führt zu einem Wechsel Titins in unterschiedlicher Weise. Besonders unter Patienten
der Bildung von Eumelanin zur Bildung von Phaeomelanin. mit dilatativer Kardiomyopathie findet man häufig verän-
Dieser Wechsel ist auch für die höhere Sonnenempfindlich- derte  Phosphorylierungsmuster. Diese Krankheit zeichnet
keit dieser Personen verantwortlich und erhöht das Risiko sich durch eine krankhafte Erweiterung (Dilatation) des
für Hautkrebs (Rees 2000, Krude et al. 2003). Herzmuskels aus, wodurch es zu einem fortschreitenden Ver-
lust der Auswurfleistung kommt. Unter genetischen Gesichts-
> Das Proopiomelanocortin-Gen (POMC) ist ein kleines Gen, punkten sind Mutationen (7 Kap. 10 und 7 Kap. 13) im Titin-
das posttranslational in veschiedene Peptidhormone Gen von besonderem Interesse. Dabei zeigen ca. 30 % der
gespalten wird. über 40-jährigen Patienten mit dilatativer Kardiomyopathie
Mutationen in dem Bereich des Titin-Gens, der für den
Abschnitt im A-Streifen codiert. Mutationen, die die
7.1.3 Titin – ein Riesengen Z-Scheibe  oder die M-Linie betreffen, werden dagegen
nicht beobachtet und sind wahrscheinlich mit dem Leben
Auf der anderen Seite der Extreme steht das Titin-Gen (Symbol nicht vereinbar.
für das menschliche Gen: TTN), das auch auf dem Chromosom 2
lokalisiert ist. Das humane TTN-Gen ist mit etwa 300.000 bp > Titin ist das größte bekannte Protein und spielt eine
zwar nicht das größte Gen – diesen Platz nimmt mit knapp zentrale Rolle beim Aufbau und der Elastizität der Zellen
2 Mio. bp das Duchenne-Muskeldystrophie-Gen ein (humanes der quergestreiften Muskulatur und im Herzen. Es enthält
Gensymbol: DMD) –, aber es codiert für das größte Protein mit einen elastischen Teil, der als »molekulare Sprungfeder«
38.138 Aminosäuren und einem Molekulargewicht von bezeichnet wird. Mutationen in diesem Bereich sind häufi-
4,2 Mio. kDa (die ursprüngliche Bezeichnung für Titin war ge Ursachen dilatativer Kardiomyopathien.
Connectin). Das TTN-Gen enthält 363 Exons, was zu mehreren
Variationen aufgrund unterschiedlichen Spleißens führt. Eine
Übersicht über die Exonstruktur gibt . Abb. 7.5a, und alternative
Spleißvarianten in verschiedenen Muskeln sind in . Abb. 7.5b
dargestellt.
Das Titin-Protein ist ein zentrales Protein der quergestreif-
ten Muskulatur und des Herzmuskels: Es wirkt als »molekulare
268 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

. Abb. 7.5 Exonstruktur des humanen Titin-Gens.


a Verschiedene funktionelle Domänen sind farbig
Z-Scheibe

gekennzeichnet: rot: Immunglobulin-ähnliche


Domäne; weiß: Fibronectin-3-ähnliche Domäne;
blau: einzigartige Domäne; grün: Z-Wiederholungs-
domäne; gelb: PEVK-Domäne; schwarz: Titin-Kinase-
Domäne. Zur Beschreibung der Funktionen siehe
Text. b Alternatives Spleißen der humanen Titin-RNA
in verschiedenen Muskeln. Als Beispiele für Skelett-
muskeln sind der Lendenmuskel (Psoas) und ein
Unterschenkelmuskel (Soleus) gezeigt, als Beispiele
Feder-Region

für den Herzmuskel die Varianten N2B und N2BA


(enthält beide N2-Domänen). Alle Formen haben
konstitutive Ig-Domänen (rot) und PEVK-Elemente
(gelb), die einzigartigen Domänen sind blau darge-
stellt. (a nach Taylor et al. 2011, mit freundlicher
Genehmigung der Amerikanischen Herz-Gesellschaft;
b nach Fukuda et al. 2008, mit freundlicher Geneh-
7 migung der Physiologischen Gesellschaft von Japan)
A-Streifen

Skelettmuskel
Psoas

Soleus

Herzmuskel

N2B

b N2BA

Myofibrille . Abb. 7.6 Lokalisation von Titin im


Sarkomer eines Herzmuskels. Das Sarkomer
Sarkomer erstreckt sich zwischen zwei Z-Scheiben und
H ä lfte H ä lfte enthält neben mehreren dunklen Streifen
I-Streifen A-Streifen I-Streifen auch hellere Zonen: An den Außenrändern
liegen zwei hell gefärbte I-Streifen, dazwi-
H-Zone
schen befindet sich der dunklere A-Streifen.
Z Aktin Myosin M C-Protein Z In der Mitte des A-Streifens liegt die hellere
Titin
H-Zone und in deren Mitte die dunkel an-
färbbare M-Linie. Das Titinmolekül ist mit
seinem Aminoterminus in der Z-Scheibe ver-
ankert und mit seinem Carboxyterminus in
der M-Linie. Die Immunglobulin-ähnlichen
Bereiche (Ig-Domänen) sind relativ starr,
wohingegen die N2B-US- und PEVK-Domä-
nen elastisch sind. (Nach Guo et al. 2010, mit
freundlicher Genehmigung von Hindawi)

N-Terminus C-Terminus N-Terminus

N2B-US
Ig-Domänen
PEVK
7.2 · Protein-codierende Gene (II): Multigenfamilien
269 7
7.2 Protein-codierende Gene (II): Das menschliche Blut enthält vom 6. Lebensmonat an fast aus-
Multigenfamilien schließlich HbA, das sich in zwei Fraktionen trennen lässt, HbA1
(97 %) und HbA2 (2,5 %), sowie eine kleine Menge an HbF
7.2.1 Globin-Genfamilie (0,5 %). Während die α-Ketten aller dieser Hämoglobinvarian-
ten gleich sind, unterscheiden sich die anderen beiden Ketten
Das Hämoglobin ist eines der am besten untersuchten eukary- voneinander: HbA1 besitzt zwei β-Ketten, HbA2 zwei δ-Ketten
otischen Proteine. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass und HbF zwei γ-Ketten (. Tab. 7.1). Der Name HbF erklärt sich
Blutkrankheiten, die auf Veränderungen dieses Proteinkomple- daher, dass das HbF den Hauptanteil des fötalen Hämoglobins
xes beruhen, sehr weit verbreitet sind und wegen ihrer schwer- ausmacht. Wie uns . Abb. 7.8 zeigt, werden im Laufe der Onto-
wiegenden physiologischen Folgen medizinisch große Bedeu- genese des Menschen verschiedene Hämoglobinketten syntheti-
tung besitzen (7 Abschn. 13.3). Als Sauerstoffüberträger ist das siert und in verschiedenen Kombinationen zu funktionsfähigen
Hämoglobin (Hb) in den Erythrocyten lebensnotwendig. Wich- Tetrameren zusammengefügt.
tige Schritte in der Analyse des Hämoglobins waren die Ermitt- Die Gründe für die Verwendung verschiedener Proteinket-
lung der vollständigen Aminosäuresequenz sowie die röntgen- ten unter unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen lassen
kristallographische Untersuchung, die das Strukturmodell des sich leicht verstehen, wenn wir die jeweiligen Bedingungen des
Hämoglobins ergab (. Abb. 7.7). Hämoglobin A (HbA) ist ein Sauerstoffaustausches beachten. Während der frühen Embryo-
Komplex aus vier Proteinketten, von denen je zwei identisch nalentwicklung besteht zunächst kein eigener Blutkreislauf.
sind. Sie werden als α- und β-Globinketten bezeichnet. Jede die- Unter diesen sehr ungünstigen Bedingungen wird der Sauer-
ser Ketten ist in sich gefaltet und schließt eine funktionelle stoffaustausch durch ein Hämoglobin mit besonders hoher Bin-
Gruppe ein, die Hämgruppe. Diese aus Porphyrinringen aufge- dungsaffinität für Sauerstoff versehen. Später, nach Entwicklung
baute Gruppe enthält ein zentral gelegenes Fe2+-Ion, das für die des embryonalen Blutkreislaufs, sind die Bedingungen der
Sauerstoff-bindende Funktion des Hämoglobins verantwortlich Sauerstoffversorgung des Fötus zwar günstiger, aber der Sauer-
ist.

> Das Hämoglobin ist ein Komplex aus vier Polypeptid- Dottersack
Knochenmark
ketten (Globinen) mit einer funktionellen Gruppe aus Leber
Porphyrinringen, die ein zentral gelegenes Fe2+-Ion ein-
schließen. Diese als Hämgruppe bezeichnete funktionelle
Gruppe ist für die Sauerstoff-übertragende Funktion a
des Hämoglobins verantwortlich.
Expressionsstärke

Milz

α
β
γ
b

ε
ζ
δ

Alter des
Embryos 6 18 30 Geburt
(Wochen)

ζ2ε2 α2γ2 c
ζ2γ2
α2β2
α2ε2

. Abb. 7.8 Entwicklungsspezifisches Expressionsmuster der Globinketten


. Abb. 7.7 Die tetramere Struktur des Hämoglobins. Das Hämoglobin ist in der menschlichen Entwicklung. a Während der ersten 3 Monate der Ent-
ein Komplex aus vier Proteinketten, je zwei identischen α- und zwei iden- wicklung wird Hämoglobin im Dottersack synthetisiert. Danach folgt eine
tischen β-Globinketten. Über 70 % des Proteins sind durch α-Helices charak- Phase, in der die Hauptsyntheseorte Leber und Milz sind. Hier wird haupt-
terisiert (Zylinder A–H; im α-Globin fehlt die Helix D). Im Mittelpunkt jeder sächlich das fötale Hämoglobin produziert. Ab der Geburt übernimmt das
Kette liegt die Hämgruppe, die für den Sauerstofftransport verantwortlich Knochenmark die Hämoglobinsynthese. b, c Die Phasen der Produktion der
ist. Die Kontaktpunkte der verschiedenen Ketten unterliegen Konforma- verschiedenen Hämoglobinketten sind angegeben. Die Expression der Glo-
tionsveränderungen bei Sauerstoffaufnahme und -abgabe. Die amino- und bin-Gene ist somit einer stark gewebespezifischen und entwicklungsspezi-
carboxyterminalen Regionen der Ketten sind gekennzeichnet. (Nach Löffler fischen Regulation der Transkription unterworfen. (Nach Brittain 2002, mit
und Petrides 2003, mit freundlicher Genehmigung von Springer) freundlicher Genehmigung von Elsevier)
270 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

den soll). Dabei sind die folgenden Gesichtspunkte von nähe-


. Tab. 7.1 Hämoglobinvarianten im Laufe der Ontogenese des
Menschen
rem Interesse:
4 Hämoglobin setzt sich aus mehreren ähnlichen Proteinen
Lebensalter Bezeichnung Hb-Ketten Anteil zusammen.
4 Diese Proteine werden nicht nur zu unterschiedlichen Zei-
Bis zur 8. Woche Hb Gower 1 ζ2 ε2 100 % ten während der Ontogenese synthetisiert,
Ab der 8. Woche HbF α2 γ2 4 sondern sie treten während der verschiedenen Entwick-
lungsstadien auch in verschiedenen Zelltypen auf.
+ Hb Gower 2 α2 ε2

+ Hb Portland ζ2 γ2 Wir müssen es also mit einer komplizierten Steuerung von Gen-
funktionen in Abhängigkeit von Zelldifferenzierungsprozessen
Ab Geburt HbA1 α2 β2 97 %
zu tun haben.
HbA2 α2 δ2 2,5 %

HbF α2 γ2 0,5 % C Die Entdeckung verschiedener Globinmoleküle in den


1960er-Jahren legte es nahe, anzunehmen, dass diese von
7 verschiedenen Genen codiert werden. Damit stellte sich als
Erstes die Frage nach der Lokalisation der zugehörigen
stoffaustausch mit dem mütterlichen Blut muss immer noch verschiedenen Globin-Gene im Genom. Durch vergleichen-
durch die Plazentabarriere erfolgen. Die Bindungsaffinität für de Stammbaumanalysen von Familien mit Hämoglobinano-
Sauerstoff kann nunmehr geringer sein, muss aber immer noch malien gelang es relativ bald zu erkennen, dass die Gene für
höher sein als nach der Geburt, wo ein ungehinderter Sauerstoff- die α- und β-Ketten entweder sehr weit voneinander entfernt
austausch in der Lunge erfolgen kann. im gleichen Chromosom oder sogar auf verschiedenen Chro-
Das Hämoglobin wird nach der Geburt ausschließlich in mosomen liegen müssen, da in Heterozygoten für α- und
den roten Blutkörperchen, den Erythrocyten, gefunden. Sie β-Varianten eine häufige Segregation dieser unterschiedli-
stammen von Stammzellen des hämatopoetischen Systems im chen Typen zu beobachten war. Hingegen ließ sich zunächst
Knochenmark ab (. Abb. 12.57). In frühen Entwicklungsstadien keine Rekombination zwischen β- und δ-Varianten finden,
besitzt der Fötus jedoch noch kein Knochenmark. Daher wird sodass man für diese beiden Ketten von einer engen Koppe-
Hämoglobin zunächst im Dottersack gebildet, später in der lung ausgehen musste. Die verfeinerte Analyse zeigte später,
Leber und der Milz. Erst ab dem 4. Lebensmonat des Embryos dass beide Gene tatsächlich sehr dicht benachbart sind,
beginnt im Knochenmark allmählich die Proliferation von da man Kombinationsmoleküle aus β- und δ-Ketten ent-
Retikulocyten, die sich im Blut zu Erythrocyten ausdifferen- deckte.
zieren. Gleichzeitig nimmt die Synthese von Hämoglobin in
Leber und Milz ab, sodass bereits kurz nach der Geburt aus- Die Zuordnung der α- und β-Ketten zu bestimmten Chromoso-
schließlich nur noch die Retikulocyten für die Hämoglobin- men wurde dann mithilfe von Zellhybriden möglich. Fusioniert
synthese verantwortlich sind (. Abb. 7.8). Erythrocyten besitzen man menschliche Zellen mit den Zellen von Mäusen, so verlieren
bei Säugern keinen Kern mehr, sind aber mit großen Mengen diese Hybridzellen allmählich Chromosomen, und zwar bevor-
Hb-mRNA beladen, sodass sie zur Hb-Synthese in der Lage zugt die menschlichen Chromosomen. Die Chromosomenkon-
sind. stitution solcher Hybridzelllinien kann man durch Chromoso-
menbänderung leicht ermitteln. Zudem sind die Hämoglobin-
> Die Zusammensetzung der Hämoglobinmoleküle verän-
Gene des Menschen und die der Maus so unterschiedlich, dass
dert sich während der fötalen Entwicklung und nach der
man sie in Nukleinsäure-Hybridisierungsexperimenten leicht
Geburt aufgrund der physiologischen Erfordernisse des
unterscheiden kann. Es gelang auf diese Weise, die β-Kette auf
Sauerstoffaustausches im Blut. Die Hämoglobinsynthese
dem Chromosom 11 und die α-Kette auf dem Chromosom 16
erfolgt je nach Lebensalter des Menschen in unterschied-
des Menschen zu lokalisieren.
lichen Geweben, ist nach der Geburt jedoch auf die Reti-
Nachdem in der Folge weitere Details der Lokalisation ver-
kulocyten beschränkt.
schiedener Globin-Gene bekannt wurden, gelang schließlich
Die Beschreibung des Hämoglobins gewährt uns einen interes- A. Efstratiadis und seinen Kollegen 1980 die Isolierung der
santen Einblick in den Ablauf wissenschaftlicher Forschung: DNA-Bereiche, die für die menschlichen Hämoglobin-Gene co-
Die Beobachtung verschiedener Blutkrankheiten (Thalassä- dieren. In der Folgezeit wurden auch die Globin-Gene veschie-
mien, Sichelzellenanämie; vgl. 7 Abschn. 13.3) führte zur Auf- dener anderer Säugetiere sequenziert. Dabei zeigte sich, dass
deckung der genetischen und dann der molekularen Ursache sowohl die α- als auch die β-Globin-Gene sehr komplexen evo-
dieser Krankheiten. Man lernte, die molekularen Grundlagen lutionären Veränderungen unterworfen sind, die dazu führen,
einer wichtigen Stoffwechselfunktion, der Sauerstoffübertra- dass viele Gene verdoppelt und andere wieder stillgelegt wurden;
gung, durch physikochemische Analysen zu verstehen. Die für Details siehe . Abb. 7.9.
weitere Aufschlüsselung des Systems führte uns zu allgemei- In der α-Globin-Gengruppe (engl. α-globin gene cluster)
nen Einsichten über die Art der Funktion eukaryotischer Gene sehen wir, dass innerhalb von etwa 30 kb DNA neben zwei iden-
(wie im Folgenden in mehreren Schritten noch sichtbar wer- tischen Kopien des α-Gens (α1 und α2) ein ζ-Gen (ζ2) (griech.
7.2 · Protein-codierende Gene (II): Multigenfamilien
271 7
0 20 40 60 80 100 120 140 kb

εI εII ψβX βC εIII εIV ψβZ βA εV εVI ψβY βF

Ziege β

ε γ ψη δ β

Galago β

ε Gγ Aγ ψη δ β
Mensch β

ε γ ψδ β

Kaninchen β

γ bh0 bh1 bh2 bh3 b1 b2

Maus β

I
ζ α IIα
Ziege α

ζ ψζ α2 α1 γα
Pferd α

ψα2
ζ2 ζ1 ψα1 α2 α1 θ
Mensch α . Abb. 7.9 Die Globin-Gengruppen. In allen Organismen mit Globin-Genen
haben sich mehrere, funktionell verschiedene Globin-Gene entwickelt. Die
Gruppe der β-Globin-Gene liegt beim Menschen auf dem Chromosom 11
ζ0 ζ1 α θ1 ζ2 ζ3 θ2 ζ ζ θ ζ ζ θ und die der α-Globin-Gene auf dem Chromosom 16. Beide Gruppen enthal-
Kaninchen α ten mehrere Pseudogene (durch ψ gekennzeichnet); bei vielen Säugetieren
wurden einzelne oder mehrere Gene verdoppelt oder stillgelegt (Pseudo-
gene). Die Gene sind so über etwa 10 kb (α-Globin-Gruppe der Ziege) bzw.
ζ α1 α2 mehr als 140 kb (β-Globin-Gruppe der Ziege) verteilt. Die Gene werden
Maus α in unterschiedlichen Zeiträumen während des Lebens exprimiert. (Nach
Hardison 1998, mit freundlicher Genehmigung der Company of Biologists)

Buchstabe zeta: ζ) vorhanden ist. Darüber hinaus gibt es weitere für beide Gruppen gilt, kann man davon ausgehen, dass diese
Gensequenzen, die als ψα1 und ψζ1 (griech. Buchstabe psi: ψ) Anordnung nicht zufällig ist. Der strukturelle Zusammenhang
bezeichnet werden. Die DNA-Sequenzanalyse ließ erkennen, der Globin-Gene wird noch deutlicher, wenn man die Amino-
dass es sich um unvollständige, nicht funktionsfähige Gen- säuresequenzen der aufeinanderfolgenden Gene, z. B. in der
kopien handelt. Sie werden deshalb als Pseudogene (daher psi) β-Globin-Gruppe, vergleicht (. Tab. 7.2). Alle Globinketten der
bezeichnet. β-Gruppe besitzen 146 Aminosäuren. Die β- und δ-Ketten un-
In der β-Globin-Gengruppe (engl. β-globin gene cluster) sind terscheiden sich in 10 der Aminosäuren, die β- und γ-Ketten in
innerhalb einer DNA-Gesamtlänge von 50 kb neben den Genen 40 Aminosäuren, während die beiden γ-Ketten (Gγ und Aγ) sich
für die namensgebende β-Kette auch noch Gene für die δ-Kette nur in einer einzigen Aminosäure (Position 136) unterscheiden.
und die ε-Kette sowie zwei Gene für γ-Ketten (Gγ und Aγ) vor- Die Divergenz der Aminosäuresequenzen wird also mit wach-
handen, die sich nur geringfügig voneinander unterscheiden sendem Abstand auf dem Chromosom größer. Es liegt daher
(. Tab. 7.2). Außerdem finden sich auch hier zwei Pseudogene nahe, anzunehmen, dass zwischen diesen Genen ein bestimmter
(ψβ1 und ψβ2). evolutionärer Zusammenhang besteht.
Sieht man sich beide Globin-Gengruppen an, so fällt auf, dass Die Globin-Genfamilie enthält Gene, die in mehreren Kopien
die verschiedenen Gene in der Reihenfolge ihrer Aktivität wäh- in tandemartiger Anordnung im Genom vorkommen. Die meis-
rend der Ontogenese angeordnet sind (vgl. . Abb. 7.8). Da das ten der Globin-Gene sind strukturell und funktionell verschie-
272 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

. Tab. 7.2 Einige Struktureigenschaften der menschlichen Globin-Gene

Gen Länge (AS) Introns Anzahl AS-Substitutionen Verglichen mit

α-Globin 141 2 – –
α1-Globin 141 2 – –
α2-Globin 141 2 0 α1-Globin
ζ2-Globin 141 2 60 α1-Globin
θ2-Globin 141 2 58 α1-Globin

β-Globin 146 2 78 (von 141) α-Globin


ε-Globin 146 2 36 β-Globin
Aγ-Globin 147 2 40 β-Globin
Gγ-Globin 147 2 1 Aγ-Globin

δ-Globin 146 2 10 β-Globin

Leghämoglobin 143 3 – –

7 Myoglobin 153 2 – –

Neuroglobin 151 3 – –

Nach ENSEMBL-Datenbank

den. Man geht davon aus, dass sich die Genfamilie im Laufe der Komplex besitzt zwei eindeutige β-Globin-Pseudogene,
Evolution durch Verdopplungsmechanismen vermehrt hat. Die deren phylogenetische Ursprünge die gesamte antarktische
Globin-Gene haben dadurch im Laufe ihrer Evolution die Mög- Notothenoid-Radiation umfassen; dieser Befund lässt sich
lichkeit zur differenzierten Anpassung an unterschiedliche Stoff- durch die Einführung dieses Gens durch wiederholtes Ein-
wechselsituationen erhalten. Insekten und niedere Vertebraten kreuzen aus einer anderen Population erklären (Introgres-
besitzen nur ein oder zwei Globin-Gene, während das Entstehen sion). Am wahrscheinlichsten erscheint ein Szenario, dass in
einer embryonalen Entwicklungsform bei Säugern mit weiteren der Evolution der Globin-Gene der Eisfische ein Verlust des
Verdopplungsschritten und mit der Aufspaltung in embryonale, transkriptionell aktiven α/β-Globin-Genkomplexes statt-
fötale und adulte Globine einhergeht. Der kritischen Situation der gefunden hat, bevor sich die jetzt existierenden Spezies
Sauerstoffversorgung durch die Plazenta hinweg wird durch die voneinander getrennt haben. Während der weiteren Evolu-
Entstehung geeigneter Proteine mit höherer Sauerstoffaffinität tion wurden zwei Alleltypen fixiert: das α-Globin-Pseudogen
Rechnung getragen. Auf die für die Entstehung von Pseudogenen in der Mehrheit der Spezies und der inaktive α/β-Globin-
verantwortlichen Mechanismen werden wir, ebenso wie auf Ver- Genkomplex in N. ionah (Near et al. 2006).
mehrungsmechanismen für chromosomale DNA, an anderer
Stelle noch zurückkommen (7 Abschn. 9.3.3).
Evolution der Globin-Gene
> Die für die Synthese der verschiedenen Globinketten er- Noch bevor man mehr über die strukturelle Anordnung der
forderlichen Gene liegen bei Säugetieren in zwei Gruppen verschiedenen Globin-Gene im Genom wusste, nahm man auf-
(engl. cluster) auf zwei verschiedenen Chromosomen. In grund der Aminosäuresequenz der verschiedenen Globinketten
der Evolution waren diese Gruppen starken Veränderun- an, dass es sich um eine Genfamilie handelt, die sich im Laufe
gen unterworfen. Die Anordnung der funktionellen Gene der Evolution nach und nach durch mehrere Genduplikations-
in jeder Gruppe entspricht der Folge ihrer Aktivierung im schritte entwickelt hat. Diese Überlegungen beruhten nicht
Laufe der Ontogenese. allein auf der Kenntnis der menschlichen Hämoglobine, son-
dern bezogen den Vergleich der Hämoglobine und verwandter
*Die antarktischen Krokodileisfische (Familie Channichthyidae,
Unterordnung Notothenioidei) sind die einzigen Wirbeltiere,
Moleküle wie Myoglobin aus anderen Organismengruppen
mit ein. Neuere Arbeiten haben die Familie der Globin-Gene
deren Blut kein Hämoglobin enthält. Dieser überraschende noch um zwei weitere Mitglieder erweitert: Neuroglobin und
Befund ist in vielen Eisfisch-Spezies mit Deletionen der Cytoglobin. Das Myoglobin ist ein Protein, das in der Musku-
Globin-Gene assoziiert, die in den rotblütigen Knochenfisch- latur den Sauerstofftransport übernimmt. Das Neuroglobin
Spezies typischerweise als eng gekoppelte Paare von α- und wird überwiegend in den Nervenzellen exprimiert. Man ver-
β-Globin-Genen angeordnet sind. 15 der 16 Eisfisch-Spezies mutet, dass es eine Schutzfunktion bei der Sauerstoffunterver-
haben das β-Globin-Gen verloren, aber ein verkürztes sorgung hat und Sauerstoff schneller zu den Mitochondrien
α-Globin-Pseudogen behalten. Eine Eisfisch-Spezies (Neo- transportieren kann. Das Cytoglobin (auch bekannt unter der
pagetopsis ionah) besitzt einen kompletten α/β-Globin- Bezeichnung Histoglobin) kommt in vielen verschiedenen Ge-
Genkomplex, der allerdings funktionell inaktiv ist. Dieser weben in unterschiedlicher Menge vor; auch dieses Protein
7.2 · Protein-codierende Gene (II): Multigenfamilien
273 7

. Abb. 7.10 Evolutionäres Modell der menschlichen Globin-Gene. Die unterschiedlichen Chromosomen, auf denen die menschlichen Globin-Gene
lokalisiert sind, sind oben angegeben. Funktionelle Gene sind farbig, Pseudogene grau. (Nach Pesce et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group)

dient wahrscheinlich der Sauerstoffversorgung der Zellen. Für als entwicklungsgeschichtlich älter als die schon lange be-
beide Proteine wird darüber hinaus aber auch eine Sauerstoff- kannten Hämoglobine.
verbrauchende Funktion bzw. die eines Sauerstoffsensors ver-
mutet. > Die Globin-Gene haben sich im Laufe der Evolution
Aufgrund der Abweichungen und Ähnlichkeiten der DNA- durch mehrere aufeinanderfolgende Duplikationen
bzw. Aminosäuresequenzen kann man einen Stammbaum der aus einem ursprünglichen Globin-Gen entwickelt.
Globin-Gene entwerfen. Er gibt den einfachsten Entwicklungs- Ihre evolutionäre Geschichte konnte durch Vergleiche
weg im Laufe der Evolution zwischen den verschiedenen Mole- der Veränderungen in den DNA-Sequenzen aufgeklärt
külen wieder (Parsinomieprinzip: der direkte Weg, auf dem man werden.

*Das
eine phylogenetische Entwicklung ableiten kann). Noch vor der
Aufspaltung der α- und β-Globin-Genfamilien müssen verschie- Neuroglobin der Fische unterscheidet sich von dem der
dene Duplikationsschritte erfolgt sein, die zunächst das Neuro- Säuger durch einige zusätzliche Aminosäuren am N- und
globin von der gesamten Genfamilie vor ca. 800 Mio. Jahren C-Terminus. Wie wir oben schon gesehen haben, besitzen die
abspalteten. Die nächste Duplikationsrunde (vor ca. 600 Mio. Krokodileisfische des Südpolarmeeres keine Gene für Hämo-
Jahren) ergab die Vorläufer der Hämoglobine einerseits und der globine oder für Myoglobine – aber Neuroglobin! Die Funk-
Cyto-/Myoglobine andererseits . Abb. 7.10). Weitere Duplika- tion des Neuroglobins ist deshalb derzeit Gegenstand inten-
tionen vor ca. 450 Mio. Jahren führten dann zur getrennten Ent- siver Diskussionen: Ist es ein »Ersatz« für das Hämoglobin
wicklung des Cytoglobins und Myoglobins sowie der α- und in Bezug auf den Sauerstofftransport, oder hat es eine voll-
β-Globine; die weitere Entwicklung der Hämoglobine ist dann ständig andere, zusätzliche Funktion, die durch die Mutatio-
entwicklungsgeschichtlich wesentlich jünger. Bei der Betrach- nen verstärkt wird, die nur bei den Eisfischen vorkommen?
tung der Intron-Exon-Struktur der α- und β-Globin-Gene fällt Eine Hypothese besteht darin, dass diese Mutationen zu
auch auf, dass die Lage und Länge der Introns fast in demselben einer höheren Flexibilität des Proteins führen, die in der Kälte
Maß konserviert ist wie die der Exons. für seine biochemische Funktion wichtig ist – und Letztere
könnte darin bestehen, dass Neuroglobin einen Schutz vor
C Die Entdeckung der Cyto- und Neuroglobin-Gene ist ein aktiven Stickstoffspezies (z. B. NO) bildet. Einen Überblick
Erfolg der systematischen Sequenzierung des menschlichen über die aktuelle Debatte findet sich in der Arbeit von
Genoms und einiger Modellorganismen wie Maus und Giordano et al. (2012).
Zebrafisch. Beide Gene wurden zunächst in den EST-Daten-
banken (engl. expressed sequence tag, EST) unter vielen,
nicht zugeordneten cDNA-Sequenzen gefunden. Das ent- 7.2.2 Histon-Gene
sprechende Gen der Ratte wurde durch einen systemati-
schen Ansatz der Proteinanalytik identifiziert, als hochregu- Hinsichtlich ihrer Nukleotidsequenz gehören die Gene für die
lierte Proteine in einer fibrotischen Leber untersucht wur- Histone zu den evolutionär am besten erhaltenen Multigenfami-
den. Beide »neuen« Gene erwiesen sich in der Folge jedoch lien. Das ist angesichts der Funktion der Histone als Strukturbe-
274 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

. Tab. 7.3 Histon-Gene

Art Kopienanzahl (n) Anordnung der Gene

Saccharomyces cerevisiae 2 Gegenläufig

Drosophila melanogaster 100 Teilweise gegenläufig in Gruppen

Drosophila hydei 120 Teilweise gegenläufig in Gruppen

Strongylocentrotus purpuratus 500 Gleiche Orientierung in Gruppen

Notophthalmus viridescens 700 Teilweise gegenläufig in Gruppen

Xenopus 25 Teilweise gegenläufig in Gruppen

Huhn 10 + 1 Teilweise gegenläufig in Gruppen

Mensch 10–25 In Gruppen

7
6p21.3-22
H1
H2A
H2B
H3
H4
H2A
H2B
H4 22q13.1
H1
H2A H1°
17q21
H2B
H3
H4 HILS.1
22

17q25

H3.3B
4q24 17

H2A.Z 11q23,2

H2A.X
1q21
H2A
H2B
H3
H4
H2A 11
H2B

1q41
H3.3A . Abb. 7.11 Schematische Darstellung der Verteilung von Histon-Genen
1q42
auf die menschlichen Chromosomen. Jeder Punkt repräsentiert ein Histon-
H3t
Gen. Die einzelnen Klassen sind durch unterschiedliche Farben dargestellt.
Rechtecke repräsentieren die Ersatz-Histone. (Mit freundlicher Genehmigung
1 von Detlef Doenecke, Göttingen, 2010)
7.2 · Protein-codierende Gene (II): Multigenfamilien
275 7
standteile der Nukleosomen nicht überraschend (. Abb. 6.13). Histone, die besonders in Geweben mit geringer Teilungsrate
Wir unterscheiden zunächst fünf Klassen von Histonen, die exprimiert werden, z. B. überwiegend in ausdifferenzierten Le-
als H1, H2A, H2B, H3 und H4 bezeichnet werden. In Säuge- ber-, Nieren- und Gehirnzellen. Diese Histone können also auch
tieren wurden in allen Histonklassen (ausgenommen H4) wei- unabhängig von der S-Phase gebildet werden und werden als
tere Untertypen identifiziert. Die variantenreichste Klasse ist Ersatz-Histone (engl. replacement) bezeichnet; dazu gehören die
dabei die der H1-Histone: Hier kennen wir sieben verschie- H10-, H2A.X-, H2A.Z- und H3.3B-Histone. Diese Ersatz-Histo-
dene Untertypen, die als H1.1 bis H1.5, H10 und H1t bezeich- ne liegen außerhalb der oben erwähnten Gruppen; so befindet
net  werden. Auch für die stärker konservierten Klassen der sich das menschliche H10-Histon-Gen auf dem Chromosom 22.
Histone H2A, H2B und H3 sind verschiedene Untertypen be- Alle bekannten S-Phase-abhängigen Histon-Gene besitzen
schrieben. keine Introns und haben vergleichsweise kurze 5’- und 3’-un-
Während der Replikation müssen große Mengen von Histo- translatierte Regionen. Ihr 3’-Ende ist gekennzeichnet durch ein
nen zur Bildung neuer Nukleosomen bereitgestellt werden. Das invertiertes Wiederholungselement, das möglicherweise zu einer
erklärt eine Kopplung der Histonsynthese an die Regulation des Haarnadelschleife der mRNA führt. Diese Struktur ist an der
Zellzyklus. Besonders hoch ist der Bedarf an Histonen in Zellen, koordinierten Reifung der Histon-mRNA und der Regulation
die sich schnell teilen; also vor allem während der frühembryo- ihrer Lebenszeit während der S-Phase beteiligt. Diese spezifi-
nalen Entwicklung. Dies ist sicher ein Grund für die Vielzahl der schen Symmetrieelemente kommen bei den Ersatz-Histonen
Histon-Gene im Genom. Trotz der evolutionären Erhaltung der nicht vor, die dafür aber verhältnismäßig lange und polyade-
Aminosäuresequenzen zumindest einiger der Histone ist die An- nylierte 3’-Regionen enthalten.
ordnung ihrer Gene im Genom jedoch sehr unterschiedlich. Ein wichtiges Element für die Regulation des funktionellen
Die Mehrzahl der Histon-Gene ist in Gruppen (engl. cluster) Zustandes der Histonproteine sind posttranslationale Modifi-
organisiert (. Tab. 7.3). Mit Ausnahme von Vögeln und Säugetie- kationen. Besondere Bedeutung haben dabei vor allem Phos-
ren bilden die Wiederholungen der H1-Gene und den Genen für phorylierung, Acetylierung und Methylierung, aber auch Ubi-
die vier Kern-Histone H2A, H2B, H3 und H4 tandemartige Mus- quitinierung und ADP-Ribosylierung sind bekannt. Diese Ver-
ter. Zusätzlich zu diesen Hauptgruppen gibt es auch kleinere änderungen spielen sich vor allem an den nach außen abstehen-
Gruppen; es wurden auch einzelne Histon-Gene beobachtet. Die den N-terminalen Bereichen der Histone ab (7 Abschn. 8.1.3).
Histon-Gene bei Vögeln und Säugetieren kommen ebenso in
Gruppen vor, bilden aber keine tandemartigen Wiederholungs- > Die Struktur der Histon-Gene und die Weiterverarbeitung
muster. Die Hauptgruppe der menschlichen Histon-Gene liegt ihrer prä-mRNAs unterscheiden sich von den meisten an-
auf dem Chromosom 6 (6p21.3). Es enthält die Gene für die fünf deren eukaryotischen Protein-codierenden Genen. Die
wichtigsten H1-Histone (H1.1 bis H1.5), das H1t-Gen und in der meisten Histone besitzen weder Introns noch einen
Nachbarschaft Gene für die Kern-Histone. Eine zweite, kleinere Poly(A)-Schwanz.
Gruppe befindet sich auf dem Chromosom 1 (1q21) und besteht
nur aus Genen, die für Kern-Histone codieren (. Abb. 7.11). Eine
entsprechende Organisation wurde auch für die Maus und die 7.2.3 Tubulin-Gene
Ratte beschrieben.
Wie oben bereits angedeutet, ist es notwendig, dass während Tubuline sind als Grundbausteine der Mikrotubuli unverzicht-
der S-Phase Histone für die neu synthetisierte DNA in stöchio- bare Strukturelemente von Zellen. Ihre Aminosäuresequenz ist,
metrischer Menge bereitgestellt wird. Nun gibt es aber einige zumindest in den funktionell wichtigen Proteinregionen, in ver-

. Abb. 7.12 Elektronenmikroskopische Aufnahmen von


a b Mikrotubuli. a Schnitt durch eine Säugetiercentriole, die den
typischen Kranz von neun Mikrotubuli-Tripletts zeigt.
b Längsschnitt durch eine Trypanosomen-Zelle, die den
Basalkörper einer Flagelle zeigt. Basalkörper an der Basis von
Flagellen (und Cilien) sind strukturell den Centriolen ähnlich
und zeigen eine 9-fache Symmetrie. Ebenso ist in der Nähe
des Basalkörpers der Kinetoplast sichtbar, eine Organelle,
die das mitochondriale Genom der Trypanosomen enthält
und mit dem Basalkörper durch eine Serie von Filamenten
verbunden ist. f: Flagelle, bb: Basalkörper, k: Kinetoplast,
m: Mitochondrium. (Nach McKean et al. 2001, mit freundlicher
Genehmigung der Company of Biologists)
276 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

ftgZ- E. coli
ι Paramecium ι
κ Paramecium
Saccharomyces
Trypanosoma
588 Arabidopsis
Plasmodium
Chlamydomonas
Paramecium α
Giardia
979
Homo
Xenopus
Drosophila
Ciona
θ -Paramecium
Saccharomyces
782
7 Trypanosoma
Arabidopsis
Chlamydomonas
Paramecium β
Plasmodium
Giardia
Drosophila
Homo
Xenopus
Ciona
950 Saccharomyces
Giardia
Plasmodium
Trypanosoma
Paramecium
Arabidopsis γ
Chlamydomonas
Drosophila
Ciona
Homo
Xenopus
Giardia
Plasmodium
Trypanosoma
Ciona
Homo
ε
Xenopus
Chlamydomonas
Paramecium
Trypanosoma ζ
Chlamydomonas
Paramecium
η
Ciona
Xenopus
Chlamydomonas
Ciona
Homo
Xenopus
. Abb. 7.13 Stammbaum der Tubulin-Gene in verschiedenen Organismen. Die Zahlen δ
an den Verzweigungen geben ihre Häufigkeit an (Bootstrap-Nummern). Die Bootstrap-
Paramecium
Nummern sind für die δ-, ζ- und η-Tubulin-Gene nicht eindeutig und daher weggelassen. Plasmodium
Das ftsZ-Gen von Escherichia coli wurde als Referenz verwendet. (Nach Dutcher 2003, Giardia
mit freundlicher Genehmigung von Elsevier) Trypanosoma
7.2 · Protein-codierende Gene (II): Multigenfamilien
277 7
schiedenen Organismengruppen weitgehend unverändert erhal- nismen haben im Allgemeinen eine oder zwei Kopien der α-, β-
ten. Für den Aufbau von Mikrotubuli sind im Wesentlichen zwei oder γ-Tubulin-Gene.
Tubulinmoleküle, das α- und das β-Tubulin, erforderlich. Neuer- Die verschiedenen Tubulin-Gene liegen in vielen Organis-
dings wurden weitere Mitglieder der Tubulinfamilie entdeckt, men über das Genom verstreut oder in kleinen Gruppen zusam-
die als γ-, δ-, ε-, ζ-, η- und ι-Tubuline bezeichnet werden; zusätz- men. Beispielsweise sind in D. melanogaster alle Tubulin-Gene
lich findet man bei Pantoffeltierchen (Paramecium) auch noch auf Chromosom 3 zu finden, während sie in D. hydei auf die
θ- und κ-Tubuline. Das Minimalset der Tubuline sind die α-, β- Chromosomen 2 und 3 verteilt sind. Im Gegensatz zu den His-
und γ-Tubuline, die in allen eukaryotischen Zellen vorkommen; ton-Genen besitzen die Tubulin-Gene Introns, und die mRNA
die übrigen Tubuline haben eine evolutionär beschränkte Ver- wird jeweils entsprechend weiterverarbeitet.
teilung. Als Multigenfamilie haben die Tubulin-Gene einen gemein-
samen evolutionären Ursprung. Sie haben sich durch Gendupli-
*Das δ-Tubulin-Gen wurde in Chlamydomonas als das Pro-
dukt des UNI3-Gens identifiziert. Die Deletion des UNI3-Gens
kation und anschließende Divergenz ihrer Nukleotidsequenzen
entwickelt . Abb. 7.13), wie wir es in ähnlicher Weise bereits bei
führt zu Zellen mit Defekten in der Zahl der Flagellen. Haben den Globin-Genen beobachten konnten. Im Unterschied zu die-
die Zellen üblicherweise zwei Flagellen, so haben die Mu- sen ist jedoch keine regulative Rückkopplung und stufenweise
tanten keine, eine oder zwei Flagellen. Elektronenmikrosko- Aktivierung oder Inaktivierung der Transkription während der
pische Untersuchungen zeigten, dass die Mutanten die Ontogenese zu beobachten.
Triplett-Form der Mikrotubuli nicht bilden können, sondern
> Die Tubulin-Multigenfamilie unterscheidet sich von den
über weite Strecken nur die Duplett-Form enthalten. Erst
anderen bisher besprochenen Multigenfamilien durch die
am distalen Ende gibt es auch die Triplett-Form. Das deutet
weite Verteilung der Gene auf unterschiedliche Positionen
darauf hin, dass das δ-Tubulin vor allem für die Stabilität
im Genom. Trotz ihrer strukturellen und funktionellen
der Flagellen verantwortlich ist.
Verschiedenheit haben die einzelnen Tubulin-Gene einen
gemeinsamen evolutionären Ursprung. Auch sie sind
Mikrotubuli erfüllen sehr unterschiedliche Aufgaben in den Zel-
durch Genduplikationen entstanden.
len. Im Spindelapparat haben sie zentrale Funktionen bei der
Verteilung der Chromosomen in Mitose und Meiose (7 Abschn.
6.1.3, 7 Abschn. 6.3.1 und 7 Abschn. 6.3.2). Als Bestandteile von
Flagellen und Cilien sind sie für die Fortbewegung von Zellen 7.2.4 Kristallin-Gene
entscheidend. Außerdem sind sie am Aufbau des Cytoskeletts
wesentlich beteiligt. Gemäß diesen unterschiedlichen Funk- Kristalline sind bekannt als Strukturproteine der Augenlinse bei
tionen werden in verschiedenen Zelltypen auch strukturell Wirbeltieren; sie wurden von C. T. Mörner 1894 in Straßburg
verschiedene Tubulinarten benötigt; zwei Beispiele sind in aufgrund biochemischer Trennverfahren zunächst in α-, β- und
. Abb. 7.12 dargestellt. γ-Kristalline unterteilt; die Bezeichnung »Kristalline« weist auf
Die Beteiligung von Mikrotubuli an einer breiten Palette zel- ihre Funktion bei der Aufrechterhaltung der Transparenz der
lulärer Strukturen wurde schon in frühen zellbiologischen Arbei- Linse hin. Die Kristalline sind sehr langlebige Proteine, da die
ten erkannt. Dies führte zur der Multi-Tubulin-Hypothese (Ful- Linsenzellen nicht absterben, sondern so alt werden wie der
ton und Simpson 1976), die die Verschiedenheit der Tubuline Gesamtorganismus. Auch wenn Kristalline zunächst nur in der
berücksichtigte und vorschlug, dass verschiedene Mikrotubuli- Augenlinse gefunden wurden, so erlauben sensitive Verfahren
Strukturen innerhalb einer Zelle aus verschiedenen Tubulinen heute ihren Nachweis auch in einigen anderen Geweben.
aufgebaut sind. Es ist heute offensichtlich, dass die meisten euka- Aufgrund der strukturellen Ähnlichkeiten der Proteine bil-
ryotischen Organismen mehrere Gene haben, die für die ver- den die β- und γ-Kristalline eine eigene Familie. Die β-Kristalline
schiedenen Isoformen der α- und β-Tubuline codieren. So ent- bilden Oligomere; die Komplexe haben Molekulargewichte von
halten die Basalkörperchen von Drosophila das β1-Tubulin, wäh- ca. 200 kDa (die Monomere haben ein Molekulargewicht zwi-
rend in den Axonemen der Spermienflagellen nur das β2-Tubulin schen 23 und 33 kDa). Wir kennen heute bei Säugern sieben
genutzt wird. Diese Verschiedenheit wird durch ein kaleidoskop- β-Kristalline, die durch sechs Gene codiert werden. Aufgrund
artiges Muster posttranslationaler Modifikationen weiter ver- der biochemischen Eigenschaften werden die β-Kristalline in
stärkt. Neben den üblichen Modifikationen wie Acetylierung, vier saure(re) (A1–A4) und drei basische(re) (B1–B3) unterteilt;
Palmitoylierung, Phosphorylierung und Polyglutamylierung er- die entsprechenden Gensymbole der Maus sind Cryba1 bis
scheinen Detyrosinierung und Polyglycylierung als Tubulin- Cryba4 und Crybb1 bis Crybb3. Vier dieser Gene bilden bei
spezifische Modifikationen. Säugern eine Gruppe (Cryba4 und Crybb1–Crybb3); die beiden
Gene für die α-, β- und γ-Tubuline kommen in jedem euka- anderen Gene liegen isoliert auf anderen Chromosomen.
ryotischen Organismus vor, der bisher untersucht wurde. Die Im Gegensatz zu den β-Kristallinen liegen die γ-Kristalline
Tubulin-Gene sind hochkonserviert innerhalb einer Spezies, als Monomere vor mit einem Molekulargewicht von ca. 21 kDa.
aber auch zwischen den verschiedenen Spezies. In den meisten Sechs γ-Kristallin-Gene liegen in einer Gruppe (Cryga–Crygf);
Metazoen gibt es mehrere Genkopien; so findet man beispiels- beim Menschen sind zwei dieser Cryg-Gene Pseudogene
weise im menschlichen Genom mindestens 15 α-Tubulin-Gene, (ψCRYGE und ψCRYGF). Ein weiteres Cryg-Gen (Crygs) liegt
21 β-Tubulin-Gene sowie drei γ-Tubulin-Gene. Einzellige Orga- isoliert auf einem anderen Chromosom. Mutationen in den
278 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

Cryb- bzw. Cryg-Genen verursachen bei Mäusen und Menschen


eine Vielzahl von dominanten Trübungen der Augenlinse, auch
als Katarakt (Cataracta congenita) bzw. »grauer Star« bezeichnet,
die entweder schon bei der Geburt sichtbar sind oder sich im
frühen Kindesalter entwickeln (vgl. dazu auch das Kartierungs-
beispiel in . Tab. 11.10).
Schon die biochemischen Untersuchungen der 1980er- und
frühen 1990er-Jahre zeigten, dass die β/γ-Kristalline aus vier
Motiven aufgebaut sind, die durch antiparallele β-Faltblattstruk-
turen gekennzeichnet sind (. Abb. 7.14a); aufgrund der Ähnlich- b
keit mit den künstlerischen Verzierungen auf Gefäßen aus dem
antiken Griechenland werden diese Motive auch als »griechische
Schlüssel« bezeichnet (engl. Greek key motif). Die Anordnung
dieser Motive in den entsprechenden Genen gibt uns interes- a
sante  Hinweise auf die Evolution dieser Genfamilie: Jedes
7 Gen enthält nämlich die Information für vier dieser Motive
– bei den Cryb-Genen sind sie jeweils in einem eigenen Exon
codiert, wohingegen die Cryg-Gene jeweils zwei Motive in einem
Exon zusammengefasst haben. Dabei ist die Sequenzähnlich-
keit  zwischen dem 1. und 3. Motiv größer als zu dem 2. und
4. Motiv. Diese Befunde führten zu der Hypothese, dass der evo- c d
lutionäre Weg der Cryb/Cryg-Genfamilie mit einem einzigen
Motiv startete. Nach einer Duplikation dieses Motivs erfolgte . Abb. 7.14 Die Strukturen der β/γ-Kristalline. a Das βB2-Kristallin, der
eine Fusion, die durch eine zweite Duplikationsrunde ergänzt Prototyp der β-Kristallin-Dimere. Die beiden Monomere sind grün bzw. blau
wurde. Und in der Tat gibt es diese Proteine, die nur eine Do- dargestellt; das Verbindungsstück (engl. linker) der beiden Domänen ist rot.
b Das γB-Kristallin, der Prototyp der monomeren γ-Kristalline. c Eine »Kri-
mäne (d. h. zwei Motive) enthalten, nämlich das Spherulin 3a stallin-Domäne«, bestehend aus zwei griechischen Schlüsselmotiven. d Ein
des Schleimpilzes, ein Metalloproteinase-Inhibitor (SMPI) von griechisches Schlüsselmotiv. (Nach D’Alessio 2002, mit freundlicher Geneh-
Streptomyces oder ein »Killer-Toxin« in Hefe. Zwei-Domänen- migung von Wiley)

-Kristalline . Abb. 7.15 Wichtige Schritte in der Evolution


der β/γ-Kristallin-Genfamilie. M bezeichnet ein
Exon, das für ein einziges griechisches Schlüssel-
motiv codiert; Introns sind als Linie dargestellt.
-Kristalline
Vertebraten

Unterbrochene Ms deuten an, dass das Motiv


durch ein Intron unterbrochen ist. AIM1 ist ein
humanes Gen, das für ein Protein mit zwölf grie-
N-Kristallin chischen Schlüsselmotiven codiert. Unterschied-
liche Formen griechischer Schlüsselmotive zei-
gen Ciona intestinalis (Ci, Schlauchseescheide),
AIM1 Branchiostoma floridae (Bf, Lanzettfischchen),
Nematostella vectensins (Nv, Seeanemone) oder
Geodia cydonium (Gc, Schwämme). Das griechi-
sche Schlüsselmotiv der kleinpolypigen Stein-
Ci-/-Kristallin
koralle (Montipora capitata, Mc) ist bisher nur von
der unvollständigen cDNA bekannt. (Nach Kappé
et al. 2010, mit freundlicher Genehmigung von
Bf-/-Kristalline 2, 3, 4
Springer)

Bf-/-Kristalline 1

Gc

Nv

Mc
?
7.3 · Regulation eukaryotischer Genexpression
279 7
Proteine sind das Protein S von Myxcococcus xanthus und das 7.3.1 Promotor
Epidermis-Differenzierungsprotein des Amphibiums Cynops
pyrrhogaster (. Abb. 7.14b). Der Bereich, der dafür verantwortlich ist, dass die Transkription
Andererseits gibt es auch Proteine, die mehr griechische eines Gens durch die RNA-Polymerase-II-Maschinerie initiiert
Schlüsselmotive enthalten als die β/γ-Kristalline. Eines davon ist wird, wird als Promotor bezeichnet (siehe dazu auch 7 Abschn.
AIM1 mit zwölf Motiven dieser Art. Das AIM1-Protein (engl. 3.3.3). Wir können dabei den Kernbereich des Promotors und
absent in melanoma 1) wird mit der Unterdrückung der Maligni- den proximalen Promotor unterscheiden. Der Kern-Promotor
tät von Melanomen in Verbindung gebracht. Wie bei den β/γ- (engl. core promoter) ist der kleinste notwendige Abschnitt, um
Kristallinen können wir auch bei AIM1-Proteinen eine Calcium- die Transkriptionsmaschinerie zu starten. Typischerweise um-
bindende Eigenschaft der griechischen Schlüsselmotive beob- fasst der Kern-Promotor den Transkriptionsstartpunkt sowie
achten. Im Stammbaum der β/γ-Superfamilie nimmt AIM1 eine etwa 35 Nukleotide (nt) oberhalb und unterhalb (es ist dabei
mittlere Position ein (. Abb. 7.15). üblich, den Transkriptionsstartpunkt mit »+1« zu bezeichnen;
die Nukleotide oberhalb werden mit einem »−« versehen; einen
> Die Cryb- und Cryg-Gene codieren für die β/γ-Kristalline;
Nullpunkt gibt es nicht). Innerhalb dieses Kernbereichs können
diese hochkonservierten Proteine sind wichtige Struktur-
wir oft verschiedene Sequenzmotive erkennen: die TATA-Box,
proteine der Augenlinse von Säugern und zeichnen sich
den Initiatior (Inr), das Erkennungselement für den Transkrip-
durch vier antiparallele β-Faltblattstrukturen aus (griechi-
tionsfaktor TFIIB (engl. transcription factor IIB recognition ele-
sche Schlüsselmotive). Sie sind aus einem Vorläufergen
ment, BRE) und Elemente unterhalb des Promotors (engl.
mit einem Motiv durch wiederholte Duplikationen ent-
downstream promoter element, DPE). . Abb. 7.16 gibt dazu einen
standen.
Überblick.
C Wenn man einfach die Cryb- und Cryg-Gene vergleicht, er- Unter den Elementen des Kern-Promotors ist die TATA-Box
gibt sich die interessante evolutionäre Frage nach dem Ver- am längsten bekannt (Breathnach und Chambon 1981). Ihren
lust der Introns zwischen den einzelnen Motiven. Dazu be- Namen verdankt sie der Consensussequenz TATAAA; allerdings
richtete die Gruppe von Graeme Wistow, dass sie in den Da- gibt es eine Reihe von Sequenzvariationen. In Metazoen ist die
tenbanken des Mausgenoms das fehlende Zwischenglied TATA-Box üblicherweise 25 bis 30 Nukleotide oberhalb des
(engl. missing link) gefunden haben: halb Cryb, halb Cryg; die Transkriptionsstartpunktes lokalisiert. In Hefen variiert ihre
Motive 1 und 2 liegen gemeinsam in einem Exon, wohinge- Lage stärker; hier ist sie im Bereich von −40 bis −100 nt zu fin-
gen die Motive 3 und 4 jeweils von einem eigenen Exon co- den. Systematische Untersuchungen an Promotoren mensch-
diert werden; das Gen wird als CrygN bezeichnet und das licher Gene oder von Genen bei Drosophila zeigen, dass nur
Protein als γN-Kristallin (Wistow et al. 2005). etwa 32 % bzw. 43 % der jeweils untersuchten Promotoren eine
TATA-Box enthalten. Überwiegend bindet an die TATA-Box das
»TATA-Box-Bindungsprotein« (TBP). Allerdings muss man be-
7.3 Regulation eukaryotischer Genexpression achten, dass es auch verwandte (engl. related) Faktoren (TBPr)

Wir haben in den vorangehenden Abschnitten einiges über die


Anordnung eukaryotischer Gene in Chromsomen gelernt. Wir
haben gesehen, dass Gene entweder isoliert in ihrem genomi-
schen Kontext vorliegen können oder als Genfamilien in Grup-
pen (engl. cluster) – jedes Mal haben wir aber die Frage nach der
Regulation ihrer »richtigen« Expression ausgelassen. Dabei be-
deutet »richtig«: Zu den richtigen Zeiten an den richtigen Orten
– denn oft wird ein Gen und sein Produkt nicht nur einmal,
sondern zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Organen
bzw. Geweben benötigt. Dabei müssen wir auch noch beachten,
. Abb. 7.16 Elemente des Promotor-Kernbereichs. In der Abbildung sind
dass das eukaryotische Genom nicht nur ein paar wenige, son- einige Elemente dargestellt, die an der Transkription durch RNA-Polymera-
dern ungefähr 30.000 Gene enthält, die in einem fein abgestimm- se II beteiligt sind. Jeder Promotor kann in spezifischer Weise nur einige,
ten Netzwerk wirksam werden sollen. Man kann schon allein alle oder auch keines dieser Motive enthalten. Das BRE (engl. transcription
aufgrund dieser Vorstellung erahnen, dass verschiedene Ebe- factor IIB recognition element; upstream [BREu] bzw. downstream [BREd]) ist
eine 5’- bzw. 3’-Verlängerung einiger TATA-Boxen. Das DPE (engl. down-
nen der Transkriptionskontrolle notwendig sind. Nachdem im
stream core promoter element) benötigt ein Initiator-Element (Inr) und be-
7 Abschn. 3.3.3 die Grundprinzipien der Transkription dargelegt findet sich genau an der Position +28 bis +32 (gerechnet in Bezug auf den
wurden, wollen wir im folgenden Abschnitt betrachten, welche Transkriptionsstart, der als +1 gezählt wird). Das MTE (engl. motif ten ele-
strukturellen Elemente an der Regulation von Genen in Eukaryo- ment) wirkt in Kooperation mit Inr und benötigt einen definierten Abstand
ten beteiligt sind. Wir konzentrieren uns dabei auf diejenigen dazu. DCEs (engl. downstream core elements) kommen mehrfach vor (hier
sind drei angedeutet: I–III); sie sind für die basale Aktivität des Promotors
Gene, die für Proteine codieren und durch die RNA-Poly-
wichtig. Das XCPE1 (engl. X core promoter element 1) kommt in etwa 1 % der
merase II transkribiert werden. menschlichen Promotoren vor – die meisten davon besitzen keine TATA-
Box. (Nach Juven-Gershon et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)
280 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

gibt, die diese Bindungsstelle ebenfalls benutzen können. Es wird Box. Das BRE-Element dient der spezifischen Bindung von
allgemein angenommen, dass das TBP über seine Wechselwir- TFIIB. Allerdings erscheinen die bisherigen funktionellen Unter-
kungen mit der RNA-Polymerase II diese an die richtige Start- suchungen etwas widersprüchlich, da die Daten, die an unter-
position dirigiert. TBP ist ein universeller Transkriptionsfaktor, schiedlichen Systemen generiert wurden, sowohl eine positive als
der von allen drei eukaryotischen RNA-Polymerasen benötigt auch eine negative Wirkung auf die Aktivität des Kern-Promo-
wird. Kristallographische Studien haben gezeigt, dass TBP sattel- tors zeigen.
artig auf der TATA-Box sitzt und die DNA in einem Winkel von Der proximale Promotor befindet sich direkt oberhalb des
80° in Richtung auf die große Furche biegt. So entsteht eine Kon- Kernbereichs und umfasst etwa die Region von −50 bis −200 in
formation der DNA, die eine Bindung von TFIIB zu beiden Sei- Bezug auf den Transkriptionsstartpunkt. In diesem Abschnitt
ten der TATA-Box gestattet. sind typischerweise viele Erkennungsstellen für eine Gruppe se-
Bei genauer Analyse verschiedener Promotoren fällt auf, dass quenzspezifischer DNA-bindender Transkriptionsfaktoren.
Gene mehrere TATA-Boxen besitzen können. Dabei gehorcht die Dazu gehören SP1, CTF (CCAAT-bindender Transkriptionsfak-
eine der kanonischen Consensussequenz (TATAAA), die andere tor, der auch als nuclear factor I [NF1] bezeichnet wird) oder CBF
weicht davon ab. So wird beispielsweise der Promotor des Hitze- (CCAAT-Box-bindender Transkriptionsfaktor, der auch als nuc-
schockproteins Hsp70 über die kanonische Bindestelle TATAAA lear factor Y [NF-Y] bezeichnet wird).
7 aktiviert; diese Form wird durch einen Hitzeschock und den Der proximale Promotor enthält oft als charakteristisches
Transkriptionsfaktor E1A stimuliert. Wird nun diese kanonische Element die CAAT-Box, die etwa 80 Nukleotide oberhalb des Ini-
TATA-Box durch die TATA-Box des SV40-Virus ersetzt, so geht tiationscodons liegt. Oft ist außerdem eine GC-reiche Region
die Stimulierung durch E1A verloren, aber die Aktivierungs- (GC-Box, Consensussequenz: GGGCGG) etwa 60 bis 100 Nukle-
möglichkeit über den Hitzeschock bleibt erhalten. otide vor dem Initiationscodon zu finden. Im Gegensatz dazu
Der Initiator beinhaltet den Transkriptionsstartpunkt und sind CpG-Inseln lange GC-reiche DNA-Abschnitte (500 bp bis
wurde in vielen Eukaryoten identifiziert (. Abb. 7.16); seine 2 kb), die Wiederholungen von CG-Dinukleotiden enthalten.
Consensussequenz kann allerdings in verschiedenen Gattungen Die CpG-Inseln vor aktiven Genen sind in der Regel nicht me-
unterschiedlich sein. Der Transkriptionsstart erfolgt üblicher- thyliert; ihre Methylierung führt zur Abschaltung der entspre-
weise an dem Adenin-Rest innerhalb dieser Consensussequenz; chenden nachfolgenden Gene. Promotoren, die CpG-Inseln ent-
dieses Nukleotid wird mit +1 gezählt (A+1). Der uns schon be- halten, besitzen typischerweise keine TATA-Box oder DPE-Ele-
kannte Faktor TFIIB bindet auch an den Initiator; die Spezifität mente, aber dafür eine Vielzahl von GC-Box-Motiven, an die
wird über seine Untereinheiten TAFII150 bzw. TAFII250 vermit- SP1-Transkriptionsfaktoren binden. Im Unterschied zur TATA-
telt (engl. TBP-associated factor, TAF). Allerdings kann gereinig- Box-gesteuerten Transkription startet die über CpG-Inseln ge-
te RNA-Polymerase auch bei Abwesenheit eines Initiatorsignals steuerte Transkription an mehreren schwachen Startstellen, die
und von TAFs die Initiation starten. Weitere spezifische Interak- oft über 100 bp verteilt sind. In diesem Fall erfolgt die Steuerung
tionspartner mit dem Initiator sind TFII-I (ein basisches Helix- über die Kombination von SP1 mit Initiator-Elementen.
Loop-Helix-Protein) und YY1 (ein Zinkfinger-Protein). Es ist allerdings nicht notwendig, dass ein Promotor alle die-
Das DPE-Element wurde zunächst in Drosophila identi- se Elemente zugleich enthält; es ist insbesondere ein weitverbrei-
fiziert, da es den Transkriptionsfaktor TFIID (und außerdem tetes Missverständnis, dass alle Promotoren eine TATA-Box
TAFII40 und TAFII60) bindet; später wurde es auch in Menschen enthalten müssen. Die verschiedenen genannten Elemente tre-
und anderen Spezies charakterisiert. Das DPE-Element kommt ten in unterschiedlichen Kombinationen oder in Kombination
häufig in Promotoren vor, die über keine TATA-Box verfügen. mit weiteren Sequenzelementen oberhalb auf. Es handelt sich
Das DPE ist 28 bis 32 Nukleotide unterhalb des Transkriptions- also um eine modulare Organisation der Regulationsregion, die
starts lokalisiert. Diese Positionsgenauigkeit ist für die Funktion erhebliche Freiheiten in der Art ihres Aufbaus besitzt. Interes-
essenziell, da TFIID nicht nur an das DPE-Element, sondern santerweise ist die Orientierung der CAAT-Box und der GC-
zugleich auch an den Initiator bindet. Auch wenn die Consensus- Box nicht festgelegt, wohl aber die der TATA-Box. Durch die
sequenz etwas degeneriert erscheint, führen Mutationen an ent- TATA-Box wird aber die Richtung der Transkription festgelegt,
scheidenden Stellen zu einer Verminderung der Transkriptions- sodass ihre Orientierung entscheidend für die Transkription ist.
aktivität um das 10- bis 50-fache. Ausnahmen von dieser stren- Die Aktivitäten des Kern-Promotors werden durch zahlreiche
gen Positionsregel gibt es im β-Globin-Promotor, dessen DPE weitere Elemente ergänzt, darunter Enhancer, Silencer oder In-
(hier als DCE bezeichnet, engl. downstream core element) im sulatoren.
Bereich von +10 bis +45 lokalisiert ist. Die Funktionen der
> Die Transkription Protein-codierender Gene erfolgt durch
TATA-Box und des DPE-Elementes erscheinen nach dem bishe-
die RNA-Polymerase II und wird durch eine Vielzahl von
rigen Kenntnisstand antagonistisch: Durch biochemische Me-
Elementen im Promotorbereich reguliert. Im Kern-Promo-
thoden wurde ein Protein charakterisiert (NC2/DR1-Drap1), das
tor (−35/+35) gibt es oft eine TATA-Box, einen Initiator,
die TATA-abhängige Transkription hemmt. Mutationen, die zu
BRE- und DPE-Elemente. Der proximale Promotor (−50 bis
Veränderungen dieses Proteins führen, beeinflussen diese Re-
−200) kann die CAAT-Box und GC-Boxen enthalten.
pressorwirkung deutlich. Allerdings wird die stimulierende Wir-
kung auf das DPE-Element dadurch nicht aufgehoben.
Das BRE-Element liegt in der Regel unmittelbar oberhalb der
TATA-Box; auf sein 3’-C folgt unmittelbar das 5’-T der TATA-
7.3 · Regulation eukaryotischer Genexpression
281 7
7.3.2 Transkriptionsfaktoren und umfasst nicht mehr als 12 bis 14 Nukleotide. Schließlich
müssen neu synthetisierte RNA-Bereiche von der DNA abgelöst
Die Bindung der basalen Transkriptionsfaktoren und der RNA- werden, und die DNA muss wieder zur Doppelhelix zusammen-
Polymerase II an die DNA erfolgt in einer genau festgelegten gefügt werden.
Reihenfolge (. Abb. 3.8). Eine der Aufgaben der Transkriptions-
> Die RNA-Polymerase II besitzt verschiedene funktionelle
faktoren dürfte es sein, für eine genaue Positionierung der RNA-
Domänen, die bei der Initiation unterschiedliche Auf-
Polymerase in Bezug auf das Initiationscodon zu sorgen, um
gaben wie die Öffnung der Doppelhelix, Entfernung des
dadurch einen auf das Nukleotid genauen Beginn der RNA-
nicht transkribierten Strangs, Anfügen von Nukleotiden
Synthese zu garantieren. Fehlerhafte Initiation würde ja zu Lese-
u. a. übernehmen.
rasterverschiebungen oder zum Verlust von bzw. zur Anfügung
zusätzlicher Aminosäuren führen. Der gesamte Initiationskom- Die bisher dargestellte Folge von Ereignissen gilt für alle RNA-
plex bedeckt etwa 110 Nukleotide und erstreckt sich ungefähr Polymerase-II-transkribierten eukaryotischen Gene. Es stellt
über den Nukleotidbereich −80 bis +30, wobei Nukleotid +1 de- sich natürlich die Frage, wie es nun zu einer differenziellen Re-
finitionsgemäß das erste Nukleotid des Initiationscodons ist. gulation unterschiedlicher Gene kommt. Der Schlüssel zur dif-
> Protein-codierende Gene werden von der RNA-Polymera- ferenziellen Genregulation in Eukaryoten liegt im Vorhanden-
se II transkribiert. Sie bedarf zur Bindung an die DNA zu- sein zusätzlicher Transkriptionsfaktoren, die imstande sind, die
sätzlicher Transkriptionsfaktoren. Die Transkriptionsfakto- Spezifität der Genaktivierung zu steuern. An dieser Stelle wollen
ren vermitteln die sequenzgenaue Bindung an den Pro- wir uns ein besonders gut untersuchtes Beispiel näher betrach-
motor, der meist eine TATA-Box etwa 25 Nukleotide vor ten, nämlich das der Regulation von Genen durch Steroidhormo-
dem Startcodon enthält. Es sind jedoch weitere Sequenz- ne. In . Abb. 7.17 ist der klassische Aktivierungsweg durch einen
elemente oberhalb des Transkriptionsstarts (wie die CAAT- Glucocorticoid-Rezeptor gezeigt.
Box oder die GC-Box) erforderlich, um die richtige Initia- Das Prinzip des molekularen Mechanismus der Regulation
tion der RNA-Synthese zu ermöglichen. der RNA-Synthese durch Steroidhormone kann folgendermaßen
zusammengefasst werden: Die Hormone werden nach Passieren
Die RNA-Polymerase selbst hat verschiedene komplexe Funk- der Zellmembran durch intrazelluläre Rezeptormoleküle gebun-
tionen zu erfüllen, die in unterschiedlichen Molekülbereichen den, die hierdurch einer Konformationsänderung unterliegen
des Enzyms ablaufen. Zunächst einmal muss sie für eine Öffnung und sofort in den Zellkern transportiert werden. Der Steroidhor-
der DNA-Doppelhelix sorgen und den nicht transkribierten monkomplex ist ein Oligomer, das sequenzspezifisch an ein
DNA-Strang festhalten. Mithilfe des transkribierten Strangs DNA-Element bindet, das z. B. im Falle des am besten bekannten
muss sie nach der Initiation der RNA-Synthese neue Nukleotide Hormonbindungsmechanismus, dem des Glucocorticoid-Rezep-
an das 3’-Ende des wachsenden RNA-Moleküls durch die Bil- tors, als Glucocorticoid-Response-Element (GRE) bezeichnet
dung neuer Phosphodiesterbindungen anfügen. Die bei der wird. Solche GREs findet man im Regulationsbereich aller Gene,
Transkription entstehende DNA-RNA-Hybridregion ist nur kurz die durch Glucocorticoide reguliert werden. Nach Bindung des

. Abb. 7.17 Genregulation durch Gluco-


corticoid-Rezeptoren. Das Glucocorticoid-
Hormon (weißes Sechseck) passiert die
Zellmembran und bindet an den freien
Glucocorticoid-Rezeptor (GR). Nach der
Bindung dissoziieren die an den freien GR
gebundenen Proteine ab (Hsp90: Hitze-
schockprotein 90; TPR: ein Protein mit
einer Tetratricopeptid-Wiederholungsein-
heit); der GR verrändert dabei seine Form
und kann in den Zellkern eindringen. Dort
bindet er (als Dimer) an den Promotor sei-
nes Zielgens und initiiert die Transkription.
Die gebildete mRNA verlässt den Zellkern
und wird im Cytoplasma in Enzyme oder
Strukturproteine translatiert. (Nach Heitzer
et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung
von Springer)
282 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

Steroidhormonkomplexes an diese GREs erfolgt die Initiation als »bHLH-ZIP«-Proteine bezeichnet (Beispiele: Myc und
der Transkription im Promotor. Vergleichbare DNA-Sequenz- Max als Heterodimere).
elemente hat man auch für andere Steroidhormone, z. B. für
Östrogen und Ecdyson, identifizieren können, aber auch für Das Prinzip der spezifischen Genregulation durch stadien- oder
andere Regulationsproteine. Man kann deshalb davon ausgehen, zelltypspezifische Transkriptionsfaktoren, die sequenzspezifisch
dass diese Art der Regulation der Transkription einen sehr fun- an bestimmte DNA-Elemente binden, gibt uns einen ersten Ein-
damentalen eukaryotischen Genregulationsmechanismus dar- blick, auf welche Weise komplexe eukaryotische Zellen bestimm-
stellt. te Differenzierungswege einschlagen können. Dieses Prinzip
eröffnet zugleich die Möglichkeit der gemeinsamen Regulation
> Steroidhormone sind Regulatoren der Transkription durch
unterschiedlicher Gene, die zu einem bestimmten Differenzie-
sequenzspezifische Bindung an die DNA mithilfe von spe-
rungszustand einer Zelle führen.
zifischen Rezeptorproteinen.

Transkriptionsfaktoren gehören zu verschiedenen Gruppen von C Eine interessante Theorie diskutieren Kærn et al. (2005), in-
Proteinen, die jeweils durch ähnliche Strukturbereiche gekenn- dem sie stochastische Prozesse in die Regulation der Gen-
zeichnet sind. Insbesondere gehören hierzu die Helix-Turn-He- expression einführen. Sie erklären damit Variabilität und
7 lix-Proteine, die Zinkfinger-Proteine, die Homöodomänen-Pro- Heterogenität innerhalb von Populationen genetisch identi-
teine, die Leucin-Zipper-Proteine sowie die Helix-Loop-Helix- scher Zellen. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht dabei die
Proteine (. Abb. 7.18). Einige dieser Proteine kommen immer als Beobachtung, dass Fluktuationen in der Konzentration regu-
Dimere vor (Hetero- oder Homodimere). latorischer Signale (»Rauschen«) signifikante Auswirkungen
4 Das Helix-Turn-Helix-Motiv besteht aus etwa 20 Amino- auf die Genexpression haben und durch positive oder nega-
säuren, die jeweils sieben bis neun Aminosäuren lang und tive Rückkopplungsmechanismen weiter verstärkt werden
durch eine β-Schleife getrennt sind; die zweite Helix liegt als können. Wenn man annimmt, dass von einem Transkriptions-
DNA-Erkennungshelix im Bereich der großen Furche der faktor 1000 Moleküle im Cytoplasma, aber nur zehn Mole-
DNA (engl. major groove; Beispiel: BAF). küle im Zellkern sind, so ist der Wechsel von einem Molekül
4 Zinkfinger bestehen aus etwa 30 Aminosäuren, von denen vom Cytoplasma in den Zellkern für die Konzentration im
vier (vier Cys- oder zwei His- und zwei Cys-Reste) koordi- Cytoplasma unerheblich, verändert aber die Konzentration
nativ ein einzelnes Zn2+-Ion binden und damit diese Struk- im Zellkern um 10 % und hat damit sicherlich einen signifi-
tur stabilisieren; viele Zinkfinger-Transkriptionsfaktoren kanten Effekt auf die Transkription des betreffenden Ziel-
verfügen über mehrere dieser Motive (Beispiele: TFIIIa, gens. Derartige stochastische Prozesse haben möglicherwei-
Glucocorticoid-Rezeptoren). se entscheidenden Einfluss auf Vorgänge während der Em-
4 Die Homöodomäne umfasst einen Bereich von 60 Amino- bryonalentwicklung und Differenzierung, z. B. bei der Flügel-
säuren und ist sehr stark konserviert (siehe auch 7 Abschn. entwicklung in Drosophila in Abhängigkeit der Expression
12.4.5; zur Nomenklatur: Die DNA-Sequenz, die diese der beiden Proteine Delta und Notch (7 Abschn. 12.4.6).
Domäne codiert, bezeichnet man als Homöobox). Der
DNA-bindende Teil der Domäne ähnelt dabei dem Helix- Als Beispiel für einen eukaryotischen Promotor wollen wir den
Turn-Helix-Motiv (Beispiele: Antp, En, Ubx). Promotor des humanen Insulin-Gens betrachten (. Abb. 7.19).
4 Die Leucin-Zipper-Proteine formen eine amphipathische Wir erkennen dabei die uns schon bekannte TATA-Box kurz
α-Helix, bei der jede siebte Aminosäure ein Leucin ist. Die- oberhalb des Transkriptionsstarts und verschiedene Bindestellen
se Aminosäuren bilden auf der hydrophoben Oberfläche für unterschiedliche Gruppen von Transkriptionsfaktoren. Die
eine gerade Reihe. Die α-Helices der interagierenden Pro- A-Box-Sequenzen sind im Wesentlichen Bindestellen für den Tran-
teine winden sich umeinander und bilden eine Superhelix; skriptionsfaktor PDX1 (engl. pancreatic duodenum homeobox-1);
dabei kommen die Leucin-Reste der beiden Proteine ne- die wichtigste Bindestelle ist A3 (Position −213 bp): Sie kommt
beneinander zu liegen. Diese Proteine enthalten außerdem in allen Säugetieren vor und zeigt die deutlichste Stimulierung
in ihrer DNA-Binderegion noch einen hohen Anteil basi- der Transkription unter den drei gezeigten Bindestellen (A1, A3
scher Aminosäuren (Arg oder Lys); daher werden sie oft und A5). Die Antwortelemente auf cAMP-vermittelte Signale
auch als »basische Zipper« (bZIP) bezeichnet (Beispiele: (engl. cAMP responsive elements, CRE) finden sich zweifach im
ATF-2, c-jun, CREB). Insulin-Promotor (CRE1 und 2: Position −210 bp und −183 bp);
4 Die Helix-Loop-Helix-Proteine enthalten eine konservierte es gibt aber auch zwei CRE-Stellen unterhalb des Transkriptions-
Region aus etwa 50 Aminosäuren, die für die Bildung des starts.  Unter den Säugetieren haben nur die Primaten mehrere
Proteindimers wichtig ist. Diese Region besteht aus zwei CRE-Stellen, wobei die CRE2-Stelle bei Säugern die häufigste ist.
kurzen α-Helices, die durch einen Abschnitt ohne Sekun- C-Elemente kommen zweimal im menschlichen Insulin-Promo-
därstruktur (»loop«) getrennt sind; bei Dimeren können tor vor; die C1-Stelle (Position −128 bp) bindet an den Transkrip-
sich diese α-Helices der beiden Untereinheiten wie beim tionsfaktor MafA. Mutagenese-Experimente zeigen, dass Verän-
Leucin-Zipper ineinander zu einer Superhelix verdrillen. derungen der MafA-Bindestelle (C1) die Insulin-Expression in
Auch die Helix-Loop-Helix-Proteine enthalten in ihrer β-Zellen um 74 % vermindert. Diese Sequenz ist sehr stark kon-
DNA-Binderegion noch einen hohen Anteil basischer serviert und in allen Säugetieren identisch (Ausnahmen: Hund
Aminosäuren (Arg oder Lys); daher werden sie oft auch und Schwein) – ein hohes Maß an evolutionärer Konservierung
7.3 · Regulation eukaryotischer Genexpression
283 7

a b

. Abb. 7.18 Modelle von DNA-bindenden Proteinen. a Helix-Turn-Helix. Die beiden


α-Helices der DNA-bindenden Domäne des Helix-Turn-Helix-Motivs (hier ein Inhibitor
der Autointegration viraler DNA, engl. barrier-to-autointegration factor, BAF) sind rot
dargestellt; potenzielle Seitenketten, die mit der DNA interagieren, sind blau. Der
N-Terminus der Helix 5 (H5) liegt in der großen Furche der DNA, von der hier die mole-
kulare Oberfläche gezeigt ist. Die Helices H1–3 (grün) sind nicht an der DNA-Wechsel-
wirkung beteiligt. b Zinkfinger. Das Zn2+-Ion ist koordinativ an zwei His- (blau) und
zwei Cys-Reste (gelb) gebunden. Die schwarzen Kreise symbolisieren Aminosäuren, die
strukturell nicht wichtig, aber an der sequenzspezifischen DNA-Bindung beteiligt d
sind. Die beiden rosa Kreise deuten zwei strukturell wichtige große hydrophobe Ami-
nosäuren an. Eine Verbindungssequenz, deren Consensus in Grün und im Ein-Buchstaben-Code angegeben ist, verbindet häufig benachbarte Zinkfinger-
Motive (unten). c Homöobox. Es ist die Wechselwirkung der Homöodomäne eines Transkriptionsfaktors (hier: Engrailed) mit seiner Bindestelle an der DNA
gezeigt. Die Helices 1 und 2 sind antiparallel und bilden einen rechten Winkel zur 3. Helix der Homöodomäne, die spezifisch an die Sequenz in der großen
Furche der DNA bindet. d Leucin-Zipper. Die α-Helices des Leucin-Reißverschlusses (engl. zipper; rot; hier Ausschnitt des CRE-bindenden Proteins, CREB
[CRE: cAMP-responsive element]) gehören zu zwei Proteinen, die ein Homodimer bilden, indem sie sich als Spirale umeinander winden. Die Leucin-Reste, die
mit der DNA in Wechselwirkung treten, sind gelb wiedergegeben. Ein Mg2+-Ion (grün) mit umgebenden Wassermolekülen (rot) befindet sich in dem Hohl-
raum zwischen der DNA und der basischen Region des CREB-Proteins. (a nach Cai et al. 1998, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group;
b nach Knight und Shimeld 2001, mit freundlicher Genehmigung der Autoren; c nach Abate-Shen 2002, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group; d nach Mayr und Montminy 2001, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
284 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

. Abb. 7.19 Schematische Darstellung des Promotors des humanen Insulin-Gens. Die Positionen der wichtigsten Bindestellen für Transkriptionsfaktoren
sind angegeben; die verschiedenen Farben repräsentieren unterschiedliche Gruppen von Transkriptionsfaktoren (siehe Text). Die Skala zeigt die Nukleotide
in Bezug auf den Transkriptionsstart (+1); der Pfeil gibt die Transkriptionsrichtung an. (Nach Hay und Docherty 2006, mit freundlicher Genehmigung der
Amerikanischen Diabetes-Gesellschaft)

deutet natürlich auch auf eine wichtige Funktion hin. Proteine, die komplexe Regulationsmechanismen hin, wobei auch verschie-
an die E-Box binden, gehören zur Gruppe der basischen Helix- dene Transkriptionsfaktoren um die Bindung an den Promotor
Loop-Helix-Proteine. Im INS-Promotor finden wir zwei E-Boxen; konkurrieren können. Darunter sind auch eher inhibitorische
davon ist E1 stark konserviert und kommt bei allen Säugetieren Elemente (engl. negative regulatory element, NRE). Viele Binde-
7 vor. Veränderungen an der Sequenz der E1-Box (Position −104 bp) stellen für Transkriptionsfaktoren sind heute in öffentlich zugäng-
zeigen, dass damit nicht nur die Expression des INS-Gens stark lichen Datenbanken aufgelistet; eine wichtige ist z. B. TRANSFAC
vermindert wird, sondern auch dessen Regulierbarkeit durch un- (http://www.gene-regulation.com/pub/databases.html), sodass
terschiedliche Glucosekonzentrationen. Der wichtigste Transkrip- Promotorsequenzen auf das Vorliegen bestimmter Bindestellen
tionsfaktor in diesem Zusammenhang ist der ubiquitäre Tran- durchgesucht werden können.
skriptionsfaktor E47, der als Heterodimer mit NeuroD1 an die Ein Charakteristikum der INS-Regulation ist die Abhängig-
E1-Box bindet. NeuroD1 wurde ursprünglich über seine Beteili- keit von der Glucosekonzentration. Von den oben bereits bespro-
gung an der Differenzierung von Neuronen charakterisiert – da- chenen Transkriptionsfaktoren sind PDX1, MafA und NeuroD1
her auch sein Name (engl. neurogenic differentiation 1). an dieser Regulation durch Glucose wesentlich beteiligt; alle drei
Wie die genaue Betrachtung der . Abb. 7.19 zeigt, gibt es noch Transkriptionsfaktoren reagieren auf eine erhöhte Glucosekon-
eine Reihe weiterer Transkriptionsfaktor-Bindestellen, die sich zentration. Wir wollen den Mechanismus am Beispiel von
auch teilweise überlappen. Diese Dichte an Bindestellen deutet auf NeuroD1 genauer betrachten (. Abb. 7.20). Glucose reguliert da-

. Abb. 7.20 Bei niedriger Glucosekonzentration (1–3 mM)


Glucose Glucose
befindet sich NeuroD1 überwiegend im Cytosol. Als »Ant-
wort« auf eine hohe Glucosekonzentration (10–30 mM)
wird NeuroD1 entweder durch die Übertragung von N-
Acetylglucosamin (in O-glykosidischer Bindung: O-GlcNAc)
durch OGT glykosyliert oder es wird durch ERK phosphory-
liert. Beide Modifikationen führen dazu, dass NeuroD1
in den Zellkern verlagert wird, wo es mit dem ubiquitären
Transkriptionsfaktor E47 dimerisiert und nach Bindung
mit Co-Aktivatoren wie p300 die Expression des Insulin-
Gens über die Anheftung an die E1-Bindestelle stimuliert.
Ac: Acetylgruppe; ERK: Kinase, die durch extrazelluläre
Signale reguliert wird; G: GlcNAc; NPC: Kernporenkomplex;
P: Phosphatgruppe; OGT: engl. O-linked N-acetylglucosa-
mine (O-GlcNAc) transferase. (Nach Andrali et al. 2008, mit
freundlicher Genehmigung der Autoren)
Cytoplasma

Nukleus
7.3 · Regulation eukaryotischer Genexpression
285 7
bei NeuroD1 über posttranslationale Modifikationen, und zwar eine lange Entfernung »seinen« Promotor erkennt, sondern
entweder mittels der »klassischen« Variante durch Phosphorylie- auch, dass er nur einen von oftmals vielen Promotoren in seiner
rung über eine signalabhängige Kinase (ERK) oder durch Glyko- unmittelbaren Nachbarschaft aktiviert. Es gibt dabei zwei Me-
sylierung, d. h. Anheftung eines N-Acetylglucosamins in O-gly- chanismen, wie diese Enhancer-Promotor-Spezifität erreicht
kosidischer Bindung (O-GlcNAc). Beide Mechanismen führen wird: Erstens gibt es spezifische Wechselwirkungen zwischen
dazu, dass NeuroD1 in den Zellkern transportiert werden kann Enhancer-bindenden Proteinen und Faktoren, die mit dem Pro-
und dort mithilfe weiterer Cofaktoren an die E1-Box binden motor in Wechselwirkung stehen. Zweitens können auch Insula-
kann. Dadurch wird die INS-Genexpression direkt über die Glu- tor-Elemente dazu benutzt werden, unerwünschte Enhancer-
cosekonzentration gesteuert: Das Enzym, das die N-Acetylgluco- Promotor-Wechselwirkungen zu unterbinden. Beide Mechanis-
samin-Gruppe überträgt, ist nämlich nur bei höherer Glucose- men werden offensichtlich in der Natur benutzt.
konzentration aktiv. Da aber NeuroD1 nicht nur für die Aktivie-
rung des INS-Gens verantwortlich ist, sondern auch für die Akti- C Das autoregulatorische Element 1 (AE1) in Drosophila ist ein
gutes Beispiel für die bevorzugte Wechselwirkung zwischen
vierung vieler anderer Gene (vor allem auch in Neuronen),
einem Enhancer und dem Kernbereich eines Promotors. In sei-
können wir die vielfältigen Auswirkungen einer Veränderung der
nem natürlichen Kontext hat dieser Enhancer einen gleichen
Glucosekonzentration im Blut (und damit in Zellen) erahnen.
Abstand zu den Genen Sex combs reduced (Scr) und fushi tara-

*Im−596Insulin-Promotor gibt es einen zusätzlichen Bereich bei


bp, der in . Abb. 7.19 nicht dargestellt ist, weil er aus
zu (ftz), er aktiviert aber selektiv die ftz-Expression. Die Scr- und
ftz-Gene unterscheiden sich in ihren Promotor-Elementen: Der
ftz-Promotor enthält eine TATA-Box, wohingegen der Scr-Pro-
einer variablen Zahl von Wiederholungseinheiten von 14–15 bp
motor zwar über keine TATA-Box verfügt, aber dafür Initiator-
besteht (engl. variable number of tandem repeats, VNTR). Aus
und DPE-Sequenzen enthält. In synthetischen Testkonstruktio-
epidemiologischen Untersuchungen (7 Abschn. 13.1.4) wis-
nen kann zwar der AE1-Enhancer die Transkription von Promo-
sen wir, dass 26 bis 63 Wiederholungseinheiten eine Disposi-
toren ohne eine TATA-Box aktivieren; wenn aber gleichzeitig
tion für Diabetes darstellen, wohingegen 140 bis 210 Wieder-
ein Promotor mit einer TATA-Box angeboten wird, aktiviert er
holungseinheiten eine dominante Schutzwirkung entfalten.
bevorzugt den Promotor mit der TATA-Box. Die einzelnen
Die höhere VNTR-Zahl führt im Pankreas zu einer um 20 % ge-
Komponenten eines Promotors sind also für die produktive
ringeren INS-mRNA-Menge, aber zu einer zwei- bis dreifach
und spezifische Wechselwirkung zwischen dem Enhancer und
höheren im Thymus. Die Hypothese ist, dass eine höhere Insu-
dem korrespondierenden Promotor wichtig.
linkonzentration im Thymus zu einer Immuntoleranz gegen-
über Insulin führt (Ounissi-Benkalha und Polychronakos 2008) Die vorhandenen Daten machen allerdings deutlich, dass eine
und damit der Bildung von Autoantikörpern gegen Insulin Vielzahl verschiedener Faktoren zur verstärkenden Wirkung von
entgegenwirkt (diese Bildung von Autoantikörpern ist eine Enhancern beitragen. Zunächst treten sequenzspezifische DNA-
von mehreren Ursachen von Diabetes Typ I; 7 Abschn. 13.4.3). Bindungsproteine in direkten Kontakt mit entsprechenden Se-
Eine mögliche Anwendung dieses Polymorphismus besteht in quenzen des Enhancers. Diese Wechselwirkungen führen
der Verwendung als Biomarker für »individualisierte Therapie« schließlich (möglicherweise über einen Scanning- bzw. facili-
(Induktion einer Immuntoleranz gegen Insulin). tate tracking-Mechanismus) zu großen Schleifen, die den Enhan-
cer in räumliche Nähe zu dem zugehörigen Promotor bringen
(. Abb. 7.21). Dann können kovalente Modifikationen der betei-
7.3.3 Enhancer ligten Proteine die erhöhte Transkriptionsrate stabilisieren.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der C-terminale Be-
»Enhancer« (engl. für Verstärker) der Transkription bei höheren reich der RNA-Polymerase II in frühen Stadien der Transkrip-
Eukaryoten sind definiert als DNA-Elemente, die die Transkrip- tion stark phosphoryliert ist. Ebenso scheint die Acetylierung
tion verstärken, auch wenn sie sich in großer Entfernung zum von Histonen die repressive Eigenschaft des Chromatins zu ver-
Promotor befinden. Ihre Wirkung ist dabei unabhängig von ihrer mindern; allerdings können auch andere Transkriptionsfaktoren
Orientierung. (Der Begriff hat sich inzwischen auch im deut- (z. B. p53) oder basale Transkriptionsfaktoren (TFIIE und TFIIF)
schen Sprachraum durchgesetzt und wird daher nicht mehr acetyliert und dadurch aktiviert werden. Tatsächlich besitzen
übersetzt). Das eukaryotische Genom illustriert am besten die viele transkriptionelle Aktivatoren und Co-Aktivatoren eine
verschiedenen Positionen, von denen aus Enhancer die Tran- Histonacetylase-Aktivität, wohingegen Repressoren der Tran-
skription aktivieren: So befindet sich z. B. der Enhancer des skription über Deacetylase-Aktivitäten verfügen. Zum Dritten
Drosophila-Gens cut, der im Flügelrand aktiv ist, 85 kb oberhalb spielen Wirkungen auf die Chromatin- und Nukleosomenstruk-
des cut-Promotors. Dagegen befindet sich der Enhancer des tur offensichtlich eine große Rolle. Enhancer können anschei-
δ-Kristallin-Gens des Huhns (das für ein Strukturprotein der nend zumindest teilweise der Repression der Transkription
Augenlinse codiert) im 3. Intron der Transkriptionseinheit. Der durch Chromatin entgegenwirken. Die Erhöhung der Nukleoso-
Enhancer des Gens, das für die α-Kette des T-Zell-Rezeptors co- menmobilität und die Veränderung der superhelikalen Verdril-
diert, liegt dagegen 69 kb unterhalb des Promotors. lung sind mögliche Aspekte dieser Wirkung.
Um als Verstärker zu wirken, sind die Wechselwirkungen Neben diesem weitgehend akzeptierten Schlaufenmodell der
zwischen dem Enhancer und seinem zugehörigen Promotor es- Enhancerwirkung gibt es aber auch Hinweise aus Untersuchun-
senziell. Dabei ist es nicht nur wichtig, dass der Enhancer über gen an einzelnen, isolierten Zellen, die zeigen, dass es daneben
286 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

7
. Abb. 7.21 Vier Modelle zur Erklärung der Wirkung eines entfernt liegenden Enhancers: Schlaufenbildung, Wanderung (oder Abtasten), erleichterte
Wanderung und Verknüpfung wurden vorgeschlagen, um die Wirkung eines entfernten Enhancers auf sein Zielgen zu erklären. Jedes Modell impliziert,
dass der Aktivierungskomplex, der durch den Enhancer gebildet wird, mit dem Promotor zusammentrifft. Eine Ausnahme bildet das Modell der Verknüp-
fung: Hier sollen die verknüpfenden Proteine die Kommunikation zwischen dem Enhancer und dem Zielgen vermitteln. Im »Verknüpfungsmodell« lenkt
die sequenzielle Bindung von Transkriptionsfaktoren entlang der DNA Veränderungen der Chromatinkonformation und definiert so die Transkriptions-
domäne. Transkriptionsfaktoren werden vom Enhancer bis zum Promotor des entsprechenden Gens durch Proteine aneinander gebunden, die keine DNA
binden und das Chromatin modifizieren. Im »Schlaufenmodell« binden die Transkriptionsfaktoren an den Enhancer und den Promotor des jeweiligen Gens;
die dazwischenliegende DNA bildet eine Schlaufe. So wird direkt ein aktiver Transkriptionskomplex am Promotor gebildet. Im »Wanderungsmodell« bin-
den Transkriptionsfaktoren spezifisch an die Sequenz des Enhancers. Der gebildete Komplex wandert die DNA-Sequenz entlang, bis er andere Transkriptions-
faktoren erkennt, die an den jeweiligen Promotor bereits gebunden haben. Auf diese Weise startet die Transkription mit einer hohen Rate. Wenn Aspekte
der »Schlaufen«- und »Wanderungsmodelle« kombiniert werden, so spricht man von einer »erleichterten Wanderung«. Hellblaue Rechtecke stellen den
Enhancer dar, der Aktivierungskomplex ist rot gezeichnet. Die Gene sind schwarz, und der Promotorkomplex ist jeweils durch einen blauen Kreis dargestellt.
Verknüpfende Proteine sind grün. (Nach Li et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier))

auch einen binären Mechanismus gibt. Dabei erhöht der Enhan- waren in einigen Patienten zwar die β-Globin-Gene intakt, wur-
cer nicht die Transkriptionsrate direkt, sondern vielmehr die den aber nicht exprimiert. Der gemeinsame Defekt bei Men-
Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Gen transkribiert wird schen und Mäusen war eine große Deletion oberhalb des
und diese Eigenschaft erhalten bleibt. Damit bekommt der Effekt β-Globin-Genclusters, die dazu führt, dass der gesamte Bereich
des Enhancers auf die Chromatinstruktur, der oben schon disku- des Chromatins in einem »geschlossenen« Zustand war und so-
tiert wurde, eine zentrale Bedeutung. Dies ist besonders dann mit die Genexpression in dieser Region unterdrückt.
von Interesse, wenn die Aktivierung oder Inaktivierung von Ge- Die bedeutendste Eigenschaft der LCRs ist ihre starke Erhö-
nen dazu führt, dass bestimmte Zelltypen entstehen und damit hung der Transkriptionsaktivität. Die β-Globin-LCR ist 6–22 kb
Schlüsselentscheidungen in zellulären Differenzierungspro- oberhalb des ersten, embryonal exprimierten Globin-Gens (des
grammen herbeigeführt werden. ε-Globin-Gens) lokalisiert und besteht aus fünf DNase-I-über-
> Enhancer verstärken die Genexpression. Es sind Sequenz-
sensitiven Bereichen. Vier dieser DNase-I-übersensitiven Berei-
elemente, die außerhalb des Promotors liegen und unabhän-
che sind nur in erythroiden Zellen empfindlich und dort
gig von der Orientierung ihrer Sequenz ihre aktivierende
offensichtlich für die zelltypspezifische Expression der β-Globin-
Wirkung entfalten können. Die Wechselwirkung mit dem
Gene verantwortlich. Drei dieser vier LCRs enthalten eine hoch-
Promotorbereich wird durch spezifische Proteine vermittelt.
konservierte Sequenz, die für die Bindung des Transkriptions-
faktors Maf verantwortlich ist. An dieses Maf-Erkennungs-
element (engl. Maf recognition element, MARE) binden neben
7.3.4 Locus-Kontrollregionen Maf allerdings auch andere, verwandte bZIP-Transkriptions-
faktoren als Homo- oder Heterodimere. Besonders wichtig
Locus-Kontrollregionen (engl. locus control region, LCR) sind erscheint dabei der Transkriptionsfaktor NF-E2, dessen Bin-
definiert durch ihre Fähigkeit, die Expression gekoppelter Gene dung mit einer über 100-fachen Erhöhung der β-Globin-Gen-
auf physiologische Werte zu erhöhen, wobei diese Wirkung ge- Transkription korreliert. Auch die RNA-Polymerase II kann
webespezifisch erfolgt und von der Zahl der Kopien abhängt. offensichtlich an diese LCRs binden, wobei die wechselseitige
LCRs fallen oft mit Stellen im Genom zusammen, die in den Bindung an LCR und Promotor noch von weiteren Proteinen
aktiven Zellen sehr sensitiv gegenüber der Aktivität von DNase I unterstützt wird.
sind. LCRs wurden erstmals in β-Globin-Genen beschrieben. Eine zweite wichtige Eigenschaft der LCRs ist ihre Abhängig-
Die Hinweise dazu kamen einerseits von Experimenten mit keit von der Kopienzahl. Wenn nur einer der fünf DNase-I-hy-
transgenen Tieren, zum anderen aus der molekularen Charakte- persensitiven Bereiche deletiert ist, wird die Expression der
risierung von Patienten, die an Thalassämien erkrankt waren. So β-Globin-Gene positionsabhängig, d. h. abhängig davon, ob sie
7.3 · Regulation eukaryotischer Genexpression
287 7

a
5‘ 3‘

Insulator Enhancer/ Co-Aktivator/ Pol-III- Gen 3‘-Enhancer Insulator


Locus-Kontrollregion Repressor Komplex

b
HS5 HS4 HS3 HS2 HS1 ε Gγ Aγ ψβ δ β 3‘HS

. Abb. 7.22 Das β-Globin-Gencluster und seine regulatorischen Regionen sind ein klassisches Beispiel zur Analyse der Genregulation. a Ein typisches
Gencluster ist mit vielen möglichen regulatorischen Regionen dargestellt. b Der β-Globin-Locus enthält hintereinander die verschiedenen β-Globin-ähn-
lichen Gene (gelb); die entsprechenden regulatorischen Sequenzen sind angegeben: Die DNase-I-hypersensitiven Stellen (HS1–5) wirken als Insulator
(HS5, grün) bzw. als »Locus-Kontrollregion« (HS1–4, blau). In der 3’-Region unterhalb des Genclusters befindet sich ein weiterer Enhancer (rot), der ebenfalls
durch seine Überempfindlichkeit gegen DNase I charakterisiert ist. (Nach Mahajan et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

in einem »offenen« Chromatinbereich vorkommt oder nicht. DNA entlangfährt, bis er die entsprechenden Promotoren er-
Damit ist ein wesentlicher Unterschied zu den Enhancern doku- kennt. Dabei werden mit zunehmendem Entwicklungszustand
mentiert, deren Wirkung von der Position unabhängig ist. die Bindungen an die eher distal liegenden Promotoren immer
Allerdings gibt es eine wesentliche Gemeinsamkeit der Wir- stabiler.
kung der Enhancer und der LCRs, nämlich die Wirkung über LCRs sind aber nicht nur auf die β-Globin-Gengruppe be-
große Strecken innerhalb des Genoms. Entsprechend werden schränkt; im Menschen sind über 20 Genfamilien beschrieben,
auch ähnliche Mechanismen diskutiert: Schlaufenbildung, Ent- die über LCRs kontrolliert werden. Dazu kommen noch weitere
langfahren und Verknüpfung (. Abb. 7.22). Ein zentraler Aspekt Gene bzw. Genfamilien bei der Maus, der Ratte oder anderen
ist allerdings, dass die LCR nur mit einem Promotor eines Organismen, sodass insgesamt bei höheren Eukaryoten mit einer
β-Globin-Gens zu einer bestimmten Zeit in Wechselwirkung großen Zahl von LCRs zu rechnen ist.
tritt; ein »Flip-Flop« zwischen zwei oder mehr Promotoren ist
allerdings in Abhängigkeit vom Entwicklungs- und Differenzie- > Locus-Kontrollregionen erhöhen die Expression ganzer
rungszustand des Gesamtorganismus möglich. Dabei ist es uner- Gencluster in zelltypspezifischer Weise. Neben Bindestel-
heblich, wie diese Wechselwirkung zustande kommt, also ob der len für Transkriptionsfaktoren haben sie offensichtlich
Holokomplex aus LCR und gebundenen Faktoren direkt eine auch Einfluss auf die Chromatinstruktur in dem entspre-
Schlaufe mit dem Promotorkomplex ausbildet oder ob er die chenden Bereich.

Kernaussagen
5 Eukaryotische Gene sind komplexer organisiert als solche von Poly(A)-Ende. Durch vielfältige posttranslationale Modifikatio-
Bakterien. nen sind sie an der Kondensation bzw. Dekondensation des
5 Fibroin ist der Hauptbestandteil der Seide und wird durch ein Chromatins beteiligt.
einziges Gen codiert. Die hohe Syntheseleistung wird durch 5 Die Tubulin-Gene sind innerhalb des Genoms weit verteilt und
ein besonders hohes Maß von Polyploidisierung der Fibroin- bilden keine Gruppen.
synthetisierenden Zellen des Seidenspinners ermöglicht. 5 Die Kristallin-Gene sind für die Transparenz der Augenlinse
5 Das Proopiomelanocortin-Gen (POMC) ist ein kleines polycis- verantwortlich; es gibt zwei Cluster von Genen sowie ver-
tronisches Gen, das posttranslational in verschiedene Peptid- schiedene Einzelgene, die zur β/γ-Kristallin-Genfamilie ge-
hormone gespalten wird. Polycistronische Gene sind bei Euka- hören.
ryoten sehr selten. 5 Die Transkription Protein-codierender Gene erfolgt durch die
5 Titin ist mit 4,2 Mio. kDa das größte bekannte Protein und RNA-Polymerase II und wird durch eine Vielzahl von Elementen
spielt eine zentrale Rolle im Aufbau und der Elastizität der im Promotorbereich reguliert. Im Kern-Promotor (−35/+35)
Zellen der quergestreiften Muskulatur und im Herzen. Das Gen gibt es oft eine TATA-Box, einen Initiator, BRE- und DPE-Ele-
enthält 363 Exons. mente. Der proximale Promotor (−50 bis −200) kann eine
5 Durch Verdoppelung von Genabschnitten sind in der Evolution CAAT-Box und GC-Boxen enthalten.
viele Genfamilien entstanden. Durch vergleichende DNA-Se- 5 Die Transkription eukaryotischer Gene wird durch komplexe
quenzanalysen lassen sich entsprechende Verwandtschaftsbe- Wechselwirkungen des Promotorbereichs mit Transkriptions-
ziehungen nachweisen. faktoren reguliert. Enhancer verstärken die Genexpression und
5 Hämoglobin wird durch verschiedene Globinketten aufgebaut. liegen außerhalb des Promotorbereichs; sie wirken unabhän-
Die Zusammensetzung des Hämoglobins verändert sich wäh- gig von ihrer Orientierung.
rend der Embryonalentwicklung. Die beiden Globin-Genfami- 5 Locus-Kontrollregionen sind an der Regulation der Expression
lien liegen auf zwei verschiedenen Chromosomen. von Genclustern beteiligt, indem sie unter anderem an der
5 Die Histon-Gene bilden ebenfalls Multigenfamilien. Die meis- Kondensation bzw. Dekondensation des Chromatins mit-
ten Histon-Gene besitzen keine Introns und bilden kein wirken.
288 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

Übungsfragen
1. Erläutern Sie die besonders hohe Stabilität 3. Zeigen Sie am Beispiel der Globin-Gene 4. Nennen Sie die wichtigsten Bestandteile
des Fibroinmoleküls anhand der molekula- den Vorteil der vergleichenden DNA-Se- eines eukaryotischen Promotors.
ren Struktur des Fibroin-Gens. quenzanalyse für evolutionäre Zusammen- 5. Beschreiben Sie den Mechanismus des
2. Erläutern Sie die Besonderheiten des Titin- hänge. »Glucose-Fühlers« (glucose sensing) für die
Gens. Regulation der Insulin-Genexpression.

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Technikbox
289 7

Technikbox 18

Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen (I): Gel-Retentions-Assay

Anwendung: Methoden zur Analyse der Gen- DNA-Protein-Komplex während der Elektropho- Eine andere Methode zur genaueren Sequenz-
expression, insbesondere zur Charakterisie- rese nicht zerfällt, dürfen keine denaturierenden bestimmung der Proteinbindestelle an der
rung von DNA-Protein-Wechselwirkungen im Bedingungen angewendet werden. Zum Nach- DNA gründet auf der Tatsache, dass die ent-
Promotorbereich. weis der Banden wird die DNA vor der Inkuba- sprechenden Stellen der DNA für eine Behand-
Voraussetzungen: Markierte DNA-Fragmente tion mit dem Protein in der Regel radioaktiv lung mit DNase I nicht zugänglich sind (Schutz
oder Oligonukleotide, die die Bindungsstelle markiert (7 Technikbox 5). Eine wichtige Kon- vor DNase-I-Abbau; engl. DNA protection as-
repräsentieren; Proteine (Proteinextrakt aus trolle zur Unterscheidung einer sequenzspezifi- say). Wenn die DNA vor der Inkubation an ei-
isolierten Zellkernen, rekombinante Proteine schen DNA-Protein-Wechselwirkung von einer nem Ende radioaktiv markiert und nach der
oder gereinigte Proteine); Elektrophorese allgemeinen DNA-Protein-Wechselwirkung ist Inkubation mit dem Bindeprotein und der an-
unter nicht-denaturierenden Bedingungen. die Zugabe eines sehr großen Überschusses an schließenden DNase-I-Behandlung auf übliche
Methoden: Man macht sich dabei die Tatsache nicht markierter, unspezifischer DNA (z. B. bakte- Weise extrahiert wurde (7 Technikbox 1), kann
zunutze, dass Makromoleküle unterschiedlicher rielle DNA oder ein synthetisches Heteropoly- sie auf einem Sequenzgel aufgetrennt werden
Größe und Ladung in der Gelelektrophorese ein mer, Poly-dI-dC). Dadurch wird bei einer spezifi- (7 Technikbox 6). Im Vergleich mit DNA, die
unterschiedliches Ladungsverhalten aufweisen. schen Bindung die DNA aus dem Komplex mit nicht mit dem Bindeprotein inkubiert wurde,
Nach der Gelelektrophorese eines definierten, dem Protein nicht verdrängt. Mit dieser Metho- erscheinen in der Sequenz mit Bindeprotein
kleinen DNA-Fragments findet man dieses als de können Bindestellen auf der DNA auf ca. freie Stellen (»Fußabdrücke«, engl. footprints),
eine Bande im Gel. Bindet an dieses DNA-Frag- 30 bp eingegrenzt werden. die die Sequenz der Bindestellen genau an-
ment vorher aber ein Protein, dann wandert der Um die Identität des DNA-bindenden Proteins gibt.
DNA-Protein-Komplex aufgrund seiner Größe nachzuweisen, kann der DNA-Protein-Komplex Beachte: Beide Methoden arbeiten ausschließ-
(und veränderten Ladung) in der Regel langsa- mit spezifischen Antikörpern inkubiert werden. lich in vitro und müssen daher funktionell (in
mer als die freie DNA, d. h. die Bande wird nach Je nach der relativen Größe und Ladung des Zellkulturen oder transgenen Organismen)
oben verschoben (engl. band shift; andere Be- neuen Komplexes ist es möglich, dass sich die überprüft werden.
zeichnungen: gel retardation assay, GRA; electro- Lage der Bande im Gel noch einmal verschiebt
phoretic mobility shift assay, EMSA). Damit dieser (»Supershift«).

a b

1. Bindung

2. Elektrophorese
DNase I

3. Autoradiographie

Methoden zur Untersuchung von Protein-DNA-Wechselwirkungen. a Grundprinzip eines Gel-Retentions-Assays: Die Bindung eines Proteins A an
ein radioaktives DNA-Fragment (1) bewirkt, dass dieses während der Elektrophorese (2) langsamer durch das Gel wandert als die freie DNA. Die zwei
Banden, die die radioaktive DNA enthalten, werden durch Autoradiographie (3) sichtbar gemacht. Man beachte, dass das markierte DNA-Fragment
in einem großen Überschuss eingesetzt wird, sodass die untere Bande der freien DNA immer sichtbar ist. b DNase-I-Footprint-Assay (dt.: DNase-Fuß-
abdruck-Untersuchung; diese Übersetzung hat sich allerdings nicht durchgesetzt, sodass weiterhin der Anglizismus verwendet wird). Links: Ein DNA-
Fragment, das an einem Ende markiert ist (Stern), wird mit einem Kernprotein zusammen inkubiert. Wenn das Gleichgewicht erreicht ist, wird der
Nukleoproteinkomplex für eine kurze Zeit mit DNase I behandelt. Bei Anwesenheit eines DNA-bindenden Proteins wird die markierte DNA an dieser
Stelle vor einem Abbau geschützt. Nach Abbau des Proteins und einer Sequenzierungsreaktion zeigt sich die Bindungsregion durch die Abwesenheit
der Spaltung der DNA in einem klassischen Sequenzgel als ein »Fußabdruck« (rechts). Die Methode ist auch mit modernen Kapillar-Sequenzierauto-
maten durchführbar. (a nach Nigel und Busby 1998; b nach Brasier et al. 2001, beide mit freundlicher Genehmigung von Springer)
290 Kapitel 7 · Molekulare Struktur und Regulation eukaryotischer Gene

Technikbox 19

Analyse von DNA-Protein-Wechselwirkungen (II): ChIP-chip und ChIP-Seq

Anwendung: Methoden zur Analyse von bundenen DNA durch einen spezifischen Anti- neration« (next generation sequencing)
in-vivo-DNA-Protein-Wechselwirkungen. körper aus dem Extrakt isoliert. Nach der Spal- charakterisiert werden (»ChIP-Seq«),
Voraussetzungen: Spezifische Antikörper tung der Protein-DNA-Vernetzung gibt es prin- kann man durch den Vergleich mit Se-
gegen das DNA-bindende Protein, Nachweis zipiell zwei Möglichkeiten: quenzdaten eines Referenzgenoms sehr
über Mikroarrays (7 Technikbox 35) oder 5 Die DNA-Fragmente werden markiert schnell die genauen Bindestellen identi-
Sequenzierung der nächsten Generation und mit eine großen Anzahl (»Array«) fizieren. Es bedarf dazu nicht der Voraus-
(7 Technikbox 7). bekannter DNA-Sequenzen hybridisiert wahl eines bestimmten DNA-Fragments
Methode: Um die DNA-Sequenz zu ermitteln, (»ChIP-chip«); die spezifisch gebunde- (wie beim Footprint-Assay; 7 Technik-
an die ein bestimmtes Protein in vivo bindet, nen DNA-Fragmente können über ihr box 18) – die ChIP-Seq-Methode erlaubt
hat sich die Methode der Chromatin-Immun- Markierungssignal erkannt und entspre- eine hypothesenfreie, genomweite Su-
präzipitation (ChIP) etabliert. Dazu wird ein chend zugeordnet werden; die Intensi- che nach Bindestellen.
Kernextrakt (aus Zellkulturen oder Gewebe) tät der Hybridisierungssignale kann als
verwendet; die an der genomischen DNA des ein Maß für die Bindungshäufigkeit Einen Überblick vermittelt das Ablaufschema
Zellkerns gebundenen Proteine werden durch durch das immunpräzipitierte Protein zu beiden Methoden; sie werden heute für vie-
7 Formaldehyd kovalent mit der DNA vernetzt. verstanden werden. le wissenschaftliche Anwendungen von kom-
Durch Scherkräfte wird die DNA zerkleinert 5 Wenn die kleinen DNA-Fragmente durch merziellen Anbietern mit kundenspezifischem
und das gewünschte Protein mit der daran ge- Sequenziermethoden der »nächsten Ge- Service durchgeführt.

Ablaufschema von ChIP-chip- und


ChIP-Seq-Experimenten. (Nach Visel et al. 2009,
mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group)

Zellkultur Gewebeproben
Vernetzung der DNA mit Protein

Zerkleinern der DNA durch Scheren;


anschließend Immunpräzipitation
Antikörper

Entfernung der Vernetzung

Isolierung der DNA, die mit


Bindungsstellen angereichert ist

ChIP-chip ChIP-Seq
Hybridisierung auf Mikroarray Sequenzierung und Vergleich mit
einem Referenzgenom

Ergebnis: Ergebnis:
Hybridisierungs- Sequenzdaten
intensitäten
291 8

Epigenetik

Das Angelman-Syndrom ist eine Erbkrankheit, die auf eine Deletion in einem Teil des mütterlichen Chromosoms 15
zurückgeht. Die betroffene Region wird in der väterlichen Keimbahn durch genetische Prägung inaktiviert, sodass
der gleichzeitige Verlust des mütterlichen Chromosomenabschnitts zum Ausfall der Genfunktion im Embryo führt.
(Foto: J. v. d. Burgt, Nijmegen)

8.1 Chromatin und epigenetische Regulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293


8.1.1 Euchromatin und Heterochromatin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
8.1.2 Methylierung der DNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
8.1.3 Modifikation der Histone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

8.2 Regulatorische RNAs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300


8.2.1 Mechanismen der RNA-Interferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
8.2.2 Kleine interferierende RNA (siRNA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
8.2.3 Mikro-RNA (miRNA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
8.2.4 Piwi-interagierende RNA (piRNA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
8.2.5 Viroide: kleine infektiöse RNA-Moleküle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
8.2.6 Lange, nicht-codierende RNA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
8.2.7 Das Geheimnis der Paramutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

8.3 Dosiskompensation der Geschlechtschromosomen . . . . . . . . . . . 316


8.3.1 Dosiskompensation bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
8.3.2 Dosiskompensation bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

8.4 Epigenetik und genetische Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325


8.4.1 Was ist genetische Prägung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
8.4.2 Mechanismen der genetischen Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
8.4.3 Genetische Prägung und Umweltfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
292 Kapitel 8 · Epigenetik

Überblick

Epigenetik bezeichnete zunächst genetische deutlich, die sich mit dem Stichwort »nicht-co- halten. Das Chromosom muss mithin eine In-
Phänomene, die mit den gängigen formalen Er- dierende, regulatorische RNA« treffend zusam- formation enthalten, die dafür sorgt, dass es in
klärungsmustern der Mendel’schen Genetik menfassen lassen. Neben den schon früher be- allen folgenden Zellgenerationen inaktiv
(7 Kap. 11) nicht erklärbar waren. Über die Jah- sprochenen rRNA- und tRNA-Genen eröffnet bleibt.
re wurde »Epigenetik« dann zu einer Art Sam- sich uns eine ganz neue »RNA-Welt« kleiner Darüber hinaus sind aber offensichtlich
melbegriff, unter dem alles zusammengefasst und großer, nicht-codierender RNA-Moleküle. weitere Bereiche des mütterlichen und väterli-
wurde, was nicht so recht verständlich war. Heu- Eine lange, nicht-codierende RNA steht chen Genoms unterschiedlich. Bevor man die-
te verstehen wir darunter stabile Veränderungen auch im Zentrum der Dosiskompensation bei ses Phänomen molekular bearbeiten konnte,
in der Regulation der Genexpression, die wäh- Geschlechtschromosomen in Säugern: Quanti- wurde dafür der Begriff »genetische Prägung«
rend der Entwicklung, Zelldifferenzierung und tativ unbalancierte Genkonstitutionen (XX im (engl. imprinting) eingeführt. Wir wissen heute,
Zellproliferation entstehen und über Zellteilun- weiblichen und XY im männlichen Geschlecht) dass Imprinting im Wesentlichen auf Methylie-
gen hinweg festgeschrieben und aufrechterhal- werden in der Regel vom Organismus nicht to- rung von Prägungszentren und der inaktivie-
ten werden, ohne dass dabei die DNA-Sequenz leriert. In Säugetieren wird deshalb eines der renden Wirkung von nicht-codierender RNA
verändert wird. Entsprechend können wir heute beiden X-Chromosomen des weiblichen Ge- beruht. Diese Prägung wird in den frühen Pha-
den Unterschied zwischen Hetero- und Euchro- schlechts inaktiviert, sodass ein Zustand zu- sen der Embryonalentwicklung gelöscht und
matin molekular durch Methylierung der DNA stande kommt, der der hemizygoten X-Chro- später geschlechtsspezifisch erneuert. Dabei
und vor allem auch Methylierung und Acetylie- mosomenkonstitution des männlichen Ge- spielen auch Einflüsse der Ernährung eine große
rung der Histone beschreiben. schlechts funktionell gleichwertig ist. Dabei Rolle.
In diesem Zusammenhang werden voll- bleibt eine einmal erfolgte Inaktivierung in-
8 ständig neue Mechanismen der Genregulation nerhalb eines Organismus im Allgemeinen er-

Der Begriff »Epigenetik« (griech. ἐπί [epi], auf: »oberhalb der die damit den jeweiligen Phänotyp zum Vorschein bringen. Im
Genetik«) wurde 1940 von Conrad Waddington geprägt, der da- Laufe der Jahre wurde »Epigenetik« dann zu einer Art Sammel-
runter den Zweig der Biologie verstand, der die kausalen Wech- begriff, unter dem alles zusammengefasst wurde, was nicht so
selwirkungen zwischen Genen und ihren Produkten untersucht, recht verständlich war. Dazu gehörten Positionseffekte bei Dro-

. Abb. 8.1 Epigenetische Landschaft. a Conrad Waddington schlug 1957


das Konzept der »epigenetischen Landschaft« vor, um den zellulären Ent-
scheidungsprozess während der Embryonalentwicklung darzustellen. An ver-
schiedenen Punkten in dieser dynamischen bildlichen Metapher ist es der
Zelle (hier durch einen Ball dargestellt) erlaubt, verschiedene Wege einzu-
schlagen, die dann zu unterschiedlichen Endpunkten führen. b Die moderne
Sicht auf den epigenetischen Flipperautomaten. Hier gibt es für die einzelnen
Kugeln (Zellen) keine spezifische Ordnung molekularer Ereignisse. Es wirken
viele epigenetische Prozesse auf die DNA und die Nukleosomen einer Zelle
ein, die aber jeweils zu einem spezifischen Ergebnis führen: Die Zelle landet
in einem der fünf möglichen Ausgänge (beachte die startende Zelle ganz
rechts unten!). ChRs: Chromatin-Veränderer; DNMTs: DNA-Methyltransfera-
sen; HATs: Histon-Acetyltransferasen; HDACs: Histon-Deacetylasen; HDMs:
Histon-Demethylasen; HMTs: Histon-Methyltransferasen; DDMs: DNA-Deme-
thylasen; TFs: Transkriptionsfaktoren (die eher die genetische Komponente
widerspiegeln). (a Reproduktion nach Waddington 1957, mit freundlicher
Genehmigung von Allen & Unwin, London; b nach Goldberg et al. 2007, mit
b
freundlicher Genehmigung von Elsevier)
8.1 · Chromatin und epigenetische Regulation
293 8
sophila (7 Abschn. 8.1.1), »Paramutationen« in Mais (7 Abschn. punkt der Centromerbildung betrachtet, und wir haben gesehen,
8.2.7) und die genetische Prägung (7 Abschn. 8.4). Heute begin- welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit das Kinetochor
nen wir, die gemeinsamen Mechanismen hinter diesen ganzen aufgebaut werden kann. Jetzt wollen wir eher den dynamischen
zunächst etwas mystisch erscheinenden Phänomenen besser zu Teil des Heterochromatins betrachten und dabei sehen, wie es
verstehen. Im weitesten Sinne wird »Epigenetik« heute üblicher- über die schon erwähnten epigenetischen Mechanismen einem
weise verwendet, um stabile Veränderungen in der Regulation stetigen Wandel unterliegt. Außer am Centromer und seiner
der Genexpression zu beschreiben, die während der Entwick- Umgebung spielt das Heterochromatin eine wichtige Rolle bei
lung, Zelldifferenzierung und Zellproliferation entstehen und der Abschaltung von Genen im Rahmen der Dosiskompensation
über Zellteilungen hinweg festgeschrieben und aufrechterhalten bei den Geschlechtschromosomen (7 Abschn. 8.3), beim Stillle-
werden (Jaenisch und Bird 2003), wobei die DNA-Sequenz nicht gen von Genaktivitäten am Telomer, bei der Festlegung des Paa-
verändert wird. Dies wird besonders offensichtlich, wenn wir die rungstyps bei Hefen (7 Abschn. 9.3.4) und bei der Abschaltung
zelluläre Differenzierung von Geweben in einem Organismus von Genen bei terminal differenzierten Zellen (z. B. Plasmazel-
betrachten: Alle Zellen eines Organismus haben dieselbe geno- len, Retikulocyten oder Gliazellen).
mische DNA-Sequenz, aber es werden ganz unterschiedliche
Zellen gebildet – im Herz, im Gehirn, in der Leber, der Niere C Eine der wichtigsten Entdeckungen in diesem Zusammen-
hang war die Beobachtung unterschiedlicher Expressionen
oder der Lunge. Deshalb kann auch diese zelluläre Differenzie-
des white-Gens bei Drosophila durch Hermann Joseph
rung als ein epigenetisches Phänomen betrachtet werden, das
Muller (1930) nach Röntgenbestrahlung. Dadurch wurde auf
eher von Veränderungen geleitet wird, welche Waddington als
dem Chromosom 4 eine Translokation erzeugt, die das
»epigenetische Landschaft« bezeichnet hat (. Abb. 8.1), als von
white-Gen in die Nähe des Heterochromatins brachte und
Veränderungen, die genetisch vererbt werden.
somit teilweise abschaltete, sodass die üblicherweise roten
Wenn wir nun die verschiedenen Mechanismen betrachten,
Drosophila-Augen in manchen Bereichen weiß wurden.
die zur Festlegung von Zellen auf ihre jeweiligen Differenzie-
Die teilweise Abschaltung bezieht sich dabei auf frühe Vor-
rungswege führen, begegnen uns vor allem kovalente und nicht-
läuferzellen, die dann das jeweilige Muster (»an« oder »aus«)
kovalente Modifikationen der DNA und der Histone und die Art,
auf ihre Nachfahren weitergeben, sodass sich ein klonales
wie diese Modifikationen die Chromatinstruktur insgesamt be-
weiß-rotes Muster der Augenfarben ergibt (. Abb. 6.7).
einflussen. Zu den wichtigsten Modifikationen, die wir heute
Dieses Muster wurde als Scheckung bezeichnet (engl. variega-
kennen, gehören die DNA-Methylierung (7 Abschn. 8.1.2), die
tion) und der Positionseffekt auf das white-Gen entsprechend
Histon-Modifikationen (7 Abschn. 8.1.3) und die Aktivitäten
als position effect of variegation (PEV). In der Folgezeit wur-
nicht-codierender RNAs (7 Abschn. 8.2). Wir werden aber auch
den verschiedene Gene identifiziert, die diesen Effekt modi-
sehen, dass diese Mechanismen nicht für sich alleine wirksam
fizieren: Su(var)3-9 (engl. suppressor of variegation) hemmt
sind, sondern ein epigenetisches Netzwerk bilden; als Beispiel
diesen Positionseffekt, wohingegen E(var)-Proteine (engl.
dafür werden wir die Dosiskompensation der Geschlechtschro-
enhancer of variegation) diesen Prozess eher verstärken.
mosomen betrachten (7 Abschn. 8.3).
Wie wir wissen, ist ein wesentliches Charakteristikum des Hete-
> Epigenetik bezeichnet stabile Veränderungen in der Regu-
rochromatins, dass es stärker kondensiert ist als das Euchroma-
lation der Genexpression, die während der Entwicklung,
tin. In den Nukleosomen benötigt eine Windung der DNA
Zelldifferenzierung und -proliferation entstehen und über
146 bp und bildet damit eine Faser mit einem Durchmesser von
Zellteilungen hinweg festgeschrieben und aufrechterhal-
10 nm; im heterochromatischen Bereich finden wir zusätzliche
ten werden, ohne dass dabei die DNA-Sequenz verändert
Organisationsebenen des Chromatins, die schließlich in die Bil-
wird.
dung einer Faser mit einem Durchmesser von 240 nm münden.
Biochemische Untersuchungen haben gezeigt, dass Modifikatio-
nen (besonders Methylierungen und Acetylierungen) an den
8.1 Chromatin und epigenetische Regulation Histonen diese höhere Form der Kondensation ermöglichen. An
diesen biochemischen Prozessen ist unter anderem das Protein
8.1.1 Euchromatin und Heterochromatin des Su(var)3-9-Gens beteiligt – es handelt sich dabei um eine
Histon-Methyltransferase (das homologe Protein des Menschen
Wir haben im Kapitel über eukaryotische Chromosomen wird als SUV39H1 bezeichnet). Ein weiterer suppressor of varie-
(7 Kap. 6) bereits gesehen, dass wir euchromatische und hetero- gation ist das Heterochromatin-Bindungsprotein HP1; es bindet
chromatische Bereiche der Chromosomen unterscheiden kön- an lange Nukleosomenbereiche, in denen das Histon H3 an der
nen. Dieser Unterschied zeigt sich zunächst nur in der Färbbar- Lysin-Position 9 (K9) methyliert ist, und treibt damit die Hetero-
keit – er hat, wie wir heute wissen, aber auch funktionelle Hin- chromatinbildung weiter voran. Eine Übersicht dazu findet sich
tergründe: Das Euchromatin ist offen, und Gene im Euchroma- in . Abb. 8.2.
tin werden regulär exprimiert. Das Heterochromatin ist dagegen Untersuchungen an verschiedenen transgenen Modellsyste-
geschlossen(er); Nukleasen können nicht angreifen, und die men (Hefe, Drosophila, Maus) zeigen, dass es bei der Ausbildung
wenigen Gene des Heterochromatins sind in der Regel abge- heterochromatischer Strukturen auf das Zusammenspiel ver-
schaltet (siehe . Abb. 6.7 und 7 Abschn. 6.1.2). Im 7 Abschn. 6.1.2 schiedener Faktoren ankommt. Dazu gehören in erster Linie die
haben wir das Heterochromatin vor allem unter dem Gesichts- Anzahl repetitiver Elemente auf der einen Seite sowie die Anzahl
294 Kapitel 8 · Epigenetik

a . Abb. 8.2 Histon-Modifikationen. a Darstellung der Modifikationen der


Histone H3 und H4 an Lysin- (K) und Serin-Resten (S), die in vivo beobachtet
werden. Diese Aminosäuren können methyliert (M, rot), acetyliert (Ac, blau)
oder phosphoryliert (P, blaugrün) werden. b Wichtige Faktoren zur Heraus-
bildung von Heterochromatin und Euchromatin. Methylierte Aminosäuren
im N-terminalen Bereich des Histons H3 sind in Rot angegeben und acety-
lierte Aminosäuren in Blau. Repetitive DNA-Sequenzen fördern die Entste-
hung heterochromatischer Strukturen durch die Bildung einer regelmä-
ßigen Anordnung stabiler Nukleosomen, die ein bevorzugtes Substrat für
die Methylierung am Lysin-Rest 9 (K9) des Histons H3 durch die SUV39H1-
Histon-Methyltransferase sind. Die Bindung von HP1 an längere Nukleo-
somenbereiche mit Histon H3 (methyliert an K9) unterstützt die Bildung von
Chromatinstrukturen höherer Ordnung. Transkriptionsaktives Euchromatin
entsteht durch die Bindung von Transkriptionsfaktoren an Anhäufungen
von Erkennungssequenzen und führt damit zur Bildung von DNase-I-sen-
sitiven Stellen. Diese bringen offene Strukturen des Euchromatins hervor
und halten sie durch Acetylierung an Lysin-9 (K9) und Methylierung an
Lysin-4 (K4) der benachbarten Nukleosomen aufrecht. Sie können auch
als Barrieren wirken, die das Ausbreiten des Heterochromatins in das be-
nachbarte Euchromatin verhindern. HS: Bereiche mit hoher DNase-I-Emp-
findlichkeit (engl. hyper-sensitive sites). (Aus Dillon und Festenstein 2002,
8 mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

b Konkurrierende Faktoren der DNA-Bindung


Transkriptions- Heterochromatin-
faktoren faktoren

HP1 SUV39H1

Euchromatin Heterochromatin

von Transkriptionsfaktorbindestellen (und die entsprechenden wichtige Rolle: Sie erleichtern den Abbau der Nukleosomen vor
Bindungsstärken der Transkriptionsfaktoren) auf der anderen der Replikationsgabel, den effizienten Verlauf der Replikation
Seite. Insgesamt deuten diese Untersuchungen darauf hin, dass und anschließend den richtigen Wiederaufbau des Chromatins
die Entscheidung zur Aktivierung oder Stilllegung bestimmter an der replizierten DNA, wobei die epigenetische Information
chromosomaler Bereiche das Ergebnis des Gleichgewichts zwi- auf das neue Chromatin übertragen werden muss.
schen positiven und negativen Faktoren ist.
Ein wesentlicher Aspekt epigenetischer Mechanismen ist die C ATP-abhängige Umbauprozesse am Chromatin werden
Aufrechterhaltung dieser Markierungen über Zellteilungen hin- typischerweise von Multiproteinkomplexen durchgeführt,
weg. Wenn nun posttranslationale Veränderungen der Histone wobei das katalytische Zentrum hochkonserviert ist. Die
eine wesentliche Eigenschaft des Heterochromatins sind, dann ersten Proteine dieses Komplexes wurden Anfang der
muss natürlich auch gewährleistet sein, dass dies nach einer Zell- 1980er-Jahre in der Hefe beschrieben und als SWI/SNF-ATPasen
teilung immer noch gegeben ist. (Achtung: Das gilt natürlich bezeichnet, und zwar aufgrund von Eigenschaften entspre-
nicht für terminal differenzierte Zellen, die ihr Endstadium der chender Mutanten, die zunächst keinen Bezug zu epigeneti-
Differenzierung erreicht haben und sich nicht mehr teilen!) Da- schen Fragestellungen hatten: die Fähigkeit des Paarungs-
bei spielen ATP-abhängige Umbauprozesse am Chromatin eine typ-Wechsels (7 Abschn. 9.3.4), die erhöhte Mutationsrate
8.1 · Chromatin und epigenetische Regulation
295 8

+ mstrukturierung des Chromatins


+ iston-Deacetylierung

Wiederherstellung der
neues  Stilllegung

" ) 
Bindung)

Fortschreiten der
Replikationsgabel

) !$'$"#
altes neues
 

'($#& &)# 


" (*!&)#
Stilles Chromatin Wachsendes Chromatin
. Abb. 8.3 Restauration heterochromatischer Bereiche nach der Replikation. Neue Histone werden durch Chromatin-bildende Faktoren (CAF-1, engl.
chromatin assembly factor 1, und Asf1, engl. anti-silencing factor 1) mit hohen Anteilen an acetylierten Histonen H3 und H4 versehen und in das neue Chro-
matin eingefügt. SMARCAD1 wird durch PCNA (die Gleitklammer der DNA-Replikation) an den neu gebildeten DNA-Strang herangeführt und bildet dort
einen Komplex mit dem Transkriptionsrepressor KAP1, den Histon-Methyltransferasen G9a/GLP und den Histon-Deacetylasen (HDACs). Dadurch wird
die heterochromatische (stillgelegte) Struktur des Chromatins wiederhergestellt. (Aus Jasencakova und Groth 2011, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier

mitochondrialer DNA und die Regulation der Expression des tivität niedrig ist: Hier überwiegen acetylierte Histone, und die
Invertase-Gens beim Zuckerstoffwechsel (dieses Enzym ist heterochromatischen Strukturen verschwinden.
bei der alkoholischen Gärung wichtig). Aus der englischen
> Heterochromatische Bereiche sind stark kondensiert und
Bezeichnung switch/sucrose nonfermantable ergab sich der
verhindern dadurch die Expression von Genen. Der hohe
noch heute gültige Name SWI/SNF. Gereinigte SWI/SNF-Kom-
Kondensationsgrad des Chromatins wird durch besondere
plexe enthalten 10 bis 12 Proteine, die bei Menschen jeweils
posttranslationale Modifikationen erreicht, besonders
von mehreren Genen codiert werden und damit eine gewisse
durch Methylierung von Histon H3 am Lysin-Rest 9 (H3K9).
Vielfalt in der Zusammensetzung der Komplexe ermöglichen.
Weitere Proteine (z. B. HP1) verstärken den Kondensations-
Eine interessante Zusammenfassung bietet Euskirchen et al.
effekt.
(2012).

Ein wichtiges Protein aus der Gruppe der SWI/SNF-ATPasen ist *Eslierung
mehren sich die Hinweise in der Literatur, dass die Methy-
der Histone H3 und H4 durch Methyltransferasen
bei Säugern SMARCAD1 (engl. SWI/SNF-related, matrix associ-
auch durch kleine regulatorische RNAs (7 Abschn. 8.2) regu-
ated actin-dependent regulator of chromatin, subfamily a, contain-
liert wird. In der Spalthefe Schizosaccharomyces pombe
ing DEAD/H box 1). SMARCAD1 wird durch PCNA (die Gleit-
wurde gezeigt, dass das konstitutive Heterochromatin der
klammer, die wir schon im Kapitel über die DNA-Replikation
Pericentromer-Regionen auch eine gewisse Anzahl geno-
kennengelernt haben, 7 Abschn. 2.2.3) zur Replikationsgabel
mischer Wiederholungseinheiten enthält. Diese werden
hinzugezogen und bildet an den neu synthetisierten Strängen
bidirektional transkribiert und bilden doppelsträngige RNAs,
zusammen mit dem Transkriptionsrepressor KAP1, den Histon-
die dann zu kleinen regulatorischen RNAs weiterverarbeitet
Methyltransferasen G9a/GLP und den Histon-Deacetylasen
werden und die Methylierung der Histone erleichtern.
(HDAC1 und HDAC2) einen Komplex, der die geschlossene
Dadurch wird eine Verbindung zwischen Transkription und
Form des Heterochromatins in den neu synthetisierten DNA-
Chromatin-Modifikation hergestellt, deren Bedeutung für
Strängen wiederherstellt (. Abb. 8.3). An der neu synthetisierten
die Ausbreitung heterochromatischer Bereiche und ihrer Be-
DNA werden die Nukleosomen aus alten und neuen Histonen
grenzung noch nicht vollständig abgeschätzt werden kann.
gebildet. Während die elterlichen Histone die Modifikationen
Eine aktuelle Übersicht dazu haben Castel und Martienssen
tragen, die für die lokale Domäne charakteristisch sind, sind die
(2013) veröffentlicht.
neuen Histone überwiegend acetyliert, aber nicht methyliert.
Wenn diese neuen Histone in Nukleosomen des heterochroma-
tischen Bereichs eingebaut werden, werden sie sofort deacetyliert
und dann Schritt für Schritt dreifach methyliert. Da acetylierte 8.1.2 Methylierung der DNA
Histone nicht methyliert werden können, kommt dieser Deace-
tylierung eine wichtige Rolle bei der Heterochromatinbildung DNA-Methylierung haben wir bereits als einen Mechanismus
zu. Die Bedeutung von SMARCAD1 in diesem Prozess wird kennengelernt, der an den CpG-Inseln in vielen eukaryoti-
deutlich, wenn man Zellen beobachtet, deren SMARCAD1-Ak- schen  Promotoren zum Abschalten des jeweiligen Gens führt
296 Kapitel 8 · Epigenetik

mimethylierte) DNA während der Replikation und stellt nach


der Zellteilung das ursprüngliche Methylierungsmuster wieder
her (. Abb. 8.5). Die Bedeutung der DNA-Methylierung für die
gesunde Entwicklung eukaryotischer Organismen wird durch
den Befund unterstrichen, dass Mausmodelle, denen DNA-Me-
SAM SAH
thyltransferasen fehlen, während der Embryonalentwicklung
DNA DNA sterben.
. Abb. 8.4 Methylierung von Cytosin. Cytosin-Reste in der DNA werden an Wie wir oben gesehen haben, sind die meisten CpG-Dinuk-
CpG-Dinukleotiden zu 5-Methylcytosin (5meC) umgewandelt. Die Methyl- leotide im Genom methyliert; das gilt allerdings nicht für die
gruppe (Me) wird durch DNA-Methyltransferasen (DNMTs) von S-Adenosyl- schon erwähnten CpG-Inseln in den Promotorbereichen vieler
methionin (SAM) auf die Position 5 des Pyrimidinrings im Cytosin übertra- eukaryotischer Gene. Hier ist der unmethylierte Zustand ent-
gen; SAM wird dadurch zu S-Adenosylhomocystein (SAH) hydrolysiert. (Aus
scheidend dafür, dass das Gen auch abgelesen werden kann. Me-
Pogribny und Beland 2009, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
thylierung des Promotors verhindert seine Erkennung durch
Transkriptionsfaktoren und RNA-Polymerasen, denn stattdes-
(7 Abschn. 7.3.1). Diese CpG-Inseln sind aber nicht die einzigen sen bindet an methylierte DNA ein anderes Protein, das Methyl-
Stellen, an denen CG-Dinukleotide vorkommen: Wir finden sie cytosin-bindende Protein (MeCP). Methylierung und Demethy-
auch in langen Wiederholungselementen bei rDNA, Satellitense- lierung der DNA spielen eine besondere Rolle während der
quenzen oder den Centromersequenzen. Diese langen CG-Wie- frühen Embryonalentwicklung, da hier die unterschiedlichen
8 derholungselemente sind in der Regel stark methyliert. Die Me- Methylierungsmuster der Ei- und Samenzellen für den neuen
thylierung der DNA erfolgt durch eine Gruppe von Enzymen, die Embryo entfernt und neu angelegt werden müssen. Wir werden
als DNA-Methyltransferasen (DNMTs) bezeichnet werden, und diese Aspekte im Zusammenhang im 7 Abschn. 8.4 über »gene-
zwar an der Position 5 des Pyrimidinrings; das Produkt wird tische Prägung« (engl. imprinting) genauer besprechen.
deshalb als 5-Methylcytosin bezeichnet (abgekürzt: 5meC). Als DNMTs sind für die Aufrechterhaltung oder Etablierung von
Quelle für die Methylgruppe steht der Zelle in der Regel S-Ade- Methylierungsmustern entscheidend. Wenn DNMTs durch Mu-
nosylmethionin (SAM) zur Verfügung, das dadurch selbst zu S- tationen (oder Polymorphismen) in ihrer Aktivität eingeschränkt
Adenosylhomocystein (SAH) hydrolysiert wird (. Abb. 8.4). sind, so führt das zu einem deutlichen Rückgang der Methylie-
5-Methylcytosin paart sich weiterhin mit Guanin – die DNA- rung. DNMTs können aber auch durch Umweltfaktoren (z. B.
Sequenz wird also durch die Methylierung bei der Replikation Arsen) oder unterschiedliche Lebensstilfaktoren sowie Nah-
nicht beeinträchtigt. Allerdings kann 5meC leicht zu Thymin rungsmittel gehemmt werden (z. B. Alkohol, Zigaretten und
desaminieren – die Paarung von Thymin mit Adenin bei der Flavonoide in der Nahrung). Umweltfaktoren können in erheb-
nächsten Replikation bedeutet, dass in Bereichen mit hoher lichem Maße die Methylierung der DNA auch darüber beein-
DNA-Methylierung mit einem gewissen Mutationsrisiko zu flussen, wie viel Methylgruppen über die Nahrung bereitge-
rechnen ist (7 Abschn. 10.3). stellt werden. Unzureichende Versorgung mit Methionin, Cholin,
DNA, die noch nicht methyliert ist, wird durch DNMT3a Folsäure und Vitamin B12 führen zu einem nennenswerten
und DNMT3b methyliert (de-novo-Methylierung). Im Gegen- Verlust an DNA-Methylierung. Verantwortlich dafür ist der
satz dazu erkennt DNMT1 bevorzugt halbseitig methylierte (he- C1-Stoffwechsel, der über diese Methyldonatoren aus der Nah-

. Abb. 8.5 DNA-Methylierung und Demethy-


lierung. DNA-Methylierung in Säugern vollzieht
DNMT3b DNMT3a sich an CpG-Dinukleotiden. Methylgruppen
(beige Ovale) können an unmethylierter DNA
durch de-novo-Methylierung durch die DNA-
DNMT1 Methyltransferase 3a (DNMT3a) angefügt wer-
den. Wenn die DNA repliziert wird, wird die Me-
thylierung an dem alten Strang erkannt, und im
Tochterstrang wird durch DNMT1 ebenfalls eine
Methylgruppe eingefügt (Elemente der Replika-
tionskomplexe sind farblich hervorgehoben). In
Anwesenheit von DNMT1 (orange) wird so die
halbmethylierte DNA wieder vollständig methy-
liert, sodass das Methylierungsmuster erhalten
bleibt. Eine DNA wird in Abwesenheit von
DNMT1 bei jeder Replikationsrunde passiv de-
methyliert, da keine neue Methylgruppe in die
DNA eingefügt wird; durch Demethylasen er-
folgt dagegen eine aktive Demethylierung. (Aus
Reik und Walter 2001, mit freundlicher Geneh-
migung der Nature Publishing Group)
8.1 · Chromatin und epigenetische Regulation
297 8

2 3 5hmU-Glykosylase
TET1/2/3 Desaminierung BER

2-OG Succinat
O2 CO2

5mC 5hmC 5hmU

1 AdoHcy
DNMT1/3a/3b
AdoMet

4
Hydroxylierung
Decarboxylase/
TDG TET1/2

Succinat 2-OG
CO2 O2

Cytosin 5caC 5fC

. Abb. 8.6 Hydroxymethylcytosin und mögliche Demethylierungswege. (1) Im nicht-modifizierten Zustand kann Cytosin durch jede der drei aktiven DNA-
Methyltransferasen (DNMT) zu 5-Methylcytosin (5mC) methyliert werden und bildet dadurch ein Substrat für die verschiedenen TET-Enzyme (TET 1/2/3).
(2) Die Enzyme der TET-Familie oxidieren 5-Methylcytosin zu 5-Hydroxymethylcytosin (5hmC) in Anwesenheit von 2-Oxoglutarat (2-OG, andere Bezeich-
nung: α-Ketoglutarat) und Eisen-Ionen; dabei entstehen Succinat und CO2. (3) 5hmC kann dann weiter zu 5-Hydroxymethyluracil (5hmU) desaminiert wer-
den, das dann durch Enzyme des Basen-Exzisionsreparaturweges (BER; 7 Abschn. 10.6.2) entfernt werden kann. (4) 5hmC kann weiter zu 5-Formylcytosin
(5fC) und 5-Carboxylcytosin (5caC) oxidiert werden. An diesem Punkt kann die Base durch Thymin-DNA-Glykosylase (TDG) entfernt werden; alternativ kann
auch die Carboxylgruppe durch Decarboxylasen entfernt werden – dadurch entsteht dann wieder unmethyliertes Cytosin. AdoMet: S-Adenosylmethionin;
AdoHcy: S-Adenosylhomocystein. (Aus Kinney und Pradhan 2013, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

rung schließlich die Methylgruppe für das S-Adenosylmethionin für Zellen unschädlich macht. Dabei werden C/G-Paare in
(SAM; . Abb. 8.4) zur Verfügung stellt – denn nur mithilfe die- A/T-Paare umgewandelt. Das System, das im Englischen als
ses  Cofaktors kann DNA methyliert werden. Eine weitere Ver- repeat-induced point mutation (RIP) bezeichnet wird, ist
minderung der DNA-Methylierung wird durch nicht reparierte so effizient, dass während eines Fortpflanzungszyklus bei
DNA-Schäden hervorgerufen: Durch reaktive Sauerstoffspezies N. crassa etwa 30 % aller duplizierten Sequenzen entspre-
wird Guanin in der DNA in 8-Oxoguanin umgewandelt und chend verändert werden können. Man findet auch bei
vermindert damit die Möglichkeit der DNMTs, DNA zu methylie- N. crassa so gut wie keine Sequenzen, die auf einen Ur-
ren. Ähnliches gilt auch für die Anwesenheit von Pyrimidin- sprung aus Transposons hinweisen. Hinweise auf die Funk-
Photodimeren, die durch UV-Licht gebildet werden. Die Be- tion von RIP kamen auf, als eine Reihe von Mutanten in
deutung dieser Prozesse nimmt mit dem Alter zu und erklärt zu- N. crassa untersucht wurde, die in ihrem vegetativen Gewe-
mindest teilweise die Zunahme einiger Erkrankungen mit zuneh- be keine DNA-Methylierung durchführen konnten (engl.
mendem Alter. Besonders in Krebszellen finden wir häufig defective in DNA-methylation, dim). Eine Übersicht dazu fin-
hypomethylierte DNA. det sich bei Rountree und Selker (2010).

C In vielen Pilzen ist Methylierung ein Schutz gegen die Aktivi- > Die Methylierung von DNA erfolgt an der Position 5 des
täten von Transposons oder bestimmten Viren (7 Abschn. Cytosins durch DNA-Methyltransferasen und führt zur
9.1 und 7 Abschn. 9.2) und kann insofern auch als Abwehr- Stilllegung der entsprechenden DNA. Aktive Promotoren
system verstanden werden. In Neurospora crassa wurde ein sind nicht methyliert; bei verschiedenen Krankheiten (z. B.
System entdeckt, das duplizierte DNA-Sequenzen erkennt Krebserkrankungen) ist die DNA in den entsprechenden
und durch Methylierung zusätzlich eingefügte Mutationen Zellen oft hypomethyliert.
298 Kapitel 8 · Epigenetik

*Neben der Methylierung an der Position 5 des Cytosins ken-


nen wir inzwischen an dieser Position weitere Modifikationen,
die in vivo vorkommen: Enzyme aus der TET-Familie (engl. ten-
eleven translocation) sind in der Lage, die Methylgruppe zu-
nächst zu dem entsprechenden Alkohol (–CH2OH) und später
zu einem Aldehyd (–CHO) zu oxidieren (. Abb. 8.6). Ein Verlust
der TET-Aktivität in entsprechenden Mausmutanten führt zu
verminderter Körpergröße, myeloider Leukämie oder zum
Tod während oder kurz nach der Geburt (perinatale Letalität).
Die genaue Funktion dieser neuen Cytosin-Modifikationen ist
ebenso unklar wie die Bedeutung der TET-Enzyme.

8.1.3 Modifikation der Histone

Wichtige Elemente für die Regulation des funktionellen Zu- a


stands der Histone sind posttranslationale Modifikationen. Im
Kapitel über das Heterochromatin (7 Abschn. 8.1.1) haben wir
8 die Acetylierung und Methylierung von Histonen schon kennen-
gelernt; daneben haben aber auch Phosphorylierung, Ubiquiti-
nierung und ADP-Ribosylierung eine besondere Bedeutung.
Diese Veränderungen spielen sich vor allem an den nach außen
abstehenden N-terminalen Bereichen der Histone ab (. Abb.
8.7). Besonders intensiv untersucht ist die Acetylierung und
Deacetylierung der Histone, die durch spezifische Enzyme kata-
lysiert wird (Histon-Acetyltransferasen, HATs, und Histon- b
Deacetylasen, HDACs). Die wichtigsten Stellen der Acetylierung
. Abb. 8.7 Domänenorganisation und N-Terminus des Histons H3.
in H3-Histonen sind die Lysin-Reste 9, 14, 18 und 23; in den a Allgemeine Chromatinorganisation. Wie in anderen Histonen ist der N-
H4-Histonen sind die Lysin-Reste 5, 8, 12 und 16 bevorzugte Terminus des Histons H3 (rot) hochkonserviert und in der Chromatinfaser
Ziele der Acetylasen. Phosphorylierung der H3-Histone erfolgt nach außen gerichtet. Es sind verschiedene posttranslationale Modifikati-
bevorzugt an Serin-10 und ist direkt korreliert mit der Induktion onen bekannt, z. B. Acetylierung (grünes Dreieck), Phosphorylierung (weißer
besonders früher Gene wie c-jun, c-fos und c-myc. So ist beispiels- Kreis) und Methylierung (gelbes Sechseck). Weitere Modifikationen können
an der globulären Domäne vorkommen. b Schematische Darstellung mög-
weise die gleichzeitige Acetylierung von H4 an Lysin-16 und licher Modifikationen am N-Terminus des Histons H3. Die Aminosäurese-
Phosphorylierung von H3 an Serin-10 die Voraussetzung für quenz des N-Terminus des menschlichen Histons H3 ist im Ein-Buchstaben-
eine verstärkte Transkription bestimmter Abschnitte des männ- Code angegeben. Zum Vergleich ist der N-Terminus des menschlichen
lichen X-Chromosoms. Methylierung erfolgt in den H3-Histo- CENP-A4-Proteins gezeigt, einer centromerspezifischen H3-Variante, sowie
nen bevorzugt an den Lysin-Resten 4, 9 und 27. Allerdings kön- des Histons H4, des nukleosomalen Partners von H3. Der Abstand zwischen
den acetylierbaren Lysin-Resten (rot), potenziellen Phosphorylierungsstel-
nen diese Lysin-Reste einfach, zweifach oder gar dreifach methy- len (blau) und Methylierungsstellen (lila) ist konstant. Der Lysin-Rest an Po-
liert sein, was eine weitere Komplexitätsebene hinzufügt; ein sition 9 des Histons H3 (Stern) kann sowohl acetyliert als auch methyliert
Beispiel für eine spezifische immuncytologische Analyse einer werden; der Lysin-Rest 9 im CENP-A4-Protein (fett) kann ebenfalls chemisch
zweifachen Methylierung des Histons H3 eines Chromosoms modifiziert werden. (Nach Strahl und Allis 2000, mit freundlicher Genehmi-
von Drosophila zeigt . Abb. 8.8. Histonspezifische Methyltrans- gung der Nature Publishing Group)

ferasen (HMTs) sind bekannt und spielen vermutlich eine wich-


tige Rolle bei der Regulation der Genaktivitäten.

C Die oben grob wiedergegebenen Befunde zur Modifikation vermittelt . Abb. 8.9. Heute werden Modifikationen von
der Histone im Rahmen zellulärer Signalketten führten zur Histonen als Teil epigenetischer Prozesse interpretiert, die es
Hypothese eines »Histon-Codes« durch Strahl und Allis im erlauben, Informationen durch die Aufrechterhaltung des
Jahr 2000. Die vielfältige Modifikation der N-terminalen Modifikationsmusters von Histonen über Zellteilungen hin-
Überhänge der Histone bewirkt unterschiedliche Verände- weg weiterzugeben.
rungen der elektrostatischen Bedingungen, unter denen
Faltung oder Entfaltung des Chromatins möglich ist. Damit > Durch Acetylierung, Methylierung und Phosphorylierung
kann die Verwendung verschiedener Modifikationen (und können Histone modifiziert werden. Die dadurch ermög-
ihrer Kombinationen) als dauerhafter Signalverstärker im lichten unterschiedlichen Verpackungsdichten tragen zur
Rahmen spezifischer Signalketten bei bestimmten zellulären Aktivierung und Inaktivierung von Genen über einen grö-
Prozessen dienen (z. B. Mitose, Aktivierung oder Abschal- ßeren Bereich bei und können über mehrere Zellteilungen
tung von Genen). Eine Übersicht über diese Möglichkeiten aufrechterhalten werden.
8.1 · Chromatin und epigenetische Regulation
299 8
. Abb. 8.8 Immuncytologische Analyse
einer Histon-Modifizierung in polytänen
Drosophila-Chromosomen. a Der Antikörper
markiert zweifach methyliertes Histon H3
an der Position Lysin-9. Die Markierung (grün)
erfasst hauptsächlich das konstitutive Hete-
rochromatin des Centromers des 4. Chromo-
soms (links, Mitte) sowie einige Banden des
Telomers am X-Chromosom (rechts). Die
DNA ist mit Propidiumiodid gefärbt (rot;
Balken: 10 μm); durch Überlagerung ergeben
sich gelbe Farben (Mitte). b Möglicher Weg
zur Bildung des Heterochromatins in der
a perizentrischen Region. Die Bildung des
Heterochromatins beginnt mit dem Aus-
tausch des Histons H2A durch die Variante
H2Av; das führt zur Acetylierung des Histons
H4 an Lysin-12 (K12). Die anschließende
Methylierung von Lysin-9 (K9) am Histon H3
ermöglicht die Bindung von HP1; HP1 sei-
nerseits führt zu einer dichteren Verpackung
des Chromatins, verbreitet sich durch
Selbstdimerisierung über die ganze Region
und führt schließlich zur Trimethylierung
des Histons H4 an Lysin-20 (K20). (a nach
Ebert et al. 2006; b nach Lam et al. 2005,
beide mit freundlicher Genehmigung von
Springer)

. Abb. 8.9 Die Histon-Code-Hypothese.


Histone werden an ausgewählten Amino-
säureresten modifiziert, und es wurde ge-
zeigt, dass manche Muster mit biologischen
Prozessen gekoppelt sind (z. B. Acetylierung
und Transkription). Immer mehr deutet da-
rauf hin, dass verschiedene Modifikationen
am N-Terminus der Histone H3 (rot) oder H4
(schwarz) in ihrer Abfolge oder in Kombi-
- nationen bestimmte biologische Abläufe
steuern. Dabei können die vielfältigen Modi-
fikationen in Form einer Hierarchie oder in
definierten Kombinationen in bestimmten
Regionen der Chromatinfaser wirksam wer-
den. Bekannte Proteine, die mit bestimmten
Modifikationen assoziiert sind oder an die
entsprechenden Stellen binden, sind ange-
geben. Zusätzlich wird auch darüber disku-
tiert, dass die N-terminale Domäne des
CENP-A-Proteins (blau) im Zusammenhang
mit der Mitose ebenfalls modifiziert wird
(z. B. durch Phosphorylierung); der gelbe
Bereich in Klammern bezeichnet ein Motiv,
in dem sich Serin- und Threonin-Reste mit
Prolin-Resten abwechseln. RCAF: replication-
- coupling assembly factor; SMC: structural
maintenance of chromosome; Sir3/4: silent
information regulator 3/4; Tup1: thymidine
monophosphate uptake. (Nach Strahl und
Allis 2000, mit freundlicher Genehmigung
der Nature Publishing Group)
300 Kapitel 8 · Epigenetik

8.2 Regulatorische RNAs nächsten Generationen übertragen wurde. Wir werden die-
ses Phänomen, das auch als Paramutation bezeichnet wird,
Ein wesentliches Moment in der funktionellen Analyse von Ge- später ausführlicher beschreiben (7 Abschn. 8.2.7).
nen besteht immer darin, Mutationen zu untersuchen, die zu
einem Funktionsverlust oder Funktionsgewinn führen (siehe Die spätere Beobachtung von RNA-Interferenz in Kulturen von
auch 7 Kap. 10). In der experimentellen Genetik gibt man sich Säugerzellen war zunächst nicht trivial, da die Einführung von
aber nicht damit zufrieden, nur die Mutationen zu untersuchen, dsRNA in eine Interferon-ähnliche Abwehrantwort mit Apopto-
die wir quasi in der Natur vorfinden (oder durch ungerichtete se mündete. Erst die direkte Einführung einer besonders kurzen
Mutagenese zufällig erzeugen), sondern man will oft bestimmte Form (21–23 Nukleotide) von RNA »triggerte« die RNA-Interfe-
Gene ausschalten oder hinzufügen. Die Herstellung von Knock- renz-Maschinerie auch in Säugerzellen – allerdings zunächst mit
out-Mäusen bzw. von transgenen Mäusen (7 Technikbox 26 und geringer Effizienz. Neuere Arbeiten beschreiben die Konstruk-
7 Technikbox 27) sind dafür etablierte Beispiele. tion von Vektoren, die über invertierte Wiederholungssequenzen
Haarnadelstrukturen ausbilden und damit zu einer stabilen und
C Manchmal gibt es aber auch einfachere Wege, um Gene
effizienten Abschaltung von Genen führen. Eine aktuelle Über-
auszuschalten. Guo und Kemphues (1995) haben es bei dem
sicht findet sich bei Lambeth und Smith (2013).
Fadenwurm C. elegans durch die Zugabe von Gegenstrang-
Insgesamt haben die Untersuchungen der letzten Jahre an
RNA versucht. Überraschenderweise stellten sie dabei fest,
Pflanzen, aber auch an Pilzen und Invertebraten gezeigt, dass
dass der Sinnstrang genauso aktiv ist wie der Gegenstrang;
doppelsträngige RNA Zellen dazu bewegt, diese doppelsträngige
8 die gleichzeitige Injektion eines Sinn- und eines Gegenstrangs
RNA in kleine Fragmente abzubauen. Diese siRNAs (engl. small
in einen C. elegans-Embryo erhöhte jedoch die Effizienz des
interfering RNAs) sind offensichtlich in der Lage, die Expression
Ausschaltens um den Faktor 10. Es stellte sich dann heraus,
der entsprechenden Gene von Viren zu inhibieren. Moderne
dass die aktiv inhibitorische Spezies die Doppelstrang-RNA
Pflanzen haben also offensichtlich ein gut funktionierendes Ab-
ist (dsRNA; Fire et al. 1998). Es ergab sich ferner, dass dieses
wehrsystem gegenüber Virusangriffen, das auf der Ebene der
Ausschalten von Genen durch RNA (RNA-Interferenz, auch
RNA-Erkennung wirkt. Allerdings haben Viren wiederum in
als RNAi abgekürzt) über mehrere Zellteilungen hinweg auf-
einem klassischen evolutionären Wettbewerb Gegenproteine
rechterhalten wurde – ein typisch epigenetisches Phäno-
entwickelt, z. B. HC-Pro (engl. helper component proteinase). Die-
men. In dieser Zeit häuften sich auch ähnliche Berichte aus
ses setzt offensichtlich oberhalb der dsRNA-Bildung an und ak-
anderen Organismen, z. B. bei Neurospora crassa (Cogoni
tiviert ein pflanzliches Gen, das für ein Calmodulin-ähnliches
und Macino 1997) oder in Pflanzen (Napoli et al. 1990). Für
Protein codiert und den Abschaltmechanismus insgesamt regu-
ihre grundlegenden Arbeiten auf diesem rasant expandie-
liert (engl. regulator of gene silencing – Calmodulin-related prote-
renden Gebiet bekamen Andrew Z. Fire und Craig C. Mello
in, rgs-CaM). Ausgehend von HC-Pro werden jetzt gentechno-
im Jahr 2006 den Nobelpreis für Medizin.
logische Strategien erarbeitet, um das Abschalten von Transge-
C. elegans hat für solche Experimente einige methodische Vor- nen in Pflanzen zu verhindern und so ihre effiziente Expression
teile, da der Fadenwurm quasi in dsRNA-Lösungen gebadet oder zu ermöglichen.
mit Bakterien gefüttert werden kann, die dsRNA produzieren. Heute gehen wir davon aus, dass das Ausschalten von Genen
Außerdem war von C. elegans schon früh das gesamte Genom über RNA-Interferenz ein alter Selbstverteidigungsmechanismus
bekannt. Dadurch konnte in diesem Organismus der erste ge- von Eukaryoten ist, um Infektionen durch RNA-Viren oder
nomweite RNA-Interferenz-Screen durchgeführt werden, wobei Transposons (7 Abschn. 9.1) abzuwehren. Während der Replika-
mehr als 16.000 der bekannten 19.427 Gene von C. elegans unter- tion des viralen Genoms wird dsRNA produziert, die von der
sucht wurden. Dabei wurden 1722 Mutanten phänotypisch iden- Zelle erkannt und abgebaut werden kann.
tifiziert. Überraschend hierbei war, dass Gene mit ähnlicher Aber nicht nur Eukaryoten haben effiziente RNA-basierte
Funktion in bestimmten Regionen als Cluster auftreten. Diese Abwehrmechanismen entwickelt, wir finden ähnliche Abwehr-
Regionen umfassen mehrere Megabasen, und die darin vorkom- strategien bereits bei Prokaryoten: In der Frühphase der Genom-
menden Gene neigen zu ähnlichen Expressionsmustern (Kamath sequenzierung fand man in den 1980er-Jahren in vielen Bakte-
et al. 2003). rien und Archaeen auffällige Wiederholungseinheiten (23–55 bp),
die von ähnlich langen (21–72 bp), aber in der Sequenz variablen
C 1990 versuchte eine Gruppe von Wissenschaftlern um Abschnitten unterbrochen sind. Man hat diesen Genomabschnitt
C. Napoli, die Blütenfarbe von Petunien zu verstärken, indem als CRISPR (engl. clustered regulatory interspaced short palindro-
die Integration eines Transgens die Expression der Chalkon- mic repeats) bezeichnet und dabei festgestellt, dass die variablen
Synthase verstärken sollte (Chalkon-Synthase ist wesentlich Abschnitte Sequenzhomologien zu Plasmiden und Viren aufwei-
an der Pigmentierung bei Petunien beteiligt; Napoli et al. sen. Im Folgenden wurde gezeigt, dass diese variablen Abschnit-
1990). Überraschenderweise hatten die veränderten Pflan- te tatsächlich aus Infektionen mit Plasmiden bzw. Viren stam-
zen aber keine verstärkten Farben, sondern waren vielfarbig men und eine Art Immunität bei einer Zweitinfektion verleihen.
oder sogar weiß. Das deutete darauf hin, dass nicht nur Weitere Gene, die in Operons organisiert sind (7 Abschn. 4.5)
das Transgen, sondern auch die endogenen Gene für die und sich in direkter Nachbarschaft von CRISPR befinden,
Pigmentierung ausgeschaltet wurden. Eine weitere Überra- werden als cas-Gene bezeichnet (CRISPR-assoziierte Gene);
schung war, dass die weiße Blütenfarbe auch noch auf die sie codieren für unterschiedliche biochemische Aktivitäten
8.2 · Regulatorische RNAs
301 8
(z. B. Helikasen, Nukleasen, Polymerasen, Integrasen) und sind invasive Nukleinsäuren
Genom
für die Verarbeitung und Integration der Plasmid- bzw. Virus- (Viren, Transposons,
fremde Gene)
DNA in den CRISPR-Locus wichtig.
Oberhalb des CRISPR-Locus befindet sich eine AT-reiche
Sequenz, die vermutlich als Promotor wirkt und für die Tran-
skription des gesamten CRISPR-Locus in eine entsprechend lan- Dicer
ge RNA verantwortlich ist. Diese wird dann mithilfe von Cas-
Proteinen in die reife CRISPR-RNA (crRNA) gespalten, die je-
weils ein variables Element und an den Rändern einen Teil der
palindromischen Wiederholungseinheiten enthält. Die einzel-
nen crRNA-Sequenzen können homologe DNA bzw. RNA er-
kennen und deaktivieren und somit den Prokaryoten gezielt
Immunisierung gegen diejenigen Plasmide und Viren verschaf-
AGO
fen, deren Genom die Spacersequenz enthält. Dieser Mechanis-
mus weist deutliche Parallelen zur RNA-Interferenz bei Eukary-
oten auf, wenngleich auch manche Details unterschiedlich
sind. Das CRISPR-Cas-System findet heute eine breite Anwen-
dung bei der gezielten Veränderung von Genen bei Eukaryoten
(7 Technikbox 33). Eine aktuelle und sehr detaillierte Zusammen- Zielgen sequenzspezifisches
fassung des CRISPR-Cas-Systems findet der interessierte Leser Abschalten von Genen

bei Marchfelder et al. (2013).


Wir werden in den folgenden Abschnitten einzelne verschie-
dene Wege genauer betrachten, die zunächst alle dazu führen,
dass kleine RNA-Moleküle gebildet werden, die mit mRNA so in
Wechselwirkung treten, dass die Translation vermindert wird.
Wir werden aber auch kleine RNAs kennenlernen, die aktivie-
. Abb. 8.10 Allgemeiner Mechanismus der RNA-Interferenz. Die anfänglich
rend wirken, und lange, nicht-codierende RNAs besprechen, die doppelsträngige RNA (aus verschiedenen Quellen) wird durch die Nuklease
eher zu heterochromatischen Strukturen beitragen. Abschlie- Dicer in kleine, interferierende RNA-Fragmente (~ 20–30 Nukleotide) ge-
ßend wollen wir uns noch der antiviralen Immunität zuwenden, spalten. Ein Strang des verarbeiteten Doppelstrangs bindet an das Argo-
soweit deren Wirkung auf kleinen RNAs beruht. naute-Protein (AGO) und ermöglicht dadurch eine sequenzspezifische Bin-
dung (über Watson-Crick-Basenpaarung) an seine Ziel-RNA. Wenn die Ziel-
RNA erkannt ist, wird die Expression über einen der angegebenen Mechanis-
men moduliert, wobei die Auswahl vom biologischen Kontext abhängt.
8.2.1 Mechanismen der RNA-Interferenz (Aus Carthew und Sontheimer 2009, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)
RNA-Interferenz ist noch ein relativ junges Forschungsgebiet,
und wir werden abwarten müssen, ob sich tatsächlich alle Arten
der RNA-vermittelten Genabschaltung unter diesen Mechanis- Eine zentrale Rolle bei der RNA-Interferenz spielt das Enzym
mus subsummieren lassen. Die dsRNA-induzierte Abschaltung Dicer: Es handelt sich um eine dsRNA-spezifische Nuklease der
von Genen benötigt eine breite Palette verschiedener Enzyme; RNase-III-Familie; sie enthält ein dsRNA-bindendes Motiv und
dazu gehören Helikasen, RNasen und RNA-abhängige RNA- am N-Terminus eine DExH/DEAH-RNA-Helikase/ATPase-
Polymerasen. Ein Charakteristikum der dsRNA-induzierten Domäne sowie ein Motiv, das als »PAZ«-Domäne bezeichnet
Abschaltwege in Nematoden, Trypanosomen, Fliegen, Pflanzen wird (PAZ: Piwi-Argonaute-Zwille – das sind verwandte Proteine
und Säugern ist die Spaltung einer dsRNA durch eine Doppel- aus Drosophila; . Abb. 8.11a). RNase III produziert aus langer
strang-spezifische RNase, die als Dicer bezeichnet wird. Dicer dsRNA Sequenz-unabhängig einheitlich kleine RNA-Fragmente,
spaltet dsRNA in Fragmente von 21 bis 25 Nukleotiden, die wovon die Bezeichnung Dicer abgeleitet wurde (aus dem Ameri-
dann für die Abschaltung verantwortlich sind; sie enthalten am kanischen: Würfelschneidemaschine). Dicer ist evolutionär stark
3’-Ende jeweils einen Überhang von zwei Nukleotiden. Diese konserviert; homologe Proteine wurden in Hefen, Würmern,
kleinen dsRNA-Fragmente wurden zunächst in Pflanzen beob- Pflanzen und Säugern gefunden. Einige Beispiele sind in
achtet und später in vielen anderen Spezies entdeckt. Sie bilden . Abb. 8.11 gezeigt.
mit einigen Proteinen Ribonukleotid-Protein-Komplexe, die in Heute können wir drei Klassen kleiner, nicht-codierender,
Abhängigkeit von ATP den RNA-Doppelstrang aufschmelzen regulatorischer RNA-Moleküle unterscheiden: siRNA (engl.
und in seine aktive Form überführen (engl. RNA-induced short interfering RNA), miRNA (engl. micro RNA) und piRNA
silencing complex, RISC). Dieser Komplex präsentiert den Ge- (engl. Piwi-interacting RNA). Sie werden im Folgenden bespro-
genstrang der ursprünglichen dsRNA seiner Zielsequenz und chen; einen detaillierten Überblick gibt . Abb. 8.12.
leitet  damit das Abschalten des entsprechenenden Gens ein; Die siRNAs werden aus doppelsträngiger RNA (dsRNA) ge-
einen groben Überblick über den allgemeinen Mechanismus bildet, die Hunderte bis Tausende Basenpaare umfasst und durch
gibt . Abb. 8.10. RNA-Polymerase III synthetisiert wird. Ursprünglich dachte
302 Kapitel 8 · Epigenetik

a RNase III dsRBD . Abb. 8.11 Struktur der Enzyme der


Bakterielle RNase III RNase-III-Familie. a Die Enzyme der
Pro-reich Arg+Ser-reich
RNase IIIa RNase IIIb RNase-III-Familie enthalten mehrere
Humanes Drosha funktionelle Domänen: Am N-Terminus
DExD/H-Box DUF283 PAZ Connector-Helix besitzt nur das humane Dicer-Enzym
Humanes Dicer
eine Helikase-Aktivität (DExD/H-Box:
Asp-Glu-X-Asp/His-Box), der in der
Dicer von G. intestinalis
Mitte des Proteins für Dicer charakte-
ristische Domänen folgen (DUF283,
engl. domain of unknown function; PAZ,
benannt nach den ersten drei Mitglie-
b
dern dieser Familie: Piwi, Argonaute
und Zwille). Dahinter befinden sich ein
oder zwei katalytische RNase-III-Domä-
nen. Am C-Terminus enthalten einige
Enzyme ein Motiv für die Bindung
dsRBD
doppelsträngiger RNA (engl. double-
stranded RNA-binding domain, dsRBD).
b Zwei typische RNase-III-Enzyme sind
RNase-III-
dargestellt: links die Kristallstruktur der
Domäne
RNA-freien RNase III von Thermotoga
8 maritima; rechts die RNase III von Aqui-
Mg2+ fex aeolicus, die geschnittene dsRNA
enthält. Die Farben der Proteindomä-
nen entsprechen denen in a; die RNA
RNase III von T. maritima RNase-III-RNA-Produkt-
ist orange, Mg2+-Ionen in den aktiven
komplex von A. aeolicus Zentren sind lila dargestellt, und die
c Schnittstellen in der RNA sind durch
Mg2+ Pfeile markiert. Aus dieser Struktur wird
klar, dass die dsRBD (blau) eine deut-
liche Rotation bei der Substratbindung
durchführen. c Der molekulare Mecha-
nismus ist am Beispiel der dsRNA-
Spaltung durch das Dicer-Enzym von
Giardia intestinalis gezeigt: links die
RNase IIIa Kristallstruktur in der RNA-freien Form
RNase IIIb und rechts mit gebundener dsRNA.
In diesem Modell führt das Ankoppeln
des 3’-Überhangs des RNA-Substrats
in der PAZ-Domäne zur Spaltung in
einem Abstand von 65 Å (6,5 nm) vom
Connector-
Plattform 3’-Ende. (Nach Jinek und Doudna 2009,
Helix
(DUF283) mit freundlicher Genehmigung der
Nature Publishing Group

PAZ

Dicer von G. intestinalis Modell aus dsRNA und Dicer


(von G. intestinalis)

man, dass nur exogene dsRNA (als Folge viraler Infektionen) zu RNA-Polymerase II transkribiert, zu Strukturen mit Haarnadel-
siRNA führen kann, aber inzwischen wissen wir, dass es auch schleifen weiterverarbeitet und in das Cytoplasma transportiert.
endogene siRNA-Vorläufer gibt. Diese längeren Vorläufermole- Dort werden sie – ähnlich wie die siRNA – zu kleinen (21–25 bp)
küle werden durch verschiedene Mechanismen zu kurzen (21–25 Fragmenten abgebaut.
Nukleotide) dsRNA-Molekülen abgebaut, die dann die eigentli- Die piRNAs haben eine Länge von 24 bis 31 Nukleotiden,
che biologische Wirkung entfalten. und sie inaktivieren mobile genetische Elemente (Transposons;
Die miRNAs werden aus einzelsträngigen RNAs gebildet, die 7 Abschn. 9.1) in männlichen Keimzellen. Die Vorläufer der
als antisense-Transkripte zu bekannten Genen transkribiert wer- reifen piRNAs sind einzelsträngige RNAs; die Gene für piRNAs
den; sie haben ihren Ursprung in intergenischen Regionen oder liegen in der Regel in Clustern bisher nicht annotierter Regionen
Introns. Gene, die miRNA codieren, werden üblicherweise durch des Genoms.
8.2 · Regulatorische RNAs
303 8

a b c

Spaltung
des Beifahrer-
Strangs

Entfernung
des Beifahrer-
Strangs

. Abb. 8.12 Biogenese und Wirkungsmechanismen der wichtigsten Klassen kleiner regulatorischer RNAs. a Kurze interferierende RNA (siRNA) entsteht
aus langer doppelsträngiger RNA (dsRNA), die bei der viralen Replikation, der Transkription zellulärer Gene oder der experimentellen Transfektion entste-
hen können. Die Endonuklease Dicer schneidet diese dsRNA in einem Abstand von ca. 21–25 Nukleotiden. Danach wird ein Strang des siRNA-Duplex
(der Leitstrang) an das Argonaute-Protein (AGO2) gebunden, das den Kern des RNA-induzierten Abschaltungskomplexes (RISC) darstellt. Während der
Bindung wird der andere Strang durch das Argonaute-Protein gespalten und abgestoßen. Dieses kann mit dem verbleibenden RNA-Strang perfekt an die
Zielsequenz binden und zerschneidet sie. Danach wird die zerkleinerte RNA abgestoßen und RISC steht erneut zum Schneiden von RNA zur Verfügung.
b miRNAs sind im Genom codiert und umfassen als primäre Transkripte ca. 65–70 Basen, die durch Haarnadelschleifen charakterisiert sind. Im Zellkern wer-
den diese Haarnadelstrukturen durch den Drosha-DGCR8-Komplex entfernt und die prä-miRNA wird ins Cytoplasma entlassen. Dort schneidet Dicer die
prä-miRNA auf die Größe der miRNA (~ 21–25 Nukleotide). Die miRNA liegt noch als Duplex vor, wobei der Leitstrang an das Argonaute-Protein bindet und
der andere Strang entfernt wird. Es wird vermutet, dass die miRNA-vermittelte Inaktivierung die Translation direkt hemmt und über eine Entfernung des
Poly(A)-Schwanzes der mRNA zu einer Destabilisierung der mRNA führt. c piRNAs umfassen ca. 24–31 Nukleotide und schalten in Keimzellen von Tieren
mobile genetische Elemente (Transposons) ab. Die Vorläufer der piRNAs sind einzelsträngig, sodass ein Dicer-vermittelter Mechanismus entfällt. Die Wir-
kung der piRNA wird durch einen Komplex mit Proteinen der PIWI-Familie vermittelt (dazu gehören in Drosophila PIWI, Aubergine [AUB] und Argonaute 3
[AGO3]). PIWI oder AUB-vermitteltes Zerschneiden von sense-Transkripten führt zu sense-piRNAs, die dann mit AGO3 einen Komplex bilden und so das
Zerschneiden von antisense-Transkripten der Transposons einleiten. Diese zerschnittenen antisense-Transkripte führen jedoch wieder zu antisense-piRNAs,
die daraufhin PIWI und AUB binden und damit das Zerschneiden der sense-Transkripte der Transposons herbeiführen. (Nach Jinek und Doudna 2009, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

> RNA-Interferenz ist eine evolutionär sehr alte Methode zur


Hemmung von RNA-Aktivitäten, die in vielen Organismen ge-
*Die bisherigen Arbeiten haben dazu geführt, auch über ein
mögliches therapeutisches Potenzial der RNA-Interferenz und
funden wird. Dabei wird dsRNA durch eine Typ-III-RNase siRNA nachzudenken – quasi als Alternative oder Ergänzung
(Dicer) in kleine Fragmente (21–23 Nukleotide) gespalten, zu einer Impfung. In einer Vielzahl von Experimenten wurde
die sich an ihre Zielregion in der mRNA anlagern. Die Wirkung die prinzipielle Anwendbarkeit dieses Ansatzes zur Heilung
der einzelnen siRNA-Moleküle wird durch Amplifikation mit- von Krankheiten im Tiermodell bestätigt (für eine Übersicht
hilfe einer RNA-abhängigen RNA-Polymerase vervielfacht. siehe Bumcrot et al. 2006). Das Beispiel der Aderneubildung in
der Choroidea (Aderhaut) des Auges möge das beleuchten:
304 Kapitel 8 · Epigenetik

. Abb. 8.13 Mechanismus der RNA-


endogene Aktivierung. Eine von außen zugeführte
ncRNA
exogene oder natürlich vorkommende saRNA
saRNA AGO
(engl. small activating RNA) wird auf ein
Argonaute-Protein aufgeladen (z. B.
AGO2). Dort wird ein Strang gespalten
und verworfen, sodass ein aktiver Argo-
AGO
naute-Komplex entsteht. Dieser Kom-
Exportin plex gelangt entweder durch aktiven
oder passiven Transport in den Zellkern
, (wenn sich die Kernmembran während
a b, ,
der Mitose auflöst). Der Komplex kann
nun an komplementäre DNA-Sequen-
Transkription
im Wartestand
Transkription zen binden (a) oder an Promotoren
im Wartestand
bzw. 3’-flankierende Regionen ver-
wandter wachsender Transkripte (b),
um mithilfe weiterer Chromatin-Modifi-
katoren eine offene Chromatinstruktur
Aktivierung der Aktivierung der
Transkription Transkription und aktive Transkription zu ermögli-
chen. AGO: Argonaute-Proteine, ncRNA:
nicht-codierende RNA. (Nach Portnoy
8 et al. 2011, mit freundlicher Genehmi-
gung von Wiley)

Die Aderneubildung in der Choroidea ist eine wichtige Ursa- Enzyme heranzuholen, die dann zu einer offenen Chroma-
che der altersabhängigen Makula-Degeneration, einer häufi- tinkonstitution führen und aktive Transkription ermöglichen
gen Erblindungsursache im Alter. In der Maus ist es gelungen, (. Abb. 8.13a). In einer anderen Variante bindet der AGO-RNA-
die Aderneubildung durch Gabe von siRNA gegen den vas- Komplex an Transkripte verwandter Promotoren, und AGO
kulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF) um 84 % zu zieht Histon-modifizierende Enzyme heran, um aktive Chroma-
vermindern (Cashman et al. 2006). Allerdings kann eine Über- tin-Markierungen in dieser chromosomalen Region einzufüh-
sättigung mit siRNA in Leberzellen erwachsener Mäuse auch ren, sodass daraus eine aktive Transkription entstehen kann.
tödliche Folgen haben (Grimm et al. 2006). Diese Methode kann natürlich auch verwendet werden, um
therapeutische Strategien zu entwickeln, die die Genexpression
Neben der hemmenden Wirkung kleiner RNA-Moleküle finden stimulieren.
wir heute zunehmend Hinweise darauf, dass kleine RNA-Mole-
küle auch aktivierend wirken können. Die Verwendung kleiner
RNA-Moleküle, die gegen Promotorsequenzen gerichtet sind, 8.2.2 Kleine interferierende RNA (siRNA)
brachte zunächst das überraschende Ergebnis, dass dadurch die
Expression der jeweiligen Gene nicht gehemmt, sondern viel- Der klassische Auslöser der RNA-Interferenz ist eine lange, line-
mehr intensiviert wird; wir nennen diesen Vorgang in Analogie are dsRNA, die eine perfekte Basenpaarung mit ihrer Zielse-
zur RNA-Interferenz »RNA-Aktivierung« (RNAa). Beispiele da- quenz ermöglicht. Wie wir oben gesehen haben, wird sie dann
für waren zunächst die Promotoren der Gene, die für E-Cadherin durch Dicer weiterverarbeitet. Ursprünglich wurde diese lange
oder für den vaskulären endothelialen Wachstumsfaktor (VEGF) dsRNA in transgenen Pflanzen oder in Pflanzen nach einer Vi-
codieren; heute kennen wir schon eine ganze Reihe von Genen rusinfektion entdeckt. Später hat man Centromere, Transposons
bei Säugern, bei denen dieser Mechanismus zur Regulation der (7 Abschn. 9.1) oder andere repetitive Sequenzen als Quellen der
Genexpression beiträgt. In . Abb. 8.13 ist ein Modell gezeigt, wie siRNA identifiziert, und heute wissen wir, dass siRNA auch aus
man sich RNAa vorstellt: Eine endogene oder exogene kleine, spezifischen genomischen Transkripten hergestellt werden kann.
nicht-codierende RNA (ncRNA) wird auf ein Argonaute-Protein siRNAs sind also nicht nur Produkte exogener Nukleinsäuren,
aufgeladen und durch den Abbau eines der beiden RNA-Doppel- sondern entstehen ebenso aus endogenen genomischen Regio-
stränge aktiviert. Der Argonaute-RNA-Komplex gelangt in den nen. Sie werden durch RNA-Polymerase III synthetisiert, und
Zellkern, wo er an komplementäre genomische DNA-Sequenzen diese Vorläufer haben eine obligate Phase im Zellkern.
binden kann oder auch an nicht-codierende RNA-Sequenzen, In . Abb. 8.12a ist auch der zentrale Schritt der Herstellung
die schon an DNA gebunden sind. Der AGO-RNA-Komplex aktiver siRNA-Moleküle gezeigt, nämlich die Bildung von RISC
startet dann Prozesse, die sich von der RNA-Interferenz da- (engl. RNA-induced silencing complex). Dazu lagern sich mindes-
durch  unterscheiden, dass die Chromatinstrukturen und der tens drei Proteine aneinander: Dicer, Argonaute-2 (AGO2) und
epigenetische Zustand der Zielregion verändert werden. Das TRBP (engl. trans-activation-responsive RNA-binding protein);
kann dadurch geschehen, dass mithilfe des AGO-Proteins eine dieser Komplex bindet die dsRNA, schneidet sie in die kurzen
RNA-DNA-Duplex- oder -Triplexstruktur entstehen kann; dabei siRNA-Fragmente und verwirft einen der beiden RNA-Stränge,
dient das AGO-Protein als Plattform, um Histon-modifizierende der im Englischen als passenger strand und hier als »Beifahrer-
8.2 · Regulatorische RNAs
305 8

AGO

. Abb. 8.14 Mechanismen der Inaktivierung durch siRNA. Während der klassischen RNA-Interferenz (rechts unten) erkennt der siRISC-Komplex (AGO) per-
fekt komplementäre mRNA und führt zu einer AGO-katalysierten Spaltung der mRNA. Nach der Spaltung wird der funktionelle siRISC-Komplex regeneriert
und die gespaltene mRNA weiter abgebaut. siRNA kann aber auch unvollständig an Zielsequenzen binden (rechts oben). In einigen Fällen kann sie Zielgene
durch miRNA-ähnliche Mechanismen (Hemmung der Translation, exonukleolytischer Abbau; . Abb. 8.15) stilllegen. Schließlich kann der siRISC-Komplex
aber auch zur Bildung von Heterochromatin führen (links) – dabei bindet er an entstehende Transkripte und RNA-Polymerasen (RNA-Pol II in Hefen und
RNA-Pol IV/V in Arabidopsis thaliana). In Pflanzen (links unten) führt das zur Aktivierung einer DNA-Methyltransferase (DMT), die DNA methyliert und damit
zur Bildung von Heterochromatin führt. In Hefen (und wahrscheinlich auch in Tieren; links oben) ist eine Histon-Methyltransferase (HMT) beteiligt, die den
Lysin-Rest 9 im Histon H3 methyliert und dadurch zur Bildung von Heterochromatin führt. In den meisten Eukaryoten (außer Insekten und Säugern) indu-
ziert der siRISC-Komplex die Synthese sekundärer dsRNAs und siRNAs durch RNA-abhängige RNA-Polymerasen (RdRP; Mitte unten). Diese sekundären
dsRNAs werden durch Dicer gespalten und dem Pool der aktiven siRISC-Komplexe hinzugefügt. In Nematoden treten viele dieser sekundären siRNAs als
einzelsträngige Transkripte mit 5’-Triphosphaten (PPP) auf und benötigen keine Bearbeitung durch Dicer. (Nach Carthew und Sontheimer 2009, mit freund-
licher Genehmigung von Elsevier)

Strang« bezeichnet wird. Dabei zeigen die basischen Argonaute- zu einem perfekt passenden Transkript, das dann abgebaut wird.
Proteine RNA-bindende und Mg2+-abhängige Endonuklease- Der RNA-Abbau erfolgt durch die Piwi-Domäne des Argonaute-
Aktivitäten. Durch diese Reaktion wird RISC aktiviert, und der Proteins und ist sehr präzise: Es wird die Phosphodiesterbindung
guide strand (Leitstrang) kann seine inaktivierende Wirkung zwischen den Nukleotiden 10 und 11 (gezählt vom 5’-Ende her)
entfalten. Dabei erscheint die Auswahl des zu eliminierenden gespalten, wobei Produkte mit einem 5’-Monophosphat und mit
Strangs nicht von der Anwesenheit des Zielstrangs abhängig zu einem 3’-OH-Ende entstehen. Nach diesem initialen Schnitt
sein, sondern allein von den relativen thermodynamischen Sta- wird der Abbau durch Exonukleasen vollendet. Durch zusätz-
bilitäten der beiden Enden des Doppelstrangs: Derjenige der liche Faktoren und unter ATP-Verbrauch kann RISC wieder in
beiden Stränge, dessen 5’-Ende die weniger stabile Basenpaarung seine aktive Form zurückgeführt werden.
zeigt, wird als Leitstrang bevorzugt. Die thermodynamische Wenn jedoch der siRNA-Strang nicht korrekt auf Transkrip-
Asymmetrie führt damit eher zu einer abgestuften Wirkung und te passt, kann eine Hemmung der Ziel-RNA durch Repression
folgt weniger einem Alles-oder-nichts-Prinzip. Die Details dieses der Translation erfolgen – dieser Mechanismus ist nicht unter-
Mechanismus scheinen allerdings bei verschiedenen Spezies scheidbar von der Inaktivierung durch miRNA, die wir im
unterschiedlich ausgestaltet und sind Gegenstand vielfältiger 7 Abschn. 8.2.3 besprechen werden. Eine weitere Möglichkeit der
Untersuchungen. Ebenso verhält es sich mit den verschiede- Inaktivierung durch RISC besteht in der Bildung von Hetero-
nen Cofaktoren, die notwendig sind, um die unterschiedlichen chromatin; dieser Mechanismus ist am besten in der Hefe unter-
siRNAs herzustellen und RISC zu aktivieren. sucht, kommt aber auch in Pflanzen und Tieren vor. Dabei wird
Die verschiedenen Möglichkeiten, wie siRNA Zielgene inak- das Argonaute-Protein durch die gebundene siRNA an spezifi-
tivieren kann, sind in . Abb. 8.14 zusammengefasst. In der klas- sche chromosomale Regionen herangeführt, wobei die siRNA
sischen RNA-Interferenz führt der gebundene Einzelstrang RISC offensichtlich wachsende Transkripte erkennt. Durch diese
306 Kapitel 8 · Epigenetik

Wechselwirkung wird die Methylierung von Histon H3 am ersten Verarbeitungsschritt, der im Zellkern stattfindet, schnei-
Lysin-Rest 9 (H3K9) erleichtert und die Kondensation des det Drosha (in Tieren) bzw. das Dicer-ähnliche Enzym Dcl1
Chromosomenabschnitts eingeleitet. In Pflanzen erfolgt die (engl. dicer-like 1; in Pflanzen) diesen Stamm mit Haarnadel-
Heterochromatisierung eher über DNA-Methylierung statt über schleife ab; in einem zweiten Schritt wird eine terminale Haarna-
Histon-Methylierung. delschleife abgeschnitten, sodass dann der reife miRNA-Doppel-
strang mit einer Länge von ca. 22 Nukleotiden entsteht. In
Pflanzen wird auch der zweite Schritt durch Dcl1 im Zellkern
8.2.3 Mikro-RNA (miRNA) durchgeführt (und zwar an den Nukleolus-assoziierten Cajal-
Körperchen; . Abb. 5.17), wohingegen in Tieren dieser zweite
Obwohl wir in den vergangenen Jahren schon einiges über Schritt durch Dicer im Cytoplasma erfolgt (. Abb. 8.12).
miRNAs gelernt haben, sind wir noch weit davon entfernt, einfa- Ein wesentlicher Unterschied zwischen miRNAs und den
che Regeln ihrer Entstehung und ihres Wirkmechanismus aufzu- meisten siRNAs besteht in der Genauigkeit der Enden. Dies wird
stellen. miRNAs zeigen sehr verschiedene Aspekte und widerset- durch den ersten Schnitt erreicht, der üblicherweise in einem Ab-
zen sich einer einfachen Klassifizierung. Mannigfaltigkeit ist eine stand von 11 Nukleotiden von dem Übergang des doppelsträngi-
Schlüsseleigenschaft von Lebensvorgängen – und die miRNAs gen Stamms zu der flankierenden Region durchgeführt wird.
bilden darin keine Ausnahme. miRNAs werden bei Pflanzen und Dieser Abstand entspricht genau einer Windung der dsRNA-Helix
Tieren gefunden und von einer verblüffenden Anzahl von Ge- und ist der minimale Abstand, bei dem ein RNase-III-Enzym
nen  codiert. Diese Gene werden von der RNA-Polymerase II schneiden kann. In analoger Weise schneidet Dicer in einem Ab-
8 transkribiert, sie erhalten eine 5’-Kappe und ein Poly(A)-Ende. stand von ungefähr 22 Nukleotiden (zwei dsRNA-Helix-Windun-
Ein miRNA-Transkript kann entweder Gruppen verschiedener gen) vom Ende, weil die PAZ-Domäne von Dicer bevorzugt an die
miRNAs enthalten oder auch ein Protein-codierendes Transkript; Enden eines dsRNA-Strangs bindet. Allerdings ist dieser Mecha-
in diesem Fall befindet sich der miRNA-codierende Bereich oft in nismus im Detail noch komplexer und von mehreren Cofaktoren
einem Intron. Es ist wahrscheinlich, dass viele miRNAs durch abhängig, die sich auch von Spezies zu Spezies unterscheiden
Nukleotidaustausche entstanden sind und nicht so sehr durch können. Der nächste Schritt besteht wie bei den siRNAs in der
Duplikationsereignisse. Bei miRNAs, die in Introns liegen, ist Bindung an RISC, wobei die Auswahl des Strangs, der an RISC
durch die Regulation der Expression des Gesamtgens auch die gebunden bleibt, nicht so eindeutig ist wie bei den siRNAs.
Expression der miRNA gewährleistet, sodass keine eigenen regu- Die an RISC gebundene miRNA dirigiert den gesamten Kom-
latorischen Mechanismen entwickelt werden müssen. plex an die Bindestelle des Zieltranskripts; diese Bindestellen lie-
Das primäre miRNA-Transkript enthält zunächst noch zu- gen bei Pflanzen in der codierenden Region und bei Tieren in der
sätzliche Abschnitte oberhalb und unterhalb der eigentlichen Regel in der nicht-translatierten Region des 3’-Endes. Im Gegen-
miRNA-Sequenz, die abgeschnitten werden müssen, um eine satz zu den Pflanzen erfolgt bei Tieren die Bindung nicht durch
reife und aktive Form der miRNA zu erhalten. Üblicherweise vollständige Basenpaarung, sondern enthält auch Ausbuchtungen
bilden in einer primären miRNA ungefähr 33 Nukleotide einen und Fehlpaarungen; wichtig sind aber vollständige Basenpaarun-
unvollständig gepaarten Stamm mit einer Haarnadelschleife. Im gen der Nukleotide 2–8 der miRNA (engl. seed region).

. Abb. 8.15 Verschiedene mögliche Mecha-


nismen der miRNA-vermittelten Hemmung.
Nicht-reprimierte mRNA rekrutiert Initiations-
faktoren und ribosomale Untereinheiten von
zirkulären Strukturen, die die Translation
verstärken (oben). Wenn miRISC-Komplexe an
mRNAs binden, können sie die Initiation der
Translation im Stadium der Erkennung der
5’-Kappe unterdrücken (links oben) oder später
im Stadium der Bindung an die 60S-Riboso-
menuntereinheit (links unten). Alternativ kön-
nen sie auch die Deadenylierung der mRNA
initiieren und dadurch die Zirkularisierung der
mRNA hemmen (unten). Sie können ebenso ein
vorzeitiges Ablösen der mRNA vom Ribosom
initiieren (rechts unten). Schließlich besteht die
Möglichkeit, den mRNA-Abbau durch Deade-
nylierung und anschließendes Entfernen der
5’-Kappe zu beschleunigen. (Nach Carthew
und Sontheimer 2009, mit freundlicher Geneh-
migung von Elsevier)
8.2 · Regulatorische RNAs
307 8
A B C D E genomisches
piRNA-Cluster
Bearbeitung primärer
piRNAs
Piwi/AUB UCC 5’
AU CCG AUGCGUC
3’ AGCCG ACGGU
antisense- 5’ UACGCAGAGGCCUAAGUAAAUAGUC 3’ 3’ AGCCGACGGUAUCCGAUGCG UCUCC
5’
piRNA
UCC 5’
GUAU CC GAUGCGUC
CG AUGCGUCUCC 5’
3’ AG CCGA 3’ AGCCGACGGUAUCCG
AUGCGUCUCC 5’
3’ AGCCGACGG UAUCCG
Piwi/AUB
5’ UACGCAGAGGCCUAAGUAAAUAGUC 3’
Ziel: Transposon-
3’ CCCUCGAGCCGACGGUAUCCGAUGCGUCUCCGGAUUCAUUUAUCAGCUAAGUAACCCGGCG 5’ Transkript

Spaltung eines Transposon-Transkripts


erzeugt neue sense-piRNAs

Piwi/AUB AGO3
antisense-
piRNA 5’ UACGCAGAGGCACCUAUGCGAUCGG 3’ 3’ AGCCGACGGUAUCCGAUGCGUCUCC 5’ sense-
piRNA

Spaltung eines Transkripts aus einem


AGO3 piRNA-Cluster erzeugt neue antisense-piRNAs
3’ AGCCGACGGUAUCCGAUGCGUCUCC 5’
genomisches
5’ GCCGCAUACGUCGGCUGCCAUAGGCUACGCAGAGGCACCUAUGCGAUCGG CAAUUCUCAGUC 3’ piRNA-Cluster

5’ UACGCAGAGGCACCU
AUG CGAUCGG 3’
5’ UACGCA
G AGGCACC
UAUGCGAU
CG G 3’
UG CG AU CG G 3’
CCUA
5’ UACG CA GA GG CA CCUAUGCGAUCGG 3’
5’ UACGCAGAGGCA
5’ UACGCAGA
GGCACCUA
UGCGAUCG
G 3’

. Abb. 8.16 Amplifikation der piRNA-Biogenese. Piwi-vermittelte Spaltungen erzeugen neue piRNAs, wodurch ein sich selbst verstärkender Kreislauf ent-
steht. Der Zyklus beginnt mit der Bearbeitung der primären piRNAs, die aus defekten Kopien von Transposons in heterochromatischen Regionen entstehen
(A–E). Piwi-Proteine spalten die Zielgene zwischen den Nukleotiden 10 und 11 vom 5’-Ende der piRNAs; eine Endonuklease spaltet das 3’-Ende der piRNA-
Vorläufer. Primäre piRNAs haben eine antisense-Orientierung zu exprimierten Transposons und binden entweder Piwi- oder Aubergine(AUB)-Proteine.
Die Piwi/AUB-Komplexe identifizieren und spalten ihre Zieltranskripte der Transposons und erzeugen dadurch neue piRNAs, die das AGO3-Protein binden.
Dieser sekundäre piRNA-AGO3-Komplex führt zu einem zweiten Spaltungsereignis an einem anderen Transkript eines piRNA-Clusters, das zur Bildung
einer neuen antisense-piRNA führt, die erneut an Piwi oder AUB binden kann. Eine Verstärkung kann dann auftreten, wenn die Transkription von Transpo-
sons und/oder prä-piRNA-Transkripten zusätzliche, unbearbeitete RNAs in das System pumpt (grüne Pfeile). Der Kreislauf wird so lange aufrechterhalten,
wie sekundäre piRNAs in der Lage sind, ihre Zieltranskripte in den Transposon-Elementen zu erkennen und zu schneiden, wodurch neue piRNA entsteht.
(Nach O’Donnell und Boeke 2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

C Wie klassische Mutationen (7 Kap. 10), können auch Muta- ständig abgeschaltet sind. Beide Gene werden in den Haar-
tionen in miRNAs zu Erbkrankheiten führen. Punktmutatio- zellen der Cochlea exprimiert und sind vermutlich für deren
nen in der seed-Region von miR-96 führen zu einem nicht- Degeneration verantwortlich. Die beiden Arbeiten zeigen in
syndromischen, progressiven Verlust des Hörvermögens. sich ergänzender Weise zum ersten Mal die Bedeutung von
Mencía et al. (2009) berichten von zwei verschiedenen Mu- Mutationen in einer miRNA für den Ausbruch einer Erb-
tationen (+13GൺA; +14CൺA) in zwei Familien; der dritte krankheit mit Mendel’schem Erbgang.
»Fall« (Lewis et al. 2009) ist eine Mutation in der Maus und
betrifft die nächste Base in der seed-Region (+15AൺT). Die
Autoren der Familienstudie untersuchten den Einfluss der
*chenden
Allerdings sind die Mechanismen, durch die die entspre-
Zielgene durch miRNA stillgelegt werden, noch
Mutationen auf einige Zielgene. Dabei zeigte die Wildtyp- Gegenstand intensiver Arbeiten. Einige Möglichkeiten sind
Form von miR-96 in allen Fällen eine Hemmung um etwa in . Abb. 8.15 dargestellt; es werden insbesondere drei
50 %, die durch die mutierten Formen teilweise wieder auf- Modelle diskutiert:
gehoben wurden. Die Autoren der Mausmutante stellten 1. Konkurrenz zwischen dem miRNA-aktivierten RISC und
darüber hinaus fest, dass in der Mutante zwei Gene fast voll- dem 5’-Ende der mRNA um die Methylguanosin-Kappe;
308 Kapitel 8 · Epigenetik

2. Stimulierung der Deadenylierung am 3’-Ende der mRNA gewünschten Haarnadelstrukturen ausprägen können
durch den miRNA-aktivierten RISC; (z. B. kleine Introns, snoRNAs, tRNA-Vorläufer). Dicer-unab-
3. Blockade der Assoziation der 60S-ribosomalen Unterein- hängige Wege finden wir, wenn AGO2 oder die tRNAse Z
heit und der 40S-ribosomalen Untereinheit durch den den Abbau des miRNA-Vorläufers übernimmt. Eine detail-
miRNA-aktivierten RISC. lierte Darstellung dieser nicht-kanonischen Wege findet
sich bei Miyoshi et al. 2010.
Wir sind im Moment noch nicht in der Lage, einen einheitli-
chen Wirkmechanismus zu beschreiben und die verschiede-
nen Aspekte diesem zuzuordnen – es könnte natürlich auch 8.2.4 Piwi-interagierende RNA (piRNA)
sein, dass es verschiedene Mechanismen gibt, die Spezies-
und Kontext-abhängig (z. B. im Zellzyklus) unterschiedlich Die piRNAs haben ihren Namen aufgrund der Bindung an Piwi-
ablaufen. Proteine, einer Untergruppe der Argonaute-Proteine. Sie wurden
zunächst in Drosophila identifiziert und sind für die Funktion
*Neben dem hier dargestellten, als »üblich« bezeichneten
Weg der miRNA-Bildung (»kanonischer Weg«) gibt es noch
der Keimzellen unerlässlich (engl. P element-induced wimpy
testes); die entsprechenden murinen Homologe Miwi und Mili
weitere Varianten, wie miRNAs entstehen können. Diese sowie das Zebrafisch-Homolog Ziwi haben sich als essenziell
»unüblichen« Wege (»nicht-kanonische Wege«) verzichten für die Spermatogenese erwiesen. Kleine doppelstränge RNA-
entweder auf den ersten Schritt im Zellkern, bei dem durch Moleküle, die mit dieser Proteinfamilie interagieren, werden als
8 Drosha die Haarnadelstrukturen herausgeschnitten werden, piRNAs bezeichnet. Neben dem Piwi-Protein spielt auch das
oder auf den zweiten Schritt im Cytoplasma, bei dem durch Protein Aubergine (Gensymbol: Aub) eine wichtige Rolle. Es
Dicer die miRNAs auf ihre endgültige Länge von 21 bis 25 wird bei Drosophila benötigt, um die Polzellen (. Abb. 12.20) zu
Nukleotiden verkürzt werden. Der Verzicht auf Drosha ist bilden; und es zeigt Ähnlichkeit mit dem Translations-Initia-
möglich bei kleinen RNA-Molekülen, die von sich aus die tionsfaktor 2C.

a . Abb. 8.17 Mögliche Mechanismen der


-
Maus-piRNA-Cluster
piRNA-vermittelten Hemmung. a Gruppen von
piRNAs entstehen aus einzelnen Genorten,
(+)-Strang die 1–100 kb umfassen; einige werden bidirek-
tional transkribiert. Die Balken deuten die Zahl
der indivuellen piRNAs an, die in jedem Inter-
(-)-Strang vall identifiziert wurden (rot: oberer Strang;
blau: unterer Strang). b Der piRNA-Komplex
(piRC) kann im Zellkern verschiedene Funktio-
nen ausführen, z. B. die Markierung wichtiger
genomischer Bereiche durch epigenetische
b Mechanismen (wie in Ciliaten) oder durch
piRC-Funktion am
Spaltung einer RNA (wie in Schizosaccharomy-
Chromosom? ces pombe). Der piRC kann ebenso im Cyto-
plasma seine Wirkung entfalten, um eine
Transposon-Aktivität zu unterbinden (wie in
Drosophila), oder er könnte auf die chromato-
iden Körper einwirken, die als RNA-Bearbei-
tungszentrum verstanden werden. (Nach Seto
et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung
piRNA-Cluster von Elsevier)

piRC-Funktion an
chromatoiden Körpern?
Zellkern

piRC-Funktion bei der


Unterdrückung von Transposons?
Cytoplasma
8.2 · Regulatorische RNAs
309 8
Die piRNAs unterscheiden sich von den oben besprochenen
si- und miRNAs durch ihre durchschnittliche Länge von 24 bis
31 Nukleotiden. Außerdem sind sie (wie die miRNA von Pflan-
zen) am 3’-Ende methyliert. . Abb. 8.16 gibt einen Überblick über
die Biogenese der piRNAs sowie über den Mechanismus, mit des-
sen Hilfe die Wirkung der piRNAs wesentlich verstärkt werden
kann. Dieser Mechanismus erinnert an die Verstärkung der
siRNA-Wirkung, die wir bereits in . Abb. 8.14 kennengelernt
haben.
Die Gene für piRNAs befinden sich in wenigen genomi-
schen Regionen; einzelne Gruppen umfassen 1–100 kb und
codieren für 10 bis 4500 piRNAs (. Abb. 8.17a). piRNAs aus
diesen genomischen Gruppen werden offensichtlich zunächst in
einem langen Transkript hergestellt und später weiterverarbei-
tet; daraus erklärt sich die häufig beobachtete asymmetrische
Orientierung der piRNAs. Besondere Sekundärstrukturen oder
doppelsträngige Vorläufermoleküle sind bisher nicht entdeckt
worden.
Die Funktion der piRNAs liegt wahrscheinlich hauptsäch-
lich in der Kontrolle beweglicher genetischer Elemente (Trans-
posons), da die Sequenzen der piRNA häufig Sequenzhomo-
logien zu Transposons aufweisen. Aufgrund der Lokalisation
. Abb. 8.18 Symptome einer Tomatenpflanze, die mit der japanischen
der Piwi-Proteine werden aber auch andere Funktionen dis- Form des TCDVd (engl. tomato chlorotic dwarf viroid) infiziert wurde. Die
kutiert, z. B. epigenetische Markierungen bestimmter chromo- Pflanze bleibt klein und zeigt vergilbte (chlorotische) Blätter, was auf den
somaler Regionen oder die Bearbeitung von RNA in männ- Verlust an Chlorophyll in den Blättern zurückzuführen ist (Chlorose).
lichen Keimzellen in den chromatoiden Körpern, einer dyna- (Nach Matsushita et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
mischen Struktur im Cytoplasma haploider Spermatiden.
Eine Übersicht über diese möglichen Funktionen gibt . Abb.
8.17b. *Das Hepatitis-delta-Virus (HDV) des Menschen zeigt struk-
turell manche Ähnlichkeiten mit den Viroiden der Pflanzen
und wird ebenfalls durch einen rolling-circle-Mechanismus
8.2.5 Viroide: kleine infektiöse RNA-Moleküle repliziert. Allerdings codiert das HDV für ein Protein (das
δ-Antigen), das eine Kapsel für die RNA darstellt. Für die Ver-
Viroide sind kleine, einzelsträngige, zirkuläre RNA-Moleküle; packung der RNA mit diesem Protein ist aber die Unterstüt-
sie sind etwa 250 bis 400 Nukleotide lang und können verschie- zung durch ein Hüllprotein des Hepatitis-B-Virus nötig. Die
dene Nutzpflanzen infizieren und dabei Krankheiten von be- HDV-RNA ist größer als die der pflanzlichen Viroide (ca. 1680
trächtlicher wirtschaftlicher Bedeutung verursachen; besonders Nukleotide) und hat Ribozym-Aktivitäten (7 Abschn. 3.5.4).
betroffen sind Kartoffelpflanzen, Tomaten, Zitrusfrüchte und Das HDV wurde bisher nur bei Menschen gefunden; es wird
Weintrauben. Die Infektion erfolgt häufig über mechanische vermutet, dass es ein Relikt aus der früheren »RNA-Welt«
Vorschädigungen; die Krankheitsformen sind variabel und rei- ist.
chen von geringen Wachstumsverzögerungen bis zu schweren
Deformationen, Nekrosen und schweren Verkümmerungen. Die Das erste Viroid wurde 1967 von Theodor O. Diener als Ursache
Symptome hängen sehr stark von Umwelteinflüssen ab und der Spindelknollensucht bei Kartoffeln entdeckt; das Viroid wird
können sich auch während des Krankheitsverlaufs ändern. Ein deshalb als potato spindle tuber viroid (PSTVd) bezeichnet. Die
Beispiel der Tomate zeigt . Abb. 8.18. Aufklärung der RNA-Sequenz und Sekundärstruktur gelang der
Viroide haben keine Codierungsmöglichkeit, und bisher hat Gruppe um Heinz-Ludwig Sänger im Jahr 1978 (Gross et al.
man auch keine Viroid-codierten Proteine entdeckt. Viroide sind 1978; . Abb. 8.19). Aus der Sequenz wird sofort klar, dass es
außerdem nicht in einer Kapsel verpackt. Sie replizieren in den keinen offenen Leserahmen für ein Protein gibt; es fällt weiterhin
Wirtspflanzen in einem rolling-circle-Mechanismus. Dabei wer- die starke intramolekulare Basenpaarung der RNA auf, die in
den oligomere, lineare RNA-Moleküle gebildet. Der jeweilige diesem Fall zu einer stabförmigen Anordnung führt. Dieses Vi-
»+«-Strang wird in Monomere geschnitten, und mithilfe einer roid ist ein Vertreter der Klasse der Pospiviroide. Anders dagegen
Ligase werden die beiden Enden ligiert, sodass ein ringförmiges das latente Mosaik-Viroid des Pfirsichs (engl. peach latent mosaic
Molekül entsteht; der »−«-Strang wird abgebaut. Viroide kom- viroid, PLMVd): Neben einem linearen Anteil verfügt es auch
men entweder im Zellkern oder in den Chloroplasten vor und über eine verzweigte Struktur (. Abb. 8.19), die eine Ribozym-
werden dort auch repliziert; man kann Viroide deshalb auch als Aktivität aufweist und zur Gruppe der Hammerkopf-Ribozyme
Parasiten der Transkriptionsmaschinerie der Organellen be- gehört (7 Abschn. 3.5.4). Dieses Viroid gehört zur Familie der
trachten. Avsunviroide.
310 Kapitel 8 · Epigenetik

. Abb. 8.19 Sekundärstrukturen pflanzlicher Viroide. a Die stabförmige Anordnung des PSTVd (engl. potato spindle tuber viroid) weist fünf Domänen auf,
die für die Familie der Pospiviroide charakteristisch ist: die linke und rechte Endregion (TL und TR), die pathogene Region (P), eine zentrale (C) sowie eine
variable (V) Region. Innerhalb der C-Domäne gibt es eine besonders konservierte Region (CCR), sie enthält ein UV-sensitives Element mit ungewöhnlichen
Basenpaarungen (kleine Kreise; Loop E). Die linke Endregion enthält ebenfalls stark konservierte Elemente (engl. terminal conserved region, TCR); am rechten
Ende befinden sich zwei Protein-bindende Motive (RY). b Die verzweigte Sekundärstruktur des PLMVd (engl. peach latent mosaic viroid) ist charakteristisch
für die Familie der Avsunviroide. Die Grenzen der Selbstspaltungsdomäne sind durch kleine Fähnchen markiert. Die Nukleotide, die in den meisten Ham-
merkopf-Ribozymen konserviert sind, sind durch Balken und die Schnittstellen selbst durch Pfeile markiert. Die gefüllten und offenen Symbole beziehen sich
auf den Plus- bzw. Minus-Strang. Nukleotide, die an Basenpaarungen der Schleifenregionen zweier Haarnadelschleifen beteiligt sind, sind durch unterbro-
chene Linien verbunden; möglicherweise gibt es noch Basenpaarungen zwischen den Schlaufen A und B. (Nach Owens und Hammond 2009, mit freund-
licher Genehmigung der Autoren)

Wir können in vielen Fällen beobachten, dass manche Pflan- eine gewisse Wirtsspezifität: Der Austausch von einigen Basen in
zen für eine Infektion durch Viroide empfänglich sind, aber der pathogenen Domäne und in der rechten Endregion entschei-
andere nicht. So ist beispielsweise Arabidopsis gegenüber einer det darüber, ob das Viroid Tabakpflanzen oder Tomaten befällt.
Infektion durch PSTVd resistent, wohingegen Tomaten von die- Im Kontext dieses Abschnitts über kleine regulatorische
sem Viroid befallen werden. Ein interessantes Protein in diesem RNAs ist es sicherlich auch interessant zu erfahren, ob Viroide als
Kontext ist Virp1, ein Viroid-bindendes Protein: Virp1 enthält Quellen für siRNA oder miRNA genutzt werden können und ob
Kernlokalisationssequenzen, eine RNA-Bindungsdomäne und die dadurch vermittelte Stilllegung mancher Gene der Wirts-
eine Bromodomäne (die auch in vielen Chromatin-Modifizie- pflanze entsprechende Krankheitsformen erklären kann. Und in
rungsfaktoren gefunden wird). Die C-terminale Domäne von der Tat haben verschiedene Gruppen im Cytoplasma infizierter
Virp1 enthält eine RNA-Bindungsstelle, die mit dem rechten ter- Pflanzen kleine RNA-Fragmente gefunden (21–25 Nukleotide),
minalen Ende der Viroid-RNA spezifisch in Wechselwirkung die unterschiedlichen Fragmenten der jeweiligen Viroide ent-
treten kann. Wenn Virp1 in der australischen Tabakpflanze Ni- sprechen. Diese viroidale siRNA verhindert die Akkumulation
cotiana benthamiana ausgeschaltet wird, gibt es keine Infektion der genomischen viroiden RNA in infizierten Pflanzen. Durch
durch PSTVd! Daher ist Virp1 ein Kandidat für ein Empfindlich- die RNA-abhängige RNA-Polymerase des Wirts werden außer-
keitsgen gegenüber einer Infektion durch Viroide. Auf der ande- dem weitere 21 Nukleotide lange siRNA-Duplexmoleküle syn-
ren Seite erzeugen spezifische Mutationen in der Viroid-RNA thetisiert, die offensichtlich als mobile Signalmoleküle über ver-
8.2 · Regulatorische RNAs
311 8
schiedene Pflanzenzellen hinweg wirksam werden können. Da- nen sie im Zellkern sowohl mit Proteinen (z. B. Histon-Modifi-
mit beschränkt die RNA-abhängige RNA-Polymerase die Wir- katoren, die DNA-Methylierungsmaschinerie oder Transkrip-
kung von PSTVd auf den Bereich der Blüten und das Meristem. tionsfaktoren) als auch mit Nukleinsäuren schnell in Wechsel-
Andererseits sind bestimmte viroidale siRNA-Moleküle auch in wirkung treten. Dadurch kann ein »Anker« geschaffen werden,
der Lage, spezifische mRNAs des Wirts zu hemmen, z. B. die der zur Bildung oder Veränderung von Domänen im Zell-
Expression eines Hitzeschockproteins (Hsp90) oder eines Gens kern  führt, indem Proteine von ihrem aktuellen Wirkungsort
für die Chlorophyllsynthese (CHLI). Man könnte diesen Mecha- abgezogen oder zu einem neuen Wirkungsort herangezogen
nismus als eine Art »Wettrüsten« interpretieren, bei dem Angrei- werden können; sie können auch einzelne Regionen verschie-
fer immer wieder neue Methoden »ersinnen«, um die Abwehr zu dener Chromosomen miteinander verbinden. Wie wir später
umgehen (in Wirklichkeit ist es natürlich so, dass spontane Mu- im 7 Abschn. 8.3 über Dosiskompensation der Geschlechts-
tationen einen Vorteil im Kampf gegen die Abwehr ermöglichen chromosomen sehen werden, sind lncRNAs außerdem in der
und sich deswegen schließlich durchsetzen). Für weitere Details Lage, ganze Chromosomen abzuschalten. Auch genetische
sei der interessierte Leser auf entsprechende Übersichtsartikel Prägung (engl. imprinting) wird häufig durch lncRNA vermittelt
verwiesen, z. B. Navarro et al. (2012). (7 Abschn. 8.4).
Ein (häufiger) Spezialfall der lncRNA sind Gegenstrang-
> Viroide sind kleine einzelsträngige RNA-Moleküle, die sich
Transkripte (engl. natural antisense transcripts, NATs). Diese
über weite Strecken als Doppelstrang organisieren kön-
Form der lncRNA überlappt teilweise oder sogar vollständig mit
nen. Sie infizieren bestimmte Pflanzen; die Infektion kann
der mRNA und ist offensichtlich wesentlich häufiger, als man
zu vermindertem Wachstum und Ausbleichen der Blätter
früher angenommen hatte: 50–70 % der Transkripte haben Ge-
(Chlorose) führen. Die doppelsträngigen Bereiche der Vi-
genstrang-Partner! Neben der Möglichkeit der RNA-Interferenz
roide werden von Dicer gespalten, was einerseits zu einer
(7 Abschn. 8.2.1) bestehen vielfältige Möglichkeiten, die Expres-
Abschwächung der Viroid-Vermehrung führt, aber auch
sion des Sinnstrangs zu beeinflussen – dazu gehören alternatives
zum Abschalten zellulärer Proteine.
Spleißen und auch die Translation der mRNA. Einige Beispiele
dazu werden in . Abb. 8.20 vorgestellt.
Wir haben schon bei der Besprechung der tRNA (7 Abschn.
8.2.6 Lange, nicht-codierende RNA 3.5.3) gesehen, dass die Sekundärstruktur des Moleküls für seine
Funktion von besonderer Bedeutung ist. Diese Aussage gilt in
Im Gegensatz zu den kleinen regulatorischen RNAs, die wir ähnlicher Weise für die Funktion der lncRNA; unterstrichen
in den vorherigen Abschnitten besprochen haben, steckt das wird dies auch durch viele experimentelle Befunde, dass einzelne
Gebiet der langen, nicht-codierenden RNAs noch in den Kin- Nukleotide der lncRNA nach der Transkription in vielfältiger
derschuhen. Um zunächst die »langen« von den »kleinen« Weise modifiziert werden können. Dadurch unterscheidet sich
nicht-codierenden RNAs abzugrenzen, wollen wir uns auf 200 die lncRNA wesentlich von der mRNA, und es ergibt sich für die
Nukleotide als die Grenze verständigen: Größere RNAs ohne lncRNA somit die Möglichkeit, andere Basenpaarungen (»Nicht-
Möglichkeit, Proteine zu codieren, wollen wir als »lange, nicht- Watson-Crick-Paarungen«) einzugehen, die zu einer höheren
codierende RNA« (lncRNA) bezeichnen. Diese Definition ist Faltungsenergie im Vergleich zur mRNA führen. Im Einzelnen
sehr breit und umfasst verschiedene Klassen von RNA-Tran- lassen sich die folgenden funktionellen Domänen in lncRNAs
skripten. identifizieren:
Ähnlich wie Protein-codierende Gene werden lncRNAs häu- 4 RNA-Bindedomänen: lncRNAs können in vielfältiger Weise
fig von der RNA-Polymerase II transkribiert. Sie besitzen einen mit anderen RNA-Molekülen in Wechselwirkung treten
Promotor und am 5’-Ende häufig eine Methylguanosin-Kappe; und eignen sich deshalb als spezifische »Sensoren« für
am 3’-Ende finden wir in vielen Fällen einen Poly(A)-Schwanz. mRNAs, miRNAs etc. So können Gegenstrang-lncRNAs die
Die Zahl der lncRNA-Gene ist wahrscheinlich größer als die der Stabilität und Translation komplementärer mRNA regulie-
Protein-codierenden Gene und wird auf etwa 35.000 geschätzt. ren. Beispielsweise wird die Translation der UCHL1-mRNA
Da die Expressionsstärke der lncRNA-Gene allerdings geringer (codiert für eine Ubiquitin-Thiolesterase) unter Stressbe-
ist als die der Protein-codierenden Gene, kann diese Zahl sicher- dingungen durch die entsprechende Gegenstrang-lncRNA
lich auch noch höher liegen. reguliert, die auch das ATG-Startcodon enthält und damit
Wenn wir die Organisation von lncRNA-Genen im Genom blockiert.
betrachten, finden wir diese Gene häufig in Gruppen. Sie sind 4 Protein-Bindedomänen: Wir kennen die Vielfältigkeit von
auch oft in der Nähe von Protein-codierenden Genen zu finden RNA-Protein-Komplexen bereits aus der Besprechung der
– ungefähr die Hälfte aller Protein-codierenden Gene in Säuge- Ribosomen (7 Abschn. 3.4). RNA-bindende Proteine gehö-
tieren verfügt über komplementäre Gegenstrang-Transkripte, ren zu den großen Proteinfamilien, dennoch gibt es nur
die sich mit der codierenden Sequenz teilweise überlappen oder wenige RNA-Module, die eine Proteinbindung vermitteln.
intronische und/oder bidirektionale Transkripte enthalten, so- Allerdings werden sie in Kombination mit anderen Modu-
dass dadurch komplexe Transkriptionseinheiten erzeugt werden len verwendet, sodass sich eine große Vielfalt ergibt. Solche
können. Ribonukleoproteinpartikel (RNPs) wirken häufig als Cha-
Da lncRNAs üblicherweise nicht aus dem Zellkern heraus- perone, Transporthelfer oder als Effektoren. Proteine ten-
transportiert und auch nicht translatiert werden (müssen), kön- dieren dazu, an die Rinne einer RNA-Haarnadelschleife zu
312 Kapitel 8 · Epigenetik

a b c

. Abb. 8.20 Verschiedene Wirkungen von lncRNAs. a Die lncRNA ANRIL (magenta) wird von der INK4b-ARF-INK4a-Gengruppe in der Gegenstrang-Orien-
tierung transkribiert (INK4b-ARF-INK4a wird als ein Tumorsuppressor-Locus betrachtet und codiert zwei Inhibitoren von Cyclin-abhängigen Kinasen). ANRIL
induziert die Abschaltung des gesamten Locus, indem es PRC1- und PRC2-Komplexe heranzieht (PRC: engl. polycomp-group repressor complex) und die
Ausbildung der reprimierenden Histon-Markierung H3K27me unterstützt. b Nach einem Epithel-mesenchymalen Übergang wird eine Gegenstrang-RNA zu
dem Zinkfinger-Gen ZEB2 produziert (ZEB2-AS, magenta); die Komplementarität der Sequenzen verhindert das korrekte Spleißen eines langen Introns in
der ZEB2-prä-mRNA. Das so erhaltene Intron enthält eine interne Ribosomen-Eintrittsstelle (IRES) in der Nähe des Translationsstarts, sodass in den mesen-
chymalen Zellen die Translation von ZEB2 möglich ist (fett: Exonsequenzen; der dünne Strich entspricht dem erhaltenen Intron). c Ein Gegenstrang-Tran-
skript zur BACE1-mRNA (engl. beta-site amyloid beta A4-precursor protein-cleaving enzyme 1) wird bei der Alzheimer’schen Erkrankung (7 Abschn. 14.5.2)
transkribiert und wirkt als ein positiver Regulator der BACE1-Expression, da es die Bindestelle für die miRNA miR-485-5p blockiert. (Nach Guil und Esteller
2012, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

binden; eine andere Möglichkeit ist, dass Proteine in einer lncRNA HOTAIR, die am HoxC-Locus exprimiert wird
β-Faltblattstruktur eine Tasche für einzelsträngige RNA und in Zusammenarbeit mit Proteinen zur Ausbildung re-
bereithalten. primierender Histon-Markierungen (z. B. H3K27me3) am
4 DNA-Bindedomänen: Es gibt derzeit (2015) nur wenige HoxD-Locus führt (zur Bedeutung der Hox-Gene bei der
Hinweise für eine direkte Wechselwirkung zwischen Ausbildung der anterior-posterioren Körperachse siehe
lncRNA und DNA. RNA-DNA-Hybride oder Triplex- 7 Abschn. 12.4.3).
strukturen können es ermöglichen, dass Einzelstrang-
RNA mit DNA in Wechselwirkung tritt; diese direkte Eine Übersicht über die verschiedenen strukturellen Domänen
Wechselwirkung könnte es der lncRNA erlauben, einen von lncRNAs und ihre Funktionen ist in . Abb. 8.21 dargestellt.
Einfluss auf definierte genomische Regionen zu nehmen.
So tritt eine Promotor-assoziierte lncRNA mit der Binde- > Unter langer, nicht-codierender RNA verstehen wir RNA-
stelle eines Transkriptions-Terminationsfaktors in Wech- Moleküle, die mehr als 200 Nukleotide umfassen; sie kön-
selwirkung und verhindert dadurch dessen Bindung. nen in vielfältiger Weise Transkription und Translation von
Andererseits haben offensichtlich einige lncRNAs spezi- Genen beeinflussen.
fische Bindestellen für DNA – ähnlich wie wir das von
Transkriptionsfaktoren kennen. Ein Beispiel dafür ist die
8.2 · Regulatorische RNAs
313 8

Funktionelle
Domänen
RNA-Bindung Wildtyp

kurze
RNA

rogue

Protein-Bindung

. Abb. 8.22 Der unübliche rogue-Phänotyp (B) neben einer Wildtyp-Erbse


(A). (Bateson und Pellew 1915, aus Chandler und Stam 2004; mit freund-
DNA-Bindung licher Genehmigung der Indischen Akademie der Wissenschaften)

(7 Kap. 11). Eines dieser merkwürdigen Phänomene wurde erst-


malig 1915 von William Bateson und Caroline Pellow bei Erb-
sen beschrieben: Einzelne Erbsenpflanzen (engl. rogue) hatten
schmale Blätter und Blütenblätter (. Abb. 8.22). Bei einer Kreu-
zung zwischen einer Wildtyp-Erbse und einer rouge-Erbse zeig-
ten die Nachkommen (Hybride) zunächst einen intermediären
Phänotyp, der sich aber während seiner Entwicklung immer
Konformationsschalter mehr dem rogue-Phänotyp annäherte. Des Weiteren zeigten die
Nachkommen dieser Hybrid-Pflanzen alle den rogue-Phänotyp
– hätte man doch nach klassischer Lehre in der 2. Generation
auch wieder Wildtyp-Erbsen erwartet!
In der Folgezeit beobachtete man derartige merkwürdige
Phänomene immer wieder – viele bei Pflanzen, aber auch bei
Tieren. Häufig betreffen sie die Farbe der Blüten, Blätter oder
Früchte (bei Pflanzen) oder künstlich eingeführte DNA-Frag-
mente mit Reportergenen (bei Mäusen). Auf dem Internationa-
. Abb. 8.21 Domänen-Architektur von lncRNAs. Sie enthalten strukturelle len Genetik-Kongress 1968 in Tokio schlugen Alexander Brink,
Domänen, die andere RNAs über komplementäre Sequenzen wahrnehmen
Edward H. Coe und Rudolf Hagemann vor, für diese Phänome-
oder binden können. Die Bindung von Proteinen und (wahrscheinlich) auch
von DNA können allosterische Konformationsänderungen auslösen. (Nach ne den Begriff »Paramutation« zu prägen.
Mercer und Mattick 2013, mit freundlicher Genehmigung der Nature Pub- Zunächst konnte man das Phänomen der Paramutation we-
lishing Group der verstehen noch erklären. Heute haben wir allerdings schon
wesentlich präzisere molekulare Vorstellungen von Paramutati-
onen. Eines der am besten untersuchten Beispiele spielt sich am
8.2.7 Das Geheimnis der Paramutationen booster1-Genort (b1) von Mais ab. Der b1-Genort ist für Pigmen-
tierung verantwortlich, und zwar codiert b1 für einen Transkrip-
Mutationen als Veränderungen der DNA-Sequenz und Ursache tionsfaktor, der für die Aktivierung des Anthocyan-Stoffwech-
erblicher phänotypischer Unterschiede und Erkrankungen sind selweges verantwortlich ist. Die Farbintensität ist proportional
lange bekannt; wir werden die entsprechenden Mechanismen zur Transkriptionsrate, d. h. bei hoher Transkription ist das
ausführlich in den 7 Kap. 10 bis 7 Kap. 16 unter verschiedenen Farbpigment dunkelviolett. Wir kennen verschiedene klassi-
Blickwinkeln betrachten. Es gibt aber einige erbliche Vorgän- sche   Allele des b1-Gens, aber nur zwei Epiallele: B-I und B’.
ge,  die offensichtlich nicht den Mendel’schen Regeln folgen B-I (b1-intense) hat eine hohe Transkriptionsrate und trägt zur
314 Kapitel 8 · Epigenetik

paramutierbar paramutagen Wenn die beiden Epiallele gekreuzt werden, wird B-I aus-
nahmslos zu B’ verändert – eine typische Paramutation. Wir nen-
nen daher das Epiallel B’ paramutagen, wohingegen das Epiallel
B-I paramutierbar genannt wird. Andere Allele, die an dem Pro-
zess der Paramutation nicht teilhaben, werden in diesem Kontext
»neutral« genannt. Die beiden Epiallele B-I und B’ haben die
gleiche DNA-Sequenz, sie unterscheiden sich allerdings in ihrem
DNA-Methylierungsmuster und ihrer Chromatinstruktur. Das
B’-Epiallel ist sehr stabil; eine Umkehr (Reversion) zu dem B-I-
Epiallel wird nicht beobachtet.
Ungefähr 100 kb oberhalb des b1-Locus befindet sich ein
DNA-Fragment, das 853 bp umfasst und über Enhancer-Aktivi-
täten verfügt. Die beiden Epiallele B’ und B-I zeichnen sich durch
die siebenfache Anwesenheit dieses DNA-Fragments aus – neu-
trale Allele besitzen dieses DNA-Fragment nur einmal. Die wie-
. Abb. 8.23 Phänotyp der booster1-Paramutation in Mais. Die hohe Expres- derholte Anwesenheit dieses DNA-Fragments ist also eine we-
sion des Epiallels B-I führt zur Anhäufung von Anthocyan (links); die B’-Pflan-
zen zeigen dagegen nur eine sehr schwache Pigmentierung aufgrund der
sentliche Voraussetzung für die Möglichkeit einer Paramutation
am b1-Genort von Mais (und erklärt damit in einer molekularen
8 verringerten Anthocyan-Menge (rechts). (Nach Brzeski und Brzeska 2011, mit
Terminologie die »Sensitivität« des B-I-Epiallels). Es wurden üb-
freundlicher Genehmigung von Wiley)
rigens auch Allele mit drei und fünf Wiederholungselementen
starken Pigmentierung der Pflanzengewebe bei; die Transkrip- getestet: Fünf Elemente zeigen die gleiche Wirkung wie sieben,
tionsrate des B’-Epiallels ist ca. 20-fach niedriger, sodass die aber drei Elemente führen zu einer instabilen Paramutation mit
Pflanzen aufgrund der reduzierten Anthocyan-Anreicherung geringerer Penetranz. . Abb. 8.24 gibt einen Überblick über die-
nur eine feine Pigmentierung zeigen (. Abb. 8.23). sen Aspekt der Paramutation am b1-Locus; nicht dargestellt ist

. Abb. 8.24 Das Prinzip der Paramutation am Beispiel des b1-Locus im Mais. Die hellen Maispflanzen (Epiallel B’) entstehen spontan mit einer Häufigkeit
von 1–10 %. Kreuzt man eine derartige paramutagene (eine Paramutation induzierende; B’) Pflanze mit einer stark pigmentierten, paramutierbaren (sensi-
tiven) Pflanze (Epiallel B-I), findet im Zellkern des Pflanzenembryos eine trans-Wechselwirkung zwischen den beiden Epiallelen statt, die dazu führt, dass
die Transkription von b1 weitgehend abgeschaltet wird (Etablierung der Paramutation). Damit entwickelt sich eine nur schwach pigmentierte Pflanze;
diese Wirkung ist erblich und erfolgt bei jeder weiteren Kreuzung mit sensitiven B-I-Pflanzen (sekundäre Paramutation). Für diese trans-Wechselwirkung
sind sieben Wiederholungselemente eines 853-bp-Fragments (schwarze Dreiecke) notwendig, die etwa 100 kb oberhalb des Transkriptionsstarts des
b1-Gens liegen. Im B-I-Epiallel wirken diese sieben Wiederholungselemente als Enhancer (grünes Oval mit grünem Pfeil). Die orangenen Kreise im B’-Epiallel
deuten die epigenetischen Modifikationen und Chromatinstrukturen an, die dem paramutagenen Zustand entsprechen; dazu gehört auch das »epigene-
tische Gedächtnis«, das für die Erblichkeit dieses Epiallels verantwortlich ist. (Nach Stam 2009, mit freundlicher Genehmigung der Autorin)
8.2 · Regulatorische RNAs
315 8
(hier: die siebenfache Wiederholung des Enhancer-Elementes)
Pol IV
gebildet wird und durch die beteiligten Enzyme zu inhibitori-
Repetitives Element in
der genomischen DNA schen 24-nt-RNAs abgebaut wird – insofern geradezu ein klassi-
RPD1
RMR1 scher Mechanismus der RNA-Interferenz (7 Abschn. 8.2.1). Einen
RPD2a Überblick über diesen Mechanismus vermittelt . Abb. 8.25.
RDR
2 Die hier besprochene Paramutation am b1-Locus von Mais
mit den beiden Epiallelen B1 und B-I ist sicherlich das derzeit am
dsRNA besten untersuchte System. Andere Beispiele bei Mais betreffen
RMR2 das red1-System (r1), den pericarp color1-Locus (p1) und den
purple plant1-Locus (pl1). Alle Systeme können leicht nachver-
folgt werden, da sie alle an der Regulation der Expression von
Genen beteiligt sind, die für die Bildung von Flavonoiden für die
ZmDCL3 Pigmentschichten bei Mais verantwortlich sind. Wir kennen
ähnliche Paramutationen aber nicht nur vom Mais, sondern auch
von anderen Pflanzen wie Tomaten, Sojabohnen, Löwenmäul-
chen und Arabidopsis. Bei Tieren glaubte man dagegen lange
Zeit, dass die Erblichkeit der Abschaltung von Genen auf mitoti-
sche Teilungen beschränkt war (z. B. bei der Dosiskompensation
von Geschlechtschromosomen; 7 Abschn. 8.3). Heute kennen
24-nt-RNAs wir aber mindestens ein Beispiel bei der Maus, nämlich eine
Paramutation am Kit-Locus.
. Abb. 8.25 Bildung von 24-nt-RNAs in Mais. Auf der Basis verschiedener
Mutanten-Screens im Mais entstand ein komplexes Bild der Herstellung von C Das Kit-Gen codiert für einen Tyrosinkinase-Rezeptor, der für
kleinen RNAs, die 24 Nukleotide lang sind. Die RNA-Polymerase IV produ- die Melanogenese, Keimzelldifferenzierung und Hämatopoese
ziert (mit RPD1, RPD2a, RMR1 und RDR2) eine doppelsträngige RNA (dsRNA),
wichtig ist. Homozygote Mutationen in Kit führen bei Mäusen
wobei sie repetitive Elemente (schwarz) im Maisgenom als Vorlage verwen-
den. Diese dsRNA kann durch Dicer (ZmDCL3) in kleine RNAs (24-nt-RNAs) zum Tod nach der Geburt; heterozygote Kit-Mäuse sind
zerschnitten werden. RMR2 ist für die Anhäufung der 24-nt-RNAs ebenfalls lebensfähig und machen weiße Schwanzspitzen und weiße
notwendig, aber seine Stellung in diesem Stoffwechselweg ist noch unklar. Pfoten (der Ligand des Kit-Rezeptors ist der Stammzellfaktor
(Nach Hollick 2012, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier) SCF, auch bekannt als steel factor wegen des stahlfarbenen
Fells dieser Mutanten). Interessanterweise entstehen bei Kreu-
zungen heterozygoter Kit-Mutanten auch genotypische Wild-
die Wirkung von CBBP (engl. CXC b1-repeats binding protein),
typen, die phänotypisch den Heterozygoten entsprechen (also
das in der Lage ist, spezifisch an die b1-Wiederholungselemente
weiße Schwanzspitze und weiße Pfoten); diese Tiere werden
zu binden. Es kommt in dem B-I-Epiallel nicht vor; man nimmt
mit dem Gensymbol Kit* gekennzeichnet. Rassoulzadegan
an, dass es für direkte Wechselwirkungen zwischen den Wieder-
und Mitarbeiter vermuteten zunächst, dass bei der Befruch-
holungseinheiten des B’- und B-I-Epiallels verantwortlich ist,
tung entsprechende mRNA übertragen wird; sie konnten 2006
wenn beide in den Zellkernen »heterozygoter« Embryonen vor-
zeigen, dass diese Wirkung wahrscheinlicher durch miRNAs
liegen und die Paramutation B’ etabliert wird. Es wird auch spe-
übertragen wird. Allerdings tritt dieser paramutagene Effekt
kuliert, ob es dauerhaft für die Wechselwirkungen von B’-B’-
nicht auf, wenn die Mäuse keine DNA-Methyltransferase ha-
Epiallelen verantwortlich ist.
ben (Dnmt2−/−). Diese spezielle DNA-Methyltransferase methy-
Durch eine Reihe genetischer Screens fand man eine Reihe
liert vor allem Cytosin-Reste in der tRNA. Vergleichende Unter-
von Mutationen (und dadurch die entsprechenden Gene), die zu
suchungen in Drosophila zeigten, dass die Dnmt2−/−-Fliegen
Veränderungen in der Erblichkeit der Paramutation führen, wie
zunächst lebensfähig, fertil und morphologisch nicht von den
beispielsweise die beiden Gene mop1 und mop2 (engl. mediator of
Wildtypen unterscheidbar sind; allerdings zeigen sie unter
paramutation): Sie codieren im Wesentlichen für RNA-abhängige
Stressbedingungen eine verminderte Lebensfähigkeit. Die Au-
RNA-Polymerasen. Eine zweite Gruppe von Genen, rmr1 und
toren interpretieren dieses Phänomen so, dass die DNMT2-ver-
rmr2 (engl. required to maintain repression), ist nicht so homogen:
mittelte Methylierung tRNAs vor Stress-induziertem Abbau
rmr1 codiert für eine ATPase, die auch bei der Transkription be-
schützt. Diese Arbeiten stellen die DNA-Methyltransferase 2 in
nötigt wird, wohingegen rmr2 für die Aufrechterhaltung der Ab-
das Zentrum eines Paramutations-Mechanismus bei Säugern
schaltung von Genen benötigt wird, indem es einen spezifischen
(Adams und Meehan 2013).
Methylierungszustand der DNA aufrechterhält (5-Methylcytosin,
5meC); das entsprechende Enzym ist eine DNA-Methyltrans- > Paramutationen sind zunächst bei Pflanzen entdeckte, ge-
ferase (DNMT). Wenn man nun die beteiligten Gene und die von richtete erbliche Veränderungen des Phänotyps, wobei die
ihnen codierten Proteine in der Summe betrachtet, stellt man fest, DNA-Sequenz nicht verändert ist. In der Regel beinhalten sie
dass alle an einem Stoffwechselweg beteiligt sind, der bei Arabi- trans-Wechselwirkungen von repetitiven DNA-Elementen,
dopsis als RNA-gesteuerter DNA-Methylierungsweg bezeichnet die dauerhaft zur Verminderung der Genexpression bestimm-
wird (engl. RNA-directed DNA methylation, RdDM): Ausgangs- ter Gene führen. Epigenetische Prozesse (z. B. siRNAs, miRNAs,
punkt ist eine doppelsträngige RNA, die an repetitiven Elementen DNA-Methylierung) spielen dabei eine wesentliche Rolle.
316 Kapitel 8 · Epigenetik

*Eine wichtige Frage in Bezug auf das Phänomen der Para-


mutation ist die nach der Universalität des Mechanismus –
4 Der erste wird bei C. elegans verwirklicht und bewirkt eine
Halbierung der Aktivitäten in jedem der beiden X-Chro-
oder ob es sich nicht doch um ein Phänomen handelt, das mosomen der Hermaphroditen.
im Wesentlichen auf einige Pflanzenarten beschränkt bleibt. 4 Der zweite wird bei Drosophila und wahrscheinlich bei an-
In einem eleganten Experiment haben McEachern und deren Insekten gefunden. Er beruht auf einer Verdoppelung
Lloyd (2012) gezeigt, dass die sieben repetitiven Elemente der Aktivität X-chromosomaler Gene im Männchen im
des b1-Locus von Mais (. Abb. 8.24) auch in Drosophila zu Vergleich zur Aktivität dieser Gene im Weibchen.
einem ähnlichen Phänomen führen. Dazu klonierten sie 4 Der dritte Mechanismus wurde bei Säugern realisiert. Er
diese Elemente in die Nähe des white-Gens von Drosophila. sorgt dafür, dass im weiblichen Geschlecht jeweils nur ein
Im Wildtyp haben diese Fliegen rote Augen; wenn das white- X-Chromosom aktiv ist, während das andere inaktiviert
Gen mutiert oder ausgeschaltet wird, führt das zu weißen wird.
statt roten Augen (. Abb. 11.19, . Abb. 12.36a). Die Auto-
ren beobachteten in den transgenen Fliegen weiße Augen, Wir werden hier nur die Mechanismen bei Drosophila und den
und ähnlich wie im Mais ist die Stärke der Stilllegung abhän- Säugetieren im Detail besprechen; für weitere Details sei der in-
gig von der Zahl der Wiederholungseinheiten, nicht aber teressierte Leser auf die Übersicht von Lucchesi et al. (2005) ver-
von der Orientierung der Wiederholungseinheiten. Dieses wiesen.
Experiment ist ein wichtiges Argument dafür, dass die epi-
> Die ungleiche Anzahl von Geschlechtschromosomen in
genetischen Mechanismen, die zu Paramutationen führen,
8 evolutionär konserviert sind.
den beiden Geschlechtern verlangt einen regulativen Aus-
gleich der Expression der auf ihnen gelegenen Gene. Der
hierfür erforderliche Mechanismus wird als Dosiskompen-
sation bezeichnet.
8.3 Dosiskompensation
der Geschlechtschromosomen

Das Genom eines Organismus ist genetisch sehr genau balanciert. 8.3.1 Dosiskompensation bei Drosophila
Es toleriert größere Abweichungen nicht (insbesondere wenn die-
se die Chromosomenanzahl betreffen; 7 Abschn. 13.2.1), ohne mit Das Problem des Dosisunterschieds bei geschlechtsgekoppelten
schwerwiegenden Störungen der Funktion des genetischen Mate- Genen war den Drosophila-Genetikern bereits frühzeitig be-
rials zu reagieren. Umso erstaunlicher ist es, dass bei einem einzi- wusst geworden. Da es aus genetischen Experimenten herzulei-
gen Chromosomenpaar Abweichungen offenbar nicht zu ver- ten war, dass die Allele beider X-Chromosomen von Drosophila
gleichbar schwerwiegenden Defekten führen, wie bei Verände- zur Ausprägung kommen, schlug Hermann J. Muller 1932 einen
rungen der Geschlechtschromosomenzahlen durch Nondisjunc- Dosiskompensationsmechanismus vor, nach dem die beiden X-
tion (fehlende Trennung von zwei homologen Chromosomen bei chromosomalen Gene im Weibchen nur in reduziertem Maße
der Meiose I oder von Schwesterchromatiden während der Meio- aktiv sind, sodass ihre Gesamtaktivität der des X-Chromosoms
se II; 7 Abschn. 6.3.2). Mehr noch: Die Verteilung der Geschlechts- im Männchen entspricht. Diesem Modell Mullers widersprachen
chromosomen in beiden Geschlechtern selbst schließt bereits Experimente von Mukherjee und Hermann (1965), die in ihren
eine ungewöhnliche Konstitution ein. Während eines der Ge- Untersuchungen von der damals neu entwickelten Methode der
schlechtschromosomen im einen Geschlecht in diploider Anzahl Autoradiographie Gebrauch machten (7 Technikbox 15).
vorhanden ist (bei Menschen: das X-Chromosom bei Frauen),
liegt es im anderen Geschlecht nur haploid (hemizygot) vor (bei C Sie markierten neu synthetisierte RNA mit 3H-Uridin und er-
mittelten die Einbauraten, d. h. die RNA-Syntheseraten, für
Menschen: das X-Chromosom bei Männern). Ist überhaupt ein
X-chromosomale und autosomale Gene in Riesenchromoso-
zweites Geschlechtschromosom vorhanden, so ist dieses in einem
men männlicher und weiblicher Speicheldrüsen. Es zeigte
Geschlecht haploid vorhanden (bei Menschen: das Y-Chromo-
sich, dass die RNA-Syntheseaktivität in den X-Chromosomen
som bei Männern), fehlt aber im anderen Geschlecht vollständig
beider Geschlechter gleich und zudem vergleichbar mit der
(bei Menschen: das Y-Chromosom bei Frauen). Diese genetische
von Genen in den stets diploiden Autosomen war. Die Wis-
Situation kann nicht einfach durch eine (partielle) genetische
senschaftler schlossen aus diesen Beobachtungen auf eine
Identität der Geschlechtschromosomen erklärt werden. Wie lässt
Hyperaktivität des X-Chromosoms im Männchen. Diese In-
es sich aber dann verstehen, dass hier unterschiedliche Genkopi-
terpretation wurde in der Folge durch weitere Studien so-
enzahlen keine Funktionsstörungen hervorrufen, während das
wohl auf dem RNA- als auch auf dem Proteinsyntheseniveau
im übrigen Genom fast stets der Fall ist?
untermauert.
Wie wir sehen werden, gibt es verschiedene molekulare Kon-
trollmechanismen, die dafür sorgen, dass die Aktivität der ge-
> In Drosophila wird eine Dosiskompensation durch eine er-
schlechtschromosomalen Gene in beiden Geschlechtern im
höhte Genaktivität im X-Chromosom erreicht.
Prinzip gleich bleibt und dass das Expressionsniveau X-chromo-
somaler Gene demjenigen autosomaler Gene entspricht (Dosis- Wie lässt sich eine Hyperaktivität des X-Chromosoms im Männ-
kompensation; . Abb. 8.26). Es sind drei prinzipiell unterschied- chen molekular erklären? Es ist plausibel anzunehmen, dass eine
liche Dosiskompensationsmechanismen bekannt: Kopplung dieses Regulationsmechanismus mit der Geschlechts-
8.3 · Dosiskompensation der Geschlechtschromosomen
317 8
. Abb. 8.26 Dosiskompensation oder Inaktivierung
a
des X-Chromosoms. Die Höhe der Genexpression der
Geschlechtschromosomen ist für das homo- und hetero-
gametische Geschlecht in verschiedenen Spezies dar-
gestellt. Die grünen Balken deuten die Dosiskompensa-
b
tion an (Erhöhung der Transkription im heterogame-
tischen Geschlecht), die Inaktivierung des mütterlichen
(Xm) bzw. des väterlichen (Xp) Chromosoms durch das
Fehlen eines roten oder blauen Balkens. a In Caenorhab-
ditis elegans wird die Dosiskompensation durch die
Herunterregulierung der X-chromosomalen Genexpres-
c sion auf 50 % in den XX-Hermaphroditen gegenüber
den X0-Männchen erreicht. b In Drosophila melanogas-
ter ist die Expression des einen X-Chromosoms in den
Männchen (X/Y) hochreguliert, um das Niveau der
Expression der Weibchen (XX) zu erreichen. c Auch in
Hühnern gibt es eine Form der Dosiskompensation,
aber es ist noch nicht klar, ob es sich um eine Hochre-
gulierung im heterogametischen Geschlecht oder um
eine Hemmung im homogametischen Geschlecht
handelt. d Für Schnabeltiere wird eher eine Dosiskom-
d pensation als eine X-Inaktivierung diskutiert. e In weib-
lichen Beuteltieren erfolgt die X-Inaktivierung durch
genetische Prägung: Das väterliche X-Chromosom ist
in allen Geweben stillgelegt. f In der Plazenta einer
weiblichen Maus ist bevorzugt das väterliche X-Chro-
mosom stillgelegt, aber im Fetus und in der erwach-
senen Maus erfolgt die Inaktivierung zufällig. (Nach
Reik und Lewis 2005, mit freundlicher Genehmigung
der Nature Publishing Group)

bestimmung vorliegen sollte, da ja die unterschiedlichen Chro- Heute wissen wir, dass die Dosiskompensation in Drosophila
mosomenkonstitutionen direkt mit dem Geschlecht des Orga- durch einen Komplex aus Proteinen und RNA vermittelt wird,
nismus zusammenhängen. der als Dosiskompensationskomplex bezeichnet wird (engl. do-
sage compensation complex, DCC). Die Proteine werden durch
C Thomas Cline konnte schon 1978 zeigen, dass ein für die die Gene maleless (mle) und die vier Gene male-specific lethal1, 2
Geschlechtsbestimmung zentrales Gen, Sex-lethal (Sxl), zu- und 3 (msl1, msl2, msl3) sowie males-absent-on-the-first (mof)
gleich auch die Dosiskompensation kontrolliert. Zusätzlich codiert. Die Vermutung, dass die Genprodukte des mle-Gens, der
sind jedoch für die erhöhte X-chromosomale Genaktivität msl- und mof-Gene die Hyperaktivität des X-Chromosoms im
im Männchen eine Reihe autosomaler Gene (u. a. male speci- Männchen kontrollieren, ließ sich durch Untersuchungen der
fic lethal, msl) mit verantwortlich. Ihr Ausfall hat letale Fol- zellulären Lokalisation der fünf genannten Proteine beweisen.
gen im männlichen, nicht aber im weiblichen Geschlecht, Diese Proteine binden in Männchen als Multiproteinkomplex
wie John M. Belote und John Lucchesi (1980) zeigen konn- spezifisch an das X-Chromosom (. Abb. 8.27), während sie in
ten. Die Letalität erscheint auf diesem Hintergrund ver- Weibchen am X-Chromosom nicht nachweisbar sind. Das MLE-
ständlich: Wird die Aktivität des X-Chromosoms im Männ- Protein ist eine ATP-abhängige RNA-Helikase. MOF hat Histon-
chen nicht erhöht, so werden zu wenig Genprodukte produ- Acetyltransferase(HAT)-Aktivität und bindet an das N-termi-
ziert und die Entwicklung wird so gestört, dass die Männ- nale Ende von Histon H4. Ein weiteres Protein ist JIL1, eine His-
chen sterben. ton-H3-Kinase. Zusätzlich sind für die Bindung des Multiprotein-
318 Kapitel 8 · Epigenetik

Männchen Weibchen

H3 H3-P
SXL MSL2
ADP H4-ac JIL1
ATP H4
MLE
MOF
MLE JIL1 MOF
roX MSL2 MSL1 MSL3

roX MSL
MSL3
MSL1
MSL1
MSL

. Abb. 8.28 Der Dosiskompensationskomplex. In Drosophila-Männchen


vermittelt die Expression von MSL2 die stabile Expression der anderen Pro-
teine und RNA-Untereinheiten und koordiniert den Zusammenbau des
Dosiskompensationskomplexes. Der Komplex besitzt eine Helikase/ATPase-
(MLE), Histon-Acetyltransferase- (MOF) und Histonkinase-Aktivitat (JIL1).
In Drosophila-Weibchen ist SXL exprimiert und blockiert die MSL2-Produk-
tion. Die resultierende MSL2-Defizienz verhindert die Bildung des Dosis-
kompensationskomplexes und führt zu einer verminderten Expression
8 und/oder zur Instabilität von MSL1, MSL3 und beider roX-RNAs (hier durch
Transparenz dargestellt). Im Gegensatz dazu haben MLE und MOF noch
. Abb. 8.27 Dosiskompensation bei Drosophila melanogaster. In D. melano- weitere Funktionen in Weibchen, da beide exprimiert sind. (Nach Gilfillan
gaster gibt es zwei chromosomenweite Färbungssysteme. Der Dosiskom- et al. 2004, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
pensationskomplex lokalisiert Hunderte Bindestellen auf dem männlichen
X-Chromosom. Die Verteilung eines Proteins aus diesem Komplex, MSL3, ist
grün auf einer männlichen polytänen Chromosomenpräparation dargestellt.
Das POF-Protein (engl. painting of the fourth; rot) färbt das 4. Chromosom in
wicklungsstadium bei Drosophila; vgl. . Abb. 12.20) eine
beiden Geschlechtern. Die DNA ist mit DAPI (blau) gegengefärbt. Balken: Dosiskompensation X-chromosomaler Gene im Männchen
5 μm. (Nach Larsson und Meller 2006, mit freundlicher Genehmigung von noch nicht erfolgt sein kann. Dosiskompensation würde den
Springer) Zählmechanismus, der das X:A-Verhältnis im Embryo ermit-
telt und damit das Geschlecht bestimmt, außer Kraft setzen.
Dosiskompensation kann daher erst in späteren Entwicklungs-
komplexes zwei RNA-Moleküle, roX1 und roX2, erforderlich, phasen voll wirksam werden.
die beide im X-Chromosom codiert werden. Nach gegenwärti-
gen Vorstellungen über die molekularen Prozesse, die zur Akti- Das SXL-Protein spielt aber umgekehrt in weiblichen Fliegen
vitätserhöhung im X-Chromosom führen, werden zunächst die eine ganz besondere Rolle: SXL inhibiert nämlich dauerhauft die
MSL-Proteine an spezifischen Stellen des X-Chromosoms ge- Translation der msl2-mRNA in Weibchen durch die Blockade
bunden, die die roX-Gene einschließen. Sie bilden Komplexe mit der entsprechenden Wechselwirkung mit dem Ribosom. Die Un-
den roX-RNAs, die dann in der Lage sind, an weitere X-chromo- terdrückung von MSL2 verhindert die DCC-Bildung in Weib-
somale Loci zu binden. Von hier aus breiten sie sich über flankie- chen, da MSL1 und MSL3 das MSL2-Protein benötigen, um dau-
rende Chromosomenbereiche aus. Die Bindung dieser RNP- erhaft exprimiert zu werden. Die wichtigsten Komponenten des
Komplexe bewirkt Veränderungen in der Chromatinstruktur, DCC sind in . Abb. 8.28 zusammengefasst.
die zur Erhöhung der Transkriptionsrate im männlichen X-Chro-
mosom führen.
8.3.2 Dosiskompensation bei Säugern
> Die Hyperaktivität des X-Chromosoms im Männchen wird
durch sechs chromosomale Proteine induziert, die durch Auf einem ganz anderen Weg wird die Dosiskompensation in
Kombination mit strukturellen RNA-Molekülen (roX1 und Säugern erreicht. Auf der Grundlage cytologischer Studien und
roX2) eine Veränderung der Chromatinstruktur und da- genetischer Daten wurde von Mary Lyon 1961 die Hypothese
durch eine erhöhte Transkriptionsaktivität ermöglichen. (Lyon-Hypothese) formuliert, dass im weiblichen Geschlecht
Die Expression solcher Proteine im Weibchen wirkt sich von Säugern eines der X-Chromosomen inaktiv ist. Auf der cy-
ebenso letal aus wie das Fehlen dieser Proteine im Männ- tologischen Seite war ein zentraler Befund für das Verständnis
chen. In beiden Fällen ist die fehlerhafte Dosiskompensa- der Dosiskompensation die Beobachtung von Murray Llewellyn
tion für die Letalität verantwortlich. Barr, dass in Interphasezellen von weiblichen Säugern ein stark
anfärbbarer Chromatinkörper, auch Geschlechtschromatin
C Wie bereits erwähnt, spielt das Sxl-Gen nicht nur bei der (engl. sex chromatin) genannt, zu beobachten ist, der in männ-
Geschlechtsbestimmung eine wichtige Rolle, sondern auch lichen Zellen fehlt. Der klassischen Definition nach handelt es
bei der Dosiskompensation. Untersucht man seine Funktio- sich hierbei um Heterochromatin. Heterochromatin wird aber
nen, wird deutlich, dass bei der Aktivierung der ersten zygo- als funktionell inaktives chromosomales Material angesehen. Die
tisch aktiven Gene im syncytialen Blastoderm (frühes Ent- Korrelation dieses Geschlechtschromatins mit dem nach Lyon
8.3 · Dosiskompensation der Geschlechtschromosomen
319 8

. Abb. 8.29 Barr-Körperchen. a Barr-Körperchen in Interphase-Zellkernen


von Säugern mit unterschiedlichen Anzahlen von X-Chromosomen. Es
bleibt jeweils nur ein X-Chromosom aktiv, während die übrigen als inakti-
ves (»fakultatives«) Heterochromatin (= Barr-Körperchen) erscheinen. Im All-
gemeinen verschmelzen sie nicht miteinander, sodass die genetische Kon-
stitution aus einem Interphasekern (beim Menschen z. B. in Schleimhautab-
strichen von den Innenseiten der Wangen) leicht zu ermitteln ist. Allerdings
kann eine bestimmte Anzahl von Barr-Körperchen durch unterschiedliche
Konstitutionen der Geschlechtschromosomen verursacht werden wie die
obere Zeile anzeigt. b Menschliche XXX-Zellen, gefärbt mit fluoreszierenden
Antikörpern gegen Histon H1. Zwei der X-Chromosomen bilden Barr-Kör-
perchen. Die Barr-Körperchen sind durch die Antikörperfärbung besonders
deutlich sichtbar. (Foto: T. Yang)

inaktiven X-Chromosom würde somit die Lyon-Hypothese un-


terstützen. Diese Korrelation lässt sich tatsächlich durch einfache
cytologische Methoden beweisen.
Nach seinem Entdecker (Barr und Bertram 1949) wird das
Geschlechtschromatin auch Barr-Körperchen (engl. Barr body)
genannt. Dieses Barr-Körperchen entsteht durch eine ringförmi- b
ge Struktur des inaktiven X-Chromosoms. Entscheidend war, . Abb. 8.30 Mosaike als Folge der Inaktivierung eines X-Chromosoms
dass cytologische Beobachtungen erkennen ließen, dass dieses beim Menschen. a Zeichnung der Blaschko-Linien nach dessen Original-
heterochromatische Element im Falle von Geschlechtschromo- arbeit. Diese Linien entsprechen verschiedenen Wachstumszonen der Haut
während der Embryonalentwicklung. b Schweißtest bei einer Frau, die
somenanomalien fehlt oder auch in erhöhter Anzahl vorhanden heterozygot für eine X-gekoppelte Erkrankung ist (hypohidrotische ektoder-
ist. Die Anzahl vorhandener Barr-Körperchen ist jeweils um eins male Dysplasie: Unfähigkeit zu schwitzen); dadurch wird ein funktionelles,
geringer als die Gesamtzahl der vorhandenen X-Chromosomen X-chromosomales Mosaik sichtbar. (Nach Traupe 1999, mit freundlicher
(. Abb. 8.29). Genehmigung von Wiley)

C Das bedeutet, dass Klinefelter-Männer (XXY) ein Barr-Körper- einem X-Chromosom) überzähligen X-Chromosomen inakti-
chen besitzen, Turner-Frauen (X0) keines, während XXX-, XXXX- viert werden, und zwar unabhängig vom Geschlecht des
oder XXXXX-Individuen zwei, drei oder vier Barr-Körperchen Individiums. Sie bleiben auch in der Interphase kondensiert
aufweisen. Das ist ein sehr eindeutiger Hinweis darauf, dass und liegen als spätreplizierendes Heterochromatin vor.
alle gegenüber der männlichen Normalkonstitution (mit
320 Kapitel 8 · Epigenetik

g Reife Keimzellen . Abb. 8.31 Inaktivierungszyklus des


X-Chromosoms bei Säugern. a In der Zygote
a Zygote
sind beide X-Chromosomen aktiv. b Die In-
genetische Prägung aktivierung des väterlichen X-Chromosoms er-
in der Keimbahn? folgt durch genetische Prägung in allen Zellen
während der Präimplantationsphase. c Dieses
X-Inaktivierung
Inaktivierungsmuster bleibt in der Plazenta
durch
erhalten. d Im Embryo wird dagegen die gene-
genetische
Prägung tische Prägung gelöscht. e In späteren embryo-
b Blastocyste nalen Stadien wird in den Zellen ein X-Chromo-
som inaktiviert; dabei bleibt es dem Zufall über-
f Vorläufer-
Trophektoderm lassen, ob dies das väterliche oder mütterliche
Keimzellen
X-Chromosom ist. Diese Inaktivierung bleibt
lebenslang erhalten. f In den Vorläuferkeim-
innere Zellmasse zellen erfolgt eine erneute Löschung des Inakti-
vierungsmusters (weiß), und je nach Geschlecht
des Trägers werden die reifen Gameten (g) als
Löschung väterlich (P, blau) oder mütterlich (M, rot) ge-
c Plazenta kennzeichnet. Das aktive X-Chromosom wird
als Xa gekennzeichnet; das inaktive entsprechend
d Embryo mit Xi. (Nach Reik und Lewis 2005, mit freundlicher
8 Genehmigung der Nature Publishing Group)
e Embryo
Beibehaltung der
Löschung
X-Inaktivierung
durch genetische
Prägung

zufällige Inaktivierung
des X-Chromosoms

Diese Interpretation wird von der genetischen Seite her gestützt. teilt. Wir können also davon ausgehen, dass das Ausprägungs-
Die maßgeblichen Experimente sind leicht zu verstehen, wenn muster des einen X-Chromosoms gegenüber dem des ande-
man die Folge einer Inaktivierung eines der X-Chromosomen in ren nicht genetisch fixiert ist.
Individuen bedenkt, die für ein Markergen heterozygot sind.
Wichtig ist hierbei, dass man ein Markergen auswählt, das zell- Wie erklärt sich dann die Bildung von homogenen Bereichen, die
autonom zur Ausprägung kommt, dessen Genprodukte also auf sich mit Bereichen der Ausprägung des alternativen Allels ab-
die Zelle beschränkt bleiben, in der das Gen aktiv ist. Offensicht- wechseln? Die Antwort können wir aus einem Schema der Ent-
lich können Zellen in diesem Falle nur eine Ausprägung eines der wicklung eines Organismus ableiten. Dieses Schema zeigt uns,
beiden Allele zeigen, wenn eines der X-Chromosomen inaktiv dass Gruppen miteinander verwandter Zellen (Zellklone) be-
ist. Es stellt sich dann die Frage, ob in allen Zellen dasselbe stimmte Gewebe, Organe oder andere Unterteile eines Organis-
X-Chromosom inaktiv ist oder ob verschiedene Zellen unter- mus bilden (in der englischsprachigen Literatur wird dafür der
schiedliche X-Chromosomen inaktivieren und wenn ja, wie Begriff cell lineage [Zelllinie] gebraucht). Übertragen wir dieses
diese Zellen zueinander angeordnet sind. Schema einer klonalen Zelldifferenzierung auf die Inaktivierung
des X-Chromosoms, so gelangen wir zu der Erkenntnis, dass
C Die Antwort lässt sich sehr einfach an Markergenen ablesen, Gruppen benachbarter Zellen, die eine einheitliche Genexpres-
die die Fellfarbe von Tieren bestimmen. Sieht man sich solche sion des einen Allels zeigen, in der Entwicklung (Ontogenese)
Gene in weiblichen Katzen an, so erkennen wir – je nach ge- des Organismus aus einer gemeinsamen Urprungszelle herstam-
netischer Konstitution – eine gefleckte Färbung des Fells. men müssen, in der die Entscheidung über die Aktivität oder
Dieses Muster beantwortet zwei unserer Fragen: Erstens kann Inaktivität eines bestimmten Allels erfolgt ist. Diese Entschei-
offenbar jedes der beiden X-Chromosomen inaktiv werden. dung muss, wenn man das Fleckenmuster betrachtet, irreversibel
Zweitens betrifft die Inaktivierung jeweils Gruppen benach- sein, da offensichtlich innerhalb eines Farbbereichs kein Um-
barter Zellen, bei denen dasselbe X-Chromosom inaktiv ist, schlag zur Expression des anderen Allels erfolgt. Zudem können
wie die fleckenförmige Verteilung des Ausprägungsmusters wir erkennen, dass die Größe eines Farbflecks uns Informationen
beider Allele belegt. Dieses bei Tieren beobachtete Vertei- über den Zeitpunkt der Inaktivierung des anderen X-Chromo-
lungsmuster ist keine Ausnahme, sondern kann auch beim soms vermittelt: Ist der Fleck groß, so sind viele Mitosen nach
Menschen beobachtet werden (. Abb. 8.30). Aus der verglei- dieser Entscheidung erfolgt. Das bedeutet, dass die Entscheidung
chenden Untersuchung von weiblichen Individuen aufeinan- früher in der Entwicklung des Organismus erfolgt sein muss als
derfolgender Generationen lässt sich leicht erkennen, dass bei kleineren Flecken. Wir können hinsichtlich der Entscheidung
die Ausprägung des Allels nicht an bestimmte Körperregio- über die Inaktivierung eines X-Chromosoms als wichtigste
nen gebunden ist, sondern sich zufallsgemäß im Körper ver- Schlüsse Folgendes zusammenfassen (siehe auch . Abb. 8.31):
8.3 · Dosiskompensation der Geschlechtschromosomen
321 8
a . Abb. 8.32 Funktionelle Elemente im X-Inakti-
vierungszentrum der Maus (Xic). a Karte der regu-
latorischen Elemente, die am »Zählen« und »Aus-
wählen« bei der X-Inaktivierung der Maus betei-
ligt sind. Es sind die wichtigsten Gene dargestellt:
das Xist-Gen, die antisense-Tsix-RNA, Xite, die
Bindestellen im DXPas34-Gen für den CCCTC-bin-
denden Faktor (CTCF); außerdem ist die Region
für die Paarung des Xic gezeigt. b Der wahrschein-
liche Mechanismus des »Zählens« und »Auswäh-
lens« beinhaltet die Paarung der Xic-Genorte zu
b Beginn der X-Inaktivierung. Homologe X-Chromo-
somen innerhalb eines Zellkerns sind dargestellt
und ihr Xic ist farblich hervorgehoben. Durch Paa-
rung der Xic-Genorte kann die Xist-Transkription
an einem Chromosom initiiert werden, wodurch
dieses Chromosom schließlich inaktiviert wird,
wohingegen das andere aktiv bleibt. Xa: aktives
X-Chromosom; Xi: inaktives X-Chromosom. (Nach
Ng et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung
der Nature Publishing Group)

4 Die Entscheidung über die Aktivität eines X-Chromosoms specific transcript), die allerdings nicht translatiert wird. Xist
erfolgt in der frühen Embryonalentwicklung. ist für die Funktion von Xic wichtig. Die anderen Elemente
4 Die Entscheidung erfolgt nicht zu einem bestimmten Zeit- innerhalb der Xic-Region sind verantwortlich für die Xist-Ex-
punkt innerhalb der Entwicklung, sondern kann zeitlich pression. Eines davon ist DXPas34, das ursprünglich aufgrund
für verschiedene Zellen variieren. seines Methylierungsprofils auf dem aktiven X-Chromosom
4 Die Entscheidung ist irreversibel, d. h. ein einmal inakti- definiert wurde. Das andere ist Tsix, das die Information für ein
viertes X-Chromosom bleibt in allen folgenden Zellgenera- Transkript enthält, das vom Gegenstrang zu Xist abgelesen wird
tionen inaktiv. und dessen Aktivität zu Beginn der Inaktivierung reguliert
(. Abb. 8.32).
Über die molekularen Ursachen der Inaktivierung der X-Chro- Ein hervorragendes Modell, um die frühen Vorgänge bei der
mosomen bei Säugern gibt es heute schon recht präzise Vor- X-Inaktivierung zu untersuchen, sind embryonale Stammzellen
stellungen. Die frühen Ereignisse dieses Prozesses werden durch (ES) der Maus. Durch in-situ-Hybridisierung mit Fluoreszenz-
ein Inaktivierungszentrum (engl. X-chromosome-inactivation markern (engl. fluorescence in situ hybridization, FISH) kann die
centre, Xic) kontrolliert. Aufgrund cytogenetischer Daten wird Xist-RNA erkannt werden: In weiblichen ES-Zellen erscheinen
die Größe des Xic-Genorts mit etwa 1 Mb angegeben. Diese zwei punktförmige Signale, wohingegen bei männlichen ES-
Region enthält mindestens vier Gene, die an der X-Inaktivie- Zellen nur ein derartiges Signal erscheint (. Abb. 8.33). Werden
rung beteiligt sind: Xist codiert für eine RNA (engl. X inactive- die weiblichen ES-Zellen zur Differenzierung angeregt, häufen

. Abb. 8.33 Xist-Transkription in embryonalen Stammzellen der Maus. Das Muster der Xist-RNA-Expression in weiblichen ES-Zellen wurde während der
Differenzierung mithilfe der in-situ-Fluoreszenzmarkierung (FISH) untersucht. Das linke Bild zeigt eine undifferenzierte ES-Zelle mit zwei punktförmigen
Xist-RNA-Signalen, die auf die Anwesenheit von zwei instabilen Xist-Transkripten an beiden aktiven X-Chromosomen hinweisen. Das mittlere Bild zeigt,
dass nach der Differenzierung das Xist-Transkript von einem der beiden Allele stabilisiert wird und das in cis zu inaktivierende X-Chromosom bedeckt. Das
X-Chromosom, das aktiv bleibt, behält auch die instabile Form des Xist-Transkripts. Das rechte Bild zeigt, dass die Xist-RNA das inaktive X-Chromosom be-
deckt und das Xist-Gen des aktiven Chromosoms ausgeschaltet wurde. (Nach Avner und Heard 2001, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)
322 Kapitel 8 · Epigenetik

sich Xist-Transkripte auf dem später inaktiven X-Chromosom Locus, der in der Initiationsregion des Tsix-antisense-Tran-
an, wohingegen die Expression von Xist an den aktiven männli- skripts  liegt, beseitigt sowohl die antisense-Aktivität von Tsix
chen und weiblichen X-Chromosomen abgeschaltet wird. Der als auch die Xist-Transkription (oder vermindert sie zumindest
Beginn der X-Inaktivierung erscheint daher unmittelbar mit der stark).
Anhäufung von Xist-Transkripten gekoppelt zu sein. Dabei ist Ein weiterer wichtiger Hinweis über die Auswahl des zu
die Hochregulierung der Xist-Expression offensichtlich auch inaktivierenden Chromosoms kommt aus Untersuchungen über
mit einer Verlängerung der Lebenszeit der Xist-Transkripte ver- die X-Inaktivierung in extraembryonalem Gewebe wie dem
bunden. Trophektoderm. Hier spielt sich offensichtlich ein Mecha-
Wichtige Hinweise auf die Funktion von Xist kamen von nismus  ab, der über genetische Prägung gezielt das väterliche
verschiedenen Mausmutanten. Das Ausschalten des Xist-Gens X-Chromosom ausschaltet (. Abb. 8.31). Die Inaktivierung
in Knock-out-Mäusen zeigt, dass Xist für die Inaktivierung in des paternalen X-Chromosoms wird außerdem in allen Ge-
cis, d. h. auf demselbem Chromosom, notwendig ist; umgekehrt weben der Beuteltiere gefunden; es wird daher auch die Hypo-
zeigt die Überexpression von Xist in transgenen Mäusen und these vertreten, dass dies die ursprüngliche Form der X-Inak-
auch in entsprechenden ES-Zellen eine weitreichende Hem- tivierung sei und dass die zufällige X-Inaktivierung erst später
mung der gesamten Transkription in cis. Diese Hemmung ist bei der Evolution der Eutheria (Plazenta-Tiere) »erfunden«
zunächst abhängig von der kontinuierlichen Xist-Expression wurde.
und zunächst noch umkehrbar. Xist muss über 48 h aktiv sein, Die Inaktivierung des X-Chromosoms beginnt am Xic und
um eine Abschaltung zu erzielen. Wenn 72 h erreicht sind, ist breitet sich von dort über das gesamte X-Chromosom aus. Diese
8 der Fortschritt der X-Inaktivierung nicht mehr von Xist abhän- Ausbreitung kann über weite Distanzen erfolgen – 100 Mb oder
gig, und es erscheint das Gesamtbild der sekundären X-Inakti- mehr sind dabei keine Seltenheit. Wenn durch Translokation au-
vierung. Dazu gehört vor allem die Hypoacetylierung der His- tosomale Bereiche in die Nachbarschaft von Xic kommen, wer-
tone. (Die noch undifferenzierten Zellen sind hyperacetyliert, den diese ebenso von der X-Inaktivierung erfasst. Die Inaktivie-
wohingegen die Zellen, die schon festgelegt sind, hypoacetyliert rung dieses autosomalen Materials unterscheidet sich nicht von
sind.) dem des X-Chromosoms – höchstens in seinem Ausmaß: Es ist
Deletionsexperimente in der Xic-Region machen deutlich, gewöhnlich nicht so effektiv und nicht so ausgeprägt, und es ist
welche Abschnitte für die Auswahl des zu inaktivierenden mit einer begrenzten Ausdehnung der Xist-RNA im autosomalen
X-Chromosoms verantwortlich sind. Die Deletion des DxPas34- Bereich assoziiert. Ergänzt wird die Ausbreitung der Xist-RNA

. Abb. 8.34 Funktionelle Domänen der


Xist-RNA. a Oben ist das Xist-Gen der Maus in
seiner Intron-Exon-Struktur dargestellt; der Pfeil
deutet den Transkriptionsstart an (das selten
verwendete 8. Exon ist grau). Darunter ist die
reife Xist-RNA gezeigt, wobei die Regionen her-
vorgehoben sind, die zu den fünf Wiederho-
lungselementen beitragen (A–E). Die roten Bal-
ken zeigen die Domänen, die für die Xist-ver-
a mittelte Stilllegung verantwortlich sind (im
Wesentlichen die A-Domäne und ein kurzer be-
nachbarter Abschnitt); der grüne Bereich ist für
die Lokalisation der Xist-RNA in cis verantwort-
lich. b Das Modell illustriert die Wechselwirkung
des nukleosomalen Repressorkomplexes und
Komplexen von Gerüstproteinen während der
X-Inaktivierung; entsprechend sind nukleoso-
male Repressoren (Histon-Methyltransferasen/
Demethylasen) ausreichend, um teilweise einige
Gene in der Nähe der primären Xist-Bindestellen
abzuschalten. Die Komplexe aus Gerüstprotei-
nen (z. B. SATB1 [engl. special AT-rich sequence
b binding protein], LINE-1-Wiederholungselemente
[7 Kap. 9]) sind notwendig, um die Abschalt-
komplexe über weitere Domänen zu stabilisie-
Legende ren; sie tragen somit zur chromosomenweiten
X-gekoppeltes Gen „an“ chromosomale DNA-Schlaufen Abschaltung bei. (Nach Brockdorff 2011, mit
X-gekoppeltes Gen teilweise nukleosomaler Repressorkomplex freundlicher Genehmigung der Company of
reprimiert Biologists)
X-gekoppeltes Gen „aus“ Komplex des Kerngerüsts
Xist-RNA
8.3 · Dosiskompensation der Geschlechtschromosomen
323 8
auch durch eine Acetylierung und Methylierung von Histonen, a
wie wir es im Heterochromatin schon kennengelernt haben
(7 Abschn. 8.1.1) und wie wir es im 7 Abschn. 8.4 über genetische
Prägung noch einmal unter anderen Gesichtspunkten diskutie-
ren werden.
Die heute gültige Vorstellung des Beginns der X-Inaktivie-
rung besteht darin, dass nach der Anlagerung von Xist an Xi die
b
Initiationsfaktoren für die Transkription, die RNA-Polymerase II
(und neu gebildete RNA) sowie die entsprechenden Spleißfakto-
ren die Chromatinbereiche verlassen, die jetzt von Xist bedeckt
sind. Damit wird die Transkriptionsmaschinerie von der Xist-
Domäne ausgeschlossen, was zu einem Transkriptions-inaktiven
und reprimierten Bereich führt. Außerdem werden die Histone
nicht mehr so modifiziert, wie wir das von aktiven Genen ken- Legende
nen, sondern durch die Aktivitäten von Histon-Methyltransfera- Xist-RNA Chromatin-Vorlage
sen und -Demethylasen in inaktive Formen überführt (dieser PRC2-Komplex PRC2-Katalyse
Vorgang erinnert an die Bildung des perizentrischen Hetero- H3K27me3
chromatins, das wir in . Abb. 6.8 und . Abb. 8.8 kennengelernt Polycomb-
haben). Gewinnungsfaktor
Die Beteiligung der Xist-RNA ist also ein zentraler Bestand-
. Abb. 8.35 Direkte und indirekte Modelle, wie Xist-RNA den Polycomb-
teil des Beginns der X-Inaktivierung. Deshalb ist es hilfreich,
Komplex PRC2 für die Inaktivierung des X-Chromosoms heranzieht. a Im di-
sich die Struktur der Xist-RNA etwas genauer zu betrachten: rekten Modell gibt es eine Wechselwirkung der Xist-RNA mit einem zentra-
Wir kennen innerhalb der Xist-RNA fünf Wiederholungsele- len Protein von PCR2, sodass die Anreicherung von PCR2 und die Histon-
mente (. Abb. 8.34), davon ist allein das A-Element im 5’-Be- Modifikation H3K27me3 am inaktivierten X-Chromosom erleichtert werden.
reich für die Stilllegung notwendig; die anderen Wiederho- b Im indirekten Modell wird diese Anreicherung über einen Polycomb-
Gewinnungsfaktor erzielt, der zunächst an die Xist-RNA und später an PRC2
lungselemente haben wohl unterstützende Funktion für die
bindet, um so die Trimethylierung von H3K27 zu erzielen. (Nach Brockdorff
Lokalisation der Xist-RNA und ihre Wirkung in cis. Für die 2011, mit freundlicher Genehmigung der Company of Biologists)
Bindung der Xist-RNA an die »richtigen Stellen« sind vermut-
lich auch Wiederholungselemente des X-Chromosoms selbst
wichtig. Zu den wichtigen Kandidaten gehören die LINEs-
Elemente (engl. long interspersed nuclear elements, Einleitung schlechtschromosomen. Heute, nach mehr als 50 Jahren intensi-
7 Kap. 9) und LTRs (engl. long terminal repeats; 7 Abschn. 9.2), ver Forschung auf diesem Gebiet, beginnen wir zu begreifen,
die beide auf dem X-Chromosom häufiger als auf Autosomen dass diese Kuriosität zu einem besonderen Lehrbuchbeispiel für
vorkommen und für die Effizienz der X-Inaktivierung von gro- das allgemeine Wissen und die regulatorische Wirkung langer,
ßer Bedeutung sind. nicht-codierender RNAs geworden ist – das (wie oft in der Bio-
In einem zweiten Schritt wird das Chromatin in der Xist- logie) nicht auch ohne Ausnahme bleibt. Diese Ausnahme ist der
bedeckten Domäne durch die Aktivität des Polycomb-Komple- kleine rote Punkt im letzten Teil der zusammenfassenden Dar-
xes modifiziert. Die Polycomb-Proteine wurden ursprünglich stellung (. Abb. 8.36) – ein aktives Gen, das der Inaktivierung des
bei Drosophila identifiziert; dort sind sie zur Aufrechterhaltung X-Chromosoms »entkommen« ist.
der Stilllegung homöotischer Gene (7 Abschn. 12.4.5) notwendig. Eine Analyse von mehr als 600 Genen des X-Chromosoms
In der Zwischenzeit kennen wir eine Vielzahl von Proteinen, die des Menschen zeigte nämlich, dass ca. 15 % der X-gekoppelten
der Polycomb-Gruppe (PcG) zugerechnet werden. Im inaktiven Gene der Inaktivierung »entkommen« (bei der Maus sind es
X-Chromosom sind zwei katalytisch aktive Polycomb-Komplexe übrigens deutlich weniger). Die meisten davon liegen auf dem
besonders stark angereichert: Der reprimierende Polycomb- kurzen Arm des X-Chromosoms (Xp). Die Häufigkeit, mit der
Komplex 1 (engl. Polycomb repressive complex 1, PRC1) kataly- Gene auf dem kurzen Arm von der Inaktivierung verschont blei-
siert die Ubiquitinierung des Histons H2A am Lysin-Rest 119 ben, entspricht der Häufigkeit autosomaler Gene bei Transloka-
(H2AK119ub1); der zweite Polycomb-Komplex, PRC2, kata- tionen von Autosomen auf das X-Chromosom. Die Häufigkeit
lysiert die Trimethylierung von H3K27 (H3K27me3). Diese der Nicht-Inaktivierung ist damit ein Zeichen dafür, dass der
Polycomb-vermittelten Schritte sind offensichtlich für die Aus- kurze Arm des menschlichen X-Chromosoms unter evolutionä-
breitung und Etablierung der X-Inaktivierung entscheidend; ren Gesichtspunkten erst »kürzlich« zum X-Chromosom hinzu-
die oben diskutierte Anlagerung der Xist-RNA ist dagegen der gekommen ist. Dieser Abschnitt enthält auch deutlich weniger
initiale Schritt. Es werden derzeit zwei Modelle diskutiert, wie LINE-Elemente – umgekehrt ist deren Dichte am höchsten in der
die Xist-RNA die Polycomb-Komplexe zur X-Inaktivierung Region Xq13-Xq21, die das menschliche XIC enthält. Weiterhin
heranzieht (. Abb. 8.35). sind etwa 10 % der X-gekoppelten Gene in unterschiedlichem
Als Mary Lyon 1961 die nach ihr benannte »Lyon-Hypothe- Ausmaß inaktiviert, was zu einer beachtlichen Heterogenität der
se« der Inaktivierung des X-Chromosoms bei Säugern fomulier- Genexpression bei Frauen führt. Ein aktuelles Modell für die
te, erschien vielen das nichts weiter als eine Kuriosität der Ge- X-Inaktivierung bei Säugetieren zeigt . Abb. 8.37.
324 Kapitel 8 · Epigenetik

Gene . Abb. 8.36 Modell der X-Inaktivierung bei Säugern. Das Modell fasst die
aktiv wichtigsten Schritte zusammen, die für die Inaktivierung des X-Chromo-
Xic reprimiert soms entscheidend sind. Die X-chromosomale DNA nimmt innerhalb des
Zellkerns ein bestimmtes Territorium ein. Die Gene sind an der Peripherie
dieses Territoriums lokalisiert; aktive Gene reichen mit ihren Chromatin-
Territorium des X- schleifen in den freien Raum zwischen den Chromosomenterritorien hinein.
Chromosoms Das Transkript, das für die Initiation der X-Inaktivierung spezifisch ist
(Xist-RNA), ist im Zentrum des Territoriums des X-Chromosoms lokalisiert
und löst die Bildung eines reprimierten Kompartiments aus. Dieser Prozess
beinhaltet das Ausschalten der Transkriptionsmaschinerie und die Modifi-
kation des Chromatins durch Proteine der Polycomb-Gruppe. Im folgenden
Schritt werden Gene abgeschaltet – er ist von einem spezifischen zellulären
Xist-Expression Kontext abhängig, wobei zusätzliche Abschaltfaktoren anwesend sind (wie
SATB1, das an AT-reiche Sequenzen bindet; engl. special AT-rich sequence
binding protein). Man vermutet, dass SATB1 die Basen der Chromosomen-
schlaufen bedeckt, die aus dem reprimierten Kompartiment herausragen;
dadurch könnten Gene empfänglich für die Abschaltung durch die Xist-RNA
werden, woran die Wiederholungseinheit A der Xist-RNA wesentlich betei-
ligt ist. Abgeschaltete Gene befinden sich im reprimierten Kompartiment.
Xist-RNA Xic: X-Inaktivierungszentrum. (Nach Wutz 2011, mit freundlicher Genehmi-
gung der Nature Publishing Group)
8

Abschaltung der Chromatin-Modifikation


Transkriptionsmaschinerie durch PcG-Komplexe Die charakteristischen Eigenschaften der X-chromosomalen
Inaktivierung – ihr Ausmaß, ihre Stabilität und genaue Regula-
tion während des Entwicklungsprozesses – lässt vermuten, dass
hier mehrere Moleküle und Faktoren in genau aufeinander abge-
stimmter Weise miteinander interagieren, wie wir das auch von
reprimiertes
Kompartiment anderen epigenetischen Prozessen kennen. Von besonderem In-
teresse ist dabei die besondere Stabilität des inaktiven X-Chro-
mosoms in der Gebärmutter von Säugern, z. B. auch im Vergleich
zu Beuteltieren. Ein zweiter interessanter Punkt ist die Ähnlich-
keit zwischen den verschiedenen Wegen der Dosiskompensation
bei Drosophila und Säugern. Auch wenn das Ergebnis im Detail
unterschiedlich ist (Drosophila: Überaktivität im X-Chromosom;
Säuger: Inaktivierung), so gibt es doch eine auffallende Parallele:
Auch hier spielen zwei nicht-codierende RNA-Transkripte (roX1
SATB1 und roX2) eine wichtige Rolle. Insbesondere bindet offensicht-
lich das roX2-Transkript an MOF, eine Histon-Acetyltransferase,
die dadurch aktiviert wird. Wie wir auch schon bei der Bespre-
chung des Heterochromatins im Allgemeinen gesehen haben,
sind Wechselwirkungen mit RNA offensichtlich weit verbreitet,
wenn es darum geht, größere Bereiche des Chromatins abzu-
schalten.

> Bei Säugern erfolgt die Dosiskompensation durch Inakti-


abhängig von
vierung eines X-Chromosoms in weiblichen Zellen. Die In-
Abschaltung der Gene
Wiederholungseinheit A aktivierung erfolgt in der frühen Embryonalentwicklung
und betrifft zufallsmäßig das väterliche oder mütterliche
der X-Inaktivierung Chromosom. Das inaktive X-Chromosom ist als Barr-Kör-
entkommen perchen cytologisch sichtbar. Die Inaktivierung des X-
Chromosoms geht vom X-Inaktivierungszentrum aus und
beruht im Wesentlichen auf der Expression des Xist-Tran-
skripts, das für kein Protein codiert. Als Ergebnis der Xist-
Bedeckung wird die Transkription der Gene des X-Chro-
mosoms abgeschaltet. Dabei werden die Promotoren der
X-gekoppelten Gene methyliert und das entsprechende
Chromatin deacetyliert.
8.4 · Epigenetik und genetische Prägung
325 8
a se Versuche beweisen, dass beide Genome der Eltern für die Em-
bryonalentwicklung spezifisch und unterschiedlich program-
miert sein müssen und dass nur in ihrem Zusammenwirken ein
neuer Organismus entstehen kann. Es kann sich also nicht um
irreversible Veränderungen des Genoms (z. B. Verlust oder Ver-
änderung von DNA-Sequenzen) handeln, da sich die Störungen
in der Embryonalentwicklung bereits zeigen, bevor die künftigen
Keimzellen determiniert sind. Es handelt sich dabei um einen
epigenetischen Regulationsprozess, der das väterliche und müt-
terliche Genom unterscheidet. Dieser Prozess wird als geneti-
sche Prägung bezeichnet; häufig wird auch im Deutschen der
angelsächsische Begriff »Imprinting« verwendet.
Imprinting bedeutet, dass es eine auf chromosomaler Ebene
niedergelegte Information gibt, die dazu führt, dass von den bei-
den vorhandenen Allelen eines Gens nur das väterliche oder nur
b das mütterliche Allel exprimiert wird. Diese Information wird in
der Regel über die Mitosen hinweg stabil weitergegeben. Der Be-
griff sagt jedoch weder etwas darüber aus, ob dies nur bestimm-
te Gene betrifft oder ob das gesamte Genom betroffen ist, noch
gibt er Auskunft darüber, auf welchen molekularen Mechanis-
men diese chromosomale Information beruht. In den letzten
Jahren hat unser Wissen über die molekularen Grundlagen des
Imprintings deutlich zugenommen, zumal Störungen dieses Pro-
zesses auch eine wesentliche Ursache einiger Erbkrankheiten des
Menschen sind (z. B. Prader-Willi-Syndrom, Angelman-Syn-
drom, Beckwith-Wiedemann-Syndrom).
. Abb. 8.37 Flucht vor der X-Inaktivierung. a Ein Gen, das durch X-Inakti-
vierungsprozesse abgeschaltet wird (z. B. das Rps4-Gen der Maus, das für
Eine wichtige Frage betrifft die Größe der Chromosomenbe-
das ribosomale Protein S4 codiert), wird nach dem Beginn der Inaktivierung reiche, die einem Imprintingeffekt unterliegen. Sind es einzelne
am Xist-Locus und der Ausbreitung des Inaktivierungsprozesses schließlich Gene, oder umfasst das Imprinting größere kontinuierliche Ge-
stabil abgeschaltet. Ein Gen, das der Inaktivierung entkommt (z. B. das nomabschnitte? Hierauf geben uns genetische Experimente an
Smcx-Gen, das für eine Lysin-spezifische Demethylase codiert; andere Gen-
Mäusemutanten eine Antwort. Untersucht man die Keimzellen
symbole: Jarid-1c oder Kdm5c), wird zunächst auch abgeschaltet, aber wäh-
rend des Inaktivierungsprozesses wieder reaktiviert. Inaktivierte Regionen
von Mäusen, die hinsichtlich bestimmter Translokationen hete-
sind blau und reaktivierte Regionen gelb dargestellt. b In der Maus sind die rozygot sind, so findet man eine erhöhte Rate von Segregations-
Bereiche des X-Chromosoms, die der X-Inaktivierung entkommen (»Aus- störungen während der Meiose, die durch Nondisjunction zu
nahme«), deutlich kleiner als beim Menschen (jeweils gelb dargestellt). aneuploiden Keimzellen führen. Durch eine systematische gene-
Möglicherweise bindet in der Maus CTCF (engl. CCCTC-binding factor) an die
tische Analyse von Translokationen haben Bruce Cattanach und
CpG-Inseln der Gene, die dadurch nicht reaktiviert werden können. (Nach
Disteche et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung von Karger)
Janet Jones (1994) spezifische Regionen im Mäusegenom kartie-
ren können, die Imprintingeffekte zeigen. Danach ist ein Imprin-
ting für in der Embryogenese wichtige Gene nur für einige be-
grenzte Abschnitte des Genoms nachweisbar (. Abb. 8.38). In
8.4 Epigenetik und genetische Prägung weiten Bereichen ist es hingegen für die Embryonalentwicklung
bedeutungslos, ob Gene väterlichen oder mütterlichen Ur-
8.4.1 Was ist genetische Prägung? sprungs sind. Eine genauere Analyse von Chromosomenregio-
nen, die genetische Prägung zeigen, deutet darauf hin, dass es
Aus Beobachtungen der Entwicklungsfähigkeit von Säugeremb- (bei der Maus) etwa 150 Gene sind, die entsprechend ihrem Ur-
ryonen (7 Abschn. 12.6) ergaben sich deutliche Hinweise auf ge- sprung aus der Eizelle oder den Spermatozoen unterschiedlich
schlechtsspezifische Regulationsmöglichkeiten von Genen. Ins- exprimiert werden (Lee und Bartolomei 2013).
besondere Kerntransplantationsversuche von James McGrath Eines der zuerst identifizierten Gene, die Imprinting zeigen,
und Davor Solter (1983) an Eizellen von Mäusen haben bewie- ist das Igf2-Gen (engl. insulin-like growth factor 2) im Chromo-
sen, dass für die Entwicklung eines normalen Embryos sowohl som 7 der Maus (DeChiara et al. 1991). Im Embryo ist das väter-
der väterliche als auch der mütterliche Pronukleus erforderlich liche Allel exprimiert, während das mütterliche Allel inaktiv
sind: Injiziert man nach der Entfernung des väterlichen Pronuk- bleibt. Das Igf2-Gen wird unter anderem in der Plazenta expri-
leus aus einer befruchteten Eizelle entweder einen zweiten müt- miert und fördert das Wachstum des Embryos. Die Hemmung
terlichen Pronukleus oder injiziert man umgekehrt nach Entfer- des väterlichen Allels führt zu Mäusen, die nur noch 60 % des
nung des mütterlichen Pronukleus einen zweiten väterlichen üblichen Geburtsgewichts haben. Besonders interessant ist, dass
Pronukleus in die befruchtete Eizelle, so bleibt die embryonale ein damit funktionell zusammenhängendes Gen, das für den ent-
Entwicklung auf frühe Präimplantationsstadien beschränkt. Die- sprechenden Rezeptor codiert (engl. insulin-like growth factor 2
8
326
Kapitel 8 · Epigenetik

. Abb. 8.38 Geprägte Gene der Maus: chromosomale Imprinting-Regionen und Phänotypen. Es sind die chromosomalen Regionen der Maus angegeben, deren Gene durch Imprinting reguliert werden.
(Nach Williamson et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung der Autoren)
8.4 · Epigenetik und genetische Prägung
327 8
receptor, Igf2r) und auf dem Chromosom 17 liegt, ebenfalls Im-
printing zeigt (Barlow et al. 1991). Allerdings ist hier das mütter-
liche Allel im Embryo aktiv, während das väterliche Gen inaktiv
bleibt. Das Igf2r-Gen wird erwartungsgemäß auch in der Plazen-
ta exprimiert und ist für eine Hemmung des embryonalen
Wachstums verantwortlich; seine Inaktivierung führt zu Mäusen
mit etwa 140 % des normalen Geburtsgewichts. Dabei codiert
Igf2r eigentlich ursprünglich gar nicht für einen IGF2-Rezeptor,
sondern für einen Mannose-6-phosphat-Rezeptor. Die Bindung
für IGF2 hat dieser Rezeptor erst später in der Evolution erwor-
ben – und zwar nur bei Beuteltieren und Säugetieren mit einer
Plazenta, aber nicht bei Vögeln, Fröschen und Kloakentieren.
Der von Igf2r codierte Rezeptor fängt IGF2 an der Zelloberfläche
ab, führt ihn in die Zelle und dort zu den Lysosomen, in denen
IGF2 abgebaut wird (der »normale« Rezeptor für IGF2 wird
durch Igf1r codiert und vermittelt dagegen die wachstumsför-
dernden Eigenschaften).
Wenn wir uns nun die Imprinting-Muster in der Evolution
betrachten, so stellen wir fest, dass Igf2 in Beuteltieren, Nagern,
Paarhufern und Primaten einem Imprinting unterliegt, aber
nicht in Kloakentieren und Vögeln. Umgekehrt wird Igf2r in
Beuteltieren, Nagern und Paarhufern genetisch geprägt, aber
nicht in Kloakentieren, Vögeln, Primaten und ihren nächsten
Verwandten – den Spitzhörnchen (Tupaia) und den fliegenden
Lemuren (. Abb. 8.39). Diese phylogenetische Verteilung wird
am einfachsten durch ein gleichzeitiges Entstehen von Imprin-
. Abb. 8.39 Evolution der genetischen Prägung am Igf2-Genort. In Kloaken-
ting an beiden Genen erklärt. Dem Erwerb der IGF2-Bindestelle
tieren unterliegen weder Igf2 noch das Gen des IGF2-Rezeptors (Igf2r) einem
durch den Mannose-6-phosophat-Rezeptor in Vorläufern der Imprinting. Bei Beuteltieren, Paarhufern und Nagern sind beide Gene durch
heutigen Beuteltiere und Säugetiere (mit Plazenta) folgte später genetische Prägung reguliert, wohingegen bei Primaten das Imprinting
der Verlust der genetischen Prägung in Primaten. Diese phyloge- des Igf2r wieder verloren ging. (Nach Wilkins und Haig 2003, mit freundlicher
netischen Daten zeigen einen Zusammenhang von Imprinting Genehmigung der Nature Publishing Group)
mit Lebendgeburten, wohingegen ein Imprinting bei eierlegen-
den Wirbeltieren fehlt. Allerdings wurde inzwischen auch Im-
printing bei Caenorhabditis elegans beschrieben (Sha und Fire gung) bezeichnet wird. Imprinting betrifft nur eine be-
2005). grenzte Anzahl von Genen. Imprinting von Genen, das be-
reits in der Zygote erfolgt ist, ist in der Regel auch im
*Esdenwerden verschiedene Theorien diskutiert, die versuchen,
selektiven Vorteil des genomischen Imprinting in der
adulten Organismus noch vorhanden. In Einzelfällen kön-
nen aber Gene, die während der Embryogenese inaktiviert
Evolution zu erklären (Ashbrook und Hager 2013). Am brei- wurden, in adulten Stadien und verschiedenen Geweben
testen akzeptiert ist die »Verwandtschafts«-Hypothese wieder exprimiert werden.
(auch als »Konflikt-Theorie« bekannt). Sie besagt, dass Im-
printing wegen eines evolutionären Konflikts in Individuen
zwischen Allelen maternalen und paternalen Ursprungs ent- 8.4.2 Mechanismen der genetischen Prägung
stand. In ihrer einfachsten Form beschreibt diese Theorie
den Konflikt zwischen Genen, die im Embryo stark expri- Ein kritisches Kennzeichen der genetischen Prägung von Genen
miert werden (väterliches Imprinting), aber dafür zusätzliche ist, dass sie entsprechend ihrem elterlichen Ursprung markiert
Ressourcen der Mutter auf deren Kosten oder ihrer anderen sind, sodass in den somatischen Zellen das richtige allelspezifi-
Nachkommen in Anspruch nehmen; mütterliches Imprinting sche Expressionsmuster entsteht. Die elterliche Markierung
schont dagegen die mütterlichen Ressourcen für weitere zu- muss stabil sein und über mitotische Zellteilungen hinweg ver-
künftige Nachkommen (»Kampf der Geschlechter im Ge- erbt werden können, sodass die genetische Prägung während der
nom«). Es wird derzeit nach Möglichkeiten gesucht, diese Entwicklung des Organismus aufrechterhalten bleibt. Die Mar-
Hypothesen zu testen – was sicherlich nicht ganz trivial sein kierung muss andererseits auch wieder gelöscht werden können:
wird. In den Körperzellen bleibt zwar das biallelische Muster erhalten,
in den Keimzellen muss aber dieses Muster gelöscht und durch
> Das väterliche und das mütterliche Genom von Pronuklei das geschlechtsspezifische Muster des jeweiligen Individuums
von Mäusen zeigen eine unterschiedliche funktionelle ersetzt werden. Der beste Zeitpunkt dafür ist, wenn sich die
Programmierung, was als Imprinting (genetische Prä- Keimzellen in einem abgetrennten Kompartiment befinden
328 Kapitel 8 · Epigenetik

Genomweite Löschung
Befruchtung Blastocyste epigenetischer Markierungen Geburt
in Keimzellen

. Abb. 8.40 Zeitschiene der genetischen Prägung. Die erste Welle genomweiter Demethylierung erfolgt kurz nach der Befruchtung. Dabei wird das
mütterliche Genom passiv demethyliert; das Methylcytosin des väterlichen Genoms wird zunächst zu Hydroxymethylcytosin oxidiert, das ebenfalls passiv
entfernt wird. Die unterschiedlich methylierten Regionen (engl. differentially methylated regions, DRM) bleiben zunächst erhalten. De-novo-Methylierung
findet um die Implantationsphase herum statt. Sowohl in den männlichen als auch in den weiblichen Keimzellen beginnt eine weitere Welle der Demethy-
lierung, wenn sie zur Genitalleiste wandern – dann werden auch die DRMs demethyliert. In den männlichen Keimzellen erfolgt die Neumethylierung der
geprägten Regionen in Prospermatogonien (in der Zeit zwischen den Tagen 15,5 und 17,5 der Embryonalentwicklung, E15.5–E17.5); in den weiblichen
8 Eizellen erfolgt die Neumethylierung erst nach der Geburt, wenn die Oocyten heranreifen (Tag 10–25, d10–25). Die Aktivitäten in männlichen und weib-
lichen Keimzellen sind in Blau bzw. Rot angegeben. (Nach Abramowitz und Bartolomei 2012, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

(7 Abschn. 12.6.5) und so unabhängig von den übrigen Körper- die das aktuelle Geschlecht widerspiegelt. Während dieses
zellen umprogrammiert werden können. vollständigen Löschvorgangs (engl. erasure) wird das gesamte
Ein geeignetes Markierungsmittel für einen bestimmten Genom der Keimzellen demethyliert. Dieser Löschvorgang
Funktionszustand der DNA ist generell die Methylierung von beeinflusst auch die asynchrone Replikation; in der Maus ist
Basen in der DNA, da es der Zelle leicht möglich ist, methylierte er etwa am 13. bis 14. Tag der Embryonalentwicklung abge-
DNA-Abschnitte über die Replikation hinweg zu erhalten schlossen.
(7 Abschn. 8.1.2). Obwohl ein neu synthetisierter DNA-Strang Nach dem Löschen beginnt die de-novo-Methylierung in der
nach der Replikation zunächst unmethyliert ist, kann eine Iden- Spätphase der Entwicklung sowohl der Ei- als auch der Samen-
tifizierung methylierter Basen im komplementären, aufgrund zellen, allerdings aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungs-
der semikonservativen Replikation also ursprünglichen Strang und Differenzierungsschritte in unterschiedlichen Stadien. Sie
durch Methylasen leicht erfolgen. Da Methylgruppen offenbar erfolgt in den männlichen Keimzellen früher (im Stadium der
bevorzugt in CpG-Inseln (engl. CpG islands) vorliegen, ist die Prospermatogonien; in der Maus etwa ab dem 15. bis 17. Tag der
Erhaltung der Methylierung aufgrund der Symmetrie der An- Embryonalentwicklung). Damit geht die Remethylierung dem
ordnung methylierten Cytosins über beliebig viele Zellgenerati- Wiedereintritt der Keimzellen in die Mitose und Meiose voraus.
onen leicht möglich. Solche CpG-Inseln findet man häufig im Remethylierung in der weiblichen Keimzelle erfolgt später, näm-
Promotorbereich vieler Säugergene. lich nach der Geburt während der Reifephase der Oocyten. Die
Etwa 88 % der Mausgene, die durch Imprinting geregelt wer- Enzyme, die an diesen Prozessen beteiligt sind, sind DNA-Me-
den, haben CpG-Inseln, verglichen mit einem Durchschnitt von thyltransferasen (DNMT), insbesondere DNMT1, DNMT3a
47 % aller Gene. Ebenso wie eine gewisse Häufigkeit direkter und DNMT3b. Einen Überblick über die Zeitschiene der geneti-
Wiederholungssequenzen in der Nachbarschaft dieser CpG-In- schen Prägung gibt . Abb. 8.40.
seln reicht das aber als einziges Charakteristikum für Imprinting-
> Die genetische Prägung wird in der frühen Phase der
Regionen nicht aus. Allerdings zeigt die große Mehrheit der ge-
Keimzellentwicklung gelöscht und in den späteren Phasen
prägten Gene Unterschiede im Methylierungsmuster zwischen
geschlechtsspezifisch reprogrammiert. Beteiligte Enzyme
den elterlichen Allelen, wobei die Methylierung unterschiedliche
sind im Wesentlichen DNA-Methyltransferasen.
Bedeutung haben kann (sowohl Aktivierung als auch Repressi-
on). Weiterhin fällt auf, dass Gene, die über Imprinting reguliert Wie wir bereits gesehen haben (. Abb. 8.38), kommen fast alle
werden, oft in Gruppen oder Domänen zusammengefasst sind geprägten Gene in Gruppen vor. Für sieben Prägungsgruppen
(. Abb. 8.38), die dann auch während der Replikation asynchron wurden weitreichende Prägungszentren identifiziert (im engli-
replizieren, d. h. die paternalen Kopien replizieren früher als die schen Schrifttum finden sich dafür verschiedene Begriffe: im-
maternalen. Außerdem haben genetische Experimente gezeigt, print control element [ICE], imprint control region [ICR] oder
dass diese Cluster eine höhere Rekombinationsrate während der imprinting center [IC]); in der Regel wurde der entsprechende
männlichen Meiose zeigen. Bereich in Mäusen deletiert und ein Verlust der genetischen Prä-
Der Entwicklung der Geschlechtszellen kommt also für die gung beobachtet. Diese Prägungsgruppen sind von unterschied-
Programmierung der genetischen Prägung eine entscheidende licher Größe (80–3700 kb) und umfassen drei bis zwölf Gene. Es
Rolle zu. Durch das Löschen der vorhandenen Prägung in der lassen sich dabei zwei Trends beobachten: Erstens werden die
frühen Entwicklung wird eine Reprogrammierung ermöglicht, Protein-codierenden Gene in der Regel von demselben elterli-
8.4 · Epigenetik und genetische Prägung
329 8
chen Chromosom abgelesen, wohingegen die nicht-codierende für UBE3A (UBE3S-ATS), und hemmt damit indirekt die
RNA vom gegengeschlechtlichen Chromosom abgelesen wird. UBE3A-Expression im väterlichen Chromosom. Der Verlust
Zweitens verursacht der Verlust des Prägungszentrums nur dann dieser aktivierenden Wirkungen im paternalen Chromosom
auch einen Verlust der genetischen Prägung, wenn er in dem führt zum Prader-Willi-Syndrom; umgekehrt ist die Inaktivie-
Chromosom auftritt, das die nicht-codierende RNA exprimiert. rung des Angelman-Prägungszentrums (und damit die Ab-
Insofern kommt dem Prägungszentrum eine entscheidende Rol- schaltung von UBE3A) für die Ausprägung des Angelman-Syn-
le zu: Das Prägungszentrum wird de novo durch die DNA-Me- droms verantwortlich.
thyltransferase DNMT3A/3L in einer der beiden elterlichen
Keimbahnen methyliert, diese Markierung bleibt über Mitosen *auf,
Wie wir oben gesehen haben, tritt das Angelman-Syndrom
wenn das maternale UBE3A-Gen nicht oder nicht korrekt
stabil erhalten; im anderen Geschlecht bleibt das Prägungszent-
exprimiert wird. Eine therapeutische Überlegung ist daher,
rum dagegen unmethyliert.
das väterliche Allel zu exprimieren und so den genetischen
Der zweite entscheidende Mechanismus wird oft durch die
Fehler zu korrigieren. Über einen derartigen Erfolg (in der
Expression einer nicht-codierenden DNA ausgelöst. Einige Bei-
Maus) wurde nun kürzlich berichtet – und zwar stellten sich
spiele sind in . Abb. 8.41 zusammengefasst. In der Igf2-Prä-
bekannte Inhibitoren der Topoisomerase I in den entsprechen-
gungsgruppe (engl. insulin-like growth factor 2) hängt die Ex-
den Screening-Tests als positiv heraus. Die Infusion von Topo-
pression der 2,6 kb langen, nicht-codierenden RNA H19 vom
tecan (das sonst als Chemotherapeutikum bei Krebserkran-
maternalen Chromosom davon ab, dass das Prägungszentrum
kungen eingesetzt wird) über zwei Wochen in einen Gehirn-
nicht methyliert ist, und korreliert mit der Abschaltung von
ventrikel führte zu einer dauerhaften Expression des väter-
Igf2. Dabei bindet das Zinkfinger-Protein CTCF (CCCTC-bin-
lichen Ube3a-Gens (Huang et al. 2012). Dieses Experiment sagt
dender Faktor) an die entsprechende Sequenz des Prägungs-
jetzt noch nichts darüber aus, ob die Gehirnentwicklung
zentrums und bildet einen Insulator (. Abb. 5.15), der das Igf2-
der Mäuse positiv beeinflusst wurde und ob Topotecan als
Gen isoliert und den Zugang dieses Gens zu seinen Enhan-
Medikament bei Patienten wirksam ist und eingesetzt
cern  blockiert. Im paternalen Chromosom wird durch die
werden darf. Es gibt aber einen deutlichen Hinweis darauf,
Methylierung des Prägungszentrums der Zugang für das CTCF-
dass Topisomerasen an zentraler Stelle an dem Prozess der
Protein verhindert, sodass die Enhancer mit dem Igf2-Promotor
genetischen Prägung beteiligt sind – und das ist unabhän-
in Wechselwirkung treten können und Igf2 exprimiert wird
gig von der möglichen therapeutischen Wirkung eine be-
(. Abb. 8.41a).
deutende Erkenntnis, die weitere Forschungen in dieser Rich-
Im Gegensatz zu dem H19-System gibt es auch paternal
tung stimulieren wird.
exprimierte nicht-codierende RNAs, die durch ihre direkte
Wirkung benachbarte Gene abschalten. Ein Beispiel dafür ist In den letzten Jahren haben die Veröffentlichungen zu geneti-
die 90 kb lange Kcnq1ot1-RNA (. Abb. 8.41b), die elf Gene in scher Prägung deutlich zugenommen. Dabei stellte sich zuneh-
einem Bereich von 800 kb in cis abschaltet (Kcna1ot1: engl. Kcnq1 mend heraus, dass Imprinting nicht notwendigerweise in allen
overlapping transcript-1; Kcnq1: engl. potassium voltage-gated Geweben eines Tieres konserviert ist. Das Bild wird ergänzt,
channel, subfamily Q, member 1). Ein weiteres Beispiel ist die wenn man gewebespezifische Promotoren und andere epigene-
118 kb lange ncRNA Airn (engl. antisense Igf2r RNA non- tische Markierungen mit berücksichtigt, die häufig mit Zelldiffe-
coding), die drei Gene in einem Bereich von 300 kb in cis stilllegt renzierung und der Spezialisierung bestimmter Zelltypen ein-
(. Abb. 8.41c). hergehen. In einer weitgehenden Gesamtübersicht über geprägte
Etwas komplexer ist die Situation in der Snrpn-Domäne Gene der Maus konnten Adam Prickett und Rebecca Oakey
(. Abb. 8.41d). Dieser Bereich auf dem Chromosom 7 der Maus (2012) zeigen, dass etwa ein Drittel aller Gene nur in bestimmten
bzw. dem Chromosom 15 des Menschen ist verantwortlich für Geweben genetischer Prägung unterliegt. Die Hälfte davon ent-
zwei ähnliche neurologische Erkrankungen des Menschen, das fällt auf die Plazenta, und diese Gene werden dann nur vom müt-
Angelman-Syndrom (Titelbild dieses Kapitels) bzw. das Prader- terlichen Allel exprimiert. Ähnlich ist es im Gehirn: Ein Viertel
Willi-Syndrom. Das Prägungszentrum in der Snrpn-Domäne ist der gewebespezifisch exprimierten Gene wird im Gehirn expri-
zweigeteilt: Das Prägungszentrum des Prader-Willi-Syndroms miert, und davon zwei Drittel nur vom mütterlichen Allel. Hier
umfasst ein 4,3-kb-Fragment des Promotors und des 1. Exons öffnen sich neue Perspektiven zur Erklärung bisher nicht ver-
des Snrpn-Gens (codiert für das small nuclear ribonucleo- standener Phänomene.
protein N); das Prägungszentrum des Angelman-Syndroms liegt > Imprinting beruht im Wesentlichen auf der Methylierung
etwa 35 kb oberhalb (diese Zweiteilung ist in . Abb. 8.41d nicht von DNA als Erkennungsmechanismus für Geninaktivie-
aufgelöst). In mütterlichen Chromosomen ist das Angelman- rung. Es wird ergänzt durch weitere Mechanismen (Ex-
Prägungszentrum aktiv und führt zu einer Hemmung des Prä- pression von Gegenstrang-Transkripten, Chromatinstruk-
gungszentrums des Prader-Willi-Syndroms; diese Hemmung turen, Silencer). Die genetische Prägung eines chromoso-
bleibt während der ganzen Embryonalentwicklung aktiv und malen Abschnitts wird oft von einem Prägungszentrum
führt zur Expression von UBE3a (codiert für die Ubiquitin- gesteuert (imprinting center).
Proteinligase E3A) vom maternalen Chromosom. Das Prägungs-
zentrum des Prader-Willi-Syndroms ist stattdessen in den väter-
lichen Chromosomen aktiv: Es aktiviert verschiedene Gene
(blaue Boxen in . Abb. 8.41), aber auch die Gegenstrang-RNA
330 Kapitel 8 · Epigenetik

a Insulator-Modell der genetischen Prägung: die H19/Igf2-Domäne

b ncRNA-Modell der genetischen Prägung: die Kcnq1-Domäne

c ncRNA-Modell der genetischen Prägung: die Igfr2-Domäne

Airn

d ncRNA-Modell der genetischen Prägung: die Snrpn-Domäne


8.4 · Epigenetik und genetische Prägung
331 8
8.4.3 Genetische Prägung und Umweltfaktoren minderter Nahrungsaufnahme auf Erwachsene verwechselt
werden: Während des 2. Weltkrieges waren in vielen euro-
Ernährung spielt für unsere Gesundheit unter vielerlei Gesichts- päischen Ländern die Nahrungsmittel insgesamt knapp;
punkten eine wichtige Rolle; Ungleichgewichte in der Ernährung damit verbunden sank beispielsweise in Norwegen die Neu-
sind wichtige Faktoren für die Entstehung chronischer Krank- diagnose von Typ-2-Diabetes (7 Abschn. 13.4.3) bei über
heiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettleibigkeit, Diabe- 60-Jährigen um über 85 %, um danach sofort wieder auf das
tes und Krebs. Dabei ist eine angemessene Ernährung während Vorkriegsniveau anzusteigen (Ashcroft und Rorsman 2012).
kritischer Phasen des frühen Lebens (vor und nach der Geburt)
offensichtlich von besonderer Bedeutung. In diesem Zusammen- Wenn man sich die molekularen Parameter für solche epigeneti-
hang findet die Hypothese, dass epigenetische Mechanismen mit schen Mechanismen genauer betrachtet, stellt man fest, dass es
solchen Ungleichgewichten der Ernährung in Zusammenhang sich nicht um eine gleichmäßige Veränderung epigenetischer
stehen, in den letzten Jahren zunehmend Zustimmung; im eng- Markierungen (wie z. B. Methylierung) handelt: Von 15 Gen-
lischen Sprachraum wird diese Vorstellung als developmental gruppen, die als genetisch geprägt vorliegen, zeigen in der nie-
origins of health and disease hypothesis bezeichnet. derländischen Hunger-Kohorte nur sechs dieser Gruppen Ver-
änderungen im Methylierungsmuster gegenüber den Kontrollen.
C Eine zentrale Beobachtung in diesem Kontext betrifft eine Dazu gehört auch das IGF2-Gen (. Abb. 8.41), das bei den Be-
Kohorte von Niederländern, deren Eltern für rund ein halbes troffenen noch 60 Jahre später einen geringeren Methylierungs-
Jahr einer schweren Hungersnot ausgesetzt waren: In der status aufweist als in der Kontrollgruppe.
Zeit von November 1944 bis zum Endes des 2. Weltkrieges Einige dieser Befunde lassen sich auch im Tiermodell nach-
im Mai 1945 wurde im westlichen Teil der Niederlande durch vollziehen. Für lange Zeit gaben komplexe Variationen der
die deutschen Besatzungstruppen die Nahrungsmittelratio- Phänotypen am Agouti-Locus (»wildfarben«; Gensymbol A)
nen pro Person und Tag auf ca. 700 kcal festgesetzt (zwei der Maus den Genetikern scheinbar unlösbare Rätsel auf
Scheiben Brot, zwei Kartoffeln und ein Stück Zuckerrübe). (. Abb. 8.42). Der Agouti-Locus der Maus (7 Abschn. 11.3.4)
Die »Erfahrung« dieser Hungersnot während der Embryonal- codiert für einen inhibitorischen Liganden von Melanocortin-
entwicklung ist bei den Betroffenen Jahrzehnte später im Rezeptoren. Das Gen ist für die Haarfarbe der Maus, aber
Leben mit einer Reihe physiologischer und neuronaler Fehl- auch für die zelluläre Insulin-Antwort (mit-)verantwortlich.
entwicklungen assoziiert (z. B. Fettleibigkeit, erhöhte Plas- Der Agouti-Locus kontrolliert die Verteilung schwarzer und
ma-Lipide, erhöhtes Risiko für eine Schizophrenie-Erkran- gelber Pigmente, wodurch die helle und dunkle Bänderung ein-
kung, für mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Brust- zelner Haare der Wildfärbung vieler Tierarten entsteht. Durch
krebs). Viele dieser Assoziationen sind vom Geschlecht der Mutationen dieses Locus geht die gelbe Bande des Einzelhaares
exponierten Individuen und vom Zeitraum während der Em- entweder verloren (non-agouti) oder dehnt sich aus (gelb oder
bryonalentwicklung abhängig: Als besonders empfindlich agouti). Das dominante Allel (A) codiert die gelbe und das rezes-
hat sich das erste Trimester der Schwangerschaft herausge- sive Allel (a) die schwarze Haarfarbe. Das Maus-Allel Avy ist das
stellt (für eine zusammenfassende und detaillierte Darstel- Ergebnis der Insertion eines Retrotransposons (IAP, . Tab. 9.2)
lung sei der interessierte Leser auf die Arbeiten von Heij- oberhalb des Agouti-Gens. Die Avy-Expression ist unter diesen
mans et al. 2009 sowie Ruemmele und Garnier-Lengliné Umständen abhängig von der LTR-Region des Retrotransposons
2012 verwiesen). Diese Wirkung von Hunger auf die Embry- (7 Abschn. 9.1.2), sie führt zur gelben Fellfarbe und korreliert mit
onalentwicklung darf jedoch nicht mit der Wirkung von ver- einer Hypomethylierung der LTR. Isogene Mäuse zeigen aber

9 . Abb. 8.41 Mechanismen der genetischen Prägung. a Das Insulator-Modell ist am Beispiel der H19/Igf2-Domäne dargestellt. Hier ist das Prägungs-
zentrum paternal methyliert. Am unmethylierten mütterlichen Allel verhindert die Bindung von CTCF die Wechselwirkung der Enhancer mit dem Igf2-
Promotor. Stattdessen aktivieren die Enhancer die H19-Expression. Am väterlichen Allel breitet sich die Methylierung des Prägungszentrums bis zum
H19-Promotor aus und legt dessen Expression still; dadurch wird auch die Bindung von CTCF an das Prägungszentrum verhindert, und die Enhancer
können die Igf2-Expression aktivieren. b Bei Kcnq1 enthält das Prägungszentrum den Promotor der lncRNA Kcnq1ot1. Im paternalen Allel ist das Prägungs-
zentrum nicht methyliert und erlaubt die Expression von Kcnq1ot1. Dadurch schaltet Kcnq1ot1 das väterliche Allel der gekoppelten Gene in cis ab. Im
maternalen Allel wird Kcnq1ot1 wegen der Methylierung des Prägungszentrums nicht gebildet, sodass die benachbarten geprägten Gene exprimiert
werden. c In der Igfr2-Domäne wird die Expression der lncRNA Airn durch einen Promotor im Prägungszentrum gesteuert und im unmethylierten väter-
lichen Allel exprimiert. In somatischen Zellen verhindert die Transkription von Airn über dem Igfr2-Promotor die Expression von Igfr2, indem sie (zu-
mindest teilweise) die RNA-Polymerase II vom Promotor fernhält. In extraembryonalen Geweben soll die Airn-lncRNA Enzyme mobilisieren, die reprimie-
rende Histon-Modifikationen ermöglichen und so Gene in cis abschalten. d Der Snrpn-Genort benutzt das ncRNA-Modell: Ube3a wird nur im Gehirn
vom mütterlichen Allel exprimiert (in anderen Geweben wird es biallelisch exprimiert). Die lncRNA des paternalen Allels kommt in vielen unterschiedlich
bearbeiteten Formen vor, von denen einige auch nur im Gehirn vorkommen. Diese enthalten auch Sequenzen, die mit Ube3a überlappen – diese Formen
kommen nur vor, wenn das Prägungszentrum nicht methyliert ist und führen zur Unterdrückung der Expression von Ube3a. Im maternalen Allel führt
die Transkription der oberhalb des Prägungszentrums liegenden Exons (engl. upstream exons, U-exons) vermutlich zur Methylierung des mütterlichen
Prägungszentrums. In einem Screening-Experiment der Maus wurden Topoisomerase-Inhibitoren identifiziert, die Ube3a im väterlichen Allel aktivieren –
als Ergebnis werden Snrpn und Ube3s-ATS nicht länger exprimiert, und das Prägungszentrum zeigt eine stärkere Methylierung als das paternale Allel
im Wildtyp. Alle geprägten Regionen sind nicht maßstabsgerecht dargestellt und geben den Zustand in der Maus wieder (die entsprechenden mensch-
lichen Genregionen sind stark konserviert). T: Richtung Telomer; C: Richtung Centromer; weitere Abkürzungen und Gensymbole siehe Text. (Nach Lee
und Bartolomei 2013, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
332 Kapitel 8 · Epigenetik

a eine variable Expressivität und führen damit zu Mäusen mit einer


gewissen Bandbreite der Fellfarben von gelb bis agouti (agouti-
Mäuse haben eine methylierte LTR). Der Genort zeigt ein epige-
netisches Vererbungsmuster, das der mütterlichen, aber nicht der
väterlichen Keimbahn folgt: Mütter mit gelber Fellfarbe haben
mehr gelbe Nachkommen als Mütter mit der Fellfarbe agouti. Die
Untersuchung der DNA-Methylierung an reifen Gameten, Zygo-
b ten und Blastocysten zeigte, dass die väterlichen und mütterli-
chen Allele unterschiedlich behandelt werden: Das väterliche
Allel wird schnell demethyliert, wohingegen das mütterliche
Allel langsamer, aber auch vollständig demethyliert wird.
Neuere Arbeiten an diesen agouti-Mäusen zeigen, dass der
Phänotyp der Mäuse stark von der mütterlichen Ernährung vor,
während und unmittelbar nach der Geburt (Stillzeit) der Nach-
kommen abhängt. Der agouti-Wildtyp-Phänotyp entspricht einem
hohen Methylierungszustand, der zu einer kompletten Abschal-
tung des agouti-Gens führt. In den Avy-Mutanten ist dagegen das
agouti-Gen aktiv, wenngleich es durch die Insertion des IAP-Ele-
8 mentes epigenetisch instabil reguliert wird. Die Anfälligkeit für
Diabetes wird dadurch hervorgerufen, dass das agouti-Gen in den
Avy-Mutanten ektopisch im Hypothalamus exprimiert wird; es
bindet dort antagonistisch an den Melanocortin-4-Rezeptor und
c
ist dadurch für die übermäßig gesteigerte Nahrungsaufnahme
(Hyperphagie) der Nachkommen verantwortlich. Durch Ergän-
zung der Nahrung mit Cholin, Vitamin B12 oder Folsäure (wich-
tige Methyldonatoren) vor und während der Schwangerschaft
der Mäuse wird jedoch der Phänotyp der Nachkommen deut-
lich beeinflusst, da dadurch auch der Methylierungszustand der
Avy-Mäuse in Richtung des Wildtyps verschoben wird.
Das Avy-Modell der Maus ist in diesem Kontext das derzeit
am besten untersuchte Tiermodell; verschiedene andere Modelle
unterstützen allerdings diese Befunde. Dazu gehören die »Knick-
schwänze« des metastabilen Epiallels axin fused der Maus oder
der Effekt von proteinarmer Diät während der Schwangerschaft
von Ratten auf die Expression des Glucocorticoid-Rezeptors und
des Proliferations-aktivierten γ-Rezeptors in Leber-Peroxiso-
. Abb. 8.42 Das Avy-Allel. a Im Avy-Allel ist ein Retrotransposon (intra-cister- men. Trotz dieser zunehmenden Datenfülle bleibt allerdings die
nal A particle, IAP) in das Pseudoexon 1a des agouti-Gens (wildfarben, Gen- funktionelle Bedeutung der epigenetischen Modifikationen in
symbol: a) integriert, wobei die Transkriptionsrichtung von den LTRs (Pfeil-
Bezug auf komplexe menschliche Erkrankungen noch immer
spitzen) entgegengesetzt zu der des Agouti-Promotors verläuft. b Isogene
C57BL/6-Avy-Mäuse zeigen ein Kontinuum des Phänotyps, das von vollstän- weitgehend unklar.
dig gelber Fellfarbe über verschiedene Stufen von gelben/wildfarbenen
Flecken zu vollständig wildfarbenem Fell reicht (da es sich hier nicht um > Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem
einen »echten« agouti-Phänotyp handelt, hat sich dafür der Begriff »pseudo- Ernährungszustand der Mutter vor, während und nach der
agouti« eingebürgert). Das Ausmaß der gelben Fellfarbe korreliert stark mit
Schwangerschaft auf den epigenetischen Zustand des Em-
dem Körpergewicht der erwachsenen Mäuse: Gelbe Mäuse exprimieren
agouti wegen der IAP-Insertion in allen Zellen und neigen zu Fettleibigkeit, bryos bzw. des Neugeborenen. Dabei spielen Hungerer-
Diabetes und einer höheren Tumorrate; gefleckte Mäuse haben Mosaike eignisse, Mangelernährung und die Verfügbarkeit von
von Zellen, die agouti exprimieren oder auch nicht; in pseudo-agouti-Mäusen Methyldonatoren in der Nahrung eine wichtige Rolle,
wird die agouti-Expression nur von den Haar-spezifischen Promotoren ge- wenngleich der molekulare Mechanismus bisher nur in
steuert, und sie entsprechen daher dem Wildtyp mit normalem Körperge-
Einzelfällen aufgeklärt ist.
wicht. c Kreuzungsschema, um pseudo-agouti-Nachkommen von gelben Mut-
tertieren herzustellen. Gelbe Avy/Avy-Muttertiere werden mit a/a-Zuchttieren
gekreuzt und bringen pseudo-agouti-Nachkommen hervor, wenn sie ein
Avy-Allel tragen, das von einem pseudo-agouti-Großvater abstammt. Das ge-
streifte Oval im gelben Kreis deutet an, dass das gelbe Weibchen wahrschein-
lich ein rezessives pseudo-agouti-Epiallel trägt, das durch das dominante
gelbe Epiallel maskiert wird. Die Zahl der Avy/a-Nachkommen von jedem
Typ ist angegeben (n); a/a-Mäuse wurden aufgrund der besseren Übersicht-
lichkeit weggelassen. (Nach Morgan et al. 1999, mit freundlicher Genehmi-
gung der Nature Publishing Group)
Literatur
333 8
Kernaussagen
5 Epigenetik bezeichnet stabile Veränderungen in der Regulati- Wechselwirkungen von repetitiven DNA-Elementen, die dauer-
on der Genexpression, die während der Entwicklung, Zelldiffe- haft zur Verminderung der Genexpression bestimmter Gene
renzierung und Zellproliferation entstehen und über Zelltei- führen. Epigenetische Prozesse (z. B. siRNAs, miRNAs, DNA-Me-
lungen hinweg festgeschrieben und aufrechterhalten werden, thylierung) spielen dabei eine wesentliche Rolle.
ohne dass dabei die DNA-Sequenz verändert wird. 5 Die ungleiche Anzahl von Geschlechtschromosomen in den
5 Heterochromatische Bereiche sind stark kondensiert und ver- beiden Geschlechtern verlangt einen regulativen Ausgleich
hindern dadurch die Expression von Genen. der Expression der auf ihnen gelegenen Gene (Dosiskompen-
5 Die Methylierung von DNA erfolgt an der Position 5 des Cyto- sation). In Drosophila wird dies durch eine erhöhte Genaktivi-
sins durch DNA-Methyltransferasen und führt zur Stilllegung tät im X-Chromosom erreicht. Durch Proteine in Kombination
der entsprechenden DNA. Aktive Promotoren sind nicht me- mit strukturellen RNA-Molekülen (roX1 und roX2) entsteht
thyliert. eine Veränderung der Chromatinstruktur, die eine erhöhte
5 Durch Acetylierung, Methylierung und Phosphorylierung kön- Transkriptionsaktivität des X-Chromosoms im Männchen er-
nen Histone modifiziert werden. Die dadurch ermöglichten möglicht.
unterschiedlichen Verpackungsdichten tragen zur Aktivierung 5 Bei Säugern erfolgt die Dosiskompensation durch Inaktivie-
und Inaktivierung von Genen über einen größeren Bereich rung eines X-Chromosoms in weiblichen Zellen. Die Inaktivie-
bei und können über mehrere Zellteilungen aufrechterhalten rung erfolgt in der frühen Embryonalentwicklung und betrifft
werden. zufallsmäßig das väterliche oder mütterliche Chromosom. Das
5 Die »RNA-Welt« umfasst die Genfamilien der rRNA- und tRNA- inaktive X-Chromosom ist als Barr-Körperchen cytologisch
Gene sowie Gene, die für kleine und große regulatorische sichtbar. Die Inaktivierung des X-Chromosoms geht vom X-In-
RNA-Moleküle codieren. aktivierungszentrum aus und beruht im Wesentlichen auf der
5 Wir kennen bisher drei Gruppen kleiner regulatorischer RNAs: Expression der nicht-codierenden Xist-RNA. Als Ergebnis der
siRNA, miRNA und piRNA, die an der Abschaltung entspre- Xist-Bedeckung wird die Transkription der Gene des jeweiligen
chender Zielgene auf verschiedenen Ebenen beteiligt sind. X-Chromosoms abgeschaltet.
5 Viroide sind kleine einzelsträngige RNA-Moleküle, die sich 5 Bei Keimzellen kann elterliches Imprinting (genetische Prä-
über weite Strecken als Doppelstrang organisieren können. Sie gung) die Expression von Genen im Embryo bestimmen. Im-
infizieren bestimmte Pflanzen; die Infektion kann zu vermin- printing beruht im Wesentlichen auf der Methylierung von
dertem Wachstum und Ausbleichen der Blätter (Chlorose) DNA als Erkennungssignal. Die genetische Prägung wird in der
führen. frühen Phase der Keimzellentwicklung gelöscht und in den
5 Unter langen, nicht-codierenden RNAs (lncRNAs) verstehen späten Phasen geschlechtsspezifisch reprogrammiert.
wir RNA-Moleküle, die mehr als 200 Nukleotide umfassen; 5 Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Er-
sie können in vielfältiger Weise Transkription und Translation nährungszustand der Mutter vor, während und nach der
von Genen beeinflussen. Schwangerschaft auf den epigenetischen Zustand des Emb-
5 Paramutationen sind zunächst bei Pflanzen entdeckte gerich- ryos bzw. des Neugeborenen. Dabei spielen Hungerereignisse,
tete erbliche Veränderungen des Phänotyps, ohne dass die Mangelernährung und die Verfügbarkeit von Methyldonatoren
DNA-Sequenz verändert ist. In der Regel beinhalten sie trans- in der Nahrung eine wichtige Rolle.

Übungsfragen
1. Was verstehen wir heute unter Epigenetik? 4. Wieso ist die X-Inaktivierung bei Säugern 5. Was bedeutet »genetische Prägung«?
2. Was verstehen wir unter »passiver Deme- ein besonderes Beispiel für die Wirkung
thylierung« von DNA? langer, nicht-codierender RNA?
3. Erläutern Sie kurz die Bedeutung des
Enzyms Dicer.

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334 Kapitel 8 · Epigenetik

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336 Kapitel 8 · Epigenetik

Technikbox 20

RNAi: spezifische Inaktivierung von Transkripten


Anwendung: Methode zur gezielten Ausschal- entstehende RNA bildet doppelsträngige RNA- weils geeigneten Assays kann ihre hemmende
tung eines Gens durch antisense-RNA. Moleküle aus, die durch eine Haarnadelstruk- Wirkung überprüft werden. Entsprechende
Voraussetzungen: Klonierung des zu inaktivie- tur gekennzeichnet sind. Durch die Ausbil- vorgefertigte siRNAs für das spezifische Ab-
renden Gens. dung dieser Strukturen kann die dsRNA durch schalten von menschlichen Genen sowie von
Methoden: Die Ausschaltung von Genaktivitä- Dicer geschnitten werden. Genen der Ratte und der Maus sind erhältlich
ten (engl. silencing) durch RNAi (RNA-Interfe- Man kloniert ein Doppelstrang-Oligo- (z. B. http://www.sourcebioscience.com).
renz, engl. RNA-mediated interference) basiert nukleotid von ca. 50 bp in einen Expressions- Die Methode ist auch geeignet, transgene
auf den Befunden, dass dsRNA durch spezielle vektor. Das Oligonukleotid enthält links und Organismen herzustellen, sodass mit der Wahl
Enzyme in kurze Fragmente (~ 21–25 Nukleoti- rechts je 19 bis 29 Nukleotide der Zielsequenz geeigneter Promotoren das gewünschte Ziel-
de) zerlegt wird, die Proteine aktivieren, wel- und ist durch 4 bis 11 Nukleotide verbunden. gen zeit- und gewebespezifisch ausgeschaltet
che dann die Ziel-mRNA spalten und damit in- Eine RNA-Polymerase synthetisiert das kurze werden kann.
aktivieren (7 Abschn. 8.2; . Abb. 8.12). Es gibt Fragment, das aufgrund seiner Sequenz eine
verschiedene Möglichkeiten, die gewünschten Haarnadelschleife bildet und damit als kurze
kurzen, inaktivierenden RNA-Moleküle zu er- inhibitorische RNA wirken kann (engl. short
halten: interfering RNA, siRNA).
Das zu inaktivierende Gen wird in dop- Die Herstellung der kurzen RNA-Moleküle
pelter Kopie, aber in inverser Orientierung hin- erfolgt in vitro; mithilfe gängiger Methoden
8 ter starke Promotoren geschaltet. Die dabei können sie in die Zellen transfiziert und mit je-
Technikbox
337 8

Technikbox 21

Genomweite Analyse von DNA-Methylierungsmustern


Anwendung: Analyse der Cytosin-Methylie- ken mit einem globalen Ansatz (z. B. DNA-Mi- die methylierte DNA binden. (Für eine Über-
rung der DNA (5meC). kroarrays oder Hochdurchsatz-Sequenzierung). sicht siehe Abb. »Methoden zur Untersuchung
Voraussetzungen: Genomische DNA. Die wichtigsten lokalen Techniken beinhalten von Methylierungsmustern«.)
Methoden: Restriktionsverdau, Bisulfit-Sequen- die genomweite Kartierung mit methylierungs- Die DNA-Sequenzierung nach einer Bi-
zierung, Immunpräzipitation methylierter DNA. sensitiven Restriktionsenzymen, die Sequenzie- sulfit-Behandlung ergibt ein etwas komplexes
Untersuchungen zur DNA-Methylierung rung der DNA nach Behandlung mit Bisulfit Ergebnis, dessen Interpretation in der Abb.
beruhen auf der Kombination lokaler Techni- oder die Affinitätsreinigung über Antikörper, »Bisulfit-Sequenzierung« kurz dargestellt wird.

a Restriktionsenzyme b Bisulfit-Behandlung c mCIP

HpaII
Ultraschall
Bisulfit

MspI-Behandlung

Immunpräzipitation
Adapter-Ligation PCR

HpaII-Behandlung Amplifikation

genomische Koordinaten

Methoden zur Untersuchung von Methylierungsmustern. a DNA-Methylierung kann durch Restriktionsenzyme ermittelt werden, die methylierte
und unmethylierte Cytosin-Basen in unterschiedlicher Weise erkennen. Als Beispiel ist hier die Erkennungssequenz CCGG dargestellt, die von HpaII
nur im nicht-methylierten Zustand erkannt wird; dieselbe Erkennungssequenz im methylierten Zustand wird dagegen von MspI geschnitten. Nach
Ligation von Adaptern können die unterschiedlichen Fragmente amplifiziert analysiert werden. b Bisulfit-Behandlung genomischer DNA wandelt
alle nicht-methylierten Cytosin-Reste in ein Uracil um, wohingegen methylierte Cytosin-Reste unverändert bleiben. Ein entsprechendes Sequenz-
beispiel ist in der Abb. »Bisulfit-Sequenzierung« dargestellt. c Immunpräzipitation methylierter DNA (mCIP). Genomische DNA wird zunächst mit
Ultraschall behandelt; mit einem Antikörper, der spezifisch methylierte DNA erkennt, können methylierte Regionen abgetrennt werden.
Jede Methode kann mit verschiedenen Nachweisverfahren gekoppelt werden; gezeigt sind hier DNA-Mikroarrays und DNA-Sequenzierungen, um
DNA-Methylierung auf genomischer Ebene zu analysieren. (Nach Schones und Zhao 2008, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)
338 Kapitel 8 · Epigenetik

oberer Strang unterer Strang


Bisulfit-Umwandlung

PCR-Amplifikation

Bisulfit-Sequenzierung. Die Umwandlung genomischer DNA durch Bisulfit und anschließende PCR-Amplifikation ergibt zwei unterschiedliche
PCR-Fragmente. Methylierte Cytosin-Basen (mC) widerstehen der Bisulfit-Behandlung, wohingegen unmethyliertes Cytosin in Uracil umgewandelt
wird und nach der Sequenzierung als Thymin erscheint. Die Cytosin-Reste in der Originalsequenz sind fett hervorgehoben, die entsprechenden
Sequenzergebnisse (unten) sind in Rot für die Originalsequenzen dargestellt (Original oben, OT; Original unten, OB) und in Blau für die jeweiligen
8 Gegenstränge (komplementär zum Strang »Original oben«, CTOT, bzw. zum Strang »Original unten«, CTOB). (Nach Krueger et al. 2012, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
339 9

Instabilität, Flexibilität und


Variabilität des Genoms

Mosaikfarbmuster in Blüten beruhen häufig auf somatischen Transpositionen. Das Bild zeigt eine Chrysantheme.
(Foto: W. Hennig, Mainz)

9.1 Transposons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340


9.1.1 Prokaryotische Transposons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
9.1.2 Eukaryotische Transposons (mit terminalen invertierten
Wiederholungseinheiten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
9.2 Retroviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
9.2.1 Genomstruktur von Retroviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
9.2.2 Humanes Immundefizienz-Virus (HIV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
9.2.3 Retroelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
9.2.4 Mobile Elemente in Introns der Gruppe II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
9.3 Umlagerung von DNA-Fragmenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
9.3.1 Kerndualismus: Mikro- und Makronuklei in einer Zelle . . . . . . . . . . . . . . 366
9.3.2 Chromatinelimination und -diminution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370
9.3.3 DNA-Amplifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
9.3.4 Wechsel des Paarungstyps bei Hefen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
9.3.5 Oberflächenantigene von Trypanosoma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
9.4 Immunsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
9.4.1 Funktion des Immunsystems der Säuger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
9.4.2 Immunglobulin-Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387
9.4.3 Klassenwechsel, Hypermutation und Genkonversion
bei Immunglobulin-Genen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
340 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Überblick

Bei der Untersuchung der molekularen Struk- und Neukombination von Exons vorstell- dass sie bei fehlerhafter Expression zu Tumo-
tur des Genoms machte man die unerwartete bar ist. ren führen können, insgesamt unter der Be-
Entdeckung, dass das eukaryotische Genom Verschiedene Transposons zeigen einen zeichnung Onkogene zusammenfasst. Andere
zum größten Teil nicht aus Protein-codieren- ganz unterschiedlichen molekularen Aufbau. Retroviren induzieren allein schon durch ihre
den DNA-Sequenzen besteht, sondern aus Einige von ihnen weisen starke Ähnlichkeiten Anwesenheit und ihre Vermehrung in der Zelle
vielen identischen oder sehr ähnlichen Kopien. mit Retroviren auf. Auch Retroviren enthalten Krankheiten, wodurch diese zerstört werden
Ein Teil davon ist in heterochromatischen Wiederholungselemente und sind teilweise in kann. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das
Chromosomenabschnitten lokalisiert, ein eukaryotische Genome integriert. Im Unter- AIDS-Virus (HIV).
anderer als Einzelkopien über das gesamte schied zu Transposons sind sie jedoch in der In früheren Jahren ist man immer davon
Genom verstreut. Die erstaunlich großen Lage, infektiöse Partikel zu bilden und sich ausgegangen, dass durch die Differenzierung
Unterschiede im DNA-Gehalt der Genome dadurch auch zwischen Organismen einer zwar die Entwicklungsmöglichkeit und das
höherer Organismen müssen hauptsächlich Population, d. h. horizontal, auszubreiten. Viele Expressionsmuster einer Zelle festgelegt wer-
Unterschieden in der Menge von Sequenz- Retroviren sind pathogen und können Tumo- den, dass aber dennoch die DNA jeder Zelle
wiederholungen zugeschrieben werden. ren induzieren. Das ist darauf zurückzuführen, das gesamte Genom des jeweiligen Organis-
Zu solchen Wiederholungselementen dass sie bisweilen defekte zelluläre Gene oder mus enthält. Es gibt allerdings einige Einschrän-
gehören auch solche, die ihre Positionen Stücke davon mit sich tragen, die die norma- kungen, da sich in bestimmten Zellen irreversib-
innerhalb des Genoms verändern (Transpo- len Funktionen dieser Gene beeinflussen und le Veränderungen der Genom-DNA vollziehen,
sons). Dabei können sie auch DNA-Stücke aus dadurch zu zellulären Fehlleistungen oder die mit der Funktion des betroffenen Zelltyps
der Nachbarschaft ihrer Insertionsstellen im Fehlprogrammierungen führen können. zusammenhängen. Beispiele für die Verände-
Genom mitnehmen. Transposons sind daher Es handelt sich vor allem um solche Gene, die rungen von DNA im Zusammenhang mit zellu-
in der Lage, komplexere Veränderungen im allgemeine Funktionen in der Zellzyklusregu- lärer Differenzierung bieten uns nicht nur Ein-
Genom zu induzieren und eventuell sogar lation oder in der Steuerung grundlegender zeller wie Hefen oder Ciliaten, sondern auch
9 Neukombinationen funktioneller Genbereiche zellulärer Stoffwechselvorgänge wahrnehmen. Gene, die eine zentrale Rolle im Immunsystem
zu bewirken, wie es etwa durch Verlagerung Diese Gene werden aufgrund der Tatsache, der Säuger spielen: die Immunglobulin-Gene.

Wir haben uns in den vergangenen Kapiteln im Wesentlichen Kapitels besprochen; das Immunsystem ist natürlich von einer
damit beschäftigt, funktionelle Elemente des Genoms und sonst unerreichten genetischen Komplexität gekennzeichnet und
grundlegende genetische Mechanismen herauszuarbeiten, die wird schließlich am Schluss des Kapitels besprochen.
zum Erhalt und der korrekten Weitergabe der genetischen Infor-
mationen beitragen. In diesem (und noch stärker im nächsten)
Kapitel wollen wir jedoch Mechanismen betrachten, die zu gene- 9.1 Transposons
tischer Vielfalt führen. Durch eine Vielzahl von (scheinbar) nicht
genutzten und vielfältig vorhandenen Wiederholungssequenzen Zu den Grundbestandteilen des genetischen Materials der meisten
steht genetisches Material zur Verfügung, dass es den Organis- Organismen (ausgenommen Viren) gehören bewegliche geneti-
men erlaubt, sich rasch an veränderte Umweltbedingungen an- sche Elemente, die als Transposons bezeichnet werden; im Engli-
zupassen, ohne auf bewährte Funktionen verzichten zu müssen. schen ist auch der Begriff transposable elements gebräuchlich. Es
Solche Wiederholungssequenzen sind schon frühzeitig handelt sich hierbei um verschiedene Gruppen von DNA-Sequen-
durch veränderte biophysikalische Eigenschaften aufgefallen zen, die mithilfe unterschiedlicher molekularer Mechanismen in
(z. B. bei Untersuchungen von Renaturierungskinetiken [. Abb. der Lage sind, ihre Positionen im Genom zu verändern. Diese
2.8] oder bei der Gleichgewichts-Ultrazentrifugation zur Bestim- DNA-Sequenzen enthalten im Allgemeinen ein oder mehrere
mung der Schwimmdichte von genomischen DNA-Fragmen- Protein-codierende Gene sowie DNA-Bereiche, die für die Trans-
ten). In . Tab. 9.1 ist eine kurze Übersicht über die verschiedenen positionen (Ortsveränderungen) im Genom notwendig sind.
Klassen repetitiver DNA-Sequenzen zusammengestellt. Wir Man schätzt den Anteil des Genoms, der bei Drosophila
können erkennen, dass die zunächst rein operationale Einteilung melanogaster auf solche DNA-Sequenzen entfällt, auf etwa 20 %.
in Sequenzklassen unterschiedlicher Repetitionshäufigkeiten zur Im menschlichen Genom könnte ein ähnlicher DNA-Anteil
Entdeckung verschiedener wichtiger Grundbausteine eukaryoti- auf transponierbare DNA-Sequenzen entfallen. Trotz des hohen
scher Genome geführt hat. Transposons und retrovirale Elemen- Anteils von Transposons am genetischen Material hat es relativ
te spielen dabei eine besondere Rolle und werden zu Beginn des lange gedauert, bis diese genetischen Elemente entdeckt wurden.

. Tab. 9.1 Eigenschaften repetitiver DNA-Sequenzen

Bezeichnung Sequenztyp Lokalisation Funktion

Hochrepetitive DNA, simple se- Kurz (5 bis einige Hundert bp) Vorwiegend im Heterochromatin Unbekannt
quence DNA oder Satelliten-DNA

Mittelrepetitive DNA Mehrere Hundert bp bis mehrere kb Verteilt im Genom in vielen Positionen Transposons, Genfamilien

Einzelkopie-DNA Mehrere kb Im gesamten Genom Gene


9.1 · Transposons
341 9

. Tab. 9.2 Transposons

Organismus Name Art Kopienzahl

Escherichia coli Tn3 Terminale invertierte Wiederholungseinheiten 11


Tn10 IS10 invertiert 1 bis mehrere

Mammalia LINE-1 (L1) Retrotransposon ~ 105

Mammalia SINEs Retroposons 5 × 105

Maus IAP Retroposon 20–1000

Zea mays Cin4 Retroposon 50–100

A/Ds Terminale invertierte Repeats 35

Spm/En Terminale invertierte Repeats 30

Saccharomyces cerevisiae Ty Retroposon 35

Caenorhabditis elegans Tc1 Terminale invertierte Repeats 30–300

Dictyostelium discoideum Tdd-1 Retroposon 50–100

Trypanosoma brucei Ingi Retrotransposon 200

Bombyx mori R2 Retrotransposon 25

Drosophila melanogaster copia Retrotransposon 30

gypsy Retrotransposon 10

P-Faktor Retroposon 20

I-Faktor Retroposon 1–10

Das liegt daran, dass man ihr Vorhandensein nur unter besonde- antwortlich sind. In den 1980er-Jahren wurde schließlich das
ren Umständen erkennen kann, nämlich wenn sie ihre Positio- Phänomen der Hybriddysgenese (engl. hybrid dysgenesis) durch
nen im Genom verändern und dadurch Veränderungen verursa- Mary Kidwell (1983) beschrieben: Bei bestimmten Kreuzungen
chen, die im Phänotyp sichtbar werden. Selbst dann lässt sich die von Drosophila-Stämmen kommt es zu hohen Mutationsraten in
Existenz eines Transposons nur schwer erkennen oder nachwei- der Nachkommenschaft (für Details siehe 7 Abschn. 9.1.2). Durch
sen, da man es ja mit einer anderweitig bedingten Mutation zu die Untersuchung von DNA-Sequenzen, die durch die neuen Me-
tun haben kann. Genetische Hinweise auf die Anwesenheit von thoden der Gentechnologie ermöglicht wurden, konnte sehr bald
Transposons geben ungewöhnlich hohe Mutationsraten be- gezeigt werden, dass alle zuvor beobachteten genetischen Insta-
stimmter Gene, bei denen zudem häufig Reversionen zum Wild- bilitäten auf bestimmte DNA-Sequenzen – die Transposons –
typ auftreten. Andere spezifische phänotypische Merkmale kön- zurückzuführen sind, die ihre Position im Genom verändern
nen Transposons nicht zugeordnet werden. Einen Überblick können. Die nähere Untersuchung solcher Transposons hat uns
über verschiedene Transposons gibt . Tab. 9.2. grundlegende neue Einsichten in die Struktur des Genoms
Die ursprünglichen Hinweise auf die Existenz von Transpo- vermittelt – und Barbara McClintock 1983 den Nobelpreis für
sons ergaben sich tatsächlich aus der Beobachtung von geneti- Medizin.
scher Instabilität bestimmter Gene. Die klassischen genetischen
> Die meisten Prokaryoten und alle Eukaryoten besitzen in
und cytologischen Untersuchungen solcher Gene stammen von
ihrem Genom bewegliche genetische Elemente, die als
Barbara McClintock, die in den 1940er-Jahren transposable Ele-
Transposons bezeichnet werden. Ihre Anwesenheit wurde
mente als Ursache für Bereiche veränderter Pigmentierung bei
zunächst durch genetische Instabilität bestimmter Gene
Maiskörnern erkannte (. Abb. 9.1); allerdings blieb die Bedeu-
erkannt.
tung dieser Studien noch lange unbeachtet. Bei Bakterien wur-
den in den 1960er-Jahren Transposons bei Untersuchungen
polarer genetischer Effekte identifiziert, wie sie in bakteriellen 9.1.1 Prokaryotische Transposons
Operons häufig beobachtet werden können. Ein Teil solcher Ef-
fekte war mit nonsense-Mutationen (7 Abschn. 10.1), die ja sup- Prokaryotische mobile DNA-Elemente sind im Allgemeinen nur
primierbar sein sollten, nicht zu erklären, sondern ließ die Inser- mit wenigen Kopien im Genom vorhanden. Ihre Transpositions-
tion von DNA-Stücken vermuten. Gegen Ende der 1960er-Jahre häufigkeit liegt bei etwa 10–6 je Zellgeneration. Dennoch wird der
wurde bei Drosophila beobachtet, dass bestimmte Gene eine be- Anteil der Mutationen, die durch Insertionen oder Exzisionen
sonders hohe Mutabilität aufweisen. Sehr bald festigte sich der von mobilen beweglichen Elementen induziert werden, auf 20 bis
Verdacht, dass mobile DNA-Elemente für diese Mutabilität ver- 40 % geschätzt und umfasst damit einen beträchtlichen Teil aller
342 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Kleine Flecken: Große Flecken: . Abb. 9.1 Flecken auf Maiskörnern und
Häufiges Ausschneiden des Ausschneiden des TEs früh in Transposoneigenschaften. Die Flecken auf
TEs spät in der Korn- der Kornentwicklung Maiskörnern zeigen instabile Phänotypen,
entwicklung die auf einem Wechselspiel zwischen trans-
posablen Elementen (TE) und einem Gen
beruhen, das für ein Enzym im Anthocyan-
Stoffwechsel codiert. Bereiche der Aleuron-
schicht (Wabenschicht) mit revertantem
(pigmentiertem) Phänotyp entstehen durch
das Ausschneiden des TEs in einer einzigen
Zelle. Die Größe des Flecks spiegelt die Zeit-
Revertante:
Kein Ausschneiden des spanne seit dem Ausschneiden des TEs in
TE ausgeschnitten, TEs, kein autonomes der Kornentwicklung wider. Das Verständnis
Expression wiederhergestellt Element im Genom der genetischen Basis dieser und ähnlicher
mutierter Phänotypen führte zur Entde-
kein Produkt ckung der TEs. (Nach Feschotte et al. 2002,
Aktivator mit freundlicher Genehmigung der Nature
Pigmentgen Publishing Group)
Ausschneiden des TEs
in Körperzellen = Flecken
in Keimzellen = Revertante

9 Mutationen. Oft gibt es bevorzugte Insertionsstellen. Die einge- Transposase-Gens lokalisiert; entsprechend einer allgemeinen
fügten Elemente üben, je nach ihrem Insertionsplatz, unter- Übereinkunft wird dieses Wiederholungselement als das linke
schiedliche Effekte auf benachbarte Gene aus. Besonders auffal- bezeichnet. Diese Anordnung erlaubt eine Autoregulation der
lend sind polare Effekte (7 Abschn. 4.5.2), die auch zu ihrer Ent- Transposase-Expression durch Transposase-Bindung. Zusätzlich
deckung Anlass gaben. Außerdem steigen die Mutationshäufig- spielen Bindungsstellen für wirtsspezifische Proteine eine Rolle,
keiten in der direkten Nachbarschaft von beweglichen Elementen die häufig in den Wiederholungseinheiten oder in ihrer Nähe
bisweilen um einen Faktor von 100 bis 1000 an. Bei E. coli lassen gefunden werden; diese Proteine können an der Modulation der
sich grundsätzlich zwei Arten von beweglichen Elementen unter- Transpositionsaktivität oder der Transposase-Expression betei-
scheiden, die Insertionselemente und komplexe Transposons. ligt sein. Die Transposase selbst weist zwei Domänen auf: eine
Die Insertionselemente (engl. insertion elements) oder IS- N-terminale Region, die für die DNA-Bindung verantwortlich
Elemente sind mit Längen zwischen 768 bp (IS1) und 2132 bp ist, und eine C-terminale Region für die katalytischen Eigen-
(IS21) bei einer mittleren Länge von wenig mehr als 1000 bp rela- schaften. Dies erlaubt die Bindung an die DNA schon während
tiv kurz. Ihre wichtigsten Bestandteile sind ihre beiden terminalen des Translationsprozesses.
invertierten Wiederholungselemente, die bei verschiedenen Fami-
lien solcher Elemente in ihrer Länge zwischen 18 bp und 41 bp *linge
Eine Besonderheit stellen IS91-Elemente und ihre Abkömm-
dar. Sie unterscheiden sich insofern vom herkömmli-
variieren. Die terminalen invertierten Repeats werden durch eine
chen Schema der IS-Elemente, dass sie keine terminalen in-
Protein-codierende Region miteinander verbunden, die für eine
vertierten Wiederholungseinheiten haben und durch einen
Transposase, also ein Enzym codiert, das für die Transposition des
rolling circle-vermittelten Mechanismus (. Abb. 2.17) im Ge-
IS-Elementes erforderlich ist. Wir kennen über 1500 verschiedene
nom »wandern«. Als Folge davon können sie auch benach-
IS-Elemente, die in verschiedenen Familien zusammengefasst
barte DNA-Sequenzen übertragen, wobei die Transposition
werden können. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Familien
nur durch eine Kopie des Elementes vermittelt wird. Es gibt
bei Prokaryoten enthält die . Tab. 9.3. Prokaryoten enthalten oft
Hinweise, dass diese Gruppe von IS91-(ähnlichen) Elemen-
mehrere IS-Elemente – manche allerdings auch gar keine. Einen
ten für die Mobilisierung fast jeder Gruppe von Antibiotika-
Überblick über die Verteilung von IS-Elementen in verschiedenen
Resistenzgenen verantwortlich ist (Toleman et al. 2006).
Prokaryoten vermittelt . Abb. 9.2; dabei wird auch deutlich, dass
es in der Entwicklung von Prokaryoten offensichtlich auch einen Neben diesen einzelnen IS-Elementen gibt es auch komplexe
Austausch von IS-Elementen zwischen verschiedenen bakteriellen Transposons (engl. compound transposons). Diese bestehen aus
Familien gegeben hat (horizontaler Gentransfer). zwei identischen flankierenden IS-Elementen und einem dazwi-
Die terminalen invertierten Wiederholungseinheiten kön- schenliegenden Bereich, der beliebige Gene umfassen kann. Bei-
nen in zwei funktionelle Domänen unterteilt werden: Die eine ist spielsweise besteht das Transposon Tn10 aus zwei flankierenden
innerhalb des Sequenzelementes lokalisiert und an der Bindung IS10-Elementen und einem dazwischenliegenden Gen, das der
der Transposase beteiligt (vgl. dazu auch das OE-Element in Zelle Tetracyclinresistenz verleiht (. Abb. 9.3). Die Enden von
Tn10, . Abb. 9.3a). Die zweite Domäne umfasst nur die beiden Tn10 sind invertierte Wiederholungselemente der IS10-Sequenz:
äußersten 2–3 bp; sie sind an der Spaltung und der Strangüber- Die rechte Seite codiert eine funktionelle Transposase, wohinge-
tragung beteiligt, die für die eigentliche Transposition des gesam- gen die linke Seite eine degenerierte Kopie der rechten Seite dar-
ten IS-Elementes verantwortlich ist. Außerdem sind oft Promo- stellt. Die beiden Enden der IS10-Sequenz werden als die äuße-
torelemente in einer der Wiederholungseinheiten oberhalb des ren bzw. inneren Enden bezeichnet (engl. outer end, OE; inner
9.1 · Transposons
343 9

. Tab. 9.3 Einige Eigenschaften von Insertionselementen bei Prokaryoten

Familie Gruppe Größe (bp) DR (bp) Ende IR ORF

IS1 – 770 9 (8–11) GG(T) Ja 2

IS3 IS2 1300–1350 5 TG(A/T) Ja 2


IS3 1200–1300 3 (4)
IS51 1300–1400 3 (4)
IS150 1400–1550 3–5
IS407 1200–1250 4

IS4 – 1300–1950 9–12 C(A) Ja 1

IS5 IS5 1100–1350 4 GG Ja 1


IS427 800–1000 2 (4) GA/G (2)
IS903 1000–1100 9 GGC 1
IS1031 850–950 3 GAG 1
ISH1 900–1150 8 – 1
ISL2 800–1100 2–3 – 1

IS6 – 750–900 8 GG Ja 1

IS21 – 1950–2500 4 (5,8) TG Ja 2

IS30 – 1000–1250 2–3 – Ja 1

IS66 – 2500–2700 8 GTA Ja 3

IS91 – 1500–1850 0 – Nein 1

IS110 – 1200–1850 0 – Nein 1

IS200/IS505 IS200 600–800 0 – Nein 1


IS605 1500–2300 – Nein 2
IS607 1350–2600 – Nein 2

IS256 – 1300–1500 8–9 GG/A Ja 1

IS481 – 950–1100 5–6 TGT(A/G) Ja 1

IS630 – 1100–1200 2 – Ja 1

IS982 – 1000 (7) AC(C/G) Ja 1

IS1380 – 1650 4 CC/G Ja 1

ISAs1 – 1200–1350 8 C Ja 1

ISL3 – 1300–1550 8 GG Ja 1

Tn3 – > 3000 5 GGGG – –

DR: direkte Wiederholungselemente; IR: invertierte Wiederholungselemente; ORF: Zahl der offenen Leserahmen, die an der Transposition beteiligt
sind. (Nach Siguier et al. 2006)

end, IE). Diese beiden Elemente bestimmen die Spezifität der wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Transposition dar-
Transposase-Bindung: jeweils 23 bp an den jeweiligen Enden, die stellt. Wenn dann der Transpositionskomplex (»Transpososom«)
als fast perfekte invertierte Wiederholungselemente vorliegen unter Beteiligung eines zweiwertigen Kations (Mg2+ oder Mn2+)
(siehe die Halbpfeile in . Abb. 9.3a; engl. terminal inverted re- gebildet ist, folgt die eigentliche, dreistufige Integrationsreaktion:
peats, TIR). Allerdings enthält das OE darüber hinaus auch eine 4 Doppelstrangbruch an der Übergangsstelle zwischen den
Bindestelle für ein Wirtsprotein, das für die Integration verant- TN10-Sequenzen und der ursprünglichen Spender-DNA
wortlich ist (engl. integration host factor, IHF). (dabei werden die flankierenden Spender-Sequenzen abge-
Im Gegensatz zu IS91 wird Tn10 über einen nicht-replikati- spalten);
ven Mechanismus übertragen (. Abb. 9.3b): Tn10 wird zuerst aus 4 Ausbildung einer Haarnadelschleife;
der Spender-DNA ausgeschnitten, und die Transposase vermit- 4 Auflösung der Haarnadelschleife, um ein freies 3’-OH-Ende
telt die Paarung der freien Enden des Transposons, bevor die am Transposon-Ende zu erhalten, das in einer Transester-
neue Integration beginnt. Dies stellt sicher, dass die beiden En- Reaktion auf eine Phosphatgruppe übertragen werden kann
den an einer gemeinsamen Zielsequenz integrieren, was eine (Strangtransfer).
344 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Mycoplasmen

Rhizobien

Rickettsien

Pasteurella

Xanthomonas

Pseudomonas Bordetella

Enterobacteria Neisseria

9 Vibrio Burkholderia

. Abb. 9.2 Verteilung der Familien von Insertionselementen in Eubakterien und Archaebakterien. Die verschiedenen Familien sind farbcodiert. Es ist nur
der wichtigste Teil der bekannten Insertionselemente dargestellt (extrahiert aus der Datenbank »ISfinder«, http://www-IS.biotoul.fr). (Nach Siguier et al.
2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Dabei ergibt sich am Gegenstrang eine Lücke von 9 bp, die durch inaktiviert. Ein zweites Gen des Tn7, dhfr, codiert den Typ I der
Reparaturenzyme geschlossen wird (7 Abschn. 10.6); die Trans- Dihydrofolatreduktase (DHFR), ein Enzym, das im Gegensatz
position ist abgeschlossen. zur genomischen DHFR eine gesteigerte Resistenz gegen einen
Ein weiteres gut untersuchtes Beispiel ist Tn7. Dieses Trans- Inhibitor dieses Enzyms aufweist (gegen Trimethoprim, ein Fol-
poson hat zwei unterschiedliche Mechanismen entwickelt, um säureanalogon).
seine Verbreitung zu gewährleisten: Der eine Mechanismus Die Insertionssequenz attTn7 befindet sich übrigens im
erfolgt mit geringer Häufigkeit, dafür aber eher sequenzunab- 3’-Bereich des Gens, das für die Glucosamin-Synthetase codiert
hängig. Dabei integriert das Tn7 bevorzugt in Plasmide, wenn (Gensymbol: glmS). Dieses Gen ist für alle Zellen essenziell
sie gerade in die Bakterienzelle eingeschleust werden. Dieser und findet sich daher hochkonserviert im gesamten Bereich
Mechanismus garantiert ein breites Wirtsspektrum und trägt biologischer Systeme, von Bakterien bis zum Menschen. Von
zur weiten Verbreitung von Tn7 innerhalb der Bakterien bei. daher ist es nicht überraschend, dass Tn7-Transposons mit der-
Der andere Transpositionsmechanismus bewirkt eine spezifische selben Frequenz wie bei Bakterien auch in das Genom mensch-
Insertion von Tn7 mit hoher Frequenz an einer Stelle, die als licher Zellen (in vitro) an den entsprechenden Zielsequenzen
attTn7 bezeichnet wird (engl. attachment site for Tn7). Die Inser- inserieren können. Es gibt daher Überlegungen, Tn7 als mögli-
tion an dieser Stelle ist für den Wirt nicht schädlich und be- chen Vektor in der humanen Gentherapie einzusetzen (Kudu-
wirkt  eine »friedliche Koexistenz« von Transposon und Wirt valli et al. 2005).
(eine lesenswerte Übersicht über Tn7 bieten Peters und Craig
2001). > Bei Prokaryoten sind 20 bis 40 % aller Mutationen auf
Allerdings bewirken beide Mechanismen zusammen eine Transposons zurückzuführen. In E. coli sind einfache
gute Ausbreitungsmöglichkeit für Tn7 und die Resistenzgene, die IS-Elemente bekannt, die durch terminale invertierte
von Tn7 übertragen werden. Das Tn7-Gen aadA ist für die Ent- Repeats und ein dazwischenliegendes Gen (Transposase)
stehung von Spectinomycin- und Streptomycinresistenz verant- charakterisiert sind, sowie komplexere Transposons, die
wortlich; es codiert für eine Adenylyltransferase (3’’(9)-O-Nuk- oft zusätzlich Gene für Antibiotikaresistenzen tragen.
leotidyltransferase), die Aminoglykoside durch Adenylierung
modifiziert. Durch dieses Enzym werden auch die Aminoglyko- Eine neue Klasse von IS-Elementen wird als ISCR bezeichnet
side Spectinomycin und Streptomycin adenyliert und dadurch (engl. insertion sequences common region) und in engem Zusam-
9.1 · Transposons
345 9
. Abb. 9.3 Bakterielle Transposons. a Tn10
a besteht aus zwei gegeneinander invertierten
terminalen IS10-Sequenzen (1329 bp); die
linke codiert eine defekte, die rechte eine
funktionsfähige Transposase (T’ase). Das
9147 bp lange Transposon enthält sieben
offene Leserahmen; vier codieren eine Tetra-
cyclinresistenz (tetRA, tetRC; tetRD und tetRR),
die drei anderen (jemA bis jemC) haben keine
definierte Funktion. Die Halbpfeile deuten
die 23 bp der invertierten terminalen Wieder-
holungselemente (TIR) an der inneren (IE)
bzw. äußeren Grenze (OE) der IS10-Elemente
an. Die Determinanten für die Spezifität der
Transposase-Bindung liegen innerhalb von
TIR. Die Transposase kommt mit dem OE in
der terminalen Region (T, offenes Rechteck)
und in der subterminalen Region (ST, schwar-
b zes Rechteck) in Kontakt. Die Bindestelle für
den Wirtsfaktor, der für die Integration verant-
wortlich ist (engl. integration host factor, IHF)
ist ebenfalls angegeben (gestreiftes Rechteck).
Das erste Basenpaar des rechten IS10-Elemen-
tes wird als erstes Basenpaar des Transposons
definiert. b Mechanismus der TN10-Transposi-
tion. Tn10 ist in die Spender-DNA eingebettet.
Die Transposase (gestreifte Ovale) bindet an
die OE-Elemente (schwarze Rechtecke). Nach
der Bildung des Transpososoms katalysiert die
Transposase die chemischen Schritte beim
Ausschneiden. Sobald die flankierende Spen-
der-DNA von den Enden des Transposons ent-
fernt wurde, bindet das Transposon an die
Ziel-DNA (graues Rechteck) und katalysiert die
Übertragungsreaktion. Die Reparaturfunk-
tionen des Wirts füllen dann die Lücken der
9 bp auf, die bei der Übertragungsreaktion
entstanden sind, was zu einer Verdoppelung
der ursprünglich kurzen Zielsequenz führt
(karierte Rechtecke). (Nach Haniford 2006, mit
freundlicher Genehmigung von Informa)

menhang mit der raschen Ausbreitung von mehrfacher Antibio- 9.1.2 Eukaryotische Transposons (mit terminalen
tikaresistenz gesehen. ISCRs sind mit Genen verbunden, die die invertierten Wiederholungseinheiten)
Resistenz gegen Chloramphenicol, Trimethoprim, Quinoline,
Aminoglykoside und β-Lactamase tragen; sie sind assoziiert mit Bei Eukaryoten gelang die Identifikation von Transposons auf
genetischen Elementen von Salmonella, die pathogene Eigen- der molekularen Ebene zunächst nach Klonierung repetitiver
schaften haben. Sie haben IS91-ähnliche Eigenschaften. Anstelle DNA-Sequenzen von Drosophila und deren Analyse durch in-
der üblichen invertierten Wiederholungselemente haben sie an situ-Hybridisierung. Es stellte sich heraus, dass repetitive DNA-
den jeweiligen Enden Sequenzen, die auf der einen Seite als Re- Sequenzen in den Riesenchromosomen verschiedener Individu-
plikationsstartpunkte dienen (ori-IS) und auf der anderen Seite en des gleichen Drosophila-Stamms teilweise an unterschiedli-
als Terminator (ter-IS). Zurzeit ist es zwar noch etwas zu früh, die chen Stellen lokalisiert waren. Die genauere Analyse der DNA-
Bedeutung dieser ISCR-Transposons genau zu erkennen; es ist Sequenz ergab, dass einige solcher repetitiven DNA-Sequenzen
aber klar, dass sie eine sehr große Bedeutung bei der Etablierung in ihrer Struktur große Ähnlichkeit mit Retroviren besitzen, d. h.
bakterieller Vielfalt einerseits und dem Entstehen von Resistenz- dass sie Protein-codierende Abschnitte enthalten, deren Eigen-
clustern gegen Antibiotika andererseits haben; vier oder fünf Re- schaften den bei Retroviren gefundenen Proteinen gleichen
sistenzgene zusammen sind schon keine Seltenheit (Walsh 2006). (7 Abschn. 9.2.3).
346 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Tab. 9.4 Sequenzstruktur eukaryotischer Transposons

Name Gastgenom Länge (bp) Enden Art Duplikation (bp)

Ty1 Saccharomyces cerevisiae 5900 334 LTR 5

Cin4 Zea mays ca. 7000 Poly(A) 3–16

Ac Zea mays 4600 11 IR 8

Tc1 Caenorhabditis elegans 1610 54 IR 2

Tdd-1 Dictyostelium discoideum 4800 313 LTR 8–10

Ingi Trypanosoma brucei 5200 253 DR 4

R2 Bombyx mori 4200 Poly(A) 14

P-Faktor Drosophila melanogaster 2907 31 IR 8

I-Faktor Drosophila melanogaster 5371 3’-Ende: (TAA)4 10–14

F-Faktor Drosophila melanogaster 4700 Nicht spezifiziert 8–13

gypsy Drosophila melanogaster 7469 482 LTR 4

copia Drosophila melanogaster 5164 302 LTR 5


9
micropia Drosophila hydei 5461 239 LTR 4

mariner Drosophila mauritiana 1286 28 IR 2

Alu Homo sapiens ca. 75–7500 Poly(A) Variabel

L1 Homo sapiens ca. 6000 Poly(A) ca. 12 (variabel)

L1 Mus musculus ca. 6000 Poly(A) ca. 14 (variabel)

Daten nach verschiedenen Autoren (siehe auch Berg und Howe 1989)

In Eukaryoten findet man eine große Vielfalt von Transpo- Transposons jeweils charakteristisch und können zwischen
sons (. Tab. 9.4). Wir wollen der Übersichtlichkeit wegen drei weniger als zehn Kopien und mehreren Hunderttausend Kopien
Gruppen unterscheiden. Es handelt sich um liegen. Die verschiedenen Kopien einer Sequenzfamilie sind
4 Transposons mit terminalen invertierten Wiederholungs- nicht identisch, sondern können sowohl in ihrer Nukleotid-
einheiten (»DNA-Transposons«), sequenz als auch in ihrer Struktur, z. B. durch interne oder ter-
4 Retrovirus-ähnliche Transposons: Retrotransposons, minale Deletionen, voneinander abweichen. Durch genetische
4 Transposons ohne terminale Wiederholungseinheiten: oder Umwelteinflüsse (z. B. Hitze, Stress, Bestrahlung), die wir
Retroposons. nur teilweise kennen, können Transposons dazu veranlasst
werden, ihre Genompositionen zu verändern. Danach wird
Dabei sollen Retrotransposons und Retroposons zusammen mit wiederum eine stabile Phase der Integration erreicht. Sie sind
den Retroviren besprochen werden (7 Abschn. 9.2); im Folgen- also in dieser Hinsicht in ihrem Verhalten einem λ-Prophagen
den werden wir uns auf die Transposons mit terminalen inver- sehr ähnlich, wenn sie auch gewöhnlich keine definierten Inte-
tierten Wiederholungseinheiten konzentrieren. Die verschiede- grationsstellen haben.
nen Mechanismen sind in . Abb. 9.4 dargestellt. Durch Transpositionen, die in der Regel mit zufälliger Inte-
gration in beliebige Genompositionen verbunden sind, können
> Transposons gehören verschiedenen Gruppen unter-
Mutationen induziert werden. Hierbei kann es vorkommen,
schiedlicher Struktur und Häufigkeit an. In allen Fällen
dass ein Transposon benachbarte DNA-Bereiche aus seiner ur-
sind sie jedoch durch flankierende Duplikationen der
sprünglichen Position in eine neue Genomposition überträgt.
Insertionsstelle im Genom gekennzeichnet. Wir unter-
Neben einer – wahrscheinlich kleinen – Anzahl vollständiger
scheiden RNA-abhängige Transposons (Klasse 1) und
Transposons enthält jedes Genom eine größere Anzahl defekter
DNA-abhängige Transposons (Klasse 2).
Transposons, die entweder gar nicht mehr zur Transposition
Die grundlegenden Eigenschaften eukaryotischer Transposons in der Lage sind oder der Gegenwart vollständiger Elemente
und die Konsequenzen ihrer Anwesenheit im Genom lassen der gleichen Transposonfamilie bedürfen, um eine Ortsver-
sich folgendermaßen zusammenfassen: Normalerweise sind sie änderung im Genom vorzunehmen. Die Ursachen hierfür sind
stabil mit mehreren Kopien ins Genom integriert. Die An- uns durch die molekulare Analyse von Transposons verständ-
zahl der Kopien im Genom sind für verschiedene Familien von lich geworden: Die vollständigen Transposons stellen die Gen-
9.1 · Transposons
347 9
a b c

. Abb. 9.4 Strukturelle Eigenschaften und Klassifikation transposabler Elemente. Eukaryotische transposable Elemente (TE) werden in zwei Klassen ein-
geteilt, je nachdem, ob das Zwischenprodukt der Transposition eine RNA (Klasse 1) oder eine DNA (Klasse 2) ist. Bei allen Klasse-1-Elementen bildet das
Element-codierte Transkript (mRNA) und nicht das Element selbst (wie bei Klasse-2-Elementen) das Zwischenprodukt der Transposition. Jede Gruppe von
TEs enthält autonome und nicht-autonome Elemente. Autonome Elemente enthalten offene Leserahmen (ORFs, orangerote Kästchen) und codieren für Pro-
teine, die für die Transposition notwendig sind. Die Integration von fast allen TEs führt zur Duplikation kurzer genomischer Sequenzen an der Stelle der
Insertion. Diese Duplikationen (Pfeile, die die Elemente flankieren) variieren in ihrer Größe und Sequenz zwischen den verschiedenen Familien der TEs.
a Klasse-2-Elemente: DNA-Transposons haben Wiederholungssequenzen (schwarze Dreiecke) und Duplikationen von Zielsequenzen (Pfeile) an ihren Enden.
Nicht-autonome Mitglieder dieser Klasse leiten sich in der Regel von autonomen Mitgliedern durch interne Deletionen ab. b, c Klasse-1-Elemente können
nach ihrem Transpositionsmechanismus und ihrer Struktur in zwei Gruppen unterteilt werden. b LTR-Transposons haben lange Wiederholungssequenzen
an ihren Enden (engl. long terminal repeats, LTRs; schwarze Dreiecke). Autonome Elemente enthalten mindestens zwei Gene, gag und pol; gag codiert für ein
Capsid-ähnliches Protein und pol für ein Poly-Protein, das verschiedene enzymatische Aktivitäten enthält (Protease, Reverse Transkriptase, RNase H, Inte-
grase). Nicht-autonome Elemente haben die meisten oder alle codierenden Elemente verloren. Ihre inneren Bereiche (grüne Kästchen) sind unterschiedlich
groß und ohne Beziehung zu den autonomen Elementen. c Transposons ohne eine LTR enthalten stattdessen lange oder kurze Wiederholungselemente
(LINEs bzw. SINEs). Die codierenden Regionen beinhalten ORF1 (codiert für ein gag-ähnliches Protein), EN (Endonuklease) und RT (Reverse Transkriptase).
LINEs und SINEs enden mit einer einfachen Sequenzwiederholung, üblicherweise Poly(A). Alle SINEs-Elemente, die bisher charakterisiert wurden, enthalten
einen Promotor der RNA-Polymerase III (schwarze Streifen) in der Nähe des 5’-Endes. Im 3’-Bereich gibt es Übereinstimmungen zwischen SINE- und LINE-
Elementen. (Nach Feschotte et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

produkte zur Verfügung, die erforderlich sind, um eine Trans- modifizierten transponierbaren Elemente enthalten noch andere
position zu vollziehen. Viele partiell defekte transponier- Genomsequenzen oder sogar andere Transposons. Hierdurch
bare  Elemente können hiervon zur Transposition Gebrauch können im Genom beliebige größere DNA-Abschnitte in neue
machen. Positionen umgelagert werden, die für die Evolution neuer Gene
oder für Veränderungen in den Regulationseigenschaften von
> Eukaryoten besitzen viele unterschiedliche Gruppen von
Genen Bedeutung erlangen können. Dabei führt die Insertion in
Transposons. Ihre Häufigkeit im Genom variiert in weiten
Gene oder deren Regulationsregion nicht notwendigerweise zur
Grenzen. Transpositionen können durch Umwelteinflüsse
Inaktivierung, sondern kann Änderungen in deren Regulation
oder genetisch induziert werden und führen dadurch oft
verursachen.
zu Mutationen.
Eine besondere Klasse dieser transponierbaren Elemente mit
Die Gesamtlänge der terminalen invertierten Wiederholungs- invertierten Wiederholungseinheiten bei Drosophila sind die
einheiten ist bei verschiedenen transponierbaren Elementen P-Elemente. Da dieses Transposon zudem große Bedeutung als
unterschiedlich. Sie variiert zwischen mehreren Hundert Basen- Vektor für Transformationsexperimente in der Gentechnologie
paaren und mehreren Kilobasen. Diese Längenvariabilität be- gewonnen hat (7 Technikbox 23), soll es hier stellvertretend für
ruht auf der unterschiedlichen Anzahl interner Wiederholungs- andere Transposons mit terminalen invertierten Repeats bespro-
einheiten, aus denen sie zusammengesetzt sind. Die inneren chen werden.
Bereiche der Wiederholungselemente zwischen den terminalen Die Entdeckung des P-Faktors geht auf populationsgenetische
invertierten Repeats sind in Länge und Sequenz im Allgemeinen Untersuchungen in den 1960er-Jahren zurück, die zeigten, dass in
sehr unterschiedlich und weisen wenig Verwandtschaft unter- reziproken Kreuzungen zwischen bestimmten Stämmen von
einander auf. Es gibt transponierbare Elemente mit einer identi- D. melanogaster bei den Nachkommen unterschiedliche Effekte
schen internen 4-kb-DNA-Region, die drei offene Leserahmen auftreten, die später als Hybriddysgenese (engl. hybrid dysgenesis)
enthält (engl. open reading frames, ORFs). Möglicherweise han- bezeichnet wurden (s. unten). Durch Rubin, Kidwell und Bingham
delt es sich dabei um die ursprünglichen Elemente dieser repeti- wurde dann gezeigt, dass für die mit Hybriddysgenese verbun-
tiven DNA-Sequenzfamilie, die noch die benötigten enzymati- denen Phänomene ein Transposon, eben das P-Element, ver-
schen Mechanismen für selbstständige Transpositionen beher- antwortlich ist (Bingham et al. 1982, Rubin und Spradling 1982).
bergen. Die übrigen transponierbaren Elemente könnten aus Es ist 2907 bp lang (. Abb. 9.5), und seine Insertionsstelle in
ihnen durch Deletionen entstanden sein und verwenden jetzt das Genom ist durch eine flankierende 8-bp-Genomduplikation
einen modifizierten Transpositionsmechanismus, der sich andere gekennzeichnet. Das P-Element selbst besitzt zwei kurze termi-
zelluläre Mechanismen zunutze macht. Solche defekten oder nale invertierte Wiederholungseinheiten von je 31 bp Länge,
348 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Abb. 9.5 Molekulare Struktur eines P-Elementes von Drosophila melanogaster. Der 2907 bp lange P-Faktor besteht aus terminalen, invertierten Wieder-
holungseinheiten von 31 bp und zwei weiteren, innen liegenden von 11 bp. Die vier Exons, die in der Keimbahn für die Transposase (87 kDa) codieren, sind
angegeben. In somatischen Zellen wird dagegen das 3. Intron (IVS3) nicht gespleißt, sodass wegen des neuen Stoppcodons ein 66-kDa-Repressor-Protein
9 gebildet wird. (Nach Castro und Carareto 2004, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

dem sich in geringem Abstand (ca. 100 bp) zwei kurze invertierte ein P-Element ein, dessen ORFs 2 und 3 nicht mehr durch ein
Wiederholungssequenzen von 11 bp anschließen. Diese beiden Intron getrennt sind, so erfolgen auch in somatischen Zellen
Wiederholungseinheiten sind für die Spezifität und Effizienz Transpositionen mit hoher Frequenz. Drosophila hat also einen
der Transposase verantwortlich. Der mittlere Sequenzbereich spezifischen Mechanismus entwickelt, der Transpositionen in
des P-Elementes enthält vier Exons, die für die Transposase codie- den Keimzellen gestattet, sie aber gleichzeitig in somatischen
ren und als ORF 0, ORF 1, ORF 2 und ORF 3 bezeichnet wer- Zellen ausschließt.
den. Die merkwürdige Nummerierung erklärt sich daraus, dass
ORF 0 zuletzt entdeckt wurde. Die Transposase wird von einer
2,5 kb langen mRNA translatiert, die durch Spleißen der Exons
*Diese Beobachtung ist bedeutungsvoll, da sie erneut dafür
spricht, dass Transposons biologische Funktionen ausüben
entsteht. Obwohl eine Transkription der Transposase auch in müssen. Die Inaktivierung des Transpositionsmechanismus
somatischen Zellen stattfindet, ist die funktionelle mRNA aus- in somatischen Zellen erscheint biologisch dann sehr sinn-
schließlich in der Keimbahn vorhanden. In somatischen Zellen voll, wenn dafür gesorgt werden soll, dass neue Transposi-
findet man ausschließlich ein größeres Transkript. Es ist da- tionsereignisse in den Keimzellen auf Nachkommen über-
durch  gekennzeichnet, dass das dritte Intron in ihm noch ent- tragen werden sollen. Erfolgen nämlich zugleich viele
halten ist, sodass wegen des dadurch entstehenden vorzeitigen Transpositionsereignisse in somatischen Zellen, so ist die
Stoppcodons (. Abb. 9.5) eine funktionelle Transposase nicht Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass der Organismus ein Fort-
synthetisiert werden kann. Ursache dafür ist ein Spleißrepres- pflanzungsalter gar nicht erreicht: Durch hohe Transposi-
sor  in den somatischen Zellen; die resultierende, verkürzte tionsraten in somatischen Zellen steigt die Wahrscheinlich-
Transposase ist nicht nur inaktiv, sondern wirkt als Repressor der keit, dass essenzielle Gene zerstört und dadurch letale
Mobilität des P-Elementes. Diese verkürzte Transposase ist auch Effekte hervorgerufen werden.
dafür verantwortlich, dass in Wildtyp-Stämmen die Mobilität des
P-Elementes auf Kreuzungen zwischen Weibchen des M-Stamms Die Transposase schneidet ein P-Element genau aus seiner In-
und Männchen des P-Stamms beschränkt ist, denn in Weibchen sertionsstelle heraus; dabei wird die ursprüngliche Genom-
des P-Stamms bleibt das Repressormolekül auch in den Eizellen konstitution, wie sie vor der Insertion des P-Faktors bestand,
aktiv. wiederhergestellt: Man beobachtet genetisch eine Reversion der
Der Unterschied zwischen Keimbahntranskripten und so- durch Insertion des P-Faktors verursachten Mutation. In vielen
matischen Transkripten der P-Elemente findet eine Parallele in Fällen erfolgen Exzisionen jedoch ungenau. Das hat zur Folge,
der Fähigkeit zur Transposition im Genom: Während unter be- dass
stimmten Bedingungen (denen der Hybriddysgenese) Transposi- 4 Teile des P-Faktors im ursprünglichen Insertionsplatz
tionen in der Keimbahn mit hoher Frequenz vorkommen, fehlen zurückgelassen werden oder
unter gleichen Bedingungen jegliche somatischen Transpositio- 4 dass Teile der flankierenden DNA – entweder an einer
nen. Ursache für diesen Unterschied ist die Unfähigkeit somati- Seite des P-Faktors oder an beiden Seiten – zusammen mit
scher Zellen, das dritte Intron aus dem primären Transkript zu dem P-Element aus dem Genom herausgeschnitten
entfernen. Führt man jedoch in somatische Zellen experimentell werden.
9.1 · Transposons
349 9
Solche ungenauen Exzisionen können auf der Anwesenheit von Transposase aktiviert werden. Da das Genom von M-Stämmen
Sequenzwiederholungen innerhalb des P-Elementes beruhen, während der Oogenese nicht imstande ist, das Spleißen der
die bereits erwähnt wurden. Die für eine ungenaue Exzision er- Transposase zu verhindern, und vom Spermium kein Cytoplas-
forderlichen Wiederholungssequenzen können sehr kurz sein: ma mit P-Repressor zur Verfügung gestellt wird, beginnen die
Es genügen bereits direkte Sequenzwiederholungen in der DNA P-Elemente aufgrund des Fehlens des Spleißrepressors zu trans-
von 2–6 bp. Es leuchtet daher ein, dass die Wahrscheinlich- ponieren.
keit  groß ist, dass auch außerhalb des P-Elementes liegende
> Hybriddysgenese beruht auf der Induktion von Transposi-
Sequenzwiederholungen in solche Exzisionen einbezogen wer-
tionen in genetischen Konstitutionen, bei denen in repres-
den können.
sorloses Eicytoplasma bei der Befruchtung Transposons
Das Ergebnis ungenauer Exzisionsereignisse ist die Existenz
(z. B. P-Elemente) mit eigener Transposase-Aktivität ein-
zahlreicher unvollständiger P-Elemente im Genom. Diese sind
geführt werden.
selbst nicht mehr in der Lage zur Transposition, wenn ihre Trans-
posase aufgrund der internen Deletionen defekt ist oder die in-
vertierten Repeats durch terminale Deletionen unvollständig C Die Verwendung des P-Elementes zur Herstellung transge-
ner Fliegen wurde erstmals von Rubin und Spradling (Rubin
sind oder fehlen. Defekte in den terminalen Wiederholungsein-
und Spradling 1982, Spradling und Rubin 1982) in die ex-
heiten verhindern weitere Transpositionen vollständig. In Ge-
perimentelle Genetik eingeführt: Sie injizierten ein P-Ele-
genwart von P-Elementen mit funktionsfähiger Transposase sind
ment, das ein funktionelles rosy-Gen enthielt, in Drosophila-
defekte P-Elemente hingegen dann noch zu Transpositionen
Embryonen mit einer rosy-Mutation und stellten dadurch
imstande, wenn sie zumindest noch ihre terminalen invertierten
die Wildtyp-Funktion in den Nachkommen wieder her. Seit-
Wiederholungselemente besitzen.
her wurde das P-Element zu einem vielfältigen Werkzeug
> Das P-Element ist ein 2,9 kb langes Transposon mit termi- in der Drosophila-Genetik weiterentwickelt; es kann für die
nalen invertierten Wiederholungseinheiten von einer spezifische Einführung von Mutationen (engl. gene tagging),
Länge von 31 bp. Der mittlere Bereich des P-Elementes Genunterbrechung (engl. gene disruption) und induzier-
codiert für eine Transposase. Die Synthese der funktionel- bare Genexpression verwendet werden. Im Kern kommt es
len Transposase wird durch einen keimbahnspezifischen darauf an, durch ein Paar brauchbarer Enden ein transpo-
Spleißmechanismus gesteuert. nierbares Konstrukt herzustellen, das durch eine in trans
vorhandene Transposase aktiviert werden kann. Transposase
Die Erscheinung der Hybriddysgenese äußert sich in Sterilität,
wird entweder durch Co-Injektion eines Konstrukts zur
degenerierten Gonaden (darum auch ursprünglich engl. gonadal
Verfügung gestellt, das zwar Transposase produziert, aber
dysgenesis genannt) oder – bei Fertilität – in hohen Mutations-
sich selbst nicht bewegen kann (z. B. durch »beschädigte«
raten, die insbesondere von Chromosomenrearrangements be-
Enden; engl. wings-clipped elements), oder durch Einführung
gleitet sind, sowie in männlicher Rekombination (engl. male re-
des Konstrukts in einen Embryo, der eine autosomale Kopie
combination); bei Drosophila gibt es im Männchen normaler-
der Δ2-3-Transposase besitzt. Die verschiedenen Möglich-
weise keine Rekombination. Die Hybriddysgenese beschränkt
keiten der P-Elemente in der experimentellen Drosophila-
sich auf Kreuzungen zwischen bestimmten Stämmen, z. B. zwi-
Genetik werden ausführlich von Ryder und Russell (2003)
schen P- und M-Stämmen (. Abb. 9.6). Eine Kreuzung zwischen
erörtert.
diesen Stämmen ist nur dann dysgenisch (engl. dysgenic), wenn
das Männchen aus einem P-Stamm, das Weibchen aus einem Eine weitere wichtige Gruppe der DNA-Transposons ist die Tc1/
M-Stamm kommt. Die reziproke Kreuzung liefert völlig gesunde mariner-Familie. Als Scott Emmons und seine Mitarbeiter 1983
Nachkommen. das transponierbare Element Tc1 im Genom von C. elegans ent-
Die Erklärung für diese ungewöhnlichen Kreuzungsergeb- deckten, realisierten sie vermutlich nicht, dass das nur die Spitze
nisse liegt darin, dass alle P-Stämme P-Elemente im Genom be- eines Eisbergs war. Wir wissen heute, dass Homologe von Tc1
sitzen, während M-Stämme keine P-Elemente im Genom enthal- und des nahe verwandten mariner-Transposons (aus Drosophila
ten. Gelangen P-Elemente über das männliche Genom in eine mauritiana) sowie des pogo-Transposons aus Drosophila melano-
Eizelle, deren Genom keine P-Elemente enthält, so werden die gaster vermutlich die in der Natur am weitesten verbreiteten
P-Elemente aktiviert und beginnen mit hoher Frequenz zu trans- Transposons sind. Man findet sie in Pilzen, Pflanzen, Ciliaten
ponieren. Hierdurch werden Mutationen und Chromosomen- und Tieren, einschließlich Namatoden, Arthropoden, Fischen,
brüche induziert, die zu defekten Gonaden bzw. zu hohen Muta- Fröschen und Menschen. Die Tc1/mariner-Elemente haben eine
tionsraten in den Nachkommen führen. Länge von 1300–2400 bp und enthalten das Gen für eine Trans-
Warum aber beobachtet man dann solche Effekte nicht auch posase; an den Enden enthalten sie invertierte Wiederholungs-
in der reziproken Kreuzung? Der Grund hierfür liegt in der oben einheiten. Diese Wiederholungselemente haben eine unter-
erwähnten Eigenschaft des P-Elementes, in somatischen Zellen schiedliche Länge; bei Tc1 enthalten sie weniger als 100 bp, bei
das Spleißen des Transposase-Gens zu unterdrücken (P-Cyto- Tc3 über 400 bp.
typ). Normalerweise wird dadurch jegliche Transpositionsakti-
vität unterdrückt. Führt man jedoch in eine Zelle, die keinen
Repressor besitzt (also einen M-Cytotyp hat, z. B. die Eizelle des
M-Stamms), P-Elemente ein, so können diese mithilfe ihrer
350 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

- -
Pol-Zellen beginnen mit der Synthese
Kein Spleißen des Introns 3, daher - -
der 87-kDa-Transposase; Aktivität wird
- -
Synthese des 66-kDa-Proteins und -
durch maternales 66-kDa-Protein
Lagerung im Cytoplasma -
blockiert; das 66-kDa-Protein wird auch in
den Körperzellen synthetisiert
b
9

Hohe Transpositions- Keine Transposition


rate und Mobilisierung und Mobilisierung der
der Repressor-codie- Repressor-codie-
renden P-Elemente renden P-Elemente

Normale Gameten,
stabile P-Elemente

. Abb. 9.6 Hybriddysgenese bei Drosophila melanogaster. a In Weibchen des P-Stamms wird das Repressor-Protein (66 kDa) während der Oogenese auf-
grund des Nicht-Spleißens des 3. Introns gebildet und in den Oocyten gespeichert. Dieser maternale Speicher bewirkt nach der Befruchtung durch ein
Spermium des P-Stamms eine effektive Hemmung der Transposase, die in den Pol-Zellen und ihren Nachkommen in der Keimbahn gebildet wird. b Bei rezi-
proken Kreuzungen von P- und M-Stämmen kommt es in den Nachkommen gehäuft zu Mutationen und zu Sterilität, wenn die Männchen der Kreuzung aus
einem P-Stamm kommen. Entstammen die Weibchen einem P-Stamm, so sind alle Nachkommen gesund. Die Ursache für diesen Dysgeneseeffekt liegt in
der aktiven Transposase in den Spermien der P-Stämme. Bei der Befruchtung des Eis des M-Stamms wird dadurch eine hohe Rate von Transpositionen indu-
ziert, da das Cytoplasma des Eis des M-Stamms keinen Repressor enthält. Der M-Cytotyp wird über mehrere Generationen aufrechterhalten.
(Nach Rio 1991, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
9.2 · Retroviren
351 9

*Die Tc1/mariner-Elemente, die in den Genomen von Verte-


braten gefunden wurden, sind alle »tot«, d. h. sie sind Über-
5‘-LTR gag pol env 3‘-LTR

bleibsel ehemals aktiver Elemente, die aber nach erfolgrei-


Retroviren
cher Kolonialisierung der Genome durch Mutationen inakti-
viert wurden. Allerdings gelang es der Gruppe um Zsuzsanna
5‘-LTR gag pol 3‘-LTR
Izsvák (Ivics et al. 1997), ein Tc1-ähnliches Transposon
aus Lachs wieder zu rekonstruieren und zum Leben zu er-
wecken. Dazu konstruierten sie eine Consensussequenz der LTR-Retrotransposons
Transposase-Gene aus verschiedenen Vertretern der Lachs-
Familie, indem sie die inaktivierenden Mutationen entfern- pol II ORF1 ORF2
ten. Diese Transposase bindet spezifisch an die invertierten AAAAAA
Wiederholungselemente von Transposons im Lachs und ver- LTR-freie Retrotransposons (LINEs)
mittelt präzise cut-and-paste-Transpositionen in Fischen,
aber auch bei Mäusen und Menschen. Die Autoren nannten pol III
dieses rekonstruierte Transposon sleeping beauty; es kann AB AAAAAA
experimentell zur genetischen Transformation und Inser-
Nicht-autonome Retroposons (SINEs)
tionsmutagenese verwendet werden, und es wird erwartet,
dass mit seiner Hilfe eine nicht-virale Gentherapie möglich
wird (Frommolt et al. 2006). Exon 1 Exon 2 Exon 3 Exon 4
AAAAAA
Retropseudogene
9.2 Retroviren
. Abb. 9.7 Übersicht über Retroelemente. Es sind die wichtigsten Klassen
von transponierbaren Retroelementen gezeigt. Retroviren sind infektiöse
Die Retroviren sind für eine ganze Klasse von transponierbaren Agenzien, die über ihre LTRs (engl. long terminal repeats) in das Wirtsgenom
Elementen das Standardparadigma (. Abb. 9.7), deshalb sollen integrieren und die Transkription ihrer Gene steuern (gag: group specific
sie hier auch zu Beginn besprochen werden. Bei Retroviren han- antigen; env: envelope; pol: Reverse Transkriptase). LTR-Retrotransposons
delt es sich um infektiöse virale Partikel, deren Genom aus Ein- sind ähnlich, haben aber kein env-Gen. Die LINE-Elemente sind die wich-
zelstrang-RNA besteht (. Abb. 9.8). Die Wirkung von Retroviren tigsten Vertreter der LTR-freien Retrotransposons in Säugern. Die SINE-Ele-
mente sind die wichtigsten Vertreter der nicht-autonomen Retroposons in
wurde bereits sehr früh durch Experimente entdeckt, bei denen Säugern; sie sind üblicherweise recht klein (< 300 bp). Retropseudogene
Hühnern Leukämie durch zellfreie Substrate übertragen werden entstehen, wenn mRNA die LINE-Maschinerie benutzt, um Kopien von sich
konnte. Peyton Rous erkannte in der Folge (1911), dass das Rous selbst herzustellen und mit geringer Effizienz ins Genom einzubauen.
Sarcoma Virus (RSV) in Hühnern Tumoren zu induzieren ver- (Nach Deininger et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
mag. Das RSV wird daher auch Avian Sarcoma Virus (ASV) ge-
nannt. Die Fähigkeit, Tumoren zu induzieren, wurde auch für
andere Retroviren nachgewiesen. Sie werden deshalb auch Onko-

gp120
gp41
p6 (Link-Protein) Hüllmembran

Lateralkörperchen p17 (Matrixprotein)


Integrase p24 (Capsidprotein)
Reverse Transkriptase/ p7 (Nukleocapsidprotein)
Ribonuklease H
Protease RNA

a b

. Abb. 9.8 Modell eines Retrovirus. a Dreidimensionales Modell. b Aufbau eines Retroviruspartikels am Beispiel des HIV-1. Im Inneren des Partikels findet
man das konische Capsid, das aus dem Protein p24 besteht. Es enthält zwei virale RNA-Genome, die im Komplex mit dem Nukleocapsidprotein p7 vorlie-
gen und alle Charakteristika einer zellulären mRNA haben. Das Capsid ist von einer Hüllmembran umgeben, welche die externen und transmembranen
Glykoproteine gp120 und gp41 enthält. Die Innenseite der Membran wird von einer Schicht von Matrixproteinen (p17) ausgekleidet. Das Link-Protein p6
verbindet das Capsid mit der Membran. (a H. Frank, Tübingen; b nach Modrow und Falke 1997, mit freundlicher Genehmigung von Spektrum Akade-
mischer Verlag)
352 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

acquired immunodeficiency syndrome virus; 7 Abschn. 9.2.2).


. Tab. 9.5 Virusklassifikation
Spumaviren hingegen scheinen keine pathogenen Vertreter ein-
Familiea Beispiele zuschließen.

DNA-Viren (Einzelstrang-DNA)

Inoviridae Phage M13 9.2.1 Genomstruktur von Retroviren


Microviridae Phage ΦX174
Das Genom von Retroviren zeigt eine charakteristische Grund-
Geminiviridae Maize streak virus struktur (. Abb. 9.9), nämlich lange invertierte Wiederholungs-
Parvoviridae B19-Virus elemente an den Enden (engl. long terminal repeats, LTR), die
DNA-Viren (Doppelstrang-DNA) einen Protein-codierenden Bereich einschließen, dessen Länge
zwischen 5 und 9 kb liegt. Ein LTR wird durch die folgenden Se-
Myoviridae Phage T4
quenzelemente charakterisiert:
Siphoviridae Phage λ 4 Die Enden der LTRs enthalten kurze terminale invertierte
Podoviridae Phage T7 Wiederholungselemente; das eine Ende ist meistens durch
Poxviridae Vaccinia-Virus
eine 5’-TG-3’-Sequenz, das andere durch eine 5’-CA-3’-
Sequenz gekennzeichnet;
Herpesviridae Humanes Herpesvirus 1
4 einen Transkriptionspromotor;
Polyomaviridae Affenvirus 40 (SV40) 4 eine Kappe;
Papillomaviridae Humanes Papillomvirus 16 4 ein Polyadenylierungssignal;
9 4 unmittelbar hinter dem 3’-Ende des linken LTR befindet
Adenoviridae Humanes Adenovirus C
sich die Minusstrang-Primerbindungsstelle (engl. first
DNA- und RNA-revers-transkribierende Viren oder (–)-strand primer binding site), die für die reverse
Hepadnaviridae Hepatitis-B-Virus Transkription der RNA erforderlich ist; es handelt sich oft
Retroviridae Humanes Immunschwäche-Virus (HIV) um eine tRNA-Bindungsstelle;
4 vor dem 5’-Ende des rechten LTR befindet sich die – meist
RNA-Viren (Doppelstrang-RNA)
purinreiche – Plusstrang-Primerbindungsstelle (engl.
Cystoviridae Pseudomonas-Phage Φ6 second oder (+)-strand primer binding site).
Reoviridae Rotavirus A

RNA-Viren (Einzelstrang-RNA, Gegenstrang)


Retroviren können über die LTRs ins Genom integrieren (Pro-
viren) und können dann als endogene Bestandteile eukaryoti-
Paramyxoviridae Masern-Virus
scher Genome angesehen werden. Die Protein-codierenden
Rhabdoviridae Tollwut-Virus Genbereiche sind für die Vermehrung des Virus erforderlich und
Filoviridae Ebola-Virus enthalten die Information
4 für Proteine, die mit der Nukleinsäure des Virus assoziieren
Orthomyxoviridae Influenza-A-Virus
und diese verpacken (gag, für engl. group-specific-antigens),
RNA-Viren (Einzelstrang-RNA, Sinnstrang) 4 für eine RNA-abhängige DNA-Polymerase, auch Reverse
Picornaviridae Polio-Virus Transkriptase (RT) genannt (pol, für engl. polymerase), und
Potyviridae Kartoffelvirus Y 4 für die Hüllproteine (env, für engl. envelope), die in der
Zellmembran für die äußere Verpackung des Virus sorgen.
Tombusviridae Tabak-Nekrosis-Virus A

Togaviridae Röteln-Virus Im endogenen Zustand geht von Retroviren normalerweise keine


Flaviviridae Hepatitis-C-Virus pathogene Wirkung aus, während sie im exogenen Zustand pa-
thogen sein können. Zum Verständnis ihrer pathogenen Wir-
a Auswahl, keine vollständige Liste; nach Pringle (1999) kungen ist es notwendig, den Lebenszyklus der Retroviren zu
betrachten (. Abb. 9.10). Die Infektion einer Wirtszelle erfolgt
nach der Adsorption des Virus mithilfe seines Hüllproteins an
viren genannt; die Entdeckung der cancerogenen Wirkung der Rezeptoren in der Zellmembran. Von der viralen RNA wird
Onkoviren war auch ein wichtiger Schritt, genetische Aspekte durch die virale Reverse Transkriptase und die RNase H, unter
von Krebserkrankungen zu definieren (7 Abschn. 13.4.1). Umständen noch innerhalb des Capsids, in der Zelle ein doppel-
Die Virussystematik (. Tab. 9.5) basiert heute auf molekular- strängiges DNA-Molekül gebildet, das als Template zur Synthese
genetischen Kriterien. Die Retroviren lassen sich in α- bis von mRNA dient. Die Replikation des Virusgenoms beginnt mit-
ε-Retroviren unterteilen (in diese Gruppen gehören viele der hilfe einer tRNA als Primer durch Synthese des Minusstrangs der
Onkoviren). Weiterhin gehören die Lentiviren und Spumaviren DNA am 5’-Ende des Virusgenoms. Durch die RNase H wird
zu dieser Gruppe. Der heute bekannteste pathogene Vertreter der anschließend der RNA-Strang des 5’-Endes entfernt. Das 5’-Ende
Lentiviren ist das menschliche Immunschwäche-Virus HIV (von des neu entstandenen DNA-Einzelstrangs bindet nunmehr an das
engl. human immunodeficiency virus) oder AIDS-Virus (engl. 3’-Ende eines weiteren viralen RNA-Moleküls und kann über das
9.2 · Retroviren
353 9
5‘-LTR 3‘-LTR

Enhancer Promotor Enhancer Promotor

U3 R U5 gag pro pol env U3 R U5

pA SD SA pA
5‘-Kappe 5‘-Kappe
genomische DNA
gag-mRNA AAAA
gag-pro-pol-mRNA
env-mRNA AAAA

. Abb. 9.9 Genomische Organisation eines Retrovirus. Das Provirus enthält lange Wiederholungseinheiten an beiden Enden (engl. long terminal repeats,
LTR), die in drei Regionen unterteilt werden: U3 (engl. unique to the 3’-end of the mRNA), R (engl. repeatet terminus of the transcript) und U5 (engl. unique to
the 5’-end of the mRNA). U3 enthält die Enhancer- und Promotorsequenzen, die die virale Transkription antreiben; die R-Domäne codiert für die 5’-Kappen-
Sequenz und das Poly(A)-Signal; gag, pro, pol und env sind Protein-codierende Regionen; die notwendigen Spleißstellen sind ebenfalls angegeben
(SD: splice donor; SA: splice acceptor). Die env-mRNA enthält keine gag-pro-pol-Sequenzen (»Knick« in der unteren Darstellung, wird herausgespleißt).
(Nach Uren et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Inhibitoren der
Reversen
Transkriptase
Integrase-Inhibitoren

zelluläre DNA
Zellkern Inhibitoren des
nicht-integrierte Zelleintritts
dsDNA des Virus
integrierte
virale DNA

virale RNA
reverse
mRNA Transkription
virale RNA

Proteinsynthese/
Knospung/ Virus-Aufbau
Reifung

Protease-Inhibitoren
. Abb. 9.10 Infektionszyklus eines Retrovirus am Beispiel des HIV. Die Hüllproteine des Virus treten in Kontakt mit Rezeptoren an der äußeren Zellmem-
bran (rechts), und das Virus dringt in die Zelle ein. Die virale RNA wird durch die Reverse Transkriptase in Doppelstrang-DNA umgewandelt (blau). Diese
kann als Provirus ins Wirtszellgenom integriert werden. Polyadenylierte Transkripte (mRNA) sorgen für die Produktion neuer virusspezifischer Proteine, die
anschließend zur Verpackung neu synthetisierter viraler RNA dienen. Die Zelle entlässt dann, meist unter Lyse, neue Viren. Es sind außerdem die wich-
tigsten Ansatzpunkte für eine anti-retrovirale Therapie (bei einer HIV-Infektion) angegeben. (Nach Michaud et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung der
American Society of Pharmacology and Experimental Therapeutics)

restliche Genom hinweg durch die Reverse Transkriptase repli- 300 bp langen DNA-Fragments am 3’-Ende des Genoms im Be-
ziert werden. Die Synthese des Plus-DNA-Strangs beginnt an der reich des rechten LTR kann diese Einzelstrang-DNA als Primer
Primerbindungsstelle des 3’-Endes des Virusgenoms. Als Primer der Plus-DNA-Strangsynthese im linken LTR dienen. Dieser
für die Replikation dienen wahrscheinlich Oligonukleotide, die komplexe Replikationsmechanismus erklärt die veränderte
durch die RNase H gebildet werden. Nach Synthese eines etwa Struktur der LTRs in der doppelsträngigen viralen DNA, die sich
354 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Abb. 9.11 Insertionsmechanismus eines Retrovirus.


Die Integration eines Retrovirus beginnt mit der Erken-
virale DNA
nung der beiden Enden (LTRs) der viralen DNA (rot) durch
3’-Weiterverarbeitung
die Integrase (IN; blau). Diesem Schritt folgt die Entfer-
nung von zwei bis drei Nukleotiden von den 3’-Enden
(3’-Weiterverarbeitung). Die Ziel-DNA (d. h. die zelluläre
Integrase
DNA; schwarz), die durch die Integrase erkannt wird, wird
versetzt geschnitten. Dieser Schnitt an den 5’-Enden der
Ziel-DNA erfolgt gleichzeitig mit dem Schnitt an den
3’-Enden der viralen DNA (Strangübertragung). Das Aus-
Finden der Ziel-DNA schneiden der nicht-gepaarten 5’-Enden der viralen DNA
und das Auffüllen der einzelsträngigen Lücken wird von
zellulären Enzymen durchgeführt. Die Integration der
Virus-DNA, die jetzt als Provirus bezeichnet wird, ist damit
Strangübertragung
abgeschlossen und durch eine Duplikation der Ziel-
sequenz von 5 bp charakterisiert. (Nach Suzuki et al. 2012,
mit freundlicher Genehmigung der Autoren)
zelluläre DNA

Reparatur der Lücke


9

Sequenzen der
Lücken Bildung des Provirus

Duplikation der Zielsequenzen

nunmehr, möglicherweise durch Bildung eines Rings, als Provirus külen während der reversen Transkription entstehen nach
in das Genom der Wirtszelle einfügen kann (. Abb. 9.11). erneuter Infektion einer Zelle partiell defiziente retrovirale Ge-

*Nach Integration eines Retrovirus ins Genom kann es durch


die wirtszelleigene RNA-Polymerase II nach Initiation am
nome mit Sequenzen zellulärer Gene. Als Folge hiervon kann das
Virus zu einem Tumor-induzierenden Virus werden. Führt der
Einschluss eines zelleigenen Gens in ein Virusgenom zur Entste-
Promotor des LTR transkribiert werden. Hierdurch werden
hung eines Tumorvirus, so wird das betreffende Gen allgemein
die für die Virusproduktion aus Virus-codierten Proteinen
als virales Onkogen (v-onc) bezeichnet. Sein im Wirtszellgenom
erforderlichen mRNAs hergestellt. Diese gestatten die er-
natürlich noch immer vorhandenes normales zelluläres Gegen-
neute Produktion viraler Partikel, die aus der Zelle entlassen
stück bezeichnet man als zelluläres Onkogen (c-onc, von engl.
werden und damit infektiös sind. Die Virusproduktion ist oft
cellular oncogene) oder auch als Protoonkogen.
letal für die Zelle. Besonders durch die intensive Untersu-
chung von HIV ist in den letzten Jahren erkannt worden,
> Retroviren sind infektiöse virale Partikel, deren Genom
dass manche Retrovirusgenome komplexe Regulationssys-
aus RNA besteht. Sie können als Proviren ins Genom
teme für die Synthese der verschiedenen Virusbestandteile
eingebaut und mit ihm an Nachkommen vererbt werden.
enthalten, die im Wesentlichen auf differenziellem Spleißen
Manche Retroviren können die Bildung von Tumoren
verschiedener Transkripte beruhen. Es ist durchaus möglich,
induzieren.
dass vergleichbare komplexe Regulationsmechanismen
auch für andere Retroviren bestehen.

Die Integration des Virusgenoms ins Wirtszellgenom erfolgt im


*Viele endogene Retroviren re-infizieren nicht unmittelbar ihre
eigenen Wirtszellen, sondern können in vitro und/oder in vivo
Allgemeinen zufallsgemäß. Jedoch können bestimmte Genom- auch andere Spezies infizieren. So infiziert beispielsweise das
sequenzen bevorzugt als Insertionsstellen dienen. Offenbar wird endogene ALV des Huhns eher Zellen von Wachteln, Fasanen
die Provirus-DNA, deren Transkription am Promotor innerhalb und Truthahn als Hühnerzellen. Ähnlich infiziert ein MLV der
des 5’-LTR beginnt, gelegentlich über den 3’-LTR hinweg abgele- Maus eher Zellen des Menschen oder der Ratte als der Maus
sen und bildet somit Transkripte, die flankierende Genomberei- selbst. Jay Levy prägte 1973 für Viren, die bevorzugt fremde
che enthalten. Solche RNA-Sequenzen können in ein Viruspar- Spezies infizieren, den Begriff »Xenotropismus« (im Gegen-
tikel eingeschlossen werden. Vermutlich durch illegitime Re- satz zu ecotrop bzw. amphotrop). Dies hat zum einen Konse-
kombination zwischen den zwei hierin enthaltenen RNA-Mole- quenzen für die biologische Medizin, denn man muss sicher-
9.2 · Retroviren
355 9

. Abb. 9.12 Xenotropie und speziesübergreifende Ausbreitung von Retroviren. Links sind die Stammbäume der Wirte und rechts der Retroviren gezeigt.
Die horizontalen Linien deuten eine Co-Evolution an, wohingegen die schrägen Linien Kreuzinfektionen über verschiedene Wirtsarten hinweg andeuten.
Zwei eng verwandte Retroviren infizieren Affen (Gibbon) und Beuteltiere (Koalabär), und zwei verwandte endogene Retroviren wurden in Fleischfressern
(Fuchs) und Wiederkäuern (Schaf ) gefunden. BaEV: baboon endogenous retrovirus; FeLV: feline leukemia retrovirus; GaLV: gibbon ape leukemia virus; HC2: hu-
man endogeneous retrovirus HC2; KoRV: Koala retrovirus; MeEV: Meles endogenous retrovirus; MiEV: mink endogenous retrovirus; MLV: murine leukemia virus;
MRRS: murine retrovirus-related sequence; OrEV: Oryctolagus endogenous retrovirus; OvEV: ovine endogenous retrovirus; PERV: porcine endogeneous retrovirus;
RV: Retrovirus; VuEV, Vulpes endogenous retrovirus. (Nach Weiss 2006, mit freundlicher Genehmigung des Autors)

stellen, dass Präparate (z. B. monoklonale Antikörper, rekom- Immunantwort bei den Patienten bürgerte sich zunächst der
binante Therapeutika), die in tierischen Zellkulturen herge- Name AIDS (engl. acquired immunodeficiency syndrome) ein.
stellt werden, nicht durch Retroviren kontaminiert werden. Bald erkannte man aber, dass ein bis dahin unbekanntes Retro-
Auf der anderen Seite können Retroviren offensichtlich auch virus die indirekte Ursache der verschiedenen Erkrankungen
in der Evolution als Vektoren für einen horizontalen Genaus- war; man nannte das neue Virus »HIV-1« (humanes Immun-
tausch dienen. So ist der Wirtswechsel bei endogenen Retro- defizienz-Virus 1; ein Modell des Virus ist in . Abb. 9.8 darge-
viren eine bekannte Tatsache und setzt in der Regel eine stellt). Die dadurch mögliche Diagnostik zeigte sehr schnell, dass
Infektion des neuen Wirts voraus, bevor die Insertion in das HIV-Infektionen kein lokales Problem einiger Großstädte sind,
Genom stattfindet. . Abb. 9.12 zeigt die Co-Evolution und sondern vielmehr ein globales Problem darstellen: Seit Bekannt-
Kreuzinfektionen mit MLV-verwandten Genomen in Säugern. werden der Erkrankung sind mehr als 39 Mio. Menschen bereits
Zurzeit können wir die Neuinfektion der Koalabären in Aus- daran gestorben, und weitere über 35 Mio. Menschen sind ak-
tralien mit einem endogenen Retrovirus (KoRV) beobachten: tuell daran erkrankt. Die meisten AIDS-Kranken (ca. 25 Mio.)
Ausgehend von einem kleineren Gebiet im Norden Austra- leben in Afrika südlich der Sahara (WHO 2014).
liens vor etwa 100 oder 200 Jahren breitet sich das KoRV Im Gegensatz zu HIV-1 ist die Infektion durch HIV-2, das
in der Keimbahn der Koalabären in unterschiedlicher Kopien- ebenfalls die Immunschwäche-Krankheit AIDS hervorrufen
zahl nach Süden aus (Ávila-Arcos et al. 2013). kann, aufgrund der geringeren Transmissionsraten wesentlich
stärker regional begrenzt geblieben. Die HIV-1-Stämme haben
sich in der Zwischenzeit durch Mutation und Rekombination
9.2.2 Humanes Immundefizienz-Virus (HIV) sehr stark verändert: 24 zirkulierende Formen der wichtigsten
HIV-1-Gruppe wurden allein bis zum Jahr 2002 registriert. Da-
Im Jahr 1981 kamen die ersten Anzeichen einer neuen Epidemie runter sind 11 Untergruppen bzw. Unter-Untergruppen und 13
auf, als verschiedene Gruppen von Patienten in New York, San zirkulierende rekombinierte Formen. Neue genetische Formen
Francisco und Los Angeles an opportunistischen Infektionen, entstehen weiterhin überall auf der Welt und verändern die mo-
Kaposi-Sarkomen (braun-bläulichen Tumorknoten auf der Haut, lekulare Epidemiologie der Infektion ständig. Diese große Unter-
an Schleimhäuten und im Darm) und Lungenentzündungen er- schiedlichkeit der einzelnen HIV-1-Viren und ihre außerordent-
krankten und bald starben. Aufgrund einer stark geschwächten liche Fähigkeit, auch ohne Selektionsdruck ein hohes Maß an
356 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Abb. 9.13 Mosaikartige Struktur der HIV-1-Formen. Die Buchstaben und Farben stellen die unterschiedlichen Untergruppen der HIV-1-Hauptgruppe
»M« dar. Die Buchstaben am Ende des Namens geben an, aus welchen Untergruppen die jeweilige Form zusammengesetzt ist (z. B. AE aus den Unter-
gruppen A und E); cpx bedeutet eine komplexe Zusammensetzung. Zwischen den flankierenden LTR-Elementen befinden sich die Gene, die für die ver-
schiedenen HIV-Proteine codieren. CRF: zirkulierende, rekombinierte Form; A–U: Untergruppen der HIV-1-Hauptgruppe M. (Nach Thomson et al. 2002,
mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

genetischer Variabilität zu erzeugen, behindern vor allem die hervorgerufen, zu der auch alle ursprünglich identifizierten
Entwicklung effektiver Impfstoffe. Eine gleichbleibend hohe Untergruppen gehören. Die O-Gruppe ist im Wesentlichen auf
Umsatzrate, bei der täglich Milliarden neuer Viren hergestellt Zentralafrika (Kamerun und dessen Nachbarländer) beschränkt,
werden, eine durchschnittliche Generationszeit von 2 bis 6 Ta- aber selbst dort ist die O-Gruppe eine Minderheit. Bisher wurden
gen, verbunden mit einer hohen Mutationsrate (eine Eigenschaft, wenige N-Fälle bekannt, ebenfalls alle aus Kamerun.
die HIV mit vielen anderen Retroviren teilt, die Replikationsfeh- Innerhalb der Hauptgruppe M wurden bisher neun Untergrup-
ler nicht korrigieren können), und eine Selektion durch Immu- pen identifiziert, die mit den Buchstaben A-D, F-H, J und K be-
nität führten zu einer schnellen genetischen Evolution. Seit dem zeichnet werden. Dabei können die Untergruppen A und F noch-
Beginn der HIV-1-Infektion haben die Unterschiede in den env- mals in A1 bis A3 bzw. F1 und F2 unterteilt werden. Innerhalb
Aminosäuresequenzen schon 25 bis 35 % innerhalb der verschie- dieser Untergruppen können auch regionale Cluster identifiziert
denen Untergruppen erreicht. Diese hohe Mutationsrate wird werden, z. B. die Untergruppe C aus Indien und Äthiopien, G aus
möglich, weil die Retroviren eine spezifische, fehlerreiche Form Spanien und Portugal oder B aus Thailand. Die Formenvielfalt wird
der Replikation haben. Dazu gehören auch alternative »Sprünge« noch dadurch verstärkt, dass zwischen den verschiedenen Unter-
der Reversen Transkriptase zwischen den beiden genomischen gruppen Rekombinationen auftreten können, wenn Patienten mit
RNA-Strängen, die in jedem Viruspartikel vorliegen, wodurch verschiedenen Untergruppen infiziert wurden. Diese im Blut zir-
wieder neue, mosaikartige Formen hergestellt werden können kulierenden, rekombinierten Formen (engl. circulating recombinant
(. Abb. 9.13). Die Mutationsraten bei HIV sind etwa 33-mal hö- forms, CRFs) wurden in vielen Fällen durch vollständige Sequen-
her als bei dem Pilz Neurospora crassa, aber 10-mal niedriger als zierung der Virusgenome charakterisiert und sind in . Abb. 9.13 in
bei dem Grippevirus Influenza A. ihrer Mosaikform dargestellt. . Abb. 9.14 zeigt die geographische
In früheren Klassifikationen wurden HIV-1-Isolate aufgrund Verteilung der verschiedenen genetischen Formen von HIV-1.
ihrer gag- und env-Sequenzen klassifiziert, die zunächst von ei- Zu Beginn der HIV-Epidemie rätselte man lange Zeit über
nem gemeinsamen Ursprung ausgingen. Die Entdeckung jeweils den Ursprung der bis dahin unbekannten Erkrankung. Das Er-
neuer Formen verlangte dann aber ein neues Klassifikations- gebnis einer Vielzahl von Untersuchungen ergab (vor allem auf
schema. Derzeit unterscheidet man drei phylogenetische Grup- der Basis der Evolution von DNA-Sequenzen und der jeweiligen
pen (M = Hauptgruppe, O = Ausreißer, N = non-M/non-O). geographischen Verteilung), dass die M-Gruppe von HIV-1 um
Weltweit werden die meisten Infektionen durch die M-Gruppe das Jahr 1930 (±10 Jahre) von Schimpansen auf den Menschen
9.2 · Retroviren
357 9

. Abb. 9.14 Geographische Verteilung verschiedener genetischer Formen von HIV-1. Die Frequenz der verschiedenen HIV-1-Untergruppen und rekombi-
nierten Formen wurde auf der Basis veröffentlichter Daten abgeschätzt. Die verschiedenen Länder sind entsprechend der überwiegenden Untergruppe
farblich markiert (grau: niedrige HIV-1-Erkrankungsrate). Die Kreisdiagramme geben die Verhältnisse der verschiedenen Untergruppen zueinander wieder;
die Größe der Kreise entspricht dem relativen Anteil HIV-1-Infizierter in der jeweiligen Region im Verhältnis zur Gesamtzahl. (Nach Ariën et al. 2007, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

»übergesprungen« ist (vgl. dazu auch . Abb. 9.12); die frühesten Die durch HIV hervorgerufene AIDS-Erkrankung endete
HIV-Infektionen konnten im Nachhinein in zwei Proben aus zunächst in fast allen Fällen tödlich, weshalb in vielen Labors an
dem Jahr 1960 in Westafrika nachgewiesen werden – und schon therapeutischen Ansätzen gearbeitet wurde. . Abb. 9.10 gibt ei-
damals zeigten diese beiden Proben starke Sequenzunterschiede. nen Hinweis auf die wichtigsten Ansatzpunkte: die Hemmung
Der Unterstamm B von HIV-1 erreichte den Menschen in Nord- des Eintritts des Retrovirus in die Zelle, um weitere Infektionen
amerika wohl um das Jahr 1968 (±2 Jahre). Der Ursprung der zu verhindern; die Verhinderung der Überschreibung in doppel-
HIV-2-Infektionen (Untergruppe A) im Menschen wird auf das strängige DNA durch Hemmung der Reversen Transkriptase; die
Jahr 1940 (±16 Jahre) und das der Untergruppe B auf das Jahr Vermeidung der Integration in das Wirtsgenom durch Hem-
1945 (±14 Jahre) gelegt. Die Genauigkeit dieser Daten hängt al- mung der Integrase; oder schließlich durch Protease-Inhibitoren,
lerdings an verschiedenen Annahmen in Bezug auf Mutations- um die Reifung der Viren und damit eine Neuinfektion zu ver-
und Rekombinationsraten; außerdem ist es bei derartigen Be- meiden. Die heute weit verbreitete hochaktive antivirale Thera-
rechnungen schwierig, die »molekulare Uhr« genau zu kalibrie- pie hat das Voranschreiten einer HIV-Infektion zu AIDS deutlich
ren. Wir können auch davon ausgehen, dass es diesen Übergang verlangsamt, sodass in den hoch entwickelten Ländern HIV zu
von Schimpansen auf Menschen nicht nur einmal gab, sondern einer chronischen Krankheit geworden ist, die aber eine lebens-
dass dies mehrfach und voneinander unabhängig geschah. Es lange antivirale Therapie erforderlich macht. Allerdings können
gibt bei vielen Affenarten dem HIV entsprechende Retroviren, bei dieser langen Anwendungsdauer auch toxische Effekte bei
die als SIV bezeichnet werden (engl. simian immunodeficiency den Patienten auftreten; außerdem ist die Entwicklung von Re-
virus); das SIV der Schimpansen ist mit dem HIV am engsten sistenzen des Virus gegenüber den verschiedenen Therapien auf-
verwandt. Entgegen früheren Vermutungen zeigte sich bei neue- grund seiner hohen Mutantionsraten ein deutlich zunehmendes
ren Untersuchungen, dass auch infizierte Affen an ähnlichen Problem.
Krankheitssymptomen gestorben sind wie AIDS-Patienten. Der Bald nach Ausbruch der AIDS-Epidemie wurde deutlich, dass
interessierte Leser sei an dieser Stelle auf eine sehr detaillierte, nicht alle HIV-Infizierten auch AIDS entwickelten: Das Virus
aktuelle Übersicht von Castro-Nallar et al. (2012) verwiesen. kann bei diesen Infizierten nicht in die Zellen eindringen, weil der
358 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

a 0,2 . Abb. 9.15 Häufigkeitsverteilung des CCR5-Δ32-


Allels in Europa. a Schematische Darstellung der
»Wikinger-Hypothese«: Das rote Quadrat markiert
den skandinavischen Ursprung des Allels, die
0,15 schwarzen Pfeile repräsentieren mögliche Verbrei-
tungen durch die Wikinger in den Süden Richtung
Frankreich und das Mittelmeer, in den Osten Rich-
0,1 tung Russland und nach Westen Richtung Island.
Die Konturlinien und Farben geben die Allelverteilung
in einem möglichen Zwischenstadium seiner Aus-
0,05 breitung wieder. b Die heutigen beobachteten Allel-
frequenzen. Die Quadrate stellen beobachtete Allel-
frequenzen in Populationen der jeweiligen Region
dar; die Konturlinien sind interpolierte Allelhäufig-
0 keiten. Die Häufigkeit entspricht der Farbskala rechts.
(Nach Galvani und Novembre 2005, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)
b 0,2

0,15

9 0,1

0,05

Andockpunkt, der Chemokin-Rezeptor CCR5 (. Abb. 9.10), de- dem Süden durch das heute vorherrschende Allel verdrängt
fekt ist. Die weitere Untersuchung deckte verschiedene Mutatio- wurde – und zwar vor allem durch die Römer, die vom Süden
nen in dem entsprechenden Gen auf; die häufigste ist ein Verlust her bis in die Mitte Deutschlands vorgedrungen waren und
von 32 bp (Gensymbol: CCR5-Δ32), was zu einer Verschiebung neue Krankheiten mitgebracht haben. Insbesondere Infektio-
des Leserasters und einem vorzeitigen Stoppcodon führt. Dieses nen durch das West-Nil-Virus werden durch einen funktions-
Allel ist vor allem in Nordosteuropa und in der Uralregion weit fähigen CCR5-Rezeptor behindert, sodass unter diesem In-
verbreitet (. Abb. 9.15) und erreicht im europäischen Durch- fektionsdruck das Deletionsallel eher schädlich war. Für aus-
schnitt eine Häufigkeit von etwa 10 %. Aufgrund populationsge- führliche Darstellungen beider Hypothesen siehe Galvani
netischer Überlegungen (7 Abschn. 11.5) kann man damit rech- und Novembre (2005) bzw. Faure und Royer-Carenzi (2008).
nen, dass etwa 1 % der europäischen Bevölkerung homozygot für
diesen »Defekt« sind. Diese Menschen sind damit weitgehend > Das HI-Virus ist ein typisches Retrovirus und vor ca. 90 Jah-
resistent gegen eine HIV-Infektion. Wenn heterozygote Träger ren von Schimpansen auf den Menschen übergesprungen.
infiziert werden, verlangsamt es die Ausbildung des AIDS-Krank- In den 1980er-Jahren haben die menschlichen Infektionen
heitsbildes deutlich. global epidemische Ausmaße angenommen. Eine 32-bp-
Deletion im Chemokin-Rezeptor-Gen CCR5 verleiht einem
*Verschiedene Autoren sind sich einig, dass das CCR5-Δ32-
Allel nur einmal entstanden ist, und zwar lange, bevor es
kleinen Teil der europäischen Bevölkerung Resistenz gegen
eine HIV-Infektion.
eine HIV-Infektion gab. Die zeitlichen Abschätzungen liegen
zwischen 5000 v. Chr. und 1000 n. Chr. Aufgrund der Häufig-
keitsverteilung in heutigen Populationen werden die Ur- 9.2.3 Retroelemente
sprünge in Skandinavien (. Abb. 9.15) oder im südlichen
Ural vermutet und eine Verteilung durch Wanderungen und Eine wichtige Klasse transponierbarer DNA-Sequenzen wird
Expansionen der jeweiligen Populationen. Für den Selek- aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit zu Retroviren (. Tab.
tionsdruck werden auf der einen Seite die häufigen Pocken- 9.2) unter der Bezeichnung Retrotransposons zusammenge-
Infektionen diskutiert, da das CCR5-Δ32-Allel auch bei einer fasst. Es gibt eine größere Anzahl von Familien unterschiedlicher
Pockeninfektion eine ähnliche Schutzwirkung hat, wie wir Retrotransposons (in Drosophila etwa 50), die sich in der Se-
das für HIV bereits oben diskutiert haben. Eine andere Mög- quenz und der Länge ihrer LTRs unterscheiden und auch im
lichkeit besteht darin, dass dieses Allel in der europäischen codierenden Bereich jeweils charakteristische Eigenschaften auf-
Population sehr weit verbreitet war und durch Eroberer aus weisen, sodass es möglich ist, jedes dieser Elemente einer be-
9.2 · Retroviren
359 9
stimmten Sequenzfamilie zuzuweisen. Die Struktur der LTRs ist In den folgenden Jahren nahmen aber entsprechende Be-
sowohl für die Transkription als auch für den Transpositionsme- richte zu, und wir können heute von über 100 vermutlichen
chanismus von entscheidender Bedeutung. Funktionsfähige Re- Ereignissen dieser Art allein bei Drosophila ausgehen – was
trotransposons bedürfen je zweier terminaler LTRs; Elemente natürlich an der weltweiten Verbreitung von Drosophila
mit nur einem LTR sind stets immobil. Die von Retrotranspo- liegt, aber auch daran, dass Drosophila und seine verwand-
sons codierten Enzyme unterscheiden sich natürlich teilweise ten Stämme genetisch so gut untersucht sind. Wenn man
von denen der Retroviren (so wird z. B. kein Hüllprotein ge- sich die übertragenen Transposons betrachtet, fällt auf, dass
braucht). Im Einzelnen codieren Retrotransposons für: 52,4 % DNA-Transposons sind, gefolgt von 42,6 % LTR-Trans-
4 eine Protease, posons und 5 % Nicht-LTR-Transposons. Dieses Spektrum
4 eine Reverse Transkriptase, erlaubt natürlich auch Hinweise auf den Mechanismus. Im
4 eine Ribonuklease H, Falle von LTR-Transposons wissen wir heute, dass sie infek-
4 eine Integrase. tiöse Partikel bilden können. Daher ist der Übergang zwi-
schen einem Retrotransposon und einem Retrovirus aber
Die wesentlichen Schritte des Transpositionszyklus eines Retro- auch etwas fließend: Lange Zeit wurde gypsy als ein Retro-
transposons bestehen in der Transkription des Elementes durch transposon betrachtet, bis seine Infektiosität entdeckt wur-
RNA-Polymerase II, die im Promotor des linken, also 5’-LTR die de; heute gilt gypsy als ein Retrovirus. Andere Mechanismen
RNA-Synthese initiiert und das gesamte Element in ein primäres des horizontalen DNA-Transfers schließen auch DNA-Viren
Transkript kopiert. Die Transkription endet im rechten, also 3’- (inklusive Bakteriophagen) ein sowie spezifische Wechsel-
LTR. Die Transkripte dienen zunächst zur Synthese der verschie- wirkungen zwischen Parasiten und ihren Wirten. In man-
denen bereits erwähnten Enzyme. Durch die Reverse Transkrip- chen Fällen ist aber auch noch nicht einmal die Richtung
tase können dann an weiteren primären Transkripten (über die des Gentransfers klar (für eine Übersicht siehe Loreto et al.
Zwischenstufe eines DNA/RNA-Hybridmoleküls) doppelsträn- 2008).
gige DNA-Moleküle gebildet werden. Dieses Molekül stellt eine
komplette Kopie des Transposons dar und kann linear oder zir- Zumindest einige Retrotransposons werden sowohl in der Keim-
kulär sein. Unter den zirkulären Molekülen findet man auch sol- bahn als auch in somatischen Zellen intensiv transkribiert. Das
che, die nur noch eine LTR besitzen, ähnlich wie es bei den RNA- erste bei Drosophila identifizierte Retrotransposon – copia – wur-
Molekülen beobachtet wird, die das Retrovirusgenom bilden. de aufgrund seines hohen Transkripttiters (Name!) aus kultivier-
Mithilfe der Integrase können die zirkulären DNA-Moleküle mit ten Zellen isoliert. In diesen kultivierten Zellen gibt es zwei
zwei LTRs dann an beliebigen Stellen ins Genom integriert wer- Haupttranskripte von 5 kb und 2 kb Länge. Das längere umfasst
den (vgl. dazu auch den Insertionsmechanismus eines Retro- das gesamte Retrotransposon: Es startet in der 5’-LTR und endet
virus; . Abb. 9.11). Allerdings besteht für die verschiedenen in der 3’-LTR; dabei hat es einen durchgehenden offenen Lese-
Transposons hinsichtlich der Integrationsstellen offenbar eine rahmen für ein Protein aus 1409 Aminosäuren. Die Proteinse-
gewisse Präferenz für bestimmte Sequenzen. Solche Präferenzen quenzen entsprechen den oben genannten vier Proteinen. Durch
können sich auf die allgemeine Basenzusammensetzung einer eine autokatalytische Protease wird das Protein in seine reife
Region (meist AT-reich) oder aber auf bestimmte Nukleotidse- Form überführt; eine Mutation in dem Bereich, der für das aktive
quenzen beziehen. Ausgesprochene Sequenzspezifität der Inser- Zentrum der Protease codiert, verhindert die Ausbildung der
tion hat man beispielsweise bei einigen Insertionen des Transpo- reifen Virus-ähnlichen Partikel. Das kürzere Transkript (2 kb) ist
sons copia im white-Locus oder denen des Transposons gypsy im offensichtlich ein alternatives Spleißprodukt und enthält die we-
bithorax-Locus von Drosophila gefunden. sentlichen Informationen, um Virus-ähnliche Partikel (engl. vi-
Die Struktur der primären Transkripte erklärt uns auch, auf rus-like particles, VLP) zu bilden, die im Elektronenmikroskop
welche Weise Retrotransposons flankierende Genomsequenzen nachweisbar sind. Die Menge der gebildeten copia-Transkripte
bei Transpositionen mit sich führen können. Unterbleibt näm- ist streng reguliert und hat ihr Maximum während des Larven-
lich eine Termination der Transkription in der rechten (3’-)LTR, stadiums (Yoshioka et al. 1990).
so liest die RNA-Polymerase die daran anschließenden Genom- Zur gleichen Gruppe wie copia werden auch die Ty-Elemente
DNA-Sequenzen mit. Bei einer reversen Transkription des Pri- der Hefen gezählt (engl. transposons in yeast, Ty). Die Transposi-
märtranskripts werden diese dann zu Bestandteilen des Retro- tion in Hefe ist ein sehr seltener Prozess und kommt mit einer
transposons und können an neuen Genompositionen integriert Frequenz von 10−5 bis 10−7 pro Ty-Element und Generation vor.
werden. Allerdings gibt es Situationen, in denen diese Frequenz deutlich
erhöht wird. Dazu gehören Umweltveränderungen wie tiefe
*Retrotransposons
Im Gegensatz zu Retroviren sind – zumindest die meisten –
nicht in der Lage, infektiöse (extrazellulä-
Temperaturen, UV-Strahlung oder Stress (z. B. Stickstoffman-
gel). Die erhöhte Transpositionsrate erlaubt möglicherweise eine
re) Partikel zu produzieren. Somit scheint eine »horizontale« schnellere Anpassung an veränderte Umweltbedingungen.
Ausbreitung zwischen Individuen nicht möglich. Allerdings Nach der Transkription der genomischen Ty-Elemente im
gab es seit Anfang der 1980er-Jahre erste Hinweise darauf, Zellkern werden die Ty-RNAs ins Cytoplasma exportiert, wo die
dass Transposons bei Drosophila übertragen werden könn- entsprechenden Proteine hergestellt werden. Dabei verbinden
ten. Man dachte zunächst, dass es sich dabei um Besonder- sich die Strukturproteine zu Virus-ähnlichen Partikeln, und die
heiten handelt, die im Detail aber nicht aufgeklärt wurden. Ty-RNA, tRNA und Ty-codierte Enzyme werden in diese Parti-
360 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Abb. 9.16 Struktur und Organisation eines typischen Ty-Elementes. a Die einzelnen Strukturelemente des Ty1-Genoms sind denen der Retroviren
sehr ähnlich, insbesondere die flankierenden LTR-Regionen mit den Domänen U3, U5 und R. b Die mRNA des Ty1-Transposons ist 5,7 kb lang und umfasst
9 die Bereiche zwischen den beiden R-Domänen der flankierenden LTRs. Die codierende Sequenz (5,2 kb) enthält zwei überlappende offene Leserahmen.
c Die genomische Struktur und die Proteindomänen sind dargestellt, die von den beiden Genen TYA und TYB codiert werden. d Durch proteolytische
Spaltung des Translationsprodukts P1 entsteht das Protein 2, das Capsid (CA); durch Spaltung von P3 entstehen die einzelnen Enzyme: PR (Protease),
IN (Integrase) und RT-RH (Reverse Transkriptase). PBS: tRNA-Primer-Bindestelle; PPT1 und PPT2: vermutete Polypurin-Regionen (engl. putative polypurine
tracts). (Nach Roth 2000, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

kel eingeschlossen. In einem Reifeprozess werden die Partikel die mittels einer Reversen Transkriptase in DNA umgewandelt
umgebaut, die RNA durch die Reverse Transkriptase umge- werden, wie wir es bereits für Retrotransposons gesehen haben.
schrieben und der gesamte Komplex in den Zellkern zurück- Man hat daher diese Gruppe von Transposons auch Retroposons
transportiert; dort kann dann das Ty-Element in eine neue Stelle genannt, im Unterschied zu den Retrotransposons, die durch
des Genoms integrieren. Die Bedeutung der Virus-ähnlichen LTRs und die übrigen Merkmale retroviraler Elemente charakte-
Partikel für den Transpositionsprozess wurde durch die Beob- risiert sind. Diese Bezeichnung erscheint sehr sinnvoll, da sie
achtung gestützt, dass Mutationen in den Genen für diese Struk- eine wesentliche Eigenschaft der betreffenden Transposons her-
turproteine in vivo vor der Transpositionsreaktion schützen kön- ausstellt – die Transposition durch einen Mechanismus, der eine
nen. Die Ähnlichkeit des Ty-Elementes mit Retroviren wird Funktion der Reversen Transkriptase einschließt. Sie soll daher
deutlich, wenn man sich die genomische Struktur dieses Elemen- im Folgenden auch beibehalten werden, obwohl sie in der wis-
tes betrachtet (. Abb. 9.16). Mitglieder der copia/Ty-Element- senschaftlichen Literatur nicht durchgängig verwendet wird. Im
Familie kommen nicht nur bei Drosophila und Hefen vor, son- Übrigen besitzen Retroposons keine terminalen direkten oder
dern sind darüber hinaus in Pflanzen, Amphibien und Schlangen invertierten Repeats. Ihre innere Struktur ist häufig durch ORFs
weit verbreitet. Üblicherweise beträgt die Kopienzahl im Genom gekennzeichnet, die für DNA-Bindeproteine, Reverse Transkrip-
10 bis 100; in einigen Pflanzen (Gerste, Bohne) kann sie aber tasen und Invertasen codieren. Zu den Retroposons gehören
auch bis zu 100.000 betragen. auch prozessierte Pseudogene. Die bekanntesten Retroposons
sind:
> Retrotransposons zeichnen sich durch eine genau fest-
4 der I-Faktor von Drosophila,
gelegte Struktur mit LTRs und einer Reihe Protein-codie-
4 die LINEs-Familie,
render Gene aus, insbesondere durch eine Reverse
4 die SINEs-Familie.
Transkriptase. Trotz ihrer Ähnlichkeit zu Retroviren bilden
sie im Allgemeinen keine infektiösen Partikel, sondern > Retroposons sind durch einen Transpositionsmechanis-
werden als Bestandteile des Genoms vererbt. mus gekennzeichnet, der eine reverse Transkription poly-
adenylierter RNA einschließt.
Neben den zuvor beschriebenen Gruppen von Transposons ist
noch eine Vielzahl anderer Transposons bekannt, die keine auf-
fälligen gemeinsamen Struktureigenschaften zeigen. Lediglich Der I-Faktor
der zugrunde liegende Transpositionsmechanismus könnte ih- Ähnlich wie der P-Faktor wurde auch der I-Faktor durch geneti-
nen allen gemein sein. Dafür spricht, dass viele dieser bewegli- sche Experimente entdeckt, die der P-Element-induzierten Hy-
chen Elemente eine Poly(A)-Region an einem Ende besitzen. Das briddysgenese (. Abb. 9.6) sehr ähnlich sind. Es stellte sich dann
wird als Anzeichen dafür angesehen, dass die Transposition über heraus, dass auch der I-Faktor ein Transposon mit einer Länge
den Zwischenschritt von polyadenylierten Transkripten erfolgt, von 5371 bp ist. Im Genom wird es an beiden Seiten von einer
9.2 · Retroviren
361 9
12-bp-Duplikation genomischer DNA flankiert, die aber bei ver- tion erfolgt durch die RNA-Polymerase II. Innerhalb einer Art
schiedenen Insertionsstellen von I-Elementen in ihrer Länge sind die verschiedenen Kopien der L1-Sequenzfamilie weniger
zwischen etwa 10 und 14 bp variieren kann. Der I-Faktor besitzt divergent in ihren Nukleotidsequenzen als zwischen verschiede-
zwar keine terminalen Wiederholungseinheiten, aber die Se- nen Organismen. Man muss daher davon ausgehen, dass die
quenzen an den Enden sind stark konserviert. Er ist am rechten Sequenzfamilie einer Art aus einem oder einigen wenigen ur-
Ende durch die Sequenz TCA(TAA)n charakterisiert; kurz vor sprünglichen Elementen abzuleiten ist.
dem 3’-Ende liegt ein Polyadenylierungssignal (5’-AATAAA-3’), Die Länge der L1-Elemente unterscheidet sich zwischen den
das eine Polyadenylierung der Transkripte ermöglicht. In seinem verschiedenen Genomen. So ist die menschliche L1-Sequenz
mittleren DNA-Bereich besitzt der I-Faktor zwei ORFs, die durch (L1Hs = L1 von Homo sapiens) 6,5 kb lang, während die der
ein Intron von 471 bp (mit einem zusätzlichen internen, 228 bp Maus (L1Md = L1 von Mus domesticus) 7 kb lang ist. Komplette
langen ORF) getrennt werden. ORF1 codiert für ein Protein, das L1-Elemente besitzen einen Poly(A)-Bereich am 3’-Ende und
den gag-Proteinen der Retroviren sehr ähnlich ist. ORF2 codiert haben flankierende Duplikationen der Insertionsstelle im Genom,
für ein Protein, das Ähnlichkeiten mit einer Endonuklease, einer die ähnlich wie beim I-Faktor für verschiedene Genomfragmente
Reversen Transkriptase und RNase-H-Molekülen hat (Chabois- zwischen 5 und 19 bp in der Länge variieren können. Diese struk-
sier et al. 1990). turellen Eigenschaften deuten darauf hin, dass der Insertions-
Bei Drosophila gibt es in Bezug auf den I-Faktor zwei Stäm- mechanismus über ein polyadenyliertes Transkript und einen
me: induzierende Stämme (I-Stämme), die etwa zehn Kopien des Reverse-Transkriptase-Mechanismus verläuft. Der überwiegende
I-Faktors an verschiedenen Stellen des Genoms integriert haben, Teil der genomischen L1-Elemente (die auch die früher KpnI-Fa-
und reaktive Stämme (R-Stämme) ohne funktionelle I-Faktoren. milie genannten Sequenzen einschließen) ist defekt und meist am
Die I-Faktoren des I-Stamms sind reprimiert und transponieren 5’-Ende unvollständig (engl. truncated), wie man es für unvoll-
nicht in I-Stämmen. Wenn aber R-Weibchen mit I-Männchen ständige Produkte der Reversen Transkriptase erwartet. Nur weni-
gekreuzt werden, sind die I-Faktoren in der Keimbahn von Flie- ge Tausend der Genomelemente haben ihre vollständige Länge.
genweibchen aktiv, die aus dieser Kreuzung hervorgehen. Dies Für die kürzeren Elemente beobachtet man eine zunehmende
führt zu vielfältigen Mutationen und im Extremfall auch zu em- Variabilität in der DNA-Sequenz der ORFs. Das deutet auf einen
bryonalem Tod (Hybriddysgenese). Diese beobachtete Sterilität evolutionär älteren Ursprung solcher defekten Elemente hin, die
ist vollständig maternal determiniert und unabhängig vom Ge- allmählich durch Mutationen degenerieren. Eine Übersicht über
notyp des Embryos. Die Anzahl der toten Embryonen ist ein die Bedeutung der L1-Elemente für die Evolution im Genom gibt
direktes Maß der Transpositionsfrequenz des I-Faktors. Die . Abb. 9.17a–e.
I-Faktor-Transposition ist offensichtlich auf die weibliche Keim-
bahn beschränkt; es wird nicht in der männlichen Keimbahn C In Pflanzen wurde 1987 Cin4 als erstes L1-Element charak-
terisiert, und zwar als eine Insertion im 3’-untranslatierten
beobachtet.
Bereich im A1-Gen von Mais. Im Folgenden wurden mehrere
> Der I-Faktor von Drosophila ist ein Retroposon, das in ähn- Kopien identifiziert, die im 3’-Bereich identisch mit Cin4
licher Weise wie der P-Faktor Hybriddysgenese auszulösen waren, allerdings im 5’-Bereich eine große Heterogenität
vermag. aufwiesen. Man schätzt, dass das Maisgenom etwa 50 bis
100 Kopien des Cin4-Elementes enthält; die größte ist 6,6 kb
LINEs lang.

LINE-1 (engl. long interspersed nuclear elements; L1) ist das > Im Säugergenom gibt es Retroposons, deren vorherr-
wichtigste Retroposon in Säugern. Dabei handelt es sich um schender Vertreter das LINE-1-Element ist. Seine Länge
repetitive DNA-Sequenzen von 4 bis 10 kb Länge, die sich mit (4–10 kb) kennzeichnet es als long interspersed nuclear ele-
etwa 500.000 Kopien über das Genom verteilt zwischen anderen ment. Es kommt im menschlichen Genom mit einer Häu-
DNA-Sequenzen eingestreut finden; das macht in der Summe figkeit von bis zu 1 Mio. Kopien vor. Die Transkription er-
etwa 17 bis 20 % des Genoms aus. L1-Elemente integrieren be- folgt durch RNA-Polymerase II.
vorzugt in A/T-reichen genomischen Regionen. Obwohl im
menschlichen Genom nur etwa 80 bis 100 Kopien aktiv sind, SINEs
wird die Frequenz der Retrotransposition auf etwa 1 pro 50 Sper- Die short interspersed nuclear elements sind ebenfalls repetitive
mien geschätzt; bei der Maus finden wir ca. 3000 potenziell aktive DNA-Sequenzen mit etwa 1 Mio. Kopien im Genom, die zwi-
L1-Elemente. schen andere DNA-Sequenzen eingefügt, aber nur einige Hun-
Retroposons mit DNA-Sequenzen, die den L1-Elementen dert Basenpaare (weniger als 500 bp) lang sind. SINEs repräsen-
sehr ähnlich sind, wurden in vielen Säugergenomen nachgewie- tieren damit immerhin etwa 10 % der menschlichen DNA; man
sen. Offenbar leiten sie sich alle von einem ursprünglichen Ele- findet im Mittel alle 5 kb ein solches Element (bevorzugt in G/C-
ment ab, das zwei ORFs besaß. Der erste, kürzere ORF codiert für reichen Regionen). Im Gegensatz zu den zuvor besprochenen
ein DNA-bindendes Protein, das Ähnlichkeit mit dem retrovira- Retroposons haben SINEs keine eigenen Protein-codierenden
len gag-Genprodukt aufweist. Das Protein, das durch den zwei- DNA-Sequenzen. Die Gesamtlänge von kompletten SINEs liegt
ten ORF codiert wird, hat die Eigenschaften einer Endonuklease bei 300 bp, wie sie z. B. die am besten charakterisierte SINE-Fa-
und einer Reversen Transkriptase; es ist dadurch in der Lage, sich milie in Säugern besitzt, die menschliche Alu-Familie. Identifi-
nach der Transkription im Genom zu bewegen. Die Transkrip- ziert wurde diese Familie von Retroposons als repetitive DNA-
362 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

a b

c d

e f
trans
U6-RNA

g h

. Abb. 9.17 Genetische Bedeutung von L1-Retroelementen. a Typische Insertion eines am 5’-Bereich verkürzten L1-Elementes in eine neue Stelle des
Genoms. b Modifikation der Standard-Insertion, bei der das 5’-Segment invertiert ist. c Wenn ein L1-Element unterhalb oder oberhalb zusätzliche Sequenz-
elemente enthält, können diese an die neue Stelle im Genom mit übertragen werden. d Die Insertion von L1-Elementen bewirkt manchmal die Deletion
einer Sequenz (Δ) oder Rearrangements (Pfeilköpfe) an der 5’-Integrationsstelle. e Während des Übertragungsprozesses können andere RNA-Moleküle (hier
als Beispiel U6) eingefangen werden und als chimäres Molekül integriert werden. f Ein L1-Element kann in trans Aktivitäten zur Insertion nicht-autonomer
RNAs unterstützen. g Chromosomale Duplikationen oder Deletionen können aufgrund von ungleichen Rekombinationen zwischen Elementen (in diesem
Fall Alu-Elementen) auftreten, die schon in das Genom integriert sind. h Insertion mobiler Elemente kann eine genomische Instabilität bewirken, was zu
heterogenen, illegitimen Rekombinationsereignissen führen kann. (Nach Deininger et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Sequenzfamilie, deren Kopien zwischen andere DNA-Sequenzen


eingefügt sind und die durch das Restriktionsenzym AluI ge-
schnitten werden können.
Alu-Elemente besitzen eine interne Wiederholungsstruktur,
die sich auf die Duplikation einer etwa 130 bp langen DNA-Se-
quenz zurückführen lässt (. Abb. 9.18). Allerdings unterschei-
den sich die linke und rechte Hälfte des Elementes sowohl in
ihrer allgemeinen Sequenz (da sie nur ca. 70 % Basenhomologie
besitzen) als auch in der Tatsache, dass nur die linke Wiederho-
lungseinheit einen RNA-Polymerase-III-Promotor besitzt. Die . Abb. 9.18 Molekulare Struktur eines Alu-Elementes. Alu-Elemente sind
Alu-Elemente enthalten zwar keine Protein-codierenden DNA- ungefähr 300 bp lang; sie sind aus zwei ähnlichen, aber nicht äquivalenten
Sequenzen, sie zeigen aber eine auffallende Homologie zu einer Hälften aufgebaut (linker und rechter Arm). Der linke Arm enthält funktio-
nelle, aber schwache A- und B-Boxen des internen Promotors der RNA-Poly-
RNA, der 7SL-RNA, die zu den kleinen cytoplasmatischen
merase III. Der rechte Arm enthält im Vergleich zum linken Arm eine 31-bp-
RNAs (engl. small cytoplasmic RNA, scRNA) gehört. 7SL-RNA Insertion. Die beiden Arme sind in der Mitte durch eine A-reiche Region ge-
ist ein Bestandteil des intrazellulären Transmembrantransport- trennt; am rechten Ende befindet sich ein Poly(A)-Schwanz. (Nach Häsler
systems und wird, wie auch 5S-rRNA, U6-snRNA und tRNAs, und Strub 2006, mit freundlicher Genehmigung von Oxford University Press)
9.2 · Retroviren
363 9
a

. Abb. 9.19 Prozessierte Pseudogene. a, b Prozessierte Pseudogene werden gebildet, wenn das Gen transkribiert und die reife mRNA ausgebildet ist.
c Die Retroposition des Gens wird durch die L1-Endonuklease-Domäne vermittelt (violettes Rechteck), die einen ersten Schnitt (gelber Stern) in der geno-
mischen DNA an der Insertionsstelle setzt (Zielsequenz TTAAAA). d Dieser Schnitt ermöglicht es der L1-Reversen-Transkriptase (rosa Oval), an dieser Stelle
zu starten und den parentalen mRNA-Strang als Matrize zu benutzen. e, f Es wird ein zweiter Schnitt gesetzt und die Synthese des zweiten Strangs kann
beginnen. g Durch die zwei Schnitte wird eine cDNA-Synthese in den Überhang-Regionen ermöglicht. Dieser Prozess führt zu einer Verdoppelung der
Sequenzen, die der Zielsequenz benachbart waren. Dies ist ein molekulares Charakteristikum retrotransponierter Gene; weitere sind ihre Intronlosigkeit
sowie die Anwesenheit von Poly(A)-Sequenzen. Die direkten Wiederholungseinheiten und die Poly(A)-Sequenzen degenieren allerdings im Laufe der Zeit
und sind daher nur in evolutionär jungen Retrokopien zu identifizieren. (Nach Kaessmann et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)
364 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Transferase (115)
Rezeptor (111)
Endopeptidase (110)
Strukturmolekül (172) Zinkbindung (98) Integrase (59)
Nukleinsäurebindung (172) Hydrolase (95) Proteinbindung (59)
DNA-Bindung (201) Isomerase (84) Ligase (54)
Oxidoreduktase (264) Chaperone (46)
Bindung (44)

nicht klassifiziert (804) andere (854)

ribosomale Proteine (1134)


9
. Abb. 9.20 Abstammung prozessierter Pseudogene. Die Klassifizierung der prozessierten Pseudogene erfolgt entsprechend funktioneller Kategorien.
»Nicht klassifiziert« sind solche Pseudogene, die von Genen abstammen, die nicht in vorgegebene Kategorien fallen; »andere« sind solche, deren Kate-
gorien insgesamt nur wenige Mitglieder umfassen. Es fällt auf, dass der größte Einzelblock solche Gene sind, die für ribosomale Proteine codieren.
(Nach Zhang et al. 2004, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

durch RNA-Polymerase III transkribiert (7 Abschn. 3.5). In an- gebreitet. Dabei können die jeweiligen Insertionen als
deren Säugergruppen findet man SINEs, die sich von anderen »diagnostische Marker« für evolutionsbiologische Analysen
RNA-Polymerase-III-transkribierten Genen, z. B. U3-snRNA verwendet werden.
oder t-RNA, ableiten. Auffallend ist hierbei, dass die SINEs oft
im 3’-Bereich der ursprünglichen RNAs verkürzt (engl. trunca- Prozessierte Pseudogene
ted) sind. Die SINE-Elemente der Maus werden als B1 (von der Pseudogene haben große Sequenzähnlichkeiten mit funktio-
7SL-RNA abgeleitet) und B2 (von tRNA abgeleitet) bezeichnet. nellen Genen; sie werden aber üblicherweise nicht transkri-
Es gibt viele Hinweise darauf, dass SINE-Elemente für ihre biert,  weil ihnen entweder funktionelle Promotoren oder
Transposition die von L1-Elementen codierten Proteine benöti- andere regulatorische Elemente fehlen. Prozessierte Pseudo-
gen (. Abb. 9.17f). gene  (auch als Retropseudogene bezeichnet; engl. processed
Die neue Insertion von SINEs in Introns kann zu einem ver- pseudogenes) sind durch Retrotransposition der mRNA funk-
änderten Spleißen führen, da die Alu-Elemente über verschiede- tioneller Gene durch LINE-1-Elemente in das Genom eingefügt
ne Spleißstellen verfügen (neun potenzielle 5’-Spleißstellen und worden (. Abb. 9.19). Ihre typischen strukturellen Eigenschaf-
14 potenzielle 3’-Spleißstellen). So führt eine Mutation im In- ten sind
tron 6 des CTDP1-Gens (C-terminale Domäne der RNA-Poly- 4 das Fehlen von Introns,
merase II, Phosphatase-Untereinheit) zunächst zu einem verän- 4 der Besitz einer Poly(A)-Sequenz am 3’-Ende und
derten Spleißen eines Alu-Exons und schließlich zu einem kom- 4 das häufige Fehlen des 5’-Endes.
plexen Krankheitsbild aus angeborenen Katarakten, Fehlbildun-
gen im Gesicht und Neuropathien. Aber auch ungleiche Prozessierte Pseudogene haben oftmals viele Mutationen an-
Rekombinationen (. Abb. 9.17g) und eine Kopf-zu-Kopf-An- gehäuft, wie Verschiebungen der Leseraster, Stoppcodons
ordnung der Alu-Elemente (. Abb. 9.17h) können zu verschie- oder eingestreute Wiederholungselemente. Im Mausgenom
denen Krankheitsformen bzw. zu genomischer Instabilität der sind etwa 5000 solcher prozessierter Pseudogene bekannt,
entsprechenden Region führen. beim Menschen etwa 8000. Man kann sie als »molekulare
Fossilien« betrachten, da sie bedeutende Ressourcen für evo-
*Alu-Elemente sind in den Vorläufern der Primaten und Na-
ger aus der 7SL-RNA entstanden und hatten als monomeres
lutionäre Betrachtungen und für die vergleichende Genom-
forschung darstellen. Experimentell können sie allerdings
Element zunächst eine Länge von nur ungefähr 150 bp. Spä- Schwierigkeiten bereiten, da ihre Sequenzen in der PCR oder in
ter in der Evolution der Primaten fusionierten zwei Mono- Hybridisierungsexperimenten mit den »elterlichen« Genen in-
mere zu dem ca. 300 bp langen Dimer. Im weiteren Verlauf terferieren; auch in den Datenbanken werden solche Gene
der Evolution wurden einige SINE-Elemente durch Mutatio- manchmal noch irrtümlich als funktionell bezeichnet (vgl. dazu
nen inaktiv, neue Gruppen entstanden und haben sich aus- http://www.pseudogene.org). Viele prozessierte Pseudogene
9.2 · Retroviren
365 9
stammen von Genen ab, die für ribosomale Proteine codieren; 9.2.4 Mobile Elemente in Introns der Gruppe II
einen allgemeinen Überblick dazu vermittelt . Abb. 9.20. Es gibt
extreme Beispiele, so sind z. B. mehr als 140 Pseudogen-Kopien Introns der Gruppe II (7 Abschn. 3.3.5) sind große RNA-Moleküle,
des Gens für das ribosomale Protein RPL21 über das menschli- die autokatalytische Spleiß-Eigenschaften haben und daher auch
che Genom verteilt. als Ribozyme bezeichnet werden (siehe auch 7 Abschn. 3.5.4).
Sie kommen in Organellen von Protisten, Pilzen, Algen und
C Prozessierte Pseudogene sollten von einer anderen Klasse Pflanzen vor, aber auch in Bakterien. Diese Introns bilden spezi-
von Pseudogenen unterschieden werden, die durch Dupli- fische Sekundärstrukturen aus, die durch sechs größere Domänen
kationen von Genomsequenzen entstanden sind und gekennzeichnet sind (. Abb. 9.21a). Die Spleißreaktion der meis-
durch Verlust ihrer Regulationselemente oder aufgrund von ten Gruppe-II-Introns wird durch Proteine unterstützt, die durch
Mutationen (z. B. Deletionen) nicht funktionell sind. Beide das Intron selbst codiert werden (z. B. Maturase) oder die vom
Arten von Pseudogenen lassen sich strukturell aufgrund Wirt zur Verfügung gestellt werden. Einige der Protein-codieren-
ihrer Entstehung leicht unterscheiden. Genduplikationen den Introns der Gruppe II treten auch als mobile Elemente auf.
enthalten noch ihre Introns und besitzen keine 3’-termina- Sie können effizient in intronlose Allele desselben Gens inte-
len Poly(A)-Regionen, da diese erst posttranskriptionell grieren, aber mit geringerer Frequenz auch an anderen Stellen
angefügt werden. Prozessierte Pseudogene hingegen ent- des Genoms. Die Mobilität hängt von den Funktionen der Pro-
halten häufig terminale Poly(A)-Bereiche, aber keine In- teine ab, die in dem Intron codiert werden (Endonuklease und
trons, da diese bereits während der Transkription entfernt Reverse Transkriptase; . Abb. 9.21b), aber natürlich auch von der
werden. Intron-RNA.
Da Gruppe-II-Introns ihre Ziel-DNA hauptsächlich über die
> Es gibt zwei Arten von Pseudogenen. Die eine entsteht Basenpaarung der Intron-RNA erkennen, können sie durch Ver-
durch reverse Transkription polyadenylierter mRNAs und änderungen dieser Intron-RNA auch auf andere Ziele umgelenkt
darauffolgende Integration ins Genom. Die zweite Art werden. Diese Eigenschaft, verbunden mit einer hohen Frequenz
leitet sich von duplizierten Genen ab, die aufgrund von und Spezifität der Insertion, ermöglicht es, mobile Gruppe-II-
Defekten (z. B. durch ein fehlendes 5’-Ende) nicht funk- Introns auch als programmierbare Vektoren zum Ausschalten
tionsfähig sind. spezifischer Gene in Bakterien zu verwenden (»Targetron«).

a EBS1 b
δ 2’-OH
A
EXON 1 EXON 2
EBS2
1. Schritt
δ’
III

EBS3
κ EXON 1 -OH EXON 2
IV
II α
2. Schritt
ORF
ζ
V
I ζ’ EXON 1 EXON 2 +
κ’ -OH
ε’ AGC
λ’ verbundene Exons Intron-„Lasso”
λ
λ G
ε A VI
IBS1 IBS3
3’-EXON
α’ . Abb. 9.21 Allgemeine Eigenschaften der selbstspleißenden Introns der
IBS2 Gruppe II. a Struktur eines typischen mobilen Elementes (basierend auf
RmInt1 von Sinorhizobium meliloti). In der Sekundärstruktur des noch nicht
5’-EXON gespleißten Introns sind die sechs helikalen Ribozym-Domänen von I bis VI
durchnummeriert; EBS1–3 sind die entsprechenden Exon-bindenden Se-
quenzen und IBS1–3 die Intron-bindenen Sequenzen. Mit griechischen
IEP Buchstabenpaaren sind längere doppelsträngige Bereiche markiert (α-α’, ε-ε’,
ζ-ζ’, λ-λ’, κ-κ’). Die Intron-codierten Proteine (engl. intron encoded protein, IEP),
RT
LtrA des ltrB-Introns von Lactobacillus lactis und RmInt1, sind gezeigt; die
0 1 2 2a 3 4 5 67 X D En
Proteine enthalten mehrere Domänen der Reversen Transkriptase (RT0–7)
und einer Maturase (X). Die DNA-bindende Domäne (D) und die Endonukle-
ase-Domäne (En) sind nur in LtrA enthalten, das daher auch länger ist (599
LtrA 599 aa Aminosäuren statt 419). b Die beiden Schritte in der Umesterungsreaktion
der Gruppe-II-Introns; das ausgestülpte A in der Ribozym-Domäne VI ist an-
Rmlnt1 419 aa
gegeben. (Nach Toro 2003, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)
366 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

*vollen
Die Bedeutung mobiler Retroelemente in Introns ist in ihrer
Breite noch unverstanden. Wie andere transponierba-
nismen den wechselnden Anforderungen des Lebensraumes ge-
recht werden. Hierzu ist auch die Entstehung von Mechanismen
re Elemente könnten auch die mobilen Elemente der Grup- zu rechnen, die es den Zellen gestatten, zwischen einem vegetati-
pe-II-Introns eine wichtige Rolle bei der vertikalen Diversi- ven und einem sexuellen Fortpflanzungsmodus zu wechseln.
fikation durch Rekombination und genetische Umorganisa- Ciliaten zeichnen sich durch besonders komplizierte Mecha-
tionen gespielt haben. Die spezifischen Eigenschaften, näm- nismen aus, die für einen Wechsel zwischen einem generativen
lich ihr autokatalytisches Spleißen, das Vorkommen einer und einem vegetativen Zustand der Zelle verantwortlich sind.
Reversen Transkriptase und die Mobilität deuten darauf hin, Grundlage dieser Schaltmöglichkeit ist der Besitz zweier Zell-
dass sie eine aktive Rolle in der Evolution der Bakterien kerne, der mit dem Begriff Kerndualismus beschrieben wird.
spielten. So können sie beispielsweise für die Anpassung Einer der beiden Zellkerne steht im Dienst generativer, also se-
der thermophilen Cyanobakterien an extreme Umweltbe- xueller Prozesse, während der andere Zellkern für die vegetativen
dingungen wichtig gewesen sein. Funktionen der Zelle verantwortlich ist. Die Kontinuität der ge-
netischen Konstitution ist, wie bei mehrzelligen Organismen,
> Introns der Gruppe II können auch Proteine codieren, die dadurch garantiert, dass der vegetative Kern aus dem generativen
eine Mobilität dieser Introns im Genom ermöglichen. durch eine Kernteilung entsteht, der jedoch keine Zellteilung
folgt. Bevor der vegetative Kern seine Funktion erfüllen kann,
sind seine Chromosomen komplexen Veränderungen unterwor-
9.3 Umlagerung von DNA-Fragmenten fen. . Abb. 9.22 zeigt den Konjugationszyklus der Ciliaten mit
der Entwicklung des Makronukleus.
9.3.1 Kerndualismus: Mikro- und Makronuklei Der Kerndualismus mit einem generativen und einem vege-
9 in einer Zelle tativen Kern ist ein allgemeines Kennzeichen aller Ciliaten. Der
generative Mikronukleus durchläuft vor dem sexuellen Paa-
Einzellige Organismen können auf unterschiedliche Anforderun- rungsprozess, der Konjugation, einen Meiosezyklus, der zur Bil-
gen ihrer Umgebung nicht durch die differenzielle Funktion ein- dung von vier haploiden Mikronuklei führt. Drei dieser Kerne
zelner Zellgruppen reagieren, wie das bei multizellulären Organis- degenerieren, während der vierte eine mitotische Teilung durch-
men möglich ist. Dennoch können sie durch spezialisierte Mecha- läuft, die zwei haploide Pronuklei ergibt. Während der Paarung

a b
Füttern

Cyste

Hungern
vegetative
Proliferation

Zellpaarung

Entwicklung des
Makronukleus
. Abb. 9.22 Konjugationszyklus bei Ciliaten. a Der Lebenszyklus von Oxytricha trifallax mit zwei Makronuklei (beige) und zwei Mikronuklei (blau). Wenn
Nährstofforganismen (üblicherweise die Alge Chlorogonium) erreichbar sind, proliferieren die Ciliaten kontinuierlich. Hunger induziert jedoch Cystenbil-
dung oder Konjugation von Zellen. In einer Cyste verbleiben nur ein Makronukleus und ein Mikronukleus. Trockene oder gefrorene Cysten bleiben über
Jahrzehnte lebensfähig; sie schlüpfen im Wasser, das Nährstofforganismen enthält und setzen die Proliferation fort. Bei der Paarung verschmelzen zwei Zel-
len, führen eine Meiose durch (es sind dann zeitweise acht haploide Mikrokerne sichtbar) und tauschen die haploiden Makrokerne aus. Aus zwei haploiden
Mikronuklei bildet sich ein diploider Mikronukleus. Die zwei neuen Mikronuklei teilen sich mitotisch, und einer der beiden entwickelt sich zu einem neuen
Makronukleus. Die nicht benutzten Mikronuklei (nicht gezeigt) und der alte Makronukleus (2 X) degenerieren. Die verbleibenden neuen diploiden Mikro-
nuklei teilen sich erneut und ergeben zwei Mikronuklei. Am Ende der Entwicklung teilt sich der Makronukleus, sodass die volle Anzahl von zwei Makronu-
klei und zwei Mikronuklei im Zellkern wiederhergestellt ist. Die Zellen setzen die Proliferation fort, solange Nahrung vorhanden ist, oder bilden andernfalls
wieder Cysten. b Lichtmikroskopische Aufnahme von Oxytricha noca; die Anfärbung erfolgte zur Darstellung der vier Mikronuklei (mi) und der zwei Makro-
nuklei (ma). (Nach Prescott 2000, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
367 9

. Abb. 9.23 Entwicklung des Makronukleus in Stylonychia lemnae. Die Cilien (grün) sind durch einen α-Tubulin-spezifischen Antikörper dargestellt; die
DNA erscheint durch eine Gegenfärbung blau. In der Zeitachse ist das Auftreten der wichtigsten Stadien der Makrokernentwicklung angegeben. Oben, von
links nach rechts: (1) Zwei Stylonychia-Zellen mit unterschiedlichem Paarungstyp während der Konjugation; der alte Makrokern wird abgebaut. (2) Eine Stylo-
nychia-Zelle enthält Fragmente des alten Makrokerns und eine Makronukleus-Anlage, die wegen des geringen DNA-Gehalts nur schwach angefärbt ist.
(3) Eine Stylonychia-Zelle in der zweiten DNA-Synthese-Phase; sie enthält einen vergrößerten zukünftigen Makronukleus. (4) Eine Zelle enthält einen reifen
Makronukleus mit Replikationsbanden nahe an dessen distalen Spitzen. (5) Stylonychia mit einem reifen Makronukleus und zwei Mikronuklei. Unten sind
morphologische Details der einzelnen Schritte dargestellt (von links nach rechts): (1) Mikrokerne während der Meiose (mm) und Fragmente des alten Makro-
kerns (oM). (2) Tochterkerne (m) aus einem diploiden Synkaryon bilden Vorläufer für neue Mikrokerne oder den zukünftigen Makronukleus. (3) Zuneh-
mende Amplifikation der Chromosomen der Mikrokerne führt zu gebänderten polytänen Chromosomen in den Anlagen des Makronukleus (A1–A5).
(4) Nach dem Abbau der polytänen Chromosomen enthält der zukünftige Makronukleus nur noch wenig DNA (P). (5) Die Replikation der verbleibenden
DNA erfolgt in einer zweiten DNA-Synthese-Runde (R). (6, 7) Ein früher Makronukleus (eM) und ein verlängerter, reifer Makronukleus sind dargestellt.
(Nach Postberg et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

zweier Zellen (die von entgegengesetzten Paarungstypen ab- Diese ungewöhnlichen Vorgänge auf dem Kernniveau werden
stammen) wird jeweils ein haploider Mikronukleus ausgetauscht von ebenso ungewöhnlichen Vorgängen auf der DNA-Ebene be-
und bildet mit dem zelleigenen haploiden Pronukleus ein Synka- gleitet. Vergleicht man die DNA von Mikro- und Makronukleus
ryon. Der nunmehr diploide generative Kern der Exkonjuganten in Renaturierungsexperimenten (7 Abschn. 2.1.4), so fällt auf,
teilt sich mitotisch. Einer der Tochterkerne bildet den neuen dass im Mikronukleus ein erheblicher Anteil der DNA zur repe-
generativen Mikronukleus der Zelle, der andere entwickelt sich titiven DNA-Fraktion gehört (im Ciliaten Stylonychia etwa 55 %).
zum vegetativen Makronukleus. Der alte Makronukleus der Ex- Im Makronukleus kann man hingegen durch Renaturierungs-
konjuganten ist während der Konjugation degeneriert, sodass die experimente keine repetitiven Sequenzen mehr nachweisen.
Zelle nunmehr wieder aus zwei Kernen mit prinzipiell identischer Gleichzeitig mit der Verminderung der Genomgröße nimmt
genetischer Information besteht (. Abb. 9.23). erwartungsgemäß die kinetische Komplexität des Genoms ab.
Wie der Name Makronukleus besagt, zeichnet sich dieser Die Größe des Makronukleusgenoms von Stylonychia wird um
vegetative Kern durch seine Größe aus. Da Kerngrößen im All- einen Faktor von nahezu 100 gegenüber der Größe des Mikronu-
gemeinen mit dem DNA-Gehalt korreliert sind, deutet die gegen- kleusgenoms reduziert. Das Genom des Makronukleus enthält
über dem Mikronukleus angewachsene Größe auf eine erhöhte nur etwa 1,5 % der DNA-Sequenzen des generativen Genoms.
Ploidie des Makronukleus hin. Ein Vergleich zwischen der DNA Die Veränderungen des Genoms während der Bildung des
eines Makronukleus und der eines Mikronukleus zeigt jedoch, Makronukleus sind aber noch viel tief greifender als die Elimi-
dass bei der Entwicklung des Makronukleus das generative Ge- nations- und Ploidisierungsvorgänge erwarten lassen. Es kommt
nom nur partiell ploidisiert wird. Dieser differenzielle Vermeh- zu einer völligen Umgestaltung des Genoms. Der Charakter des
rungsprozess des Mikronukleusgenoms ist mit ungewöhnlichen Makronukleusgenoms ist von allen übrigen eukaryotischen Ge-
Entwicklungsschritten verbunden. nomstrukturen dadurch abgehoben, dass die DNA hier in etwa
Gen-großen Fragmenten vorliegt, also nicht mehr in Chromo-
> Ciliaten zeichnen sich durch einen Kerndualismus aus: somen organisiert ist. Das bedeutet, dass man Gene im Prinzip
Sie besitzen einen Mikronukleus, der im Dienste der gene- einfach dadurch voneinander trennen kann, dass man sie elek-
rativen Prozesse steht, und einen Makronukleus, der für trophoretisch in Agarosegelen nach ihrer Größe auftrennt. Das
die vegetativen Funktionen der Zelle verantwortlich ist. erlaubt eine einfache Isolierung bestimmter Gene. Vergleicht
368 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Abb. 9.24 Genomorganisation bei Ciliaten.


a Anordnung der Gene im Mikrokern. b Aus-
schneiden eines Gens und Anheftung von
Telomersequenzen während der Entwicklung
des Makronukleus. (Nach Prescott 2000,
mit freundlicher Genehmigung der Nature
a Publishing Group)

man diese nun mit ihren Äquivalenten im generativen Genom »reguläres« Intron – und das ist bei diesen drei Ciliaten an der
des Mikronukleus (also gewissermaßen die somatische Form gleichen Stelle.
des Gens mit der der Keimbahn), so zeigt sich, dass die Verän- Gensegmente, die durch die Insertion der IES-Elemente ent-
derungen nicht nur auf einem Zerfall der Chromosomen beru- stehen, werden auch als MDS-Elemente bezeichnet (engl. macro-
9 hen, sondern dass zusätzliche Veränderungen an den Genen nuclear-destined segments): Die sechs IES-Elemente im βTP-Gen
erfolgt sind. Die Gen-großen Fragmente bestehen selbstver- des Mikronukleus von O. trifallax teilen das Gen also in sieben
ständlich nicht allein aus den Protein-codierenden DNA-Ab- MDSs. Dabei entsprechen diese MDS-Elemente in keiner Weise
schnitten, sondern enthalten auch die DNA-Sequenzen im 5’- funktionellen Domänen (wie das bei Exons häufig der Fall ist),
und 3’-Ende der codierenden Region, die zur Regulation der sondern sind rein zufälliger Natur. In einigen Genen sind aller-
Transkription und zur Replikation erforderlich sind. Zusätzlich dings die MDS-Elemente in »Unordnung« geraten, d. h. die Rei-
enthalten die DNA-Fragmente aber auch Telomerbereiche, die henfolge im Genom des Mikronukleus entspricht nicht der Rei-
für ihre Replikation ebenfalls unerlässlich sind (7 Abschn. 6.1.4). henfolge, wie sie später im Gen des Makronukleus zu finden ist.
Diese Telomere werden erst im Laufe der Umgestaltung des Ge- So wird beispielsweise das Aktin-1-Gen in O. nova von acht IES-
noms während der Makronukleusentwicklung angefügt. Ihre Elementen in neun MDS-Segmente unterteilt, die die unge-
molekulare Struktur ist für unterschiedliche Gene einheitlich wöhnliche Reihenfolge aufweisen: 3-4-6-5-7-9-2-1-8. Ähnlich ist
(5’-C4A4C4A4C4-3’; . Abb. 9.24). Diese Form der DNA-Bearbei- es auch in O. trifallax (. Abb. 9.25). Am Ende der jeweiligen IES-
tung eliminiert die »Last« der nicht-codierenden DNA und pro- Elemente findet man Wiederholungseinheiten, die bei den »ver-
duziert ein vereinfachtes, verkürztes Genom mit einer hohen rührten« Genen (engl. scrambled) länger sind als bei denen mit
Kopienzahl der Gene und unterstützt so eine rasche vegetative geordneter Abfolge der einzelnen Elemente. Vermutlich sind
Zellproliferation. einfach längere Wiederholungseinheiten für die Rekombina-
tionsprozesse nötig, um die »verrührten« Gene wieder zu entwir-
> Während der Makronukleusentwicklung wird der größte
ren. Aufgrund der Struktur der IES-Elemente mit den termina-
Teil der Genom-DNA eliminiert. Die Gene verbleiben im
len, invertierten Wiederholungseinheiten werden sie auch als
Makronukleus in der Form von Gen-großen DNA-Frag-
degenerierte Transposons betrachtet.
menten, die eigene Replikationsstartpunkte und Telomere
besitzen.

Noch tief greifendere Veränderungen erfahren Gene in hypo-


*Die Insertion von IES-Elementen in die Gene des Mikronukle-
us, die damit einhergehende Bildung der MDS-Elemente und
trichen Ciliaten. Ein Sequenzvergleich der DNA-Moleküle im ihr »Verrühren« in manchen Genen der Ciliaten repräsentieren
Makronukleus mit ihren Vorläufern aus dem Mikronukleus ein neues evolutionäres Phänomen in der Molekulargenetik.
zeigt, dass die Vorläufer aus dem Mikronukleus durch viele kur- Oberflächlich betrachtet weist die Entwirrung von Genen bei
ze A/T-reiche, nicht-codierende Sequenzen unterbrochen sind, Ciliaten Ähnlichkeit zu anderen Umordnungsprozessen im
die als intern eliminierte Sequenzen (IES) bezeichnet werden Genom auf, z. B. zur V(D)J-Rekombination im Immunsystem
und während der Entwicklung des Makronukleus eliminiert von Vertebraten (7 Abschn. 9.4). Allerdings sind die verwen-
werden. Ein typisches Beispiel ist das Gen, das das β-Telomer- deten Mechanismen grundsätzlich unterschiedlich. Im Fall
Bindungsprotein codiert (βTP). Da die verschiedenen hypo- der Ciliaten wird diskutiert, dass die Spezifität des Heraus-
trichen Ciliaten unterschiedlich viele IES-Elemente enthalten, schneidens durch RNA-Moleküle des maternalen Makro-
zeigen die verschiedenen Ciliaten auch beim βTP-Gen unter- nukleus gesteuert wird (Meyer und Garnier 2002).
schiedlich viele IES-Elemente: So hat Stylonychia mytilus zwei
IES-Elemente, Oxytricha nova drei und Oxytricha trifallax sechs > IES-Elemente unterteilen Gene des Mikronukleus von Ciliaten
IES-Elemente; die IES-Elemente sind alle an unterschiedlichen zufällig in verschiedene Abschnitte. Bei der Entwicklung der
Stellen. Im Gegensatz dazu enthält dieses Gen aber auch ein Makrokerne werden diese Elemente entfernt.
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
369 9
a 5 '-TAS
TGA 3 ' -TAS ATG
MDSs
O. nova 3 4 6 5 7 9 2 1 8

S1

S2

S5

S6

S7

S8
S3

S4
IE

IE

IE

IE

IE
IE

IE

IE
5 '-TA S
TGA 3 ' -TA S ATG
M DS s
O. tri f al l ax 3 4 6 5 7 9 10 2 1 8
S1

S3

S5

S6

S7

S8
S2

S4

S9
IE

IE

IE
IE

IE

IE

IE

IE

IE
b MDS9

MDS6
IES5
flankierende
Sequenz
x

IES2
3'-TAS IES6
MDS8 x
MDS7 x
x
x

x MDS2 IES8 IES4


MDS5
15-bp- x
Verbindungs-
DNA
IES7 IES3
3,3-kb-Gen

5'-TAS
MDS3 MDS1 MDS4

IES1

. Abb. 9.25 »Verrührte« Gene bei Ciliaten. a Struktur des »verrührten« Gens Aktin-1 in Oxytricha nova und Oxytricha trifallax. Segmente, die für den Makro-
nukleus vorgesehen sind (engl. macronuclear-destined segments, MDS) sind als Blöcke gezeichnet; intern eliminierte Segmente (IES) sind als Linien zwischen
den Blöcken dargestellt. MDS2 ist in beiden Organismen invertiert (angedeutet durch die horizontalen Pfeile). b Rekombinationsmodell zum Entwirren des
Aktin-1-Gens in O. nova. Durch Faltung ordnet sich die Mikrokern-DNA entsprechend den Wiederholungssequenzen am Ende der MDS-Bereiche an. Rekom-
binationen zwischen den paarweisen Wiederholungselementen sind durch »X« angedeutet. Das Aktin-1-Gen ist über ein 15-bp-Verbindungsstück mit
einem 3,3-kb-Gen verbunden. ATG: Startcodon; TAS: Telomer-Anheftungsstelle; TGA: Stoppcodon. (Nach Prescott 2000, mit freundlicher Genehmigung der
Nature Publishing Group)

*Neue Untersuchungen an den Ciliaten Tetrahymena thermo-


phila und Stylonychia lemnae deuten darauf hin, dass es bei
Deletion selbst stattfindet. Der Verlust von Genen, die für
ein Dicer-ähnliches Protein oder das Argonaute/Piwi-ähnli-
der internen DNA-Deletion deutliche Verbindungen zu den che Protein TWI1 codieren, blockiert die Deletion. Umge-
schon früher besprochenen Mechanismen der RNA-Inter- kehrt führt die Injektion von kurzer dsRNA zur Deletion von
ferenz gibt (7 Abschn. 8.2.1). Verschiedene Autoren haben DNA mit derselben Sequenz. Beide Beobachtungen legen
gezeigt, dass neben den IES-Elementen auch kurze (28 bp) eine Verbindung zu einem RNAi-Mechanismus nahe
homologe dsRNA-Moleküle vorkommen, die von den zu (Yao und Chao 2005, Jönsson et al. 2009). Einen möglichen
deletierenden Elementen abgelesen werden, kurz bevor die Mechanismus skizziert . Abb. 9.26.
370 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Mikrokern alter Makrokern MDS1 MDS2


MDS1 Synthese MDS1
MDS1 MDS2 der Matrize MDS1 MDS2

genomische DNA
Piwi-
ähnlich

dsRNA
Piwi-
ähnlich Piwi-
ähnlich
Piwi-
ähnlich
Piwi-
ähnlich

9 kleine RNAs

Piwi-
ähnlich

MDS1 MDS2

Piwi-
ähnlich Chromatin-
H3K9me3 modifizierende
H3K27me3 Enzyme

MDS1 MDS2

Anheften der Telomere Ausschneiden der DNA

Korrekturlesen MDS1 MDS2


MDS1
MDS1 MDS2
Makrokern-Anlage

. Abb. 9.26 Modell der Makronukleus-Entwicklung in stichotrichen Ciliaten. Das gesamte Genom des Mikrokerns wird früh in der Makronukleus-Entwick-
lung in doppelsträngige RNA (dsRNA) transkribiert und danach in kleine dsRNA-Fragmente gespalten. Die dsRNAs binden an Piwi-ähnliche Proteine und
werden so in den alten Makronukleus transportiert. Dort werden sie abgebaut, wenn sie homolog zu Sequenzen des Makronukleus sind (grün). Die verblei-
benden Mikronukleus-spezifischen kleinen dsRNAs (rot) wandern in die sich entwickelnde Anlage des neuen Makronukleus und binden dabei an Chroma-
tin-modifizierende Enzyme, welche die entsprechenden Sequenzen zum Ausschneiden markieren. Da bei den stichotrichen Ciliaten die IES-Elemente sehr
klein sind, ist das Ausschneiden ungenau und muss durchkorrigiert werden. Als »Vorlage« dienen Matrizen, die noch im alten Makronukleus synthetisiert
wurden. Der Vorgang wird durch das Anheften der Telomere an die neuen funktionellen Gene abgeschlossen. (Nach Jönsson et al. 2009, mit freundlicher
Genehmigung des Mary Ann Liebert Verlags)

9.3.2 Chromatinelimination und -diminution tisch instabil sind und in somatischen Zellen während der
Zellteilungen verloren gehen oder durch besondere Vertei-
Die Cytologie der Chromosomen in Keimzellen lässt uns Unter- lungsmechanismen aus somatischen Zellen eliminiert werden
schiede in deren Konstitution im Vergleich zu somatischen Zel- (. Abb. 6.33). In der Keimbahn ist die Anzahl mitotischer Teilun-
len erkennen. In manchen Organismen gibt es keimbahnlimi- gen jedoch oft begrenzt, sodass Verluste durch mitotische Insta-
tierte Chromosomen, die entweder aufgrund des Fehlens eines bilität weniger zur Auswirkung kommen. Es könnte jedoch auch
Centromers, ähnlich wie double-minutes (7 Abschn. 9.3.3), mito- eine Selektion zugunsten einer bestimmten Anzahl solcher limi-
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
371 9
tierter Chromosomen in den Keimzellen stattfinden, die aus un- a
bekannten Gründen besonders günstige Fortpflanzungsraten
garantiert.
Neben diesem durch den Verlust von Extrachromosomen ge-
kennzeichneten Unterschied zwischen Keimbahn und Soma hat
man in einigen Organismen auch Unterschiede in der Größe von
keimbahnlimitierten und somatischen Chromosomen beobach-
tet. Sie beruhen darauf, dass bei Teilungen, die zur Entstehung
somatischer Zellen führen, Stücke der Chromosomen herausge-
schnitten werden und verloren gehen. Man bezeichnet diesen
Vorgang als Chromatindiminution oder Chromatinelimination.

C Das klassische Beispiel für solche Diminutionsprozesse ist


die Elimination von Teilen der Chromosomen im Pferdespul-
wurm Parascaris equorum. Entdeckt wurde das Phänomen b
der Chromatindiminution bereits Ende des 19. Jahrhunderts
durch Theodor Boveri, der sie anschließend auch cytolo-
gisch genau untersuchte (. Abb. 9.27a). Der Pferdespul-
wurm Parascaris equorum var. univalens besitzt in den Keim-
bahnzellen ein einziges Chromosomenpaar. Bereits während
der zweiten Zellteilung nach der Befruchtung beobachtete
Boveri, dass die Chromosomen in einem Teil der neu ent-
standenen Zellkerne zerfallen. Es verbleiben kleine Chromo-
somen (40–70), die in allen somatischen Zellen in gleicher
Form zu finden sind. Dieser Prozess setzt sich über die
ersten vier Zellteilungszyklen nach der Befruchtung fort.
Zellkerne, die noch unveränderte Chromosomen enthalten,
vergleichbar denen der Zygote, findet man danach nur noch
in Zellen, die der Keimbahn angehören. Eine detailliertere
Darstellung der Trennung von Keimbahn und somatischen
Zellen gibt . Abb. 9.27b für den Schweinespulwurm.

> In manchen Organismen beobachtet man den Verlust von . Abb. 9.27 Chromatindiminution bei Nematoden. a Schematische Dar-
Chromosomenstücken während der embryonalen stellung der Chromatindiminution bei Parascaris univalens. Links ist die Ana-
Frühentwicklung (Chromatindiminution). Dieser Verlust phase der 2. Teilung im 2-Zell-Stadium gezeigt. Chromatindiminution findet
erfolgt ausschließlich in Zellen, die sich zu somatischen nur in den oberen Zellen (A, B) statt, aber nicht in der unteren P1-Zelle.
Rechts sieht man den Embryo im 4-Zell-Stadium nach der 2. Teilung: Die Zel-
Zellen entwickeln.
len A, B und S2 entwickeln sich zu somatischen Zellen (EMST: Entoblast, Me-
soblast, Stomatoblast), wohingegen die P2-Zelle die Keimbahn repräsen-
Eine weitere Besonderheit dieses Prozesses ist, dass ein einziges tiert. Eine ähnliche Bezeichnung der embryonalen Zellen wird übrigens
Chromosom in mehrere Einzelchromosomen zerfällt, von denen heute auch bei C. elegans verwendet (. Abb. 12.14). b Keimbahn-Soma-Dif-
jedes ein Centromer besitzt. Man bezeichnet daher das ursprüng- ferenzierung im Schweinespulwurm (Ascaris lumbricoides var. suum, Nemato-
liche Chromosom auch als Sammelchromosom (. Abb. 9.28). da). Während der ersten vier Teilungen nach der Befruchtung erfolgt eine
Trennung von Keimbahn- und Somazellen durch Elimination eines Teils des
Ultrastrukturelle Untersuchungen sprechen dafür, dass die Spin-
Chromatins aus den künftigen somatischen Zellen (Chromatindiminution).
delfasern über die gesamte Länge dieses Chromosoms hinweg Die Vorläufer der Urkeimzelle (P0–P3) sind durch schwarz-weiße Halbkreise
angreifen können. Es wird daher auch als holokinetisch bezeich- dargestellt und die Urkeimzellen (P4, P5a, P5b, aus denen alle späteren Keim-
net. Offenbar sind viele Centromer-ähnliche Regionen über das zellen entstehen) durch gefüllte Kreise. Ab der 5. Zellteilung sind Keimbahn
gesamte Chromosom verteilt, die nach einem Zerfall in viele klei- und Soma endgültig getrennt. Die präsomatischen Zellen S1a, S1b und S2–S4
sind der Chromatindiminution ausgesetzt (durch weiße Kreise dargestellt,
nere Chromosomen dafür sorgen, dass jedes der neu entstande-
umgeben von vier schwarzen Punkten). Die somatischen Zellen werden
nen Chromosomen sein eigenes Centromer erhält. frühzeitig für die angegebenen Differenzierungswege determiniert. So bil-
det die S1-Zelle nur Ektoderm, während Entoderm nur aus einem Teil der
> Chromatindiminution kann durch den Zerfall holokineti-
S2-Nachkommen entsteht. Im Extremfall führt dies zu Organismen mit kon-
scher Chromosomen in Stücke erfolgen. Stücke, die stanter Zellzahl. Das bekannteste Beispiel ist ein anderer Nematode, Caeno-
erhalten bleiben, besitzen ein eigenes Centromer und rhabditis elegans. (a nach Boveri 1899; b aus Tobler et al. 1992, mit freund-
werden daher mitotisch normal verteilt. licher Genehmigung von Elsevier)

Vergleichbare Eliminationsprozesse hat man nicht nur in ande-


ren Nematoden, sondern auch bei anderen Tierstämmen beob-
achtet. Sehr ausführlich untersucht wurde die Chromatindimi-
nution bei einer Reihe von Crustaceenarten der Gattung Cyclops.
372 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Abb. 9.28 Sammelchromosomen in einem 2-Zell-Stadium von Parascaris . Abb. 9.29 Chromatinelimination während der 5. Furchungsteilung von
9 univalens. Die Chromosomenkomplemente von Keimbahnzelle P1 (unten) Cyclops divulsus. Das in künftigen somatischen Zellen aus den Chromosomen
und präsomatischer Schwesterblastomere S1 (oben) bestehen übereinstim- eliminierte Heterochromatin bleibt in der Anaphase in der Äquatorialebene
mend aus zwei vollständigen Chromosomen und einem überzähligen Frag- zurück und geht dadurch aus dem Kern verloren. (Foto: S. Beermann)
ment (f ). Die Chromosomen setzen sich aus einem euchromatischen inter-
kalaren Abschnitt (blau, DAPI) und, diesen beidseitig flankierend, hetero-
chromatischen (HET-)Blöcken zusammen. Aus dem interkalaren Abschnitt mosomenbereiches offenbar wiederhergestellt. Eine Zusammen-
werden im Zuge der Disintegration der Sammelchromosomen in den Grün-
fassung der verschiedenen Eliminationsprozesse in den verschie-
derzellen der somatischen Bahnen die zahlreichen somatischen Chromo-
somen freigesetzt; die damit verbundene Abkopplung der HET-Blöcke führt
denen Zelltypen gibt . Tab. 9.6 am Beispiel von Sciara.
zu deren Elimination im Soma (Chromatindiminution). Das Heterochroma-
> Chromatindiminution kann auch durch den Verlust inter-
tin besteht fast ausschließlich aus zwei hochrepetitiven DNA-Sequenzen,
einem Penta- und einem Dekanukleotid. Wie die in-situ-Hybridisierung mit kalarer Chromosomenbereiche unter Beibehaltung der
fluoreszenzmarkierten Oligonukleotid-Sonden zeigt, konstituieren die Integrität des (verkürzten) Chromosoms erfolgen.
repetitiven Einheiten stets getrennte Segmente in den HET-Blöcken. In der
Regel unterscheiden sich die HET-Blöcke in Größe, Zahl und/oder Anord-
nung der Segmente. In den hier dargestellten Metaphaseplatten bestehen 9.3.3 DNA-Amplifikation
vier HET-Blöcke, drei chromosomal und einer im Fragment, aus jeweils
einem proximalen Pentanukleotid- (gelb, FITC) und einem distalen Deka- Zellen können auf verschiedene Weise ihren DNA-Gehalt erhö-
nukleotid-Segment (violett, Cumarin; 2). Im fünften HET-Block mit nur
hen: Im einfachsten Fall erfolgt eine Vervielfachung oder Ploidi-
einem Segment (1) ist das Pentanukleotid-Segment erheblich kürzer als
dasjenige am anderen Chromosomenende, besonders demonstrativ in sierung des gesamten Genoms (7 Abschn. 10.2.2). Komplizierter
S1 aufgrund der parallelen Ausrichtung der HET-Blöcke. Die Existenz des verlaufen partielle Vermehrungen des Genoms, wie wir sie bei
überzähligen Fragments in beiden Schwesterzellen zeigt, dass Fragmente der Bildung von Riesenchromosomen durch Polytänisierung
von Sammelchromosomen mit interkalarem Chromatin in der Lage sind, kennengelernt haben (7 Abschn. 6.4.1). Dass Polyploidisierung
mitotisch zu segregieren. (Nach Niedermaier und Moritz 2000, mit freund-
dazu dient, einen besonders hohen Bedarf an bestimmten Gen-
licher Genehmigung von Springer)
produkten durch zellspezifische Vermehrung ihrer Gene sicher-
zustellen, haben wir bei der Besprechung der Polyploidisierung
In manchen Wasserfloharten werden lange terminale Blöcke der des Genoms des Seidenspinners in den hinteren Seidendrüsen
Chromosomen zwischen der 5. und 7. Zellteilung nach der Be- gesehen (7 Abschn. 7.1.1). Auch die Ausbildung polytäner Chro-
fruchtung aus allen künftigen somatischen Zellen eliminiert, bei mosomen bei Insekten steht im Dienste besonders hoher Stoff-
anderen Arten werden die Stücke der DNA entfernt, die zwi- wechselproduktivität von solchen Zellen, die zellspezifische
schen Chromosomenbereichen liegen, die somatisch erhalten Genprodukte in großer Menge bereitstellen müssen. Allen Zel-
bleiben. Hierbei handelt es sich stets um Chromosomenabschnit- len, die eine Vermehrung ihres Genoms durch Polyploidisierung
te, die vor ihrer Elimination als Heterochromatin erscheinen oder Polytänisierung erreichen, ist gemein, dass diese Vermeh-
(. Abb. 9.29). Miller-Spreitungsexperimente deuten darauf hin, rung erst nach der letzten Zellteilung der betreffenden Zellen
dass die Elimination der DNA in Form von DNA-Ringen erfolgt. erfolgt. Dadurch ergeben sich auch aus solchen zellspezifischen
Die Chromatindiminution in Cyclops ist nicht, wie bei Parascaris, Veränderungen in DNA-Gehalt und Zusammenstellung keine
mit einem Zerfall der Chromosomen verbunden, sondern ver- Probleme für die gleichmäßige Verteilung des genetischen Mate-
läuft durch die Exzision von Teilbereichen der Chromosomen rials auf die Tochterzellen während späterer Zellteilungen.
wahrscheinlich unter Ringbildung der eliminierten DNA. Die Auf der anderen Seite beobachten wir Amplifikationen chro-
Kontinuität der Chromatiden wird nach dem Verlust eines Chro- mosomaler Regionen in Krebszellen; der Anstieg in der Kopien-
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
373 9

. Tab. 9.6 Chromosomenelimination bei Sciara

Zelltyp Eliminierte Chromosomen Relevantes cytologisches Ereignis Vorgeschlagener Mechanismus

Primäre Paternales X-Chromosom Keine Paarung homologer Chromo- Unterschiedliches kinetisches Verhal-
Spermatocyten somenabschnitte Bildung einer mono- ten von maternalen und paternalen
(Meiose I) Paternale Autosomen polaren meiotischen Spindel Chromosomen

Keine Anlagerung in der Metaphase

Knospenbildung und Herstellung von


Mikrotubuli

Sekundäre Maternaler autosomaler Aufrechterhaltung der ersten polaren Elimination erfolgt über den Spindel-
Spermatocyten Chromatidensatz Spindelstruktur und Bildung einer apparat
(Meiose II) asterenlosen Spindel
L-Chromatidensatz
Non-disjunction des maternalen
X-Chromosoms

Anwesenheit von Knospen-generierten


Mikrotubuli

Embryonale Ein paternales X-Chromosom in Unvollständige Bewegung eliminierter Fehler bei der Trennung der
somatische Zellen weiblichen Embryonen Chromosomen während der Anaphase Schwesterchromatiden

Zwei paternale X-Chromosomen in


männlichen Embryonen

Alle L-Chromosomen

Embryonale Ein paternales X-Chromosom in Atypische Chromosomenkondensation Aktive Beteiligung der Kernmembran
Keimzellen männlichen und weiblichen in der Interphase
Embryonen
Ausschleusung der Chromosomen durch
Alle L-Chromosomen bis auf zwei eine Ausbuchtung des Zellkerns

Nach Goday u. Esteban (2001)

zahl von Onkogenen kann die Initiation und Progression ver- pelstrangbruch, an den sich die Replikation des gebrochenen
schiedener Tumorarten begünstigen. Dabei können cytogene- Moleküls und die Fusion der Schwesterchromatiden anschließt.
tisch zwei Arten von Amplifikationen unterschieden werden In der Anaphase bildet sich eine Brücke; aufgrund mechanischer
(. Abb. 9.30): extra- und intrachromosomale Amplifikationen. Spannung zerreißt das Molekül asymmetrisch und erzeugt ein
Extrachromosomale Amplifikationen (oder double-minutes) Chromatid mit einem invertierten Wiederholungselement am
haben bis zu mehrere Hundert Kopien eines genomisches Seg- abgebrochenen Ende. Wesentliche Elemente dieser Prozesse sind
ments und bilden Minichromosomen mit Spiegelsymmetrie. in . Abb. 9.31 dargestellt.
Intrachromosomale Amplifikationen werden auch als homogen
gefärbte Regionen (engl. homogeneously staining region, HSR) > Unter bestimmten physiologischen Bedingungen kann
bezeichnet und stellen hintereinander angeordnete Wiederho- es zur extrachromosomalen oder intrachromosomalen Ver-
lungselemente dar (in Kopf-Schwanz- oder Schwanz-Schwanz- mehrung (Amplifikation) bestimmter Gene in der Zelle
Orientierung); im frühen Stadium der Amplifikation liegen zehn kommen. Extrachromosomale Genkopien erscheinen als
Kopien oder weniger vor. kleine punktförmige Chromosomen (double-minutes)
Derzeit diskutierte Modelle schlagen vor, dass Doppelstrang- ohne Centromer. Intrachromosomale Genvermehrung
brüche den Prozess der Amplifikation initiieren. Doppelstrang- zeigt sich durch die Entstehung von homogen gefärbten
brüche können Genamplifikationen in vielfältiger Weise einlei- Regionen.
ten; dazu gehören unter anderem ungleiche Schwesterchroma-
tid-Austausche, DNA-Replikation nach dem rolling circle-Mo- In den molekularen Mechanismus einer intrachromosomalen
dell, Bruch-induzierte Replikation, Start der DNA-Synthese Amplifikation haben uns die Chorion-Gene von Drosophila me-
durch Rückfaltung und der Bruch-Fusion-Brücken-Zyklus (engl. lanogaster Einblicke ermöglicht. Diese Gene, die im Chromo-
breakage-fusion-bridge cycle). Letzterer wurde von Barbara som 3 und im X-Chromosom liegen, also in zwei getrennten
McClintock schon 1941 vorgeschlagen, um intrachromosomale Gruppen angeordnet sind, sind für die Synthese großer Mengen
Amplifikation zu erklären. Der Zyklus beginnt mit einem Dop- von Strukturproteinen der Eihülle verantwortlich. Diese werden
374 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

a b c

9 . Abb. 9.30 Genamplifikation. a Extrachromosomal: double-minute. Elektronenmikroskopische Aufnahme, die den doppelten Charakter erkennen lässt und
zugleich zeigt, dass keine Centromerregion vorhanden ist. b Metaphasechromosomen von Mus musculus mit HSRs. Obere Reihe: G-Banden im normalen
Chromosom 1 (links) und in zwei Chromosomen 1 mit HSRs (Mitte: M. m. domesticus und rechts: M. m. musculus). Im rechten Chromosomenpaar ist die HSR
durch eine Inversion in zwei Teile untergliedert (siehe c). Untere Reihe: Die C-Banden lassen die HSRs neben dem Centromerenheterochromatin deutlich
hervortreten. c Schema der in b gezeigten Chromosomen. Die Pfeile geben die Insertionsstelle der HSR und die Inversion an (HSR: homogen gefärbte
Region). (a Foto: B. Hamkalo, Irvine; b, c aus Winking et al. 1991, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

in den Stadien 11 bis 14 der Oogenese (7 Abschn. 12.4.1) zur tersucht (. Abb. 9.32c) und zeigten insbesondere die Bedeutung
Entwicklung des Chorions benötigt und in den Follikelzellen des des Replikationsursprungs ori-β. Eine eindrucksvolle Darstellung
Ovariums gebildet. Durch Untersuchung der DNA-Sequenzen, dieses Prozesses auf zellulärer Ebene gibt . Abb. 9.33.
die die Chorion-Gencluster flankieren, konnte nachgewiesen Eine weitere Variante der Genamplifikation zeigen cytolo-
werden, dass die intrachromosomale Amplifikation der Cho- gische Untersuchungen an Zellen aus Tumoren oder solche
rion-Gengruppe deren eigentlichen Genbereich zu beiden Seiten aus  Zellkulturen, die unter dem Einfluss von Cytostatika ge-
um etwa 40 bis 50 kb überschreitet. Insgesamt umfasst der am- züchtet wurden. Cytostatika sind Agenzien, die Zellteilungen
plifizierte Bereich knapp 100 kb DNA. Allerdings ist in diesen durch die Blockierung der DNA-Replikation verhindern. Nach
flankierenden Bereichen der Grad der Amplifikation nicht mehreren Zellgenerationen der Behandlung mit einem solchen
identisch mit dem der darin eingeschlossenen Chorion-Gene, Replikationshemmer beobachtet man, dass die Zellen gegen das
sondern nimmt mit wachsendem Abstand vom Gencluster ab Cytostatikum resistent werden und sich wieder mitotisch zu
(. Abb. 9.32a, b). vermehren beginnen. Vergleicht man diese resistenten Zellen
Im Fall der intrachromosomalen Amplifikation der DNA ist mit den ursprünglichen Zellen, so findet man die schon oben
das Verständnis der Kontrolle der Initiation der Replikation erwähnten double-minutes und homogen gefärbten Regionen
(7 Abschn. 2.2.3) in den Replikationsstartpunkten hilfreich, um (HSR; . Abb. 9.30).
den Mechanismus der Überreplikation leichter zu verstehen. Ins- Die molekulare Analyse beider chromosomaler Elemente
besondere die Charakterisierung von Drosophila-Mutanten hat es zeigt, dass sie auf Amplifikation von DNA-Abschnitten zurück-
ermöglicht, entsprechende trans-aktive Faktoren zu identifizie- geführt werden können. Im Fall der double-minutes erfolgt diese
ren, da betroffene Drosophila-Weibchen steril sind; der Phänotyp Amplifikation extrachromosomal und führt zur Entstehung
der fragilen Eihülle kann unter dem Mikroskop gut erkannt wer- mehrerer kleiner Chromosomen. Die double-minutes besitzen
den. Folgende Proteine sind an der Amplifikation der Chorion- zwar einen Replikationsstartpunkt, sind aber mitotisch instabil,
Gene beteiligt: ORC2 (bindet die DNA am Replikationsstart), da das Fehlen eines eigenen Centromers ihrer geregelten Vertei-
Cyclin E (aktiviert die Cdk2-Kinase), DBF4 (aktiviert die Cdc7- lung während der Mitose im Wege steht. Sie werden daher, ähn-
Kinase und bindet ORC2) und Proteine, die für die Replikation lich wie häufig auch die keimbahnlimitierten B-Chromosomen
nötig sind (z. B. Cdt, Mcm2–7, Mcm6), bzw. Transkriptionsfakto- (7 Abschn. 6.4.3), zufallsgemäß auf die Tochterzellen verteilt. Ihre
ren, die in der S-Phase aktiv sind (z. B. E2F, DP, Rb). Weiterhin Doppelstruktur ist eine Folge der Replikation ohne darauffolgen-
wurde ein Proteinkomplex identifiziert, der mit ORC assoziiert ist de Trennung der Chromatiden. Diese bleiben über die Mitosen
und Komponenten enthält, die dem Onkoprotein Myb entspre- hinweg gepaart. Anders verhält es sich bei den HSRs. Bei ihnen
chen. Die notwendigen cis-regulatorischen Sequenzen wurden haben wir es mit intrachromosomalen Amplifikationen zu tun,
für das Cluster auf dem Drosophila-Chromosom 3 im Detail un- die natürlich als feste Bestandteile des Chromosoms mit dem
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
375 9

a c

. Abb. 9.31 Die Rolle von Palindromen bei der Genamplifikation. a Ein Palindrom, das zwei Schwesterchromatiden (blau) verbindet, kann auf verschie-
denen Wegen entstehen; das gebildete palindromische Chromosom hat zwei Centromere. Nach einem Bruch kann es durch Rekombinations-abhängige,
Bruch-induzierte Replikation zwischen den Wiederholungssequenzen (z. B. eine LTR, hier als gelbes Trapez gezeichnet) repariert werden; dabei kann die zwei-
te LTR an einer anderen Stelle des Chromosoms lokalisiert sein. Alternativ können neue dizentrische Chromosomen gebildet werden. Hell- und dunkelgrüne
Flächen deuten die Orientierung der Gene in den palindromischen Regionen an. b Die Bildung von Palindromen kann in der Nähe von Doppelstrangbrüchen
durch kurze invertierte Elemente eingeleitet werden. Eine 5’-3’-Exonuklease baut die DNA so lange ab, bis die zwei komplementären Einzelstrangbereiche
der zwei Wiederholungselemente sich aneinanderlagern und eine Haarnadelstruktur ausbilden, die nach einer DNA-Synthese (startend am 3’-Ende) ligiert
werden. c Die invertierten Sequenzen bilden eine kreuzförmige Holliday-Struktur, die durch eine Resolvase aufgelöst wird. Die entstehenden Haarnadel-
strukturen werden ligiert. In Hefen werden die Haarnadel-Enden durch den Mre-Rad50-Xrs2-Komplex zusammen mit Sae2 geöffnet; die offenen Enden nei-
gen zur Rekombination. d Exponierte DNA-Enden können durch Bruch-induzierte Replikation repariert werden, nachdem Proteine eine Strang-Einwande-
rung nach dem Modell der homologen Rekombination eingeleitet haben. Dieser Mechanismus kann in Regionen stattfinden, in denen vereinzelte Homolo-
gien bestehen, sodass eine nicht-reziproke Translokation entsteht. (Nach Haber und Debatisse 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

betreffenden Chromosom ganz normal mitotisch verteilt wer- Die Entstehung von double-minutes oder HSRs wird aus-
den, auch wenn sie, wie gewöhnlich, heterozygot vorliegen. Beide schließlich unter besonderen Umständen beobachtet, vor allem
Arten von Amplifikation findet man normalerweise in somati- als Folge der Behandlung mit Replikationsinhibitoren. Es
schen Zellen, insbesondere in Tumorzellen und in Zellkulturen. spricht aber vieles dafür, dass Amplifikationsereignisse in euka-
HSRs sind aber auch in Keimzellen beobachtet worden, sodass ryotischen Zellen regelmäßig, wenn auch nur mit geringer Häu-
sie vererbt werden können. figkeit, vorkommen. Unter Einfluss von Cytostatika kann es
376 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

a b
9

. Abb. 9.32 Amplifikation der Chorion-Gene in Drosophila. a Die Zwiebelschalenstruktur der verschachtelten Replikationsgabeln wird durch das wieder-
holte »Feuern« des zentralen Replikationsursprungs verbunden mit einer bidirektionalen Fortbewegung der Replikationsgabel erzeugt. Diese Struktur
wurde durch elektronenmikroskopische Verfahren (. Abb. 9.30a) und durch zweidimensionale Gelelektrophorese während der Amplifikationsstadien in
Fliegen beobachtet. b Die quantitative Analyse der veränderten Kopienzahlen zeigt die absolute Zunahme der Kopienzahlen, aber auch die Ausbreitung in
die Bereiche links und rechts des Amplifikationskontrollelementes 1 (ACE1). c Organisation des Chorion-Locus auf dem Chromosom 3. Die genetische Karte
zeigt, dass fünf Regionen, die für die Amplifikation wichtig sind – ACE3 (blau, 440 bp) und AER-A–D (hellblau) –, durch vier Chorion-Transkriptionseinheiten
(S18, S15, S19, S16) unterbrochen werden (Pfeile). Die Replikation startet meistens (70–80 %) in der Region ori-β (lila, 884 bp). Innerhalb des ori-β ist die
β-Region von besonderer Bedeutung für die Initiation der Replikation. In der α-Region (ACE3) liegen die Bindestellen (BS) für Mip120 (rote Kreise) bzw. Myb
(rote Sterne), die für die Amplifikation wichtig sind. In AER-C und AER-D gibt es zwei Sequenzen, die an 10 von 11 Positionen mit der ARS-Consensussequenz
identisch sind. (ACE: amplification control element; AER: amplification enhancing region; ARS: autonom replizierende Sequenz von Hefen). (Nach Claycomb
und Orr-Waever 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

dann zur Selektion auf Zellen mit solchen Amplifikationsereig- Methotrexat (= Amethopterin) ist ein Analogon von Dihydrofo-
nissen kommen, die geeignet sind, die Resistenz der Zellen gegen lat, einer Vorstufe in der Synthese von Thymin aus Uracil. Als
den Inhibitor zu erhöhen. solches Analogon inhibiert es sehr effizient das Enzym Dihydro-
Das klassische und bestuntersuchte Beispiel für die Entste- folatreduktase, das die Umsetzung von Dihydrofolat in Tetra-
hung zellulärer Resistenz ist die Amplifikation der Gene für die hydrofolat katalysiert (. Abb. 9.34). Behandelt man Zellkulturen
Dihydrofolatreduktase (DHFR) unter Methotrexatbehandlung. mit niedrigen Konzentrationen Methotrexat (10−8 M), so blockiert
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
377 9

a b c

d e f

g h i

. Abb. 9.33 Visualisierung der Amplifikation in Follikelzellen von Drosophila durch Immunfluoreszenz. Die Drosophila-Amplikons in den Follikelzellen sind
in besonderer Weise zur Visualisierung geeignet, da die Amplifikation erst stattfindet, wenn die genomische Replikation beendet ist. In der Reihe a–f sind
Felder von Follikelzellen gezeigt, wohingegen in der Reihe g–i der Zellkern einer einzelnen Follikelzelle zu sehen ist. Die weißen Kreise skizzieren einzelne
Zellkerne. a–c Das DUP-Protein (andere Bezeichnung: Cdt1, engl. chromatin licensing and DNA replication factor 1; . Abb. 2.19) ist während der Initiation
der Replikation aktiv. Es ist in den Amplikons (rot, b, e) in der Initiationsphase (Stadium 10b) zusammen mit BrdU (grün, c) nachweisbar (a: überlagerte Dar-
stellung von b und c, hellgrüne/gelbe Regionen deuten die gleichzeitige Anwesenheit einer roten und grünen Fluoreszenz an). d–f Ebenso werden Elonga-
tionsfaktoren der Replikation wie PCNA (engl. proliferating cell nuclear antigen; . Abb. 2.19) zunächst in den Startpunkten der Replikation sichtbar (f, grün)
(d: überlagerte Darstellung von e und f, hellgrüne/gelbe Regionen deuten ebenfalls die gleichzeitige Anwesenheit einer roten und grünen Fluoreszenz an).
g Im Stadium 11 endet die Initiationsphase und das DUP(Cdt1)-Protein (rot) bewegt sich vom zentralen Replikationsursprung weg, an den das Initiator-
protein ORC2 (engl. origin recognition complex, grün) noch gebunden ist. Kurze Zeit danach entfernt sich auch ORC2 von dem Komplex. h Im Stadium 13
bewegt sich die Replikationsgabel immer weiter vom Ursprungsort weg und mit BrdU (grün) ist ein Färbemuster zu erkennen, das einem doppelten Balken
entspricht. Dazwischen (gelb) ist gleichzeitig auch noch das Protein DUP (Cdt1) anwesend, das rot fluoresziert. i Der Elongationsfaktor PCNA (grün) zeigt
ein ähnliches Muster und befindet sich an der gleichen Stelle wie DUP (Cdt1; rot). Der weiße Balken entspricht 1 μm. (Nach Claycomb und Orr-Waever 2005,
mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

man in den meisten Zellen die Replikation. Eine Minderheit von Hierdurch können die Zellen die Blockierung ihrer Replikation
Zellen (etwa eine von 107) erweist sich als resistent gegen diese durch eine erhöhte Produktion des Enzyms überwinden, das
Konzentration des Inhibitors. Diese Zellen können ihre DNA re- nunmehr eine geringe, aber ausreichende Menge Desoxythymi-
plizieren und sich somit mitotisch weiter vermehren. Der Grund dinmonophosphat zur Verfügung stellt (. Abb. 9.34). Kultiviert
für die Resistenz ist eine zunächst geringfügige Vermehrung der man diese Zellen unter langsam zunehmenden Konzentrationen
Anzahl an Genkopien für die Dihydrofolatreduktase in der Zelle. von Methotrexat, die schließlich bis zum 105-fachen der Anfangs-
378 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Genbereich enthalten kann. Das bietet eine ausreichende Basis


für sehr effektive Selektionsprozesse, wie sie unter dem Einfluss
von Stoffwechselinhibitoren beobachtet werden. Die im Laufe
der Behandlungszeit zunehmende Resistenz von Krebspatienten,
die sich einer Chemotherapie durch Cytostatika unterziehen, ist
somit leicht verständlich. Amplifikation dieser Art wird jedoch
nicht in normalen Zellen entdeckt (Frequenz < 10−9), d. h. es gibt
offensichtlich in normalen Zellen Mechanismen, die eine Am-
plifikation verhindern (Albertson 2006).
> Eukaryotische Zellen sind auf unterschiedliche Weise in
der Lage, die im Genom vorhandene Zahl bestimmter
Gene zu vermehren. Solche zellspezifische Vermehrung
. Abb. 9.34 Mechanismus der Hemmung der DNA-Replikation durch Me-
von Genen erfolgt, wenn der Bedarf an einem bestimmten
thotrexat (Amethopterin). Stoffwechselprozesse bei der Umwandlung von
Desoxyuridinmonophosphat (dUMP) in Desoxythymidinmonophosphat Genprodukt die Kapazität des Genoms der betreffenden
(dTMP): Die Umsetzung von dUMP in dTMP durch Methylierung wird von Zelle übersteigt. Zusätzliche Genkopien können entweder
der Thymidylatsynthetase katalysiert. Als Kohlenstoffquelle dient ein Tetra- durch Polyploidisierung oder Polytänisierung des gesam-
hydrofolatderivat. Tetrahydrofolat wird mithilfe der Dihydrofolatreduktase ten Genoms bereitgestellt werden. Alternativ kann es zur
(DHFR) aus Dihydrofolat regeneriert. Blockiert man die DHFR, so kann kein
Vervielfachung begrenzter Genbereiche – entweder intra-
Tetrahydrofolat mehr gebildet werden und die Neusynthese von dTMP un-
terbleibt. Als Folge des Mangels an dTMP wird die Replikation gehemmt. oder extrachromosomal – kommen.
9 Die Blockierung der DHFR erfolgt durch das Cytostatikum Methotrexat
(= Amethopterin). Seine Wirkung erklärt sich aus seiner Eigenschaft als
Dihydrofolatanalogon. In dieser Eigenschaft bindet es mit hoher Affinität
an das Enzym, das damit dem Stoffwechsel entzogen wird 9.3.4 Wechsel des Paarungstyps bei Hefen

Hefezellen können haploid oder diploid sein (. Abb. 5.28). Der


konzentration gesteigert werden können, so erfolgt eine allmäh- Generationswechsel zwischen dem haploiden und diploiden
liche weitere Vermehrung der Dihydrofolatreduktase-Gene. Das Zustand ist mit der Konjugation, also der Fusion, zweier haploi-
hat eine weitere Erhöhung der Resistenz gegen den Inhibitor zur der Zellen verbunden. Deren Fusionsprodukt kann sich entwe-
Folge. Die erhöhte Resistenz wird in den steigenden Anzahlen der als diploide Zelle vermehren oder unter ungünstigen Um-
von double-minutes reflektiert. Offenbar selektiert man auf dieje- weltbedingungen (z. B. Nahrungsmangel) einen Meiosezyklus
nigen Zellen, die bei der Zellteilung durch Zufallsverteilung die durchlaufen und unter Sporenbildung wieder in den haploiden
größeren Anzahlen an double-minutes erhalten und dadurch be- Zustand übergehen. Die Konjugation zweier haploider Zellen
sonders effizient replizieren können. Ein einzelnes double-minute kann nur zwischen Zellen eines unterschiedlichen Paarungstyps
besitzt im Mittel zwei bis vier Kopien des Dihydrofolatreduktase- (engl. mating type) erfolgen. Bei Saccharomyces cerevisiae, der
Gens, sodass die Zellen schließlich mehr als 100 zusätzliche Gen- Bäckerhefe, werden diese beiden Zelltypen unterschiedlichen
kopien enthalten können. Vermehrt man diese Zellen unter ab- Paarungstyps als a- und α-Zellen bezeichnet. Der Paarungstyp
nehmenden Methotrexatkonzentrationen weiterhin, so nimmt der Zelle wird durch den mating-type-Locus (MAT) bestimmt,
die Anzahl der double-minutes wieder ab. Die Beibehaltung ihrer der in der Form von zwei (in diploiden Zellen) Allelen, MATa
großen Anzahl wird allein durch die Selektion auf einen funk- und MATα, vorkommen kann. Konjugieren können nur haploi-
tionsfähigen Zustand der DNA-Replikation der Zelle, nicht aber de Zellen mit verschiedenen Allelen (also: MATa ∞ MATα). Di-
durch gezielte Verteilungsmechanismen in der Mitose erreicht. ploide Zellen sind demgemäß bezüglich des MAT-Locus grund-
Entfällt der Selektionsdruck, so gehen die überzähligen Chromo- sätzlich heterozygot.
somen verloren, da sich Zellen mit double-minutes unter norma- Der MAT-Locus liegt auf dem Chromosom 3 (. Abb. 9.35);
len Wachstumsbedingungen langsamer vermehren und damit der zentrale Genabschnitt (Ya bzw. Yα) umfasst rund 700 bp und
selektiv benachteiligt sind. Auch HSRs können bei nachlassen- definiert die sexuelle Identität der Zelle. Der Wechsel des Paa-
dem selektiven Druck allmählich verloren gehen, obgleich das rungstyps erfolgt durch Genkonversion, wobei den beiden HM-
nicht regelmäßig beobachtet wird. Regionen (engl. hidden MAT), HML (links) und HMR (rechts),
Die Analyse verschiedener Enzyme hat erkennen lassen, dass wichtige Funktionen zukommen; die beiden Regionen befinden
die induzierbare Amplifikation der Dihydrofolatreduktase kein sich an den entgegengesetzten Enden des Chromosoms, 180 bzw.
Sonderfall ist, sondern dass vergleichbare Ereignisse auch bei 120 kb von MAT entfernt.
anderen Genen auftreten. Die Frequenz induzierbarer Amplifi- Im Allel mit der Konstitution Ya wird ein Transkript (a1) ge-
kationsereignisse liegt etwa zwischen 10−4 und 10−7 je Zellzyklus. bildet, dessen Synthese in der Region Ya initiiert wird und über
Die Größe der Grundeinheit eines amplifizierten Genombe- Z1 bis in die Z2-Region erfolgt. Im Yα-Allel hingegen wird eben-
reichs umfasst etwa 105 bis 106 bp. Bei einer Genomgröße von 109 so ein im Yα-Segment beginnendes α1-Transkript gebildet. Aller-
bis 1010 bp (das entspricht 104 bis 105 potenziellen Amplifikati- dings wird noch ein zweites Transkript, α2, gebildet, das ebenfalls
onseinheiten) bedeutet das, dass mindestens jede zehnte, mögli- in Yα beginnt, jedoch gegenläufig transkribiert wird (. Abb. 9.35).
cherweise aber sogar jede einzelne Zelle einen amplifizierten Alle drei Gene codieren für Transkriptionsfaktoren.
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
379 9

EL Yα IL RE a1 EH Ya IR

HMLα „an” C MATa Ya HMRa

Spaltung durch die


HO-Endonuklease

RE α2 α1 Ya

HMLα „aus” C MATα Yα HMRα

. Abb. 9.35 Der MAT-Locus von Saccharomyces cerevisiae. Der MAT-Locus befindet sich auf dem Chromosom 3 und wird von zwei anderen DNA-Elemen-
ten links und rechts flankiert (HMLα und HMRa). Die beiden Allele Ya (650 bp) oder Yα (750 bp) definieren die sexuelle Identität der Zelle. Der Paarungstyp-
Wechsel wird durch Aktivität einer HO-Endonuklease eingeleitet: Sie schneidet beide DNA-Stränge am MAT-Locus, wodurch ein Genkonversions-Mechanis-
mus induziert wird (siehe auch . Abb. 9.37), der die Region Ya durch Sequenzen von Yα ersetzt, die von HMLα kopiert werden. HMLa und HMRa enthalten
vollständige Kopien der Paarungstyp-Gene, die aber stillgelegt sind. MATa-Stämme rekombinieren bevorzugt mit HMLα, auch wenn HMR Yα anstelle von Ya
enthält. Diese Donor-Präferenz (RE »an«) ist von einem Rekombinations-Enhancer (RE) abhängig, einem Sequenzelement aus 244 bp. E und I sind weitere
regulatorische Sequenzen (silencer); C: Centromer. (Nach Haber 1998, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Das α1-Protein ist ein positives Regulationsmolekül, das Konjugation eine Population von Zellen entgegengesetzten Paa-
α-spezifische Genfunktionen induziert. Zu diesen induzierten rungstyps, da sie diese nicht selbst produzieren können.
Genen gehört ein kleines, 13 Aminosäuren langes Peptid, MFα1, Haploide S. cerevisiae-Stämme können spontan ihren Haplo-
das als Pheromon wirkt. Dieses Pheromon wird von α-Zellen typ verändern. Das Umschalten von MATa nach MATα oder
sezerniert und von einem MFα1-spezifischen Rezeptor in der umgekehrt erfolgt durch einen Genkonversionsprozess, bei dem
Zellmembran von Paarungstyp-a-Zellen als Ligand gebunden. Es die Information am MAT-Genort durch eine der stillen flankie-
bewirkt eine Konformationsänderung des Rezeptors und akti- renden Kassetten HMLα oder HMRa ersetzt wird. Diese Gen-
viert dadurch ein intrazelluläres, an den Rezeptor gebundenes konversion wird durch die HO-Endonuklease initiiert, die einen
G-Protein (Guaninnukleotid-bindendes Protein), das seinerseits Doppelstrangbruch setzt (. Abb. 9.36); sie schneidet an einer
eine Kaskade intrazellularer Stoffwechselprozesse induziert und Stelle, die die Grenze bildet zwischen der Y-Sequenz (die spezi-
unter anderem durch Phosphorylierung des pcdc28 zur Blockie- fisch für die MATa- bzw. MATα-Allele sind) und der gemeinsa-
rung der Zelle in der G1-Phase führt. Das α2-Produkt hingegen men Z-Sequenz (. Abb. 9.36).
wirkt als negativer Regulator (also Repressor) auf a-zellspezifi- An der Veränderung des Paarungstyps in haploiden HO-
sche Gene, die damit in α-Zellen inaktiv bleiben. Das a1-Produkt Zellen sind drei Loci beteiligt (. Abb. 9.35 und . Abb. 9.36). Wie
wird auch in diploiden (a/α) Zellen gebildet (. Abb. 9.35). Hier wir heute wissen, erfolgt die Umschaltung des Paarungstyps
inhibiert es, zusammen mit dem α2-Peptid, die Expression des durch eine Interaktion des eigentlichen MAT-Locus mit zwei an-
HO-Gens (das für eine Endonuklease codiert), des α1-Gens und deren DNA-Abschnitten, HMLα und HMRa, die den MAT-Lo-
einer Serie weiterer Gene, deren Funktionen zur Konjugation cus links (HML) und rechts (HMR) flankieren. HML liegt 180 kb
erforderlich sind. links, HMR 120 kb rechts vom MAT-Locus. Beide DNA-Bereiche
Haploide S. cerevisiae-Stämme können sich in der Konstituti- sind Kopien des MAT-Locus, und zwar einmal des MATα-Allels
on eines weiteren Gens (homothallic, HO) unterscheiden, das als (HML), das andere Mal des MATa-Allels (HMR). Im Gegensatz
funktionelles Allel (HO) oder als mutiertes, nicht funktionelles zum MAT-Locus selbst werden die HML- und HMR-Regionen
Allel (ho) vorliegen kann. Das HO-Gen codiert für eine Endonu- nicht transkribiert. Dafür sorgen die vier SIR-Gene (engl. silent
klease, die für den Wechsel des Paarungstyps notwendig ist. In information repressor, SIR), die auf die Transkriptionskontrollele-
ho-Stämmen ist diese Endonuklease nicht aktiv, sodass diese ho- mente von a1, α1 und α2 in den HML- und HMR-Regionen ein-
Stämme (die auch heterothallisch genannt werden) einen stabilen wirken und deren Transkription reprimieren. Dadurch wird si-
Paarungstyp (a oder α) haben. Bei homothallischen HO-Stämmen chergestellt, dass nur das jeweils im eigentlichen MAT-Locus
hingegen verändert sich der Paarungstyp der haploiden Zellen vorhandene Allel transkribiert wird, obwohl im Genom prinzi-
nach jeder Zellteilung (ausgenommen der ersten nach der Meiose) piell beide Allele verfügbar sind.
mit großer Häufigkeit spontan: Eine Zelle, deren ursprünglicher Der molekulare Mechanismus des Abschaltens der HM-
Paarungstyp a war, kann Tochterzellen hervorbringen, die dem Regionen ist in den letzten Jahren relativ gut aufgeklärt worden.
α-Paarungstyp zugehören und umgekehrt. Es entsteht somit eine Es sind hierbei Multiproteinkomplexe beteiligt, wie sie auch in
Zellpopulation, die aus sich selbst heraus zur Konjugation (also anderen chromosomalen Regionen mit inaktivem Chromatin (in
eigentlich Selbstbefruchtung) befähigt wird, indem sie selbst Zel- Telomeren, Centromeren) und einzelnen inaktivierten Genen
len des entgegengesetzten Geschlechts liefert (sie ist homothal- (rDNA u. a.) gefunden werden. Die Abgrenzung der Regionen
lisch). Heterothallische Zellpopulationen benötigen hingegen zur (~3 kb), die durch Chromatinkondensation einer Abschaltung
380 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

a . Abb. 9.36 Molekularer Mechanismus des Paarungstyp-Wechsels.


a Durch die Aktivität der im HO-Gen codierten Endonuklease wird
zunächst ein Doppelstrangschnitt im MATa-Locus verursacht. Einer
der freien DNA-Stränge dient dann, ähnlich wie bei der normalen
Rekombination, nach Einwanderung des intakten DNA-Strangs des
HMLα-Locus als Primer für begrenzte DNA-Neusynthese. Als Resultat
ist die Yα-Region (blau) des HMLα-Bereiches in den aktiven MATa-
Locus (rot) kopiert, ohne dass der HMLα-Bereich selbst verändert
wurde. b Einzelschritte der Genkonversion beim Paarungstyp-Wech-
sel. (Nach Haber 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

b
RE und verhindert dadurch dessen Aktivierung durch Mcm1 und
Fkh1. Das führt dazu, dass im RE-unabhängigen Mechanismus
HMR der bevorzugte Donor ist und sich eine Konversion von
MATα nach MATa ergibt.

*Ähnliche Mechanismen der Veränderung des MAT-Locus


findet man auch in anderen Hefen, wenn auch zum Teil mit
9 bemerkenswerten Unterschieden. Beispielsweise wird die
Veränderung des Paarungstyps in Schizosaccharomyces pom-
be durch Imprinting (7 Abschn. 8.4) eines der DNA-Stränge
im Paarungstyp-Locus (hier mat1 genannt) kontrolliert. Das
hat zur Folge, dass bei S. pombe im Gegensatz zur Bäckerhefe
jeweils nur eine der Tochterzellen einen veränderten Paa-
rungstyp aufweist, während in Saccharomyces cerevisiae je-
weils beide Tochterzellen im Paarungstyp verändert sind. Be-
sondere Bedeutung kommt dabei einer Gruppe von Genen
zu, die als swi-Gene bezeichnet werden, da sie für einen effi-
zienten Wechsel (engl. switching) des Paarungstyps verant-
wortlich sind. Für eine Übersicht siehe Broach (2004).

unterliegen, erfolgt durch spezifische DNA-Elemente (HML-E, Die Evolution des Paarungstyp-Wechsels in verschiedenen Spe-
HML-I, HMR-E, HMR-I; E = essential, I = important). Die Ab- zies hat zu interessanten Entdeckungen geführt. Das System ist
schaltung des Chromatins im MAT-Locus reflektiert damit of- offensichtlich in einem zweistufigen Prozess entstanden, wobei
fenbar einen generellen Mechanismus der Chromatininaktivie- zunächst die stillen HML/HMR-Kassetten erschienen und später
rung, dazu gehört auch die geringe Acetylierung von Histonen. das Gen für die HO-Endonuklease, das sich von einem mobilen
Der Wechsel zwischen a- und α-Konstitution im MAT-Locus Element ableiten lässt. Beides, HO-vermittelter Wechsel des
erfolgt durch replikatives Einlesen der jeweils entgegengesetzten Paartungstyps und die stillen HM-Kassetten, kommen in dieser
Allelkonstitution in den MAT-Locus (. Abb. 9.36). Hierzu wird Form nur in Saccharomyces und deren nächsten Verwandten vor.
zunächst ein versetzter Doppelstrangschnitt in die Z1-Region Die entfernter verwandte Spezies Kluyveromyces lactis hat zwar
des MAT-Locus durch die HO-Endonuklease eingeführt. Da- die stillen HM-Regionen, wechselt aber den Paarungstyp ohne
nach erfolgt eine Paarung der HML- oder HMR-Region mit dem die HO-Endonuklease. Sehr weit entfernte Verwandte wie Can-
MAT-Locus. Dieser Paarung folgt ein Einlesen der DNA-Sequenz dida albicans und Yarrowia lipolytica haben keine stillen Kasset-
eines Teils der HML- bzw. HMR-Region durch Genkonversion. ten, und in Pichia angusta liegen die Gene MATα2, MATα1 und
Üblicherweise rekombinieren MATa-Stämme mit HMLα, Mata1 direkt nebeneinander auf demselben Chromosom. Einen
auch wenn HMR Yα anstelle von Ya enthält. Diese Donor-Präfe- Vergleich der Organisationsformen verschiedener MAT-Regio-
renz wird durch ein kurzes DNA-Element (244 bp) reguliert, das nen in Hefen gibt . Abb. 9.37.
als Rekombinations-Enhancer (RE) bezeichnet wird (. Abb. 9.35); Die Erkenntnisse aus dem Paarungstyp-Wechsel bei der
es liegt zwischen dem HMLα-Element und dem Centromer Bäckerhefe haben aber nicht nur wissenschaftliche Bedeutung,
(~ 16 kb unterhalb von HMLα). In MATa-Zellen binden die Tran- sondern sie haben auch zu neuen Erkenntnissen bei dem Pilz
skriptionsfaktoren Mcm1 (engl. minichromosome maintenance) Candida albicans geführt. Infektionen mit C. albicans sind für
und Fkh1 (engl. forkhead) an den Rekombinations-Enhancer und eine Reihe von Erkrankungen verantwortlich, die von Schei-
aktivieren ihn dadurch. Mutationen an zwei Basenpaaren inner- denentzündungen bis zu Infektionen des Blutkreislaufs reichen
halb der Mcm1-Bindestelle heben die RE-Aktivität vollständig und in zunehmendem Maße zum Tod führen. Der »Erfolg«
auf. In MATα-Zellen bindet dagegen das MATa2-Protein an den dieses Hefepilzes rührt daher, dass er sowohl als ein relativ
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
381 9

. Abb. 9.37 Vergleich der Organisation der MAT-Region bei neun Hefespezies und Neurospora. Die Hauptlinie gibt die Organisation der α-Form an, wohin-
gegen die a-Form jeweils darunter dargestellt ist; vertikale Linien verbinden orthologe Gene. Die Position der Schnittstelle der HO-Endonuklease ist ange-
geben, wenn sie vorhanden ist. Die Farben entsprechen konservierten Genen: rot: α-Typ; grün: a-Typ; blau: homologe Gene zum Chromosom 3 (Bereich
YCR033W-YCR038W) von S. cerevisiae; weiß: homologe Gene zum Chromosom 3 (Bereich YCR042W-YCR045W); orange: homologe Gene zum Chromosom 10;
grau: homologe Gene zum Chromosom 12; hellviolett: homologe Gene zum Chromosom 14; grauer Gradient: CAN1; rosa: DIC1; gelb: APN2. Die Gen-Namen
in Klammern sind speziesspezifisch. (Nach Butler et al. 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA)

gutartiger Begleiter seines Wirts in dessen natürlicher Flora lässt auf ein hohes Maß an Plastizität und Adaptionsfähigkeit
an vielen Stellen eines gesunden Körpers lebt – aber als Ant- schließen. Bis 1985 wusste man nur, dass der Pilz zwischen
wort auf veränderte Bedingungen der Wirtsphysiologie ist er Sprosszellen und Hyphen wechseln kann, und bis 1999 waren
in der Lage, in fast jedes Gewebe einzudringen. Seine Fähig- keine Paarungstyp-Gene bekannt. Daher dachte man lange
keit, Biofilme herzustellen, dem Immunsystem zu entkommen Zeit, dass eine Paarung, der primäre Mechanismus der Rekom-
und sich gegen Antipilzmittel erfolgreich zur Wehr zu setzen, bination, bei C. albicans nicht stattfindet. Inzwischen kennen
382 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Saccharomyces cerevisiae Candida albicans


a Wechsel der Paarungstypen c Homozygotie

HML HMR HML HMR MTL MTL


a α a α
a a
Konversion Konversion
α α
MAT MAT
a α

HML HMR HML HMR MTL MTL


a α a α
a α
a α
MAT MAT
α a

b Paarung von Haploiden a x α d Paarung von Homozygoten a/a x α/α

MTL MTL
MAT MAT a α
α a
a α
9
MTL
MAT a
a
a
α α
α
Meiose

zufälliger Verlust
von Chromosomen
MAT MAT
a α

. Abb. 9.38 Vergleich des Mechanismus des Paarungstyp-Wechsels zwischen S. cerevisiae und C. albicans. a, c Während S. cerevisiae den Paarungstyp-
Wechsel durch eine Rekombination und Expression des stillen α- bzw. a-Allels vollzieht (a), muss C. albicans zunächst für α bzw a homozygot werden (c).
b Der Paarungsvorgang erzeugt bei S. cerevisiae eine diploide Zelle für MAT (α/a), die durch eine Meiose wieder in den haploiden Zustand zurückkehrt.
d Bei C. albicans entsteht dagegen eine tetraploide, heterozygote Zelle (α/α/a/a) für MTL (engl. mating type like locus), die wahrscheinlich über einen zufäl-
ligen Verlust von Chromosomen wieder zum diploiden Zustand zurückkehrt. (Nach Soll 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

wir aber eine Reihe von phänotypischen Wechsel-Systemen > Hefen sind als Haplonten oder Diplonten lebensfähig.
bei C. albicans, vor allem auch aus klinisch relevanten Isolaten. Haploide Zellen unterschiedlicher Paarungstypen können
Auch die entsprechenden Gene für den Paarungstyp-Wechsel fusionieren und diploide Zellen bilden. Der Paarungstyp von
sind identifiziert; das entsprechende Gensymbol ist MTL Saccharomyces cerevisiae wird durch die genetische Konsti-
(engl. mating-type like locus). Im Gegensatz zu S. cerevisiae tution des MAT-Locus bestimmt. Spontane Veränderungen
durchläuft aber C. albicans ein tetraploides Stadium während des Paarungstyps beruhen auf einer Endonuklease-
des Paarungsprozesses (. Abb. 9.38) – dadurch ist die Regu- kontrollierten DNA-Veränderung im MAT-Locus. Im Genom
lation des gesamten Prozesses wesentlich komplexer und er- sind stets zwei zusätzliche Kopien des MAT-Locus vorhan-
klärt auch seine späte Entdeckung. Es wird auch darüber spe- den, je eines für den a- und den α-Paarungstyp. Durch Gen-
kuliert, dass die spezifische Pathogenität von C. albicans mit konversion kommt es zum Wechsel des Paarungstyps.
der Regulation seiner Paarungsfähigkeit zusammenhängt. Es
scheint kein Zufall zu sein, dass die Paarungsfähigkeit erleich-
tert ist, wenn C. albicans auf der Haut immobilisiert ist, und 9.3.5 Oberflächenantigene von Trypanosoma
dass ein bestimmter Phänotyp selektiv die Haut kolonisiert.
Möglicherweise ergeben sich aus diesen Befunden auch neue Der Erreger der Schlafkrankheit, der Flagellat Trypanosoma bru-
therapeutische Möglichkeiten für die Bekämpfung der Candi- cei, wird durch die Tsetse-Fliege Glossina palpalis (Muscidae)
dosen. übertragen. Der Flagellat (Protozoa) vermehrt sich nach der
9.3 · Umlagerung von DNA-Fragmenten
383 9
Übertragung durch die Stechfliege im Blut des Menschen über
einige Monate, bis er in die Cerebralflüssigkeit übergeht und ei-
nen tödlichen Krankheitsverlauf auslöst. Der Lebenszyklus von
T. brucei ist in . Abb. 9.39 schematisch dargestellt.
Zu Beginn der Infektion ist das Immunsystem in der Lage,
sich weitgehend gegen die Erreger zu wehren. Eine kleine ver-
bleibende Population des Flagellaten entkommt aber der Erken-
nung durch die Immunabwehr dadurch, dass er ein neues Ober-
flächenprotein bildet. Dessen Glykoproteine (engl. variable sur-
face glycoproteins, VSGs) wirken als Antigendeterminanten und
sind mit etwa 107 Molekülen in der Plasmamembran integriert.
Jedes Individuum von T. brucei hat ein Repertoir von etwa 100
solchen Glykoproteinen mit unterschiedlichen Antigenvarianten
verfügbar, die im Laufe des Infektionszyklus zur Ausprägung
kommen. Ihr häufiger Wechsel (etwa ein- bis zehnmal in 106
Individuen) gestattet es dem Parasiten, der menschlichen Immun-
abwehr zu entrinnen.
VSGs sind glykosylierte Polypeptide mit einer Länge von
etwa 500 Aminosäuren, die als Homodimere auftreten. Sie wer-
den von einer Multigenfamilie von etwa 1500 Genen im Genom
des Parasiten codiert. Jedes Gen besteht aus einer variablen und
einer konstanten Region. Konstante Bereiche, die in der
Plasmamembran fixiert sind, sind nicht vollständig identisch,
sondern nur ähnlich. Hingegen enthält der Aminoterminus die
voneinander verschiedenen Antigendeterminanten. Lediglich
eines dieser Gene ist jeweils aktiv und befindet sich im Subtelo-
merbereich eines der vielen Chromosomen des Parasiten. Die
Subtelomerbereiche können sich in der Evolution schnell verän-
dern (sie liegen zwischen den Telomerbereichen und den kon-
ventionellen euchromatischen Regionen des Chromosoms). Es
gibt vier Typen von VSG-Loci, alle sind subtelomerisch lokali-
siert (. Abb. 9.40):
4 Das »stille Archiv« der VSGs beinhaltet lange Wieder- . Abb. 9.39 Der Entwicklungszyklus von Trypanosoma brucei. Mit dem
holungseinheiten, die zwischen fünf und über 150 Gene Stich einer Tsetse-Fliege gelangt der Erreger über die Haut in die Blut- und
enthalten. Davon sind nur rund 4 % intakte Gene, 65 % Lymphbahn, über die er sich als lange, schlanke Form verbreitet. Die Trypa-
nosomen gelangen zurück in die Tsetse-Fliege, wenn diese nach einem
Pseudogene, 21 % Genfragmente und 9 % wahrscheinlich Stich in einen infizierten Menschen die plumpe, gedrungene Form wieder
unvollständige Gene. aufnehmen. Im Mitteldarm des Insekts verwandeln sich die Erreger in die
4 Die zweite Gruppe besteht aus ca. 100 Minichromosomen, prozyklische Form und wandern in die Speicheldrüse ein. Dort entwickeln
die wahrscheinlich als Lager für stille VSGs dienen. sie sich zu der infektionsfähigen, metazyklischen Form. Die ruhenden und
4 Die dritte Gruppe umfasst etwa 15 bis 20 spezialisierte metazyklischen Formen exprimieren ein variables Glykoprotein auf ihrer
Oberfläche (VSG), das von einer der vielen Telomer-nahen Expressionsstel-
Transkriptionseinheiten, von denen VSGs während des len (ES) abgelesen wird. Prozyklische Parasiten exprimieren dagegen Pro-
Aufenthaltes im Blut des Wirts abgelesen werden (engl. cycline, deren Genorte eher im Inneren der Chromosomen liegen. (Nach
bloodstream expression site, BES). Diese Bereiche sind Dreesen et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
polycistronisch und üblicherweise etwa 50 kb lang. Alle Group)
BES-Elemente werden flankiert von Regionen, die viele
Retrotransposons und 50-bp-Wiederholungselemente
enthalten. Die BES dehnen sich unterhalb eines RNA- Da die subtelomere Region offensichtlich das gesamte VSG-Sys-
Polymerase-I-Promotors über mehrere Gene aus, die mit tem enthält, hat diese Region viele kritische Funktionen in der
den Expressionsstellen assoziiert sind (engl. expression Antigen-Variation zu erfüllen: Das »stille Archiv« muss sich wei-
site-associated genes, ESAGs), und umfassen auch noch terentwickeln können; es muss einen Mechanismus geben, um
einen Bereich von mehreren Hundert unvollständigen stille Information in die BES zu kopieren; es muss einen Mecha-
Wiederholungseinheiten, die sehr TAA-reich sind und als nismus geben, der alle bis auf einen BES während des Aufenthal-
»70-bp«-Elemente bezeichnet werden (und auch bei den tes in der Blutbahn stilllegt; und die anderen Expressionsstellen
VSGs vorkommen). müssen über die längsten Zeiträume während des Lebenszyklus
4 Die vierte Gruppe umfasst einen Satz metazyklischer ebenfalls abgeschaltet sein.
VSG-Gene (MVSG), die in der infektiösen, metazyklischen Der VSG-Wechsel, d. h. der Prozess der Antigen-Variation,
Population der Tsetse-Fliege aktiv sind. ist in erster Linie ein Genkonversions-Mechanismus: VSGs wer-
384 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Abb. 9.40 Die vier Gruppen von VSG-Genorten in T. brucei. Die Karte für jeden Genort gibt auch die ungefähre Zahl der Gene im Genom an. Gene und
Pseudogene sind als Pfeile dargestellt: Intakte VSGs (engl. variant surface glycoproteins) sind schwarz, VSG-Pseudogene grau und andere Gene weiß (alle
gehören zur Gruppe der ESAGs, engl. expression site-associated genes); in Klammern steht die Nummer der entsprechenden ESAG-Familie. Ein ingi-Retro-
transposon ist geriffelt dargestellt; kurze Pseudogene sind als Balken mit ψf gekennzeichnet. Die verschiedenen Wiederholungselemente sind durch
schmale Balken dargestellt; die Größe der Wiederholungseinheit ist angegeben. Die 70-bp-Wiederholungseinheit ist durch dünne vertikale Linien angege-
ben (n > 3). VSG-Promotoren sind als geknickte Pfeile dargestellt; die dicken horizontalen Linien unter den VSG-Reihen zeigen die Stellen des Strangwechsels.
Die Anwesenheit eines ingi-Elementes ist typisch für die Strangwechsel-Regionen in VSG-Reihen. BES: bloodstream expression sites; MVSG: metacyclic VSG;
telo: Telomer. (Nach Horn und Barry 2005, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

den individuell in BES kopiert und eliminieren dabei das gerade Transkripte eine Sequenz von 35 Nukleotiden aus einer
aktive Gen. Üblicherweise läuft die kopierte Sequenz von der Donor-DNA addiert, die von einem weiter entfernt liegen-
70-bp-Wiederholungseinheit bis zu den konservierten Elemen- den Bereich sich wiederholender Gene codiert wird. Der
ten in oder hinter der codierenden Region. Einen Überblick dazu Reifungsprozess dieser RNA wird durch das Anheften einer
gibt . Abb. 9.41. Wie auch beim Paarungstyp-Wechsel der Hefen Reihe von Adenosinmolekülen am 3’-Ende abgeschlossen
geht man davon aus, dass ein Doppelstrangbruch den Prozess des (Polyadenylierung). Beim Editieren der RNA werden
VSG-Wechsels einläutet. Transkripte dadurch verändert, dass einzelne Basen deletiert
oder inseriert werden. Bei Trypanosomen betrifft dies in
*Ein fundamentaler Prozess des VSG-Systems ist die strikte
Transkriptionskontrolle, dass nämlich nur ein Gen transkri-
besonderem Maße die Protein-codierenden Gene der
Mitochondrien (bis zu 50 % der Nukleotide).
biert wird und alle anderen stillgelegt sind. Die Gene, die
nicht transkribiert werden, haben keinen Promotor und > Trypanosoma, der Erreger der Schlafkrankheit, zeichnet
befinden sich in reprimiertem Chromatin. Komplexere Kon- sich durch variable Oberflächenantigene an seiner
trolle ist für die zwei Typen der Expressionsstellen notwen- Plasmamembran aus. Durch den Wechsel dieser Antigene
dig, da sie als Familien vorkommen und nur eine Stelle aktiv nach der Infektion vermag der Parasit der Immunabwehr
ist (»allele Exklusion«). Es ist zurzeit Gegenstand der For- zu entrinnen. Der Wechsel des exprimierten Antigens
schung, abzuklären, welche Funktion die Telomere in die- ist mit DNA-Veränderungen verbunden.
sem Prozess haben.

C Weitere Besonderheiten von Trypanosomen sind das trans-


Spleißen und das Editieren von RNA in größerem Ausmaß,
als wir es von anderen Organismen kennen. Beim trans-
Spleißen wird an einem Ende intronloser, polycistronischer
9.4 · Immunsystem
385 9
. Abb. 9.41 VSG-Wechsel durch Genkon-
a
version. a VSG-Wechsel ist häufig von Homo-
logiebereichen oberhalb und innerhalb der
3’-konservierten Regionen (schwarze Recht-
ecke) der VSG-Gene (farbige Rechtecke) ab-
hängig. Die Telomer-Wiederholungsein-
heiten, die am Ende der aktiven VSG-Expres-
sionsstellen liegen, sind durch Dreiecke ge-
kennzeichnet. Oberhalb der Donor- und
Akzeptor-VSGs befindet sich eine unter-
schiedliche Anzahl der charakteristischen
70-bp-Wiederholungseinheiten (schraffierte
Rechtecke). Genkonversion führt zur Duplika-
tion des stillen VSG (rotes Rechteck B) in die
aktive VSG-Expressionsstelle und ersetzt da-
rin das vorher aktive VSG (blaues Rechteck C).
b Mosaikförmige VSGs können durch seg-
mentelle Genkonversion verschiedener VSG-
Pseudogene (farbige Rechtecke) entstehen;
b 0 0,5 1,0 1,5 kb die senkrechten Linien deuten Stoppcodons
an. Im unteren Teil sind schematisch resultie-
rende mosaikartige Gene dargestellt; damit
wird die große Vielfalt verschiedener chimä-
rer Formen von VSGs angedeutet. (Nach
Taylor und Rudenko 2006, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)

78

78

78

9.4 Immunsystem Die Synthese von Antikörpern erfolgt ausschließlich in spe-


ziellen Zellen des Immunsystems, den Lymphocyten. Hauptklas-
9.4.1 Funktion des Immunsystems der Säuger sen dieser Zellen sind die B- und die T-Lymphocyten. Sie erfüllen
jeweils charakteristische Aufgaben im Bereich der Immunabwehr.
Das Immunsystem ist ein Abwehrsystem eines Organismus, sich Beide Lymphocytentypen gehören, wie auch die übrigen Zellen
gegen infektiöse Agenzien wie Viren, Bakterien, Pilze etc. zu des Immunsystems und die Erythrocyten, dem hämatopoeti-
wehren. Wir können zwei grundsätzlich verschiedene Arten der schen (blutbildenden) System an. Sie entstehen, wie alle Blutzel-
Immunantwort unterscheiden, die »angeborene« Immunant- len, aus Stammzellen im Knochenmark (. Abb. 9.42).
wort (engl. innate immunity) und die adaptive oder erworbene Die Antikörper sind zunächst an die Membran naiver Lym-
Immunreaktion. Die angeborene Immunantwort richtet sich phocyten gebunden; nach der Erkennung eines körperfremden
im Wesentlichen gegen Mikroben und Parasiten und ist weit Stoffes durch einen B-Lymphocyten beginnt dieser zu proliferie-
verbreitet; die erworbene Immunantwort ist dagegen hochspe- ren und bildet eine große Anzahl von Plasmazellen. Alle von
zifisch und nur bei Wirbeltieren bekannt. Immunität wird also ihm abgeleiteten Plasmazellen produzieren den gleichen spezifi-
durch das Zusammenwirken vieler verschiedener Zellen er- schen Antikörper gegen ein bestimmtes Antigen (klonale Selek-
reicht; einige davon zirkulieren im Körper, andere sind in ver- tion; Burnet 1959, Talmage 1957). Dieser Antikörper wird nun
schiedenen Organen des Lymphsystems konzentriert. Eine jedoch nicht mehr vorwiegend als membrangebundene Form
wichtige Säule der erworbenen Immunantwort sind Antikörper. synthetisiert, sondern wird in einer löslichen Form ins Blut ab-
Diese sind imstande, körperfremde Stoffe (Antigene) zu erken- gegeben.
nen und sich daran anzulagern. Diese Anlagerung führt zur T-Lymphocyten (auch T-Zellen genannt) werden ebenfalls
Bildung eines Antikörper-Antigen-Komplexes, der anschlie- im Knochenmark gebildet, müssen jedoch zunächst im Thymus
ßend durch spezialisierte Zellen des Immunsystems vernichtet eine Reifungsphase durchlaufen, um funktionsfähig zu werden.
werden kann. T-Zellen unterstützen die B-Lymphocyten in ihrer Funktion, in-
386 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

aktion anderer Zellen, beispielsweise von B-Lymphocyten, stimu-


lieren. Sie sind ein unentbehrlicher Bestandteil des Immunsystems.
Das wird besonders deutlich daran, dass sie die Wirtszellen des
AIDS-Virus (HIV) (7 Abschn. 9.2.2) sind, die durch das Virus
letztlich zerstört werden. Hierauf beruht die Zerstörung der Funk-
tionen des Immunsystems durch das AIDS-Virus.

> Antikörper werden in Lymphocyten synthetisiert. Ein Lym-


phocyt vermag nur ein bestimmtes Antigen zu erkennen.
Nach der Erkennung eines körperfremden Antigens durch
die Antikörper an der Zellmembran eines Lymphocyten
beginnt dieser zu proliferieren und dadurch Plasmazellen
zu erzeugen, die Antikörper gegen das gleiche Antigen
erzeugen können.

Nicht alle B-Lymphocyten, die durch ein Antigen aktiviert wer-


den, differenzieren zu Plasmazellen, die Antikörper freisetzen.
Manche bleiben als Gedächtniszellen (engl. memory cells) zurück
und können im Falle später erforderlicher Immunreaktionen be-
sonders schnell aktiviert werden und eine sekundäre Immun-
9 reaktion einleiten. Der überwiegende Teil der peripheren Lym-
phocytenpopulation unseres Immunsystems gehört solchen
Gedächtniszellpopulationen an. Auf der Existenz von Gedächt-
niszellen im Immunsystem beruht der erhöhte immunologische
Schutz gegen Infektionen, der einem Organismus durch Impfung
vermittelt werden kann. Durch die Injektion von Antigenen (Ak-
tivimpfung) in Form eines bestimmten Krankheitserregers wird
die primäre Immunreaktion eingeleitet. Als Antigene können
entweder inaktivierte Erreger oder dem Erreger verwandte, aber
nicht pathogene Organismen oder auch einzelne Antigene eines
Erregers dienen. Die Immunreaktion verläuft mit einer gewissen
Verzögerung, da zunächst B-Lymphocyten zur Proliferation ak-
tiviert werden müssen. Erst nach deren Vermehrung kann die
. Abb. 9.42 Das hämatopoetische System. Aus den hämatopoetischen
Stammzellen im Knochenmark entstehen einerseits die myeloiden Stamm-
Immunabwehr voll zur Geltung kommen. Der entscheidende
zellen, die sich zu Granulocyten und (kernlosen) Erythrocyten entwickeln, Effekt einer Schutzimpfung ist jedoch nicht das Einsetzen dieser
und andererseits über die lymphoiden Stammzellen die Zellen des Immun- Abwehrreaktion (primäre Immunreaktion), sondern die gleich-
systems. Hierzu gehören die Lymphocyten, die für die Antikörperproduk- zeitige Bereitstellung von Gedächtniszellen. Im Falle einer wie-
tion verantwortlich sind. (Nach Müller und Hassel 2012, mit freundlicher
derholten Infektion setzt die Immunreaktion (sekundäre Im-
Genehmigung von Springer)
munreaktion) sehr viel schneller ein, da nunmehr die Gedächt-
niszellen zur Verfügung stehen. Diese Gedächtniszellen prolife-
dem sie mit ihrem an der Zellmembran gebundenen T-Zell- rieren wesentlich schneller als die B-Lymphocyten während der
Rezeptor an B-Lymphocyten gebundene Antigene erkennen und primären Antikörperreaktion. Das hat zur Folge, dass die Im-
an diese binden. Im Gegensatz zu B-Lymphocyten erkennen munabwehr bei wiederholter Reizung durch das gleiche Antigen
T-Zellen nur gebundene Antigene. Hierfür ist ein Erkennungs- wesentlich schneller einsetzt und damit einen besseren Schutz
signal an der Antigen-tragenden Zelle, das Histokompatibilitäts- bietet. Impft man fertige Antikörper (Passivimpfung), so wird
antigen, erforderlich. Aufgabe der T-Zellen ist es nun, einerseits das Immunsystem selbst nicht aktiviert und der Impfschutz ist
dieses Histokompatibilitätsantigen, andererseits den Antigen- zeitlich sehr begrenzt, da die Spenderimmunglobuline innerhalb
Antikörper-Komplex am B-Lymphocyten mittels des T-Zell- weniger Wochen abgebaut werden.
Rezeptors zu erkennen. T-Zellen sind selbst nicht imstande,
> Der Nutzen von Schutzimpfungen beruht auf der Eigen-
Antikörper zu sezernieren.
schaft von Lymphocyten, bei einem ersten Kontakt mit
Es werden mehrere Typen von T-Zellen unterschieden, die
einem Antigen mitotisch Zellen zu erzeugen, die eine
cytotoxischen T-Lymphocyten (CTL) (auch Killer-T-Zellen ge-
langfristige Funktion als Gedächtniszellen besitzen. Bei
nannt), Helfer-T-Zellen (TH-Zellen) und Suppressor-T-Zellen
erneuter Infektion mit einem Antigen ermöglichen sie
(TS-Zellen). Wie der Name andeutet, haben CTLs die Aufgabe,
eine sehr schnelle sekundäre Immunreaktion.
Zellen mit körperfremden Antigenen an ihrer Zelloberfläche zu
vernichten. TS-Zellen dämpfen eine immunologische Reaktion; Die Erkennungssignale, die von Antikörpern erkannt werden,
TH-Zellen dagegen sezernieren Proteinfaktoren, die die Immunre- umfassen oft nur wenige (fünf bis zehn) Aminosäuren eines Pro-
9.4 · Immunsystem
387 9
teins, sind also im Allgemeinen recht klein, verglichen mit der Gene im Laufe der Lymphocytendifferenzierung hervorge-
Größe eines Proteinmoleküls. Man bezeichnet den Molekül- bracht.
bereich, der durch einen bestimmten Antikörper erkannt wird, 4 Der Schutz des Organismus gegenüber Angriffen durch das
als Antigendeterminante (oder Epitop). Ein einzelnes Protein eigene Immunsystem erfolgt dadurch, dass Lympho-
besteht demnach aus einer Vielzahl von Antigendeterminanten. cytenklone, die gegen körpereigene Antigene gerichtet
Hierbei lässt sich zwischen stärker immunogenen, d. h. die Pro- wären, deletiert oder anergisiert (ruhiggestellt) werden.
liferation der B-Lymphocyten stärker induzierenden Epitopen
und schwächer oder gar nicht immunogenen Epitopen unter- Auf beide Antworten soll im Verlauf unserer weiteren Betrach-
scheiden. Da ein Lymphocyt nur jeweils einen bestimmten Anti- tung etwas genauer eingegangen werden. Zuvor werden jedoch
körpertyp produzieren kann, sind zur Erkennung der unter- die zentralen molekularen Gesichtspunkte zusammengefasst,
schiedlichen Antigendeterminanten die Antikörper vieler ver- die zum Verständnis der Antikörperreaktionen erforderlich sind.
schiedener Lymphocyten erforderlich. Die Immunabwehr bedarf Die große Anzahl der benötigten Antikörper schließt die
jedoch nur eines einzigen Lymphocytentyps, um ihre Aufgabe zu Möglichkeit aus, dass sie alle unabhängig voneinander im Ge-
erfüllen. nom codiert werden (Keimbahnhypothese). Auf welche Weise
Die geringe Ausdehnung eines durch einen Antikörper er- die Bildung einer Vielzahl verschiedener Antikörper erreicht
kannten Epitops lässt erwarten, dass man gleiche oder sehr ähn- wird und wie die zellspezifische Produktion jeweils nur eines
liche Epitope in unterschiedlichen Proteinen wiederfindet, da dieser Antikörper gesteuert wird, wurde durch die Aufklärung
kurze identische Aminosäuresequenzen in vielen Proteinen vor- der molekularen Struktur der Gene deutlich, die Antikörper co-
kommen. Dadurch wird die Anzahl möglicher unterschiedlicher dieren: der Immunglobulin-Gene (Ig). Ausgangspunkt dieser
Antigendeterminanten reduziert. Dennoch ist die Anzahl unter- Erkenntnis war der Vergleich der Ig-Genstruktur in Antikörper-
schiedlicher Epitope, die insgesamt durch Antikörper erkannt produzierenden Zelllinien (Mausmyelomazellen) mit der ent-
werden müssen, beträchtlich. Die Schätzungen der Anzahl un- sprechenden Ig-Genstruktur in beliebigen somatischen oder
terschiedlicher Antigendeterminanten, auf die das Immunsys- Keimbahnzellen von Mäusen. Hierbei stellte sich heraus, dass die
tem funktionell vorbereitet sein muss, um einen vollständigen Gene im Laufe der Differenzierung der Zellen zu Lymphocyten
immunologischen Schutz zu bieten, liegen zwischen 106 und 107. ihre DNA-Struktur verändern.
Man könnte allerdings argumentieren, dass nicht alle Epitope
eines Proteins durch einen Antikörper erkannt werden müssen,
um dieses als körperfremd zu erkennen und zu inaktivieren. Die 9.4.2 Immunglobulin-Gene
Anzahl der erforderlichen unterschiedlichen Antikörper wäre
dann erheblich niedriger. Die Grundzüge der Struktureigenschaften von Antikörpern lassen
Das wirft sehr schwerwiegende Fragen hinsichtlich der gene- sich in den folgenden Punkten zusammenfassen (. Abb. 9.43):
tischen Codierung des Immunsystems auf, wie sich aus der fol- 4 Ein Antikörper besteht aus einem Komplex von zwei iden-
genden Abschätzung leicht erkennen lässt: Die genetische Infor- tischen schweren (H-Ketten, engl. heavy chain) und zwei
mation, die erforderlich ist, um einen bestimmten Antikörper zu identischen leichten (L-Ketten, engl. light chain) Protein-
codieren, liegt bei 6000 bp DNA (s. unten). Zur Codierung aller ketten, die über Disulfidbrücken untereinander verbunden
möglichen Antikörper wären daher mindestens 6 × 109 bp DNA sind.
(106 × 6000 bp) erforderlich. Diese DNA-Menge würde bereits 4 Jede leichte Kette ist aus einer variablen (V für engl. varia-
die Größe des menschlichen Genoms (2 × 109 bp) überschreiten. ble) und einer konstanten (C für engl. constant) Region
Die Vielfalt der Reaktionen des Immunsystems muss daher auf aufgebaut. Beide Regionen sind über eine J-Region (für
einem anderen genetischen Mechanismus beruhen als auf der engl. joining) miteinander verbunden.
getrennten Codierung vieler unterschiedlicher Gene. Diese Ei- 4 Jede schwere Kette besteht aus einer variablen und drei
genschaften werfen daher schon bei oberflächlicher Betrachtung hintereinanderliegenden, nahezu identischen konstanten
zwei grundlegende Fragen auf: Regionen. Die variablen und die konstanten Regionen
4 Wodurch können so viele unterschiedliche Antikörper sind über eine D- (für engl. diversity) und eine J-Region
bereitgestellt werden, dass sie imstande sind, eine Diversität miteinander verbunden.
von über 106 Erkennungsstrukturen für unterschiedliche 4 Die variablen Regionen einschließlich der D- und J-Region
Antigendeterminanten abzudecken? beider Ig-Ketten sind für jeden Antikörpertyp individuell
4 Wie unterscheidet das Immunsystem zwischen körper- charakteristisch und vermitteln die Antigenspezifität.
eigenen Stoffen, die ja von der Immunabwehr nicht ange- 4 Die V-, D-, J- und C-Regionen werden in unterschiedli-
griffen werden dürfen, und körperfremden Antigenen, die chen Bereichen der DNA codiert. Während der Entwick-
zuverlässig entfernt werden müssen? lung eines B-Lymphocyten werden diese Bereiche durch
Rekombinationsereignisse in der DNA aneinandergesetzt.
Auf beide Fragen können wir heute zumindest in prinzipieller Auf diese Weise entstehen die unterschiedlichen Antigen-
Form Antworten geben. Zusammenfassend lauten die Ant- spezifitäten.
worten: 4 Nach der Konstruktion eines funktionellen H- oder
4 Die große Vielfalt der verschiedenen Antikörper wird durch L-Ketten-Gens im Lymphocyten erfolgen zusätzliche
Veränderungen in der DNA-Struktur der betreffenden (somatische) Mutationen, insbesondere auch in den
388 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

werden, können unterschiedliche konstante Regionen


vorkommen. Sie bestimmen nicht die Antigenspezifität,
sondern andere spezifische Funktionen der Antikörper
(Membranbindung; Aktivierung des Komplementsystems ‒
bestehend aus Proteinen, die Zellen abtöten, an die Anti-
körper gebunden sind; Aktivierung und Bindung von
Makrophagen; Induktion von Phagocytose; Induktion von
Histaminausschüttung der Mastzellen u. a.). Die Erken-
nungsspezifität des Antikörpers wird hierdurch nicht ver-
ändert. Die Änderung einer konstanten Region bezeichnet
man als Klassenwechsel (engl. class switch).
4 Evolutionär sind die verschiedenen V- und C-Regionen
a
durch Duplikationen auseinander entstanden.

Das Modell lässt uns die evolutionäre Verwandtschaft der varia-


blen, N-terminalen und der konstanten Regionen unmittelbar
erkennen. Sowohl die variable als auch die konstante Region sind
aus zwei β-Faltblättern zusammengesetzt, die durch Disulfidbrü-
cken miteinander verknüpft sind. Die Proteinbereiche zwischen
den beiden β-Faltblättern sind in ihrer sterischen Anordnung
9 nach der Außenseite des Antikörpers gerichtet und bilden den
Antigenerkennungsbereich.
> Ein Immunglobulinkomplex besteht aus zwei leichten
und zwei schweren Proteinketten. Diese untergliedern sich
in einen konstanten und einen variablen Abschnitt. Der
b variable Bereich vermittelt die Erkennung des Antigens.
Die funktionellen Gene für Antikörper werden während
. Abb. 9.43 Struktur eines IgG-Antikörpers. a Jede schwere Kette (engl. der Differenzierung von Lymphocyten im Knochenmark
heavy chain, H) besteht aus drei konstanten Regionen (CH1, CH2, CH3; hell-
durch komplexe intrachromosomale Rekombinations-
blau; engl. constant, C) und einer variablen Region (VH; rosa) am N-Termi-
nus. Jede leichte Kette (engl. light chain, L) besteht aus einer konstanten Re- ereignisse aus Teilstücken zusammengesetzt. Durch
gion (CL; hellblau) und einer N-terminalen variablen Region (VL; orange). Die Kombination unterschiedlicher Teilstücke vermag jeder
variablen Regionen der schweren und leichten Ketten bilden die Antigen- Lymphocyt ein für ihn spezifisches Immunglobulin-Gen
bindende Domäne (Antigen: blau). Mögliche Glykosylierungsstellen in der zusammenzustellen.
CH2-Region sind angedeutet (rot). Jedes IgG-Molekül lässt sich durch Prote-
asen spalten; Papain spaltet das Molekül in der »Knick«-Region (engl. hinge) Dieser allgemeinen Zusammenfassung der wesentlichen Eigen-
in zwei Fragmente: Fab (engl. fragment antigen binding) und Fc (engl. frag- schaften der Ig-Gene folgt nun eine tiefer gehende Besprechung
ment crystallizable). b Das Bändermodell eines Antikörpers zeigt einen IgG-
verschiedener Phänomene, die die zusätzliche Komplexität die-
Antikörper, der aus vier Polypeptidketten besteht: zwei identische leichte
Ketten in rosa und gelb und zwei identische schwere Ketten in lila und
ses Gensystems deutlich werden lässt. In vielen Punkten stellt sie
orange. (a nach Zafir-Lavie et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung der aber immer noch noch eine starke Vereinfachung der wirklichen
Nature Publishing Group; b nach Harris et al. 1998, mit freundlicher Geneh- Situation dar. Insbesondere erfolgt im Rahmen dieser Darstel-
migung von Elsevier lung eine Beschränkung auf die Mechanismen, die bei der Bil-
dung der schweren Kette (H-Kette) eines Antikörpers wichtig
hypervariablen Bereichen der V-Region, die zur Erhöhung sind. Insgesamt gibt es sieben verschiedene Genorte, die durch
der Antigenspezifität beitragen. ähnliche Mechanismen, d. h. durch somatische Rekombination,
4 Die DNA-Rearrangements, die zur Bildung eines funktio- die Antigen-Rezeptoren für T- und B-Lymphocyten herstellen;
nellen Ig-Gens erforderlich sind, erfolgen nur in einem der dieser Prozess wird allgemein als V(D)J-Rekombination bezeich-
beiden homologen Chromosomen, das Homologe bleibt net. Zu diesen Genen gehören Loci für die schwere (IgH) und für
genetisch inaktiv. Diese Erscheinung bezeichnet man als die beiden leichten Immunglobulinketten (Igλ und Igκ), die den
allele Exklusion (Allelausschluss) (engl. allelic exclusion). Antigen-Rezeptor sowie die sezernierten Antikörper der B-Zel-
4 Es gibt zwei verschiedene Genloci für leichte Ketten, die auf len codieren, sowie die Gene für die T-Zell-Rezeptoren β, δ und
unterschiedlichen Chromosomen liegen (beim Menschen α, γ. Der Umbau dieser Loci ist im Hinblick auf die jeweilige
in den Chromosomen 2 und 22, bei der Maus in den Zelllinie, das Entwicklungsstadium der Differenzierung und des
Chromosomen 6 und 16). Sie werden als κ- und λ-Ketten jeweiligen Allels streng kontrolliert. Auf die Entstehung und Be-
(Lκ und Lλ) bezeichnet. Beide Genloci kommen ausschließ- deutung des Haupthistokompatibilitäts-Komplexes (engl. major
lich alternativ, nie gleichzeitig zur Expression. histocompatibility complex, MHC) kann in diesem Zusammen-
4 In den schweren Ketten, die beim Menschen auf dem Chro- hang nicht eingegangen werden; es wird daher auf speziellere
mosom 14, bei der Maus auf dem Chromosom 12 codiert Literatur der Immungenetik verwiesen.
9.4 · Immunsystem
389 9

VH-Gene DFL16.1 Dq52 JH Eμ Cμ Cδ Cγ3 Cγ1 Cγ2b Cγ2α Cε Cα 3’ EH

VH (ungefähr 150) DH(12) JH(4)

DH
J558 3609 Q52 7183 andere

. Abb. 9.44 Organisation des Genorts für die H-Kette und Entstehung eines aktiven Gens. Der Genort für die schwere Immunglobulinkette der Maus um-
fasst etwa 3 Mb. Etwa 150 VH-Gensegmente befinden sich oberhalb der zwölf DH- und der vier JH-Segmente. Einige VH-Familien sind darunter angedeutet.
Drei bekannte cis-regulatorische Elemente (der intronische Enhancer Eμ, der Dq52-Promotor und die 3’-Locus-Kontrollregion) sind als rote Kreise angedeu-
tet. Die roten Rechtecke symbolisieren Genabschnitte für verschiedene konstante Elemente (Cμ bis Cα). (Nach Chowdhury und Sen 2004, mit freundlicher
Genehmigung von Wiley)

Der Genort für die schwere Kette der Immunglobuline (IgH) nicht jedes der verschiedenen Rekombinationsereignisse zu ei-
befindet sich beim Menschen auf dem Chromosom 14 nahe dem nem funktionsfähigen Translationsprodukt, da die V(D)J-Tri-
Telomer (14q32). Bei der Maus umfasst der IgH-Genort etwa pletts nicht immer einen offenen Leserahmen mit dem Cμ-
3 Mb in der Nähe des Telomers des Chromosoms 12; eine Über- Segment bilden.
sicht ist in . Abb. 9.44 dargestellt. Wir kennen etwa 150 oder
mehr funktionelle Segmente für die variable Region (VH), die *Hinsichtlich der somatischen Rekombinationsereignisse bei
der Bildung der funktionellen Ig-Gene ist es bemerkenswert,
etwa 15 Segmentfamilien zugeordnet werden können. Diese Seg-
dass die Konstruktion eines funktionellen Gens nur inner-
mente sind allein über ca. 2,7 Mb verteilt und liegen ca. 100 kb
halb einer kontinuierlichen DNA-Sequenz erfolgt (also nur in
oberhalb der etwa 12 bis 13 Gensegmente, die für die D-Region
cis). Eine Rekombination mit dem Allel des homologen
der H-Kette codieren (DH). Diese DH-Gensegmente liegen etwa
Chromosoms oder gar mit den Genen einer anderen Kette,
50 kb oberhalb der vier J-Abschnitte (JH), die nur etwa 2 kb um-
wie man es aus den Beobachtungen der Effekte meiotischer
fassen und gerade 700 bp unterhalb des letzten DH-Gensegments
Rekombination bei den Globin-Genen erwarten könnte, er-
liegen, das als DQ52 bezeichnet wird. Die verschiedenen Exons
folgt nicht. Diese Allel-Exklusion gibt es übrigens nicht nur
der konstanten Region beginnen mit Cμ etwa 7 kb unterhalb der
bei IgH, sondern auch bei den Genorten für den T-Zell-Re-
JH-Gensegmente und umfassen etwa 200 kb. Ein starker Enhan-
zeptor β (Tcrb) und die beiden leichten Ketten der Immun-
cer (Eμ) liegt in dem Intron zwischen JH und Cμ.
globuline (Igk, Igl). Dabei scheint das Replikationsmuster für
Mehrere verschiedene Mechanismen führen zur Verschie-
die Entscheidung verantwortlich zu sein, in welchem Allel
denheit der variablen Region der schweren Ketten. Dazu gehört
die Rekombination stattfindet: In 80 bis 90 % der B-Zellen
in erster Linie die zufällige Rekombination jeweils eines der ver-
sind es die früh replizierenden Allele, bei denen die V(D)J-
schiedenen VH-, DH- und JH-Segmente – V(D)J-Rekombination.
Rearrangements stattfinden. Eine mögliche Erklärung dafür
Die einzelnen Segmente sind dabei durch Rekombinations-Sig-
ist, dass früh replizierende Gene allgemein ein bevorzugtes
nalelemente getrennt, die aus 7 bzw. 9 bp bestehen und durch
Substrat für Chromatin-Umbau und daher in der G0/G1-
Verbindungsstücke von 12 oder 23 bp voneinander getrennt
Phase für RAG leichter zugänglich sind (Krangel 2003).
sind. Die VH- und JH-Segmente sind im 3’-Bereich jeweils von
einem 23-bp-Verbindungselement flankiert, wohingegen die > Ein wichtiger Mechanismus für die Herstellung spezifischer
DH-Gensequenzen an beiden Seiten von 12-bp-Verbindungsele- Antikörper ist die somatische Rekombination zwischen
menten flankiert sind. Die 12/23-Regel diktiert daher die große verschiedenen Segmenten in den Genbereichen, die für
Mehrheit der IgH-V(D)J-Rearrangements. Enzymatisch unter- die variablen Regionen der schweren bzw. der leichten
stützt wird die V(D)J-Rekombination durch die RAG-Endo- Ketten der Immunglobuline codieren (V(D)J-Rekombina-
nuklease, die durch die Genprodukte der beiden Gene RAG1 und tion); diese Rekombination ist auf ein Allel beschränkt.
RAG2 gebildet wird (engl. recombination activating gene, RAG).
Die RAG-Endonuklease induziert Doppelstrangbrüche in der Die molekulare Struktur der funktionellen Ig-Gene nach Ab-
DNA, und zwar spezifisch an den Grenzen zwischen zwei co- schluss der V(D)J-Rekombination gleicht derjenigen anderer
dierenden Segmenten und ihren flankierenden Rekombina- eukaryotischer Gene. Sie zeichnen sich durch den Besitz von
tions-Signalsequenzen. Die RAG-Funktion benötigt Rekombi- Exons und Introns aus und besitzen ein Signalpeptid, wie es ge-
nations-Signalsequenzen mit einem 12-bp-Verbindungsstück nerell für Proteine erforderlich ist, die durch Membranen des
auf der einen und einem 23-bp-Verbindungsstück auf der ande- endoplasmatischen Reticulums transportiert werden müssen.
ren Seite. Aufgrund der verschiedenen Zufälligkeiten führt aber Die Transkription der Ig-Gene unterscheidet sich daher auch
390 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

. Tab. 9.7 Immunglobulinklassen des Menschen

Klasse Schwere Kette Leichte Kette Molekulargewicht (kDa) Eigenschaften/Vorkommen

IgA α κ oder λ 360–720 In Tränen, Nasensekret, Muttermilch, Darmsekret


IgD δ κ oder λ 160 In Plasmamembran von B-Zellen
IgE ε κ oder λ 190 Bindet an Mastzellen, setzt Histamin für allergische Reaktion frei
IgG γ κ oder λ 150 Lösliche Antikörper im Blut, passiert die Plazentaschranke
IgM μ κ oder λ 950 In Plasmamembran von B-Zellen, vermittelt Erstreaktion des
Immunsystems; aktiviert Komplementsystem

Nach Karp (2005)

nicht prinzipiell von derjenigen anderer Protein-codierender eu- schiedliche Antigene gerichtet. Das macht es notwendig, dass ein
karyotischer Gene. Es wird zunächst ein primäres Transkript Lymphocytenidiotyp aber zugleich verschiedene Funktionen
gebildet, aus dem die Introns herausgeschnitten werden. Das bei der Antikörperproduktion wahrnehmen kann. So muss er
mRNA-Molekül wird mit einer 5’-Kappe und einem Poly(A)- z. B. sowohl membrangebundene als auch in Blut- bzw. Lymph-
Schwanz versehen, bevor es ins Cytoplasma transportiert und im bahn sezernierbare Antikörper herstellen können. Diese ver-
endoplasmatischen Reticulum an den Ribosomen translatiert schiedenen Aufgaben werden durch die jeweils vorhandene kon-
9 wird. Wie bei anderen differenzierten Zelltypen mit einer hohen stante Region der schweren Kette gesteuert. Jeder B-Lymphocyt
Rate an zellspezifischer Proteinproduktion, so ist auch bei den kann Antikörper gleicher Antigenspezifität mit unterschiedli-
Immunglobulinen der Anteil der Ig-spezifischen mRNA an der chen konstanten Regionen (Cμ, Cδ, Cγ, Cα und Cε) synthetisieren.
gesamten RNA der Zelle sehr hoch. So umfasst die mRNA der Auf diese Weise entstehen Antikörper der unterschiedlichen
H-Ketten in einer aktiv Ig-produzierenden Plasmazelle etwa Immunglobulinklassen IgM, IgD, IgG, IgA und IgE. Die Genseg-
10 % der gesamten mRNA. mente für die verschiedenen konstanten Regionen schließen sich
Eine wichtige Rolle spielt alternatives RNA-Spleißen für die im IgH-Locus an die V-D-J-Region an. Von dieser sind sie, ebenso
Produktion unterschiedlicher Formen von IgM (7 Abschn. 9.4.3). wie untereinander, durch Introns bzw. nicht Protein-codierende
Membrangebundenes IgM unterscheidet sich nämlich von DNA-Abschnitte abgetrennt (. Abb. 9.44). Die Synthese der ver-
sezerniertem IgM durch den Besitz eines besonderen M-Seg- schiedenen H-Ketten in einer Antikörper-produzierenden Zelle
mentes, das an die Cμ-Kette des freigesetzten IgM (auch μS-Kette erfolgt in der durch ihre Folge in der DNA festgelegten Sequenz. Die
genannt) angefügt wird und zur Bildung der μM-Kette führt. Die- Umschaltung der Zelle zur Produktion einer neuen Antikörper-
ses M-Segment besteht bei der Maus aus einem 41 Aminosäuren klasse bezeichnet man als Klassenwechsel (engl. class switching).
langen Peptidbereich, der sich durch einen hydrophoben Cha-
> Verschiedene Antikörper können sich auch in den konstan-
rakter auszeichnet und dadurch seine besondere Eigenschaft als
ten Regionen der H-Ketten unterscheiden. Die fünf ver-
Transmembranabschnitt der IgM-H-Kette erlangt. Bis zur Akti-
schiedenen Antikörperklassen (IgM, IgG, IgA, IgD und IgE)
vierung der Proliferation von B-Lymphocyten durch ein Antigen
sind durch eine jeweils charakteristische konstante Region
wird lediglich die Transmembranform des IgM produziert. Da-
gekennzeichnet und vermitteln unterschiedliche funktio-
nach beginnt die Synthese sezernierter IgM-Ketten durch früh-
nelle Aufgaben, ohne die Antigenspezifität zu verändern.
zeitige Termination der Transkription hinter dem Cμ4-Exon.
Zur Ausprägung der verschiedenen CH-Regionen bedient sich
die Zelle zweier unterschiedlicher molekularer Mechanismen,
9.4.3 Klassenwechsel, Hypermutation und Gen- dem der DNA-Rearrangements und dem des alternativen RNA-
konversion bei Immunglobulin-Genen Spleißens. Eine Antikörper-produzierende Zelle beginnt zunächst
stets mit der Synthese von IgM. Nach einem kurzen Zwischensta-
Antikörper lassen sich in fünf verschiedene Klassen einteilen, dium kommt als zweiter Isotyp in derselben Zelle auch IgD zur
die durch die jeweiligen unterschiedlichen konstanten Regionen Ausprägung. Dieser erste Klassenwechsel wird durch alternatives
der schweren (H-)Ketten charakterisiert sind: IgM, IgG, IgA, IgD RNA-Spleißen erreicht. Durch Änderungen im Terminationsver-
und IgE (. Tab. 9.7). Von einigen dieser Klassen wiederum gibt es halten bei der RNA-Synthese werden primäre Transkripte gebil-
mehrere Unterklassen, die sich durch geringfügige Unterschiede det, die auch die unterhalb von Cμ liegende Cδ-Region umfassen.
in der Aminosäuresequenz der betreffenden konstanten Region Durch RNA-Spleißen wird die Cδ-Region an die V-D-J-Region
unterscheiden. Die verschiedenen Klassen sind durch jeweils ei- angefügt. Hierdurch wird die Synthese von IgD ermöglicht. In der
gene DNA-Bereiche bestimmt, die in der zuvor genannten Folge gleichen Zelle wird jedoch auch noch IgM gebildet.
im Genlocus der schweren Kette angeordnet sind (. Abb. 9.44).
Zellen eines bestimmten B-Lymphocytenklons erkennen
stets nur ein bestimmtes Antigen. Unterschiedliche Lymphocy-
*Die Umschaltung zwischen verschiedenen Antikörperklassen
ist wahrscheinlich im Zusammenhang mit dem Differenzie-
tenklone hingegen sind dagegen im Allgemeinen gegen unter- rungsprozess eines B-Lymphocyten zu sehen, der durchlau-
9.4 · Immunsystem
391 9
fen werden muss, bevor er einen funktionellen Zustand er- tion wird ausgelöst, wenn ein Antikörper an der Oberfläche von
reicht. Antikörper-produzierende Zellen unterliegen nach der B-Zellen mit einem Antigen in Kontakt kommt; die Reaktion
Entstehung ihrer funktionellen Ig-Gene einer intensiven Se- beinhaltet im Kern die Einführung von Punktmutationen in die
lektion im Organismus. Würden alle nur möglichen Antigene variablen Regionen der Immunglobulin-Gene. Einige der muta-
durch Antikörper erkannt und unschädlich gemacht, müssten genisierten Antikörper werden eine höhere Affinität zu dem An-
notwendigerweise auch die Antigene des Organismus selbst tigen aufweisen, und Zellen, die diese Antikörper mit höherer
betroffen sein. B-Lymphocyten mit Antigenspezifitäten, die Affinität besitzen, proliferieren mehr und überleben bevorzugt.
Antigendeterminanten des Organismus selbst betreffen wür- Aufeinanderfolgende Zyklen von Mutation und Selektion führen
den, werden jedoch von der weiteren Entwicklung ausge- dann zur Optimierung der Antikörperbindung.
schlossen. Fehler in diesem Selektionsprozess führen zu Au- Der Bereich der Hypermutation ist auf einen kurzen Ab-
toimmunkrankheiten. Die Produktion von IgM und IgD in ei- schnitt von 1 bis 2 kb im Bereich des V-Exons der Immunglo-
nem B-Lymphocyten zeigt, dass diese Selektionsprozesse be- bulin-Gene (besonders die CDR1-Region) beschränkt und of-
endet sind. Von dem Zeitpunkt an, an dem beide Isotypen fensichtlich abhängig von der Aktivität des Promotors und da-
membrangebunden an einem B-Lymphocyten vorhanden mit von der Transkription. Es gibt außerdem Hinweise darauf,
sind, kann er unter Bildung von Plasmazellen und Gedächt- dass die Chromatinstruktur eine wichtige Rolle spielt, um den
niszellen proliferieren und damit seine immunologische Auf- Bereich der Hypermutation einzugrenzen. In den für die Hyper-
gabe im Rahmen des Immunsystems wahrnehmen. mutationen zugänglichen Bereichen arbeitet jedoch die AID auch
an genomischer DNA; die entstehenden Uracil-Reste können
Erst nach der Expression von IgM und IgD in B-Lymphocyten durch verschiedene Reparaturmechanismen ersetzt werden
kann die Zelle zur Produktion anderer Ig-Klassen umprogram- (. Abb. 9.45b); in der Summe führt es zu vielen verschiedenen
miert werden. Dieser Klassenwechsel ist stets mit weiteren Re- Punktmutationen.
kombinationsereignissen des IgH-Genlocus verbunden. Sie füh- Ein dritter Mechanismus (Genkonversion) zur Erhöhung
ren zur Ausschaltung bestimmter C-Regionen durch Elimina- der Antikörpervielfalt wird bei Hühnern und anderem Geflügel
tion ihrer DNA aus dem Gen. Im Gegensatz zu den Rearrange- beobachtet. Dabei erzeugen AID und Uracil-Nukleosidglykosy-
ments, die zur Bildung der V-D-J-Regionen führen, kann die lase eine basenfreie Stelle, die geschnitten wird. Das resultierende
Rekombination der C-Regionen auch zwischen homologen 3’-Ende wird dadurch repariert, dass von einem benachbarten
Chromosomen ablaufen. Die Rekombination erfolgt zwischen Pseudogen neue Sequenzinformation kopiert wird. Die belegte
repetitiven DNA-Abschnitten, die zwischen den verschiedenen 5’→3’-Direktionalität der Genkonversion lässt vermuten, dass ein
C-Regionen liegen; hierbei spielen die sogenannten S-Sequen- Einzelstrangbruch die Startstelle für die Genkonversion hervor-
zen (S für engl. switch) eine Rolle, wie von Mark M. Davis und bringt.
Mitarbeitern (1980) erkannt worden ist. Solche S-Sequenzen ha-
> Klassenwechsel, Hypermutation und Genkonversion sind
ben im Gegensatz zu den für die V-, D- und J-Rekombination
Mechanismen, die dazu beitragen, dass die Vielfalt der
wichtigen invertierten Wiederholungselementen keinen Palin-
Antikörper noch weiter gesteigert werden kann. Alle
dromcharakter. Sie haben jedoch einen relativ hohen Guanosin-
Mechanismen lassen sich auf die Wirkung einer aktivie-
Gehalt im nicht-codierenden Strang. Im Elektronenmikroskop er-
rungsinduzierten Desaminase (AID) zurückführen.
kennt man in diesem Bereich ausgedehnte Schlaufen (»G-Loops«),
die aus DNA-RNA-Hybriden bestehen und während der Tran-
skription entstanden sind. Die Guanosin-Reste in dieser Schlau-
*Die eben besprochenen Mechanismen leiten natürlich un-
mittelbar zu der Frage über, ob vergleichbare DNA-Rearran-
fe sind jedoch Substrat für einen enzymatischen Mechanismus, gements auch bei der Aktivierung anderer Gene ablaufen.
der in der letzten Zeit immer deutlicher in den Mittelpunkt vieler Insgesamt muss jedoch festgestellt werden, dass DNA-Verän-
Untersuchungen gerückt ist und zur Erklärung viele Phänomene derungen in Zusammenhang mit zellulärer Differenzierung
in der Erhöhung der Spezifität der Antikörper beigetragen hat: offenbar die Ausnahme sind, denn sie wurden nur bei einer
die aktivierungsinduzierte Cytidin-Desaminase (AID; . Abb. kleinen Anzahl von Fällen beobachtet. Bemerkenswert ist
9.45). Dieses Enzym entfernt Aminoreste im Cytidin des Tran- allerdings, dass bei diesen Genomveränderungen der Ig-
skripts, das dadurch zu Uridin wird. Die Uracil-Base wird aber Gene molekulare Mechanismen eingesetzt werden, die wir
durch die ubiquitäre Uracil-Nukleosidglykosylase herausge- bisher schon als Mechanismen kennengelernt haben, die
schnitten; die AP-Endonuklease 1 schneidet die DNA an der von Bedeutung für Evolutionsprozesse sind: Mutation und
Stelle, an der sich jetzt keine Base mehr befindet, und so entsteht Rekombination. Ganz offensichtlich machen multizelluläre
die Möglichkeit, in Abhängigkeit von der Transkription durch Organismen zur Entwicklung ihrer hohen funktionellen Kom-
anschließende Reparaturverfahren nach einem Doppelstrang- plexität von allen verfügbaren molekularen Mechanismen
bruch Rekombinationsprozesse einzuleiten (. Abb. 9.46). oft mehrfachen, unterschiedlichen Gebrauch, um die Vielfalt
Schon lange kennt man aber noch einen anderen Mechanis- ihrer Funktionen auszuweiten. Wenn allerdings das Immun-
mus, der zunächst als Hypermutation bekannt geworden ist und system einen Fehler macht und sich gegen körpereigene
schließlich auch auf AID zurückgeführt werden konnte. Die Mu- Stoffe richtet, spricht man von Autoimmunkrankheiten. Dazu
tationsrate in B-Zellen beträgt ungefähr eine Mutation pro 1 kb gehören die Multiple Sklerose, der Jugenddiabetes, die
und Zellzyklus; sie ist damit um das 106-fache höher als die spon- Graves-Krankheit (Basedow’sche Krankheit), die rheumatoide
tane Mutationsrate in anderen somatischen Zellen. Diese Reak- Arthritis oder der systemische Lupus erythematosus.
392 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

a AID-abhängige Mechanismen am Genort der schweren Kette

P VDJ E Sμ Cμ Cδ Cγ3 Cγ1 Cγ2b Cγ2a Cε Cα 3‘RR

Hypermutation Genkonversion Klassenwechsel

P VDJ E ψV P VDJ E P VDJ E Sμ Sε 3‘RR


μ δ ε

μ
ε

δ
b
5‘ C 3‘
3‘ G 5‘
AID
C
5‘ 3‘
9 3‘
G
5‘

Replikation der BER MMR


UG-Fehlpaarung

UNG U MSH2 MSH6


UNG 5‘ POLη A 3‘
3‘ T 5‘
5‘ C 3‘ 5‘ A 3‘ G
3‘ G 5‘ 3‘ G 5‘ 5‘ 3‘ fehleranfällige
EXO1
3‘ G 5‘ Reparatur durch
fehleranfällige fehlerfreie nahe gelegene fehlerfreie
Reparatur Reparatur AT-Paare Reparatur

5‘ A 3‘ 5‘ C 3‘ 5‘ C C 3‘ 5‘ C A 3‘
3‘ T 5‘ 3‘ G 5‘ 3‘ G T 5‘ 3‘ G T 5‘
und/oder und/oder
5‘ G 3‘ 5‘ C G 3‘
3‘ C 5‘ 3‘ G T 5‘
und/oder und/oder
5‘ T 3‘ 5‘ C T 3‘
3‘ A 5‘ 3‘ G T 5‘

. Abb. 9.45 Hypermutation, Genkonversion und Klassenwechsel. a Am Beispiel des Genorts der schweren (H-)Kette werden die verschiedenen Mechanis-
men erläutert, die durch die aktivierungsinduzierte Cytidin-Desaminase (AID) hervorgerufen werden. Die variable Region (VDJ, blaue Rechtecke) und die
konstante Region (graue Rechtecke) sind zusammen mit den switch-Regionen (grüne Ovale), dem Promotor (P), dem Enhancer (E) und der 3’-regulatorischen
Region (RR; jeweils schwarze Kreise) angedeutet. Die dünnen Pfeile deuten die Transkriptionsrichtung an. Somatische Hypermutation bewirkt Punktmutati-
onen (X) in der Nähe des V-Exons. Genkonversion beinhaltet die Übertragung (Kopie) von Sequenzinformation von einem Pseudogen (ψV) in die variable
Region. Klassenwechsel beinhaltet die Schlaufenbildung und Deletion von DNA zwischen zwei switch-Regionen (hier zwischen Sμ und Sε), wobei die kon-
stante Region der schweren (H-)Kette ausgetauscht wird. b Die aktivierungsinduzierte Cytidin-Desaminase (AID) initiiert somatische Hypermutation durch
die Desaminierung von Cytosin. Die resultierende UG-Fehlpaarung kann auf eine der drei angegebenen Möglichkeiten aufgelöst werden: Wenn die Fehl-
paarung bis zur Replikation nicht repariert wird, wird die DNA-Polymerase ein A gegenüber U und ein C gegenüber G einfügen und damit schließlich eine
C–T- und G–A-Mutation (Transition) bewirken (links). Das Ausschneiden der fehlgepaarten Base durch Uracil-DNA-Glykosylase (UNG) kann durch den Ein-
bau verschiedener Basen repariert werden (engl. base excision repair, BER; Mitte). Eine UG-Fehlpaarung kann auch durch einen komplexen Mechanismus
repariert werden, der zu Mutationen an AT-Basenpaaren in der Nähe der ursprünglichen Fehlpaarung führen kann (engl. mismatch repair, MMR; rechts).
EXO1: Exonuklease 1; MSH: Homologon zum E. coli-Protein MutS; POLη: DNA-Polymerase η. (a nach Papavasiliou und Schatz 2002, mit freundlicher Geneh-
migung von Elsevier; b nach Odegard und Schatz 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
9.4 · Immunsystem
393 9
. Abb. 9.46 Beim Klassenwechsel führen
die wiederholten S-Sequenzen zu R-Schlaufen.
Die aktivierungsinduzierte Cytidin-Desaminase
(AID) bewirkt eine Vielzahl von Schädigungen
der DNA, was letztendlich dazu führt, dass
nach Transkription und der Einführung eines
Doppelstrangbruchs ein Rekombinations-
mechanismus zum Klassenwechsel führt.
Blaue Ovale: phosphoryliertes Histon H2B (an
Ser-14); graugrüne Ovale: phosphoryliertes
Histon H2AX (γH2AX); Pol II: RNA-Polymerase II.
(Nach Odegard und Schatz 2006, mit freund-
licher Genehmigung der Nature Publishing
Group)

Kernaussagen 1980er-Jahren haben die menschlichen Infektionen global epi-


5 Mobile genetische Elemente (Transposons) sind wichtige demische Ausmaße angenommen. Eine 32-bp-Deletion im
Bestandteile vieler prokaryotischer und aller eukaryotischer Chemokin-Rezeptor-Gen CCR5 verleiht einem kleinen Teil der
Organismen. europäischen Bevölkerung Resistenz gegen eine HIV-Infektion.
5 Transposons unterscheiden sich in ihrer molekularen Struktur 5 Ciliaten zeichnen sich durch einen Kerndualismus aus: ein
und in den Transpositionsmechanismen. Mikronukleus im Dienst generativer Prozesse und ein Makro-
5 Transposons sind für evolutionäre Prozesse von Bedeutung. nukleus für die vegetativen Funktionen. Bei der Bildung des
5 Retroviren sind infektiöse Partikel, die in ihrer Genomstruktur Makronukleus wird der größte Teil der Genom-DNA eliminiert.
einer Gruppe von Transposons gleichen. 5 Bei der zellulären Differenzierung kann eine gezielte Vermeh-
5 Das Genom von Retroviren kann in das Genom der Wirtszelle rung bestimmter Gene erfolgen.
integriert werden. 5 Im Laufe der Differenzierung kann es zur Elimination von Tei-
5 Integration und Exzision von Retroviren können zur Entste- len des in Keimzellen vorhandenen Genoms kommen.
hung von Tumor-induzierenden Retroviren führen. Die cance- 5 Zelluläre Differenzierung kann mit der Reorganisation von
rogene Wirkung beruht auf der Integration zellulärer Gene DNA zum Zweck der Bildung funktioneller Gene verbunden
oder Teilen davon in das Virusgenom (Onkogene). sein. Die höchste bekannte Komplexität solcher DNA-Verände-
5 Das HI-Virus ist ein typisches Retrovirus und vor ca. 90 Jahren rungen findet sich im Zusammenhang mit der Funktion des
von Schimpansen auf den Menschen übergesprungen. In den Säugerimmunsystems.

Übungsfragen
1. Was sind »springende Gene«? 3. Was verstehen wir unter »Kerndualis- 5. Worauf beruht die Spezifität von
2. Erläutern Sie kurz die Bedeutung der Retro- mus«? Antikörpern?
viren für die menschliche Gesundheit. 4. Wie können Hefen diploide Zellen bilden?
394 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

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396 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Technikbox 22

Verwendung von Balancer-Chromosomen (Drosophila)

Anwendung: Stabilisierung von Mutationen in Verlustes dieser Mutation erforderlich machen. 5 einen dominanten Marker, der es gestat-
heterozygoten Stämmen zur Vermeidung des Diese Selektion würde bei rezessiven Mutatio- tet, dieses Chromosom leicht zu identifi-
Verlustes der Mutation durch Crossing-over. nen sehr erschwert, da diese durch Crossing- zieren;
Voraussetzungen . Materialien: Die Methode over leicht verloren gehen können, selbst 5 einen rezessiven Letalfaktor, der verhin-
beruht auf der Möglichkeit, durch heterozygo- wenn das ursprünglich mutierte Chromosom dert, dass das Chromosom in einer
te Inversionen die Entstehung von Nachkom- mit genetischen Markern versehen ist. Aus homozygoten Konstitution vorkommt.
men mit Rekombination im Inversionsbereich diesen Gründen sind für Drosophila eine Reihe
zu unterdrücken (7 Abschn. 10.2.3). Eine wich- sogenannter Balancer-Chromosomen ent- Hauptelement ist die Inversion, die durch die
tige Voraussetzung für die Anwendung dieser wickelt worden, die es gestatten, für jede entstehenden Chromosomenaberrationen ver-
Methodik ist weiterhin die Verfügbarkeit von gewünschte Mutation einen stabilen Stamm hindert, dass Nachkommen mit Crossing-over
dominanten und rezessiv letalen Mutationen aufzubauen. Dieser enthält die jeweilige Muta- überlebensfähig sind. Der Letalfaktor ist wich-
im Inversionschromosom. tion in heterozygotem Zustand, und die stän- tig, da sich durch seine Anwesenheit eine
Methode: Mutationen, die man als experimen- dige Selektion erübrigt sich, ohne dass die Ge- Selektion in jeder Generation erübrigt, denn es
tell nützlich identifiziert hat, lassen sich bei fahr des Verlustes besteht. Das Prinzip der Wir- kann keine Homozygotie für das Balancer-
Drosophila (und anderen diploiden Organis- kung und Konstruktion eines Balancer-Chro- Chromosom entstehen. Homozygotie des
men) am einfachsten in homozygoter Kon- mosoms ist sehr leicht zu verstehen. Im Balancer-Chromosoms ist oft auch schon
stitution in einer Stammkollektion halten. In Wesentlichen enthält ein solches Chromosom durch den dominanten Marker nicht möglich,
vielen Fällen ist das jedoch nicht möglich, da drei Elemente: da viele dominante Mutationen homozygot
ein homozygoter Zustand letal, semiletal oder 5 eine längere einfache oder komplexe In- letal sind. Beispiele für häufig gebrauchte
9 steril ist. Eine heterozygote Konstitution würde
eine ständige Selektion zur Vermeidung eines
version, die den größten Teil des Chro-
mosoms abdeckt;
Markerchromosomen von Drosophila sind:
ClB, Muller 5 und TM3.
Technikbox
397 9

Technikbox 23

P-Element-Mutagenese (Drosophila)

Anwendung: Induktion von Mutationen mit kalisiert. Es kann infolge der defekten Transpo- liegt. Die neue Lokalisation des transponierten
gleichzeitiger molekularer Markierung des sase nicht transponieren. Der zweite Stamm P-Elementes lässt sich am einfachsten durch in-
mutierten Gens. Reversion von Mutationen enthält auf einem beliebigen anderen Chromo- situ-Hybridisierung auf Riesenchromosomen
durch Exzision und gerichtete Mutagenese som ein anderes defektes P-Element. In diesem mit den terminalen Regionen des P-Elementes
(engl. targeted mutagenesis). ist die Transposase funktionsfähig, jedoch ver- oder einer Probe des Markergens ermitteln.
Voraussetzungen · Materialien: Die Methode hindern defekte terminale Repeats die Exzision Durch die Art der Kreuzung wird das Jump-star-
beruht in Drosophila auf der Möglichkeit, P- und unterbinden daher Transpositionen. Kombi- ter-Chromosom aus dem Genom entfernt, das
Elemente zum Transponieren zu induzieren niert man jedoch durch Kreuzung beide partiell eine Transposition des Transposase-defekten
(. Tab. 9.4, . Abb. 9.5) und solche Transposi- defekten P-Elemente (vergleichbar den Hybrid- Elementes enthält. Dadurch ist das transponier-
tionsereignisse durch genetische Markierung dysgenese-Experimenten; . Abb. 9.6), so wird te P-Element in seiner neuen Position stabili-
des P-Elementes sichtbar zu machen (vgl. auch das Transposase-defiziente P-Element in die siert, denn es kann wegen seiner defekten
Enhancer-Trap-Elemente, 7 Technikbox 24). Lage versetzt zu transponieren, da das zweite P- Transposase nicht autonom transponieren.
Methode: Voraussetzung für einen erfolgrei- Element eine funktionelle Transposase zur Ver- Andererseits besteht die Möglichkeit, durch
chen Einsatz dieser Technik ist die Konstruktion fügung stellt. Dieses P-Element mit funktioneller Einkreuzen eines Jump-starter-Chromosoms
zweier unterschiedlicher Drosophila-Stämme, Transposase wird daher auch Jump-starter-Ele- das transponierte P-Element aus seiner neuen
die jeweils nur ein P-Element im Genom enthal- ment (Js) genannt und das entsprechende Chro- Position erneut transponieren zu lassen und
ten. Der eine Stamm besitzt ein P-Element, des- mosom Jump-starter-Chromosom. Transpositio- dadurch eine komplette Exzision, also eine
sen Transposase funktionsunfähig ist und durch nen sind in den folgenden Generationen da- genetische Reversion des betroffenen Gens zu
ein geeignetes Markergen (z. B. white oder rosy) durch sichtbar, dass der genetische Marker des erzeugen. Die genetische Feinstruktur von Re-
ersetzt ist. In den heute verwendeten Stämmen Transposase-defekten P-Elementes nicht mehr vertanten kann für die Funktionsanalyse eines
ist dieses P-Element auf dem X-Chromosom lo- geschlechtsgekoppelt (X-chromosomal) vor- Gens von großer Bedeutung sein.

P-Element-Mutagenese. Zur Mutagenese geht man von zwei Stämmen


aus, von denen einer ein modifiziertes P-Element besitzt (meist im
X-Chromosom), das selbst keine Transposase mehr codiert, aber ein
Markergen zu seiner Erkennung besitzt. Der andere Stamm besitzt ein
P-Element, das Transposase produziert, aber selbst nicht springen kann,
da es an den Enden defekt ist. Durch die Kombination beider Elemente
im Genom wird das X-chromosomale P-Element aktiviert und springt in
eine andere Genomposition. Durch das Markergen lässt sich die Trans-
position erkennen und das mutierte Chromosom ermitteln. Die beson-
dere Konstruktion des transponierten P-Elementes gestattet die direkte
Isolierung des mutierten Genombereichs durch das im P-Element be-
findliche Plasmid
398 Kapitel 9 · Instabilität, Flexibilität und Variabilität des Genoms

Technikbox 24

Enhancer-Trap-Experimente

Anwendung: Induktion von Mutationen mit Befindet sich das P-Element nach einer Trans- es, DNA einer einzigen Fliege zu isolieren und
gleichzeitiger molekularer Markierung des position innerhalb der Regulationsregion ei- sie mit bestimmten Restriktionsenzymen zu
mutierten Gens zur Isolierung des mutierten nes Gens, z. B. hinter einem Enhancerelement schneiden. Die gewonnene Mischung von
Gens durch molekulare Klonierung. Darstel- (7 Abschn. 7.3.3), so wird die Expression des DNA-Fragmenten wird mit DNA-Ligase inku-
lung gewebespezifischer Expression des lacZ-Gens gesteigert. Untersucht man dann biert und dient anschließend zur Transforma-
mutierten Gens im Organismus durch die jeweiligen Gewebe durch geeignete Farb- tion eines geeigneten Bakterienstamms. Der
β-Galactosidase-Expression. reaktionen des Enzyms auf β-Galactosidase- im P-Element enthaltene Vektor kann sich un-
Methode: In Enhancer-Trap-Experimenten Aktivität, so ist diese in allen Fällen zu erwar- ter diesen Bedingungen unter Einschluss eines
macht man, in vergleichbarer Weise wie in der ten, in denen die Regulationsregion (bzw. der Stückes flankierender DNA zirkularisieren und
P-Mutagenese (7 Technikbox 23), Gebrauch Enhancer) zu einem Gen gehört, das in dem die bakterielle Gastzelle transformieren. Be-
von der Möglichkeit, Transpositionen von P- betreffenden Gewebe aktiv ist. Die Methode sitzt der Vektor ein Gen für eine Antibiotikum-
Elementen gerichtet zu induzieren. Das trans- ermöglicht es daher, solche Gene aufzuspüren, resistenz, so kann die Kultivierung der Bakte-
ponierende P-Element hat in dieser Versuchs- die in bestimmten Zellen oder Entwicklungs- rien selektiv unter Zusatz dieses Antibiotikums
anordnung jedoch eine komplexere Struktur. stadien aktiv sind. Durch die Zufügung weite- erfolgen, sodass nur mit dem Vektor transfor-
Seine wichtigste Komponente ist das lacZ-Gen rer genetischer Elemente zum transponieren- mierte Bakterien wachsen. Die Transforman-
von Escherichia coli (. Abb. 4.27), das unmittel- den P-Element wird die Untersuchung solcher ten, die unter selektiven Bedingungen isoliert
bar auf den 5’-terminalen invertierten Repeat Gene stark vereinfacht. Innerhalb des P-Ele- werden, enthalten die gesuchten Genomberei-
(. Abb. 9.5) des P-Elementes folgt. Normaler- mentes kann sich nämlich ein Klonierungsvek- che. Hat man auf diese Weise ein Stück flankie-
weise erfolgt daher eine schwache Expression tor befinden, der es gestattet, Genom-DNA- render DNA eines Gens kloniert, ist es mit kon-
ventionellen Klonierungsmethoden leicht, das
9 des lacZ-Gens durch die Promotoraktivität des
linken invertierten Repeats des P-Elementes.
Bereiche in der Nachbarschaft des interessie-
renden Gens direkt zu isolieren. Hierzu genügt betreffende Gen vollständig zu isolieren.

Enhancer-Trap-Experimente. Links: Sche-


matische Darstellung der experimentel-
len Anordnung. Fotos rechts: Expressions-
muster nach einem Enhancer-Trap-Experi-
ment. Im vorliegenden Fall ist das betrof-
fene Gen in unterschiedlichen Geweben
aktiv. Das Gen liegt im rechten Arm des
Chromosoms 3 von Drosophila melano-
gaster. Oben: Die sieben gefärbten Strei-
fen entsprechen den geradzahligen Para-
segmenten 2 bis 14 des Stadiums 10 der
Embryonalentwicklung. Mitte: Färbungs-
muster einzelner Zellen in einem larvalen
Gehirn. Unten: Färbung von Zellen in der
Augen-Antennen-Imaginalscheibe im
Bereich der zukünftigen Ommatidien.
(Foto: W. Janning, Münster)
399 10

Veränderungen im Genom:
Mutationen

An Malaria erkranktes Mädchen an der thailändischen Grenze. Mutationen können Resistenz verleihen
(Foto: P. Charlesworth, JB Pictures, New York)

10.1 Klassifikation von Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

10.2 Chromosomenmutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404


10.2.1 Numerische Chromosomenaberrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404
10.2.2 Polyploidie in der Pflanzenevolution und Pflanzenzucht . . . . . . . . . . 408
10.2.3 Strukturelle Chromosomenaberrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

10.3 Spontane Punktmutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413


10.3.1 Fehler bei Replikation und Rekombination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
10.3.2 Spontane Basenveränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
10.3.3 Dynamische Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
10.4 Induzierte Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
10.4.1 Mutationen durch ultraviolette Strahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418
10.4.2 Mutagenität ionisierender Strahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
10.4.3 Chemische Mutagenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

10.5 Mutagenität und Mutationsraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429


10.5.1 Mutagenitätstests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
10.5.2 Mutationsraten und Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

10.6 Reparaturmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437


10.6.1 Reparatur UV-induzierter DNA-Schäden durch Photolyasen . . . . . . . . 437
10.6.2 Exzisionsreparaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
10.6.3 Fehlpaarungsreparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442
10.6.4 Homologe Rekombinationsreparatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443
10.6.5 Nicht-homologe Verbindung von DNA-Enden . . . . . . . . . . . . . . . . . 444
10.6.6 SOS-Rekombinationsreparatur oder postreplikative Reparatur . . . . . . . 445

10.7 Ortsspezifische Mutationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446


10.7.1 Gentechnische Modifikationen von Pflanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
10.7.2 Gentechnische Modifikationen von Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
10.1 · Klassifikation von Mutationen
401 10

Überblick

Ausgangspunkt aller Erkenntnisse über die derungen durch die chemische Instabilität chenden Häufigkeit auszulösen, sodass Evolu-
Regeln und die molekularen Mechanismen der einiger Nukleotide kommen, oder es treten tionsprozesse und eine Anpassung an eine
Vererbung sowie über die Umsetzung von Fehler in Zusammenhang mit Rekombina- sich ständig verändernde Umwelt überhaupt
erblicher Information in Stoffwechselfunktio- tionsvorgängen auf. Neben solchen und ande- erst ermöglicht werden.
nen ist die Variabilität von Merkmalen. Diese ren endogenen Mutationsmechanismen kön- Heute sind wir aber auch in der Lage,
Variabilität erst gestattet es uns, bestimmte nen Veränderungen aber auch von außen durch gentechnische Verfahren Mutationen
biologische Eigenschaften und Prozesse auf her induziert werden, so insbesondere durch gezielt selbst einzuführen – in Bakterien,
ihre Ursachen hin zu untersuchen. natürliche oder technisch hergestellte ener- Zellen, Pflanzen und viele tierische Modell-
Biologische Variabilität dient aber nicht giereiche Strahlung sowie durch chemische organismen. Diese Methoden sind in der mo-
nur als eine Grundlage für die experimentelle Stoffe. dernen genetischen Forschung unverzichtbar
Erforschung von Erbvorgängen. Sie bietet viel- Da Genomveränderungen sehr oft eine geworden. Ebenso hat die Sicherheit vieler
mehr die Voraussetzungen für die Evolution schädliche Auswirkung haben, besitzen alle Arzneimittel durch die Umstellung auf gen-
der Organismen. Sie ist somit ein grundlegen- Zellen besondere Reparaturmechanismen, die technische Verfahren zugenommen, da man
der und unverzichtbarer Bestandteil der Natur. einen erheblichen Teil neu entstandener Muta- jetzt nicht mehr auf möglicherweise konta-
Es ist daher nicht verwunderlich, dass Mecha- tionen eliminieren können. Offenbar hat sich minierte Ausgangsmaterialien zurückgreifen
nismen, die Veränderungen des genetischen zwischen der Effektivität solcher Reparatur- muss (z. B. auf HIV-kontaminiertes Blut zur Her-
Materials verursachen, also Variabilität erzeu- mechanismen und der Häufigkeit spontaner stellung von Blutgerinnungsfaktoren in der
gen, zu den fundamentalen Genomfunktionen Mutationen ein Gleichgewicht eingestellt, das Bluter-Therapie). Am Ende des Kapitels wer-
von Organismen gehören. So werden während sich vom Gesichtspunkt der Evolution her als den wir die Auswirkungen gentechnischer Ver-
der Replikation des genetischen Materials mit günstig erwiesen hat, um einerseits zu häufige fahren auf die moderne Landwirtschaft be-
einer bestimmten Häufigkeit Fehler induziert. Schäden im Genom zu vermeiden, anderer- sprechen.
Außerdem kann es zu spontanen Basenverän- seits aber Veränderungen mit einer ausrei-

10.1 Klassifikation von Mutationen Augenfarbe als Mutation (auch durch das Zeichen »−« ge-
kennzeichnet). Für diese Anwendung des Wildtypbegriffs
Die Veränderung von Genen im Laufe der Evolution ist eine ent- auf rotäugige Fliegen lässt sich das Argument anführen,
scheidende Voraussetzung für die Entstehung und Evolution von dass in rotäugigen Populationen gelegentlich weißäugige
Organismen. Schon bei der Betrachtung der phänotypischen Fliegen auftreten, jedoch in weißäugigen Stämmen viel
Variabilität zwischen Organismen im 7 Kap. 1 hatten wir festge- seltener rotäugige Fliegen.
stellt, dass eine der Ursachen für phänotypische Unterschiede Das ist verständlich, wenn man annimmt, dass Veränderun-
zwischen den Individuen einer Population die genetische Varia- gen in der Richtung des Ausfalls einer Genfunktion, die eine
bilität, also die Existenz unterschiedlicher Allele ist. Ohne diese rote Augenfarbe bedingt, häufiger ablaufen als in der umge-
genetische Variabilität wäre es unmöglich gewesen, die Existenz kehrten Richtung, d. h. die Wiederherstellung eines funktio-
einzelner Gene und die Regeln der Vererbung von Merkmalen zu nellen Zustands eines defekten Gens. Wir wissen heute, dass
erkennen. In diesem Kapitel wollen wir uns mit den molekularen die Ursache für die weiße Augenfarbe bei Drosophila tat-
Ursachen der Veränderungen von Genen und mit deren Folgen sächlich im Ausfall der Funktion eines Gens liegt (das Gen
näher befassen. wurde aufgrund der phänotypischen Veränderung in der
Die Veränderung eines Gens bezeichnen wir als eine Muta- Mutante als »white« bezeichnet). Ein experimenteller Test
tion. Diese Bezeichnung wurde von Hugo de Vries 1901 ein- hierfür lässt sich dadurch erbringen, indem man das white-
geführt. Der Träger einer Mutation ist eine Mutante. Hat man Gen durch eine Deletion im Chromosom entfernt. Auf diese
zwei phänotypisch verschiedene Ausprägungen eines Gens vor Weise lässt sich der Phänotyp einer Nullmutation ermitteln,
Augen, so ist es nicht immer möglich, festzustellen, bei welcher d. h. der Ausfall einer Genfunktion (engl. loss of function). Wir
dieser Formen eine Mutation vorliegt und welche als »normal« wissen heute, dass das Protein eine ATPase-Aktivität besitzt,
anzusehen ist. Die Frage nach »normal« (und dem Gegensatz die an den Anionen-Transport über Membranen gekoppelt
»unnormal«, »anomal« oder »abnormal«) ist eher eine Frage der ist; außerdem ist das Protein an der Biosynthese der Augen-
Philosophie – in der Genetik sprechen wir vom Wildtyp als der- pigmente der Fliege beteiligt – so erklärt sich der Verlust der
jenigen Form, die in der freien Natur überwiegend vorkommt. roten Augenfarbe bei einem Ausfall seiner Funktion.
Ähnliches gilt dann unter Laborbedingungen für definierte
Stämme von Bakterien, Hefen, Pflanzen, Fliegen, Fischen oder Natürlich gibt es auch Mutationen, bei denen unmittelbar er-
Mäusen. sichtlich ist, welches Allel den Wildtyp darstellt und welches eine
Mutation enthalten muss. Man denke beispielsweise an Erb-
C Eines der ersten Beispiele einer Mutation war die Augen- krankheiten des Menschen, wie sie im 7 Kap. 13 beschrieben
farbe der Fruchtfliege Drosophila: Sie kann beispielsweise werden. Auch die Ausbildung eines Beins anstelle einer Antenne
rot oder weiß sein. Das gelegentliche Auftreten weißäugiger am Kopf von Drosophila, wie es bei der Mutante Antennapedia
Fliegen in einem sonst rotäugigen Stamm hatte in diesem der Fall ist (. Abb. 12.30), kann unmittelbar als Folge einer Mu-
Fall die rote Augenfarbe als den Wildtyp ausgewiesen (auch tation, also der Entstehung eines Allels mit einer neuen Funk-
durch das Zeichen »+« gekennzeichnet) und die weiße tion, verstanden werden. In diesem Fall haben wir es mit einer
402 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

neomorphen Mutation zu tun, d. h. es entsteht ein neuer Phäno- kommen frühe Mutationen in der Keimbahn im Auftreten meh-
typ (engl. gain of function). rerer Nachkommenindividuen mit der gleichen Mutation zum
Wir wollen uns jetzt zunächst den Fragen zuwenden, in wel- Ausdruck.
chen Zelltypen Mutationen überhaupt auftreten können und
> Die Anzahl veränderter somatischer Zellen oder Keim-
welche Konsequenzen sie für die Zelle und den jeweiligen Or-
zellen lässt Rückschlüsse auf den Zeitpunkt während der
ganismus haben. Betrachten wir die unterschiedlichen Formen
Entwicklung zu, zu dem diese Mutation erfolgt ist.
der Ausprägung eines Merkmals in einer Population und deren
Verteilung zwischen den Individuen dieser Population genauer, Bevor wir nun die Einzelheiten der Mechanismen und Folgen
so erkennen wir, dass diese Veränderungen von Genen in Keim- von Mutationen erörtern, muss noch ein weiterer wichtiger all-
zellen entstanden sein müssen, da sie sonst nicht erblich sein gemeiner Gesichtspunkt hervorgehoben werden: Da Mutationen
können. Dass Mutationen jedoch nicht ausschließlich in Keim- für die Evolution von Organismen als Grundlage für die Neuent-
zellen entstehen, haben wir bereits bei der Besprechung der stehung erblicher Eigenschaften und als Basis für Selektionspro-
Entstehung somatischer Mosaike gesehen (. Abb. 8.30). Wir zesse und anderer Evolutionsmechanismen unabdingbar sind,
sprechen hier von einer somatischen Mutation, da es sich um müssen wir sie zu den grundlegenden Eigenschaften lebender
eine Veränderung in der genetischen Konstitution somatischer Organismen zählen. Das schließt aber nicht aus, dass Mutatio-
Zellen handelt. Diese ist natürlich in aufeinanderfolgenden Ge- nen für einzelne Individuen sehr oft mit Nachteilen verbunden
nerationen von Organismen nicht erblich. sind, da sie zufallsgemäß erfolgen und dadurch viel häufiger zur
Wir können aus diesen Betrachtungen den allgemeinen In- Zerstörung der Funktion genetischer Eigenschaften führen als zu
halt des Begriffs Mutation ableiten: Jede Veränderung der gene- nutzbringenden Veränderungen. Biologische Prozesse können
tischen Konstitution einer Zelle, die nicht durch die normalen also hinsichtlich ihres »Nutzens« von unterschiedlichen Ge-
Fortpflanzungsmechanismen, also durch die Verschmelzung sichtspunkten aus bewertet werden, je nachdem, ob wir ein ein-
zweier haploider Gameten, hervorgerufen wird, ist eine Muta- zelnes Individuum oder eine ganze Population von Organismen
10 tion. Der Begriff der Mutation beschränkt sich somit nicht auf betrachten.
Veränderungen einzelner Gene, wie wir sie am white-Locus ge-
> Mutationen sind ein Grundphänomen lebender Systeme.
sehen haben, sondern beinhaltet auch Genomveränderungen
Auf der Ebene des Einzelindividuums haben sie oft nega-
größeren Ausmaßes, etwa den Verlust eines Chromosoms.
tive Folgen. Für die Evolution von Organismen sind sie
> Jede Veränderung der genetischen Konstitution einer unentbehrlich.
Zelle, die nicht mit sexueller Fortpflanzung in Zusammen-
Eine Klassifikation von Mutationen ist nach verschiedenen Ge-
hang steht, ist eine Mutation. Mutationen können in
sichtspunkten möglich. Neben den oben schon erwähnten neo-
Keimzellen und in somatischen Zellen in gleicher Weise
morphen Mutationen bezeichnen »antimorph« und »hyper-
auftreten.
morph« verschiedene Ausprägungen von zusätzlichen Genfunk-
Die biologischen Folgen von Mutationen sind unterschiedlich, tionen: Eine antimorphe Mutation ist eine dominante Mutation,
je nachdem, ob sie sich in der Keimbahn oder in somatischen die im Gegensatz zur Aktivität des Wildtyp-Gens steht (heute
Zellen ereignen. Zur sichtbaren Ausprägung kommt eine Neu- finden wir dafür auch häufig die Bezeichnung »dominant-nega-
mutation in somatischen Zellen natürlich nur, wenn sie nicht tiv«). Eine hypermorphe Mutation bewirkt dagegen eine erhöhte
zum Tod der betreffenden Zelle führt und wenn sie darüber Funktion des Wildtyp-Gens. Bei Funktionsverlust-Mutationen
hinaus phänotypisch überhaupt zu einer Ausprägung kommen kann man zwei Formen unterscheiden: »amorph« und »hypo-
kann, indem sie entweder dominant oder geschlechtsgekoppelt morph«. Amorphe Mutationen zeigen einen vollständigen Funk-
ist (eine rezessive Mutation kann sich phänotypisch nur dann tionsverlust und werden daher auch häufig als »Null-Allele« be-
ausprägen, wenn sie zweimal in einer Zelle vorkommt – ein sehr zeichnet; amorphe Allele sind häufig rezessiv, sie können aber
seltener Fall; siehe dazu aber auch die Diskussion um Tumor- auch dominant sein, wenn beide Wildtyp-Kopien zur Herstel-
suppressorgene, 7 Abschn. 13.4.1). Das phänotypische Ausprä- lung des Wildtyp-Phänotyps notwendig sind (hier sprechen wir
gungsmuster somatischer Mutationen im Organismus können auch von Haploinsuffizienz). Hypomorphe Allele verursachen
wir mit dem der Inaktivierung eines Säuger-X-Chromosoms nur einen Teilverlust der jeweiligen Genfunktion. Man beachte
(. Abb. 8.30) vergleichen: Erfolgt eine somatische Mutation in in diesem Zusammenhang, dass verschiedene Mutationen in
einem frühen Entwicklungsstadium des Organismus, so erwar- einem Gen zu unterschiedlichen Schweregraden der Erkrankun-
ten wir, dass sie im adulten Organismus in einer größeren Anzahl gen (oder allgemeiner: der Veränderungen des Phänotyps) füh-
von Zellen wiederzufinden ist, als wenn sie erst in einem späteren ren können: Solche »allelische Serien« sind für viele Gene be-
Stadium der Ontogenese eingetreten ist. schrieben und können jeweils alle Aspekte von amorph bis
Für Keimbahnmutationen gilt selbstverständlich das Glei- hypermorph zeigen.
che. Tritt eine Mutation in einem frühen Stadium der Keimzell- Oft wird auch eine Unterscheidung zwischen spontanen und
entwicklung auf, also etwa in frühen Oogonien, in Spermatogo- induzierten Mutationen getroffen. Andere Kategorisierungen
nien oder sogar in Stammzellen, so wird eine größere Anzahl von unterscheiden verschiedene Haupt- und Unterklassen von Mu-
Gameten diese Mutation besitzen, als wenn sich die Mutation tationen, etwa Chromosomenmutationen verschiedenen Cha-
erst postmeiotisch ereignet. In diesem Falle bleibt sie auf einen rakters oder mehrere Klassen von Genmutationen. Häufig ge-
einzelnen Gameten beschränkt. In Kreuzungsexperimenten schieht dies unter Gesichtspunkten der praktischen Anwendung;
10.1 · Klassifikation von Mutationen
403 10
es verdeckt aber die Tatsache, dass die Grenzen fließend sind und
vergleichbare Mutationsereignisse auf mehreren Ebenen auf-
treten können. So kann beispielsweise eine Deletion sowohl in
einem Chromosom auftreten und eine größere Gruppe von Ge-
nen einschließen als auch innerhalb eines einzelnen Gens, wo sie
nur einen Teilbereich der Nukleotidsequenz umfasst. Ein grund-
legender Unterschied zwischen beiden Mutationstypen besteht
nicht: In beiden Fällen ist ein (längeres oder kürzeres) Stück
chromosomaler DNA verloren gegangen. Allerdings sind Chro-
mosomenmutationen (7 Abschn. 10.2) oft schon im Licht-
mikroskop erkennbar, wohingegen Punktmutationen sich auf
einzelne oder wenige, nebeneinanderliegende Nukleotide be-
ziehen und molekulargenetisch festgestellt werden müssen.
Chromosomenmutationen sind also Änderungen in der Zahl
oder Struktur der Chromosomen. Bei strukturellen Änderungen
sind größere Abschnitte des Chromatins betroffen. Prinzipiell
wird auf dieser Ebene zwischen folgenden Veränderungen un-
terschieden: Deletion (Verlust eines Chromosomenfragments),
Insertion (Einschub eines Chromosomenfragments), Inversion
(Umkehrung eines Chromosomenfragments) und Transloka-
tion (Verlagerung eines Chromosomenfragments). Diese Muta-
tionen können häufig durch verschiedene Bänderungsverfahren . Abb. 10.1 Bei Basensubstitutionen können Purine durch Purine bzw. Py-
(7 Kap. 6) sichtbar gemacht werden. rimidine durch Pyrimidine ersetzt werden (rote Pfeile); hier sprechen wir von
Veränderungen der Chromosomenzahl werden auch als Ge- einer Transition. Wenn dagegen ein Purin durch ein Pyrimidin ausgetauscht
wird (blaue Pfeile), sprechen wir von einer Transversion
nommutationen bezeichnet und betreffen entweder den gesam-
ten Chromosomensatz oder ein einzelnes Chromosom. Bei der
Reduzierung des normalen, diploiden Chromosomensatzes auf TAA, TGA; engl. nonsense mutation), sodass die Synthese des
einen einfachen Chromosomensatz sprechen wir von Haploidi- Proteins an der betroffenen Stelle abbricht. Das umgekehrte Phä-
sierung, während eine Vermehrung des Chromosomensatzes als nomen, dass ein vorhandenes Stoppcodon in ein Aminosäure-
Polyploidisierung bezeichnet wird (z. B. dreifacher Chromoso- codierendes Codon umgewandelt und damit die Proteinkette
mensatz: triploid). Auch das Fehlen oder zusätzliche Auftreten verlängert wird, ist dagegen seltener. Auch die Veränderung des
einzelner Chromosomen wird zu den Genommutationen ge- Startcodons ATG ist selten; in diesem Fall wird dann häufig ein
rechnet. Solch eine Veränderung wird als Aneuploidie be- anderes ATG unterhalb verwendet, was entweder zu einem ver-
zeichnet und das betroffene Chromosom entsprechend benannt kürzten Protein führt (wenn das neue ATG im selben Leserah-
(z. B. Trisomie 21: Das Chromosom 21 des Menschen ist dreifach men bleibt) oder zu einem ganz anderen Protein (wenn das zwei-
vorhanden). te ATG in einem anderen Leserahmen liegt). Punktmutationen
Wenn nur ein Nukleotid oder wenige, aufeinanderfolgende können außerdem das Spleißen betreffen (wenn sie in den ent-
Nukleotide verändert sind, sprechen wir von Punktmutationen. sprechenden konservierten Bereichen auftreten; 7 Abschn. 3.3.5)
Auch hier können wir verschiedene Typen unterscheiden, be- oder die Regulation der Genexpression beeinflussen (wenn sie
sonders häufig sind Substitutionen, Deletionen oder Insertio- im Promotor auftreten; 7 Abschn. 4.5 und 7 Abschn. 7.3). Durch
nen. Wird bei einer Substitution eine Pyrimidinbase durch eine Deletionen oder Insertionen innerhalb Protein-codierender Re-
andere Pyrimidinbase bzw. eine Purinbase durch eine andere gionen kann sich der Leserahmen verändern; solche Raster-
Purinbase ersetzt (ATർGC oder GCർAT), spricht man von einer schub-Mutationen (engl. frame shift mutation) können zu einem
Transition. Erfolgt statt des Einbaus einer Purinbase ein Pyrimi- völlig andersartigen Protein führen, auch wenn die mRNA selbst
dineinbau (oder umgekehrt), wird diese Art der Mutation auch nur eine geringfügige Veränderung aufweist (z. B. Deletion von
als Transversion bezeichnet (ATർTA, ATർCG, GCർCG oder 1 oder 2 bp). Eine Übersicht über diese verschiedenen Formen
GCർTA; . Abb. 10.1). von Punktmutationen gibt . Tab. 10.1.
Die Auswirkungen von Punktmutationen können sehr ver- Mutationen können nicht nur Protein-codierende Gene be-
schieden sein: Wenn die Mutationen im codierenden Bereich der treffen, sondern auch die verschiedenen RNA-Gene, sodass
Exons auftreten, finden wir häufig Veränderungen im Einbau deren Funktion auf verschiedene Weise beeinträchtigt werden
von Aminosäuren (engl. missense mutation). Da aber eine Ami- kann. Natürlich sind darüber hinaus Mutationen nicht auf
nosäure oft durch mehrere Tripletts codiert werden kann, die codierende Regionen des Genoms beschränkt. Vielmehr dürften
sich nur in der 3. Base unterscheiden (7 Abschn. 3.2), ist dies die meisten Mutationen in Introns, in Spacerregionen oder in
nicht immer der Fall; hat also eine Mutation keinen Einfluss auf repetitiver DNA ohne phänotypisch sichtbare Folgen bleiben
die eingebaute Aminosäure, sprechen wir von einer stillen Mu- (siehe dazu auch 7 Abschn. 3.5 über RNA-codierende Gene,
tation. Bei vielen Erbkrankheiten finden wir aber eine sehr wich- 7 Abschn. 8.2 über regulatorische RNAs sowie 7 Abschn. 10.3.3
tige Änderung: Es wird nämlich ein Stoppcodon erzeugt (TAG, über dynamische Mutationen).
404 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

4 Verschmelzungen (Fusionen) von zwei Chromosomen,


. Tab. 10.1 Auswirkungen von Mutationen
4 Spaltung (Fissionen) einzelner Chromosomen in zwei
Klassifikation Leseraster Chromosomen oder
4 Vervielfachung der Chromosomenzahl (Ploidisierung).
Wildtyp CTG GGG TAC AGA A

Leu Gly Tyr Arg


Fusionen von Chromosomen
Fusionen von Chromosomen führen nicht notwendigerweise zu
Missense-Mutation CCG GGG TAC AGA A
(Aminosäureaustausch)
phänotypischen Veränderungen, da eine Verschmelzung von
Pro Gly Tyr Arg zwei Chromosomen nicht mit dem Verlust oder mit Veränderun-
Stille Mutation CTC GGG TAC AGA A gen von Genen verbunden sein muss. Für die Vererbung von
Merkmalen an Nachkommen haben Fusionen jedoch insofern
Leu Gly Tyr Arg
Konsequenzen, als neue Kopplungsbeziehungen zwischen Ge-
Nonsense-Mutation CTG GGG TAA AGA A nen entstehen können. Noch tiefer greifende Folgen haben Ver-
(Stoppcodon)
Leu Gly Stopp schmelzungen eines Autosoms mit einem Geschlechtschromo-
Insertion CTG GGG GTA CAG AA som. Es kann in der Folge zur phänotypischen Expression rezes-
siver Allele des autosomalen Anteils des Fusionschromosoms
Leu Gly Val Gln
kommen, die zuvor nur gelegentlich in seltenen homozygoten
G Konstitutionen sichtbar wurden. Außerdem haben solche Chro-
Deletion CTG GGT ACA GAA mosomenaberrationen notwendigerweise Konsequenzen für die
Genregulation, da die autosomalen Gene nunmehr einem Dosis-
Leu Gly Thr Glu
kompensationsmechanismus unterstellt werden müssen.
Oben: codierender Strang der DNA, unten: abgeleitete Aminosäure- Chromosomenverschmelzungen, die man im Prinzip auch
10 sequenz, rot: Mutation mit Auswirkung auf die Aminosäuresequenz, als Translokationen ansehen kann (7 Abschn. 10.2.3), haben in
grün: stille Mutation. der Entwicklung der Säugergenome eine wichtige Rolle gespielt.
Hier ist es häufig zur Verschmelzung akrozentrischer zu meta-
zentrischen Chromosomen gekommen, einem Vorgang, der
auch als Robertson-Translokation (engl. Robertsonian transloca-
> Mutationen, Veränderungen der DNA, können spontan tion) oder zentrische Fusion beschrieben wird. Offenbar sind
auftreten und durch Strahlung oder Chemikalien indu- mit der Verschmelzung oder dem Auseinanderfallen von Chro-
ziert werden. Mutationen können nach ihrer Größe oder mosomen kleine genetische Effekte verbunden, die im Einzelnen
der Art ihrer DNA- bzw. Chromosomenveränderungen un- nur schwer nachweisbar sind, aber Vor- und Nachteile für Selek-
terschiedlich klassifiziert werden. tionsprozesse mit sich bringen.
> Chromosomenverschmelzungen und -spaltungen sind
zwar nicht notwendigerweise mit einer Änderung der
10.2 Chromosomenmutationen
Genzusammensetzung verbunden, haben aber kleinere,
schwer nachweisbare Veränderungen in der Genexpres-
Chromosomenmutationen spielen sowohl in der Natur als auch
sion zur Folge, die für selektive Mechanismen bedeutsam
in der experimentellen Genetik eine wichtige Rolle, da sie im
sein können.
Gegensatz zu den meisten Genmutationen Auswirkungen auf
die Verteilungsmechanismen der Chromosomen in Meiose und
Mitose ausüben können oder auch bestimmte Allelkombinatio- Spaltung von Chromosomen
nen im Genom stabilisieren können. Grundsätzlich lassen sich Bei beiden Prozessen, sowohl der Verschmelzung als auch der
zwei Typen von Veränderungen auf dem Genomniveau unter- Spaltung von Chromosomen, müssen strukturelle oder zumin-
scheiden: dest funktionelle Veränderungen der Chromosomen in den Cen-
4 numerische Chromosomenaberrationen und tromerbereichen eintreten. Die Spaltung eines metazentrischen
4 strukturelle Chromosomenaberrationen. Chromosoms erfordert nicht nur die Entstehung zweier vollstän-
diger Centromere, wenn man davon ausgeht, dass das vorhande-
Beide Typen von Chromosomenveränderungen lassen sich, je ne Centromer halbiert wird, sondern es müssen auch zwei Telo-
nach der speziellen Art der Veränderung, noch weiter unter- mere gebildet werden, die die Bruchstelle verschließen. Die Art
gliedern. der Entstehung neuer Telomere war in der klassischen Cytologie
ein kontroverser Diskussionspunkt. Heute ist sie für uns auf-
grund der Kenntnisse der molekularen Eigenschaften von Telo-
10.2.1 Numerische Chromosomenaberrationen meren leichter verständlich (7 Abschn. 6.1.4).
Die Neuentstehung einer Centromerregion in einer Region,
Unter diese Kategorie von Chromosomenmutationen fallen die vorher keine Centromerfunktion hatte, ist zwar selten, aber
alle Veränderungen der Anzahl von Chromosomen im Genom. in der klassischen Cytologie ist die Existenz solcher inaktiver
Diese können verursacht sein durch Centromerregionen, die unter bestimmten Umständen aktiviert
10.2 · Chromosomenmutationen
405 10

. Abb. 10.2 Chromosomale Rearrangements bei der Neubildung von Centromeren. Perizentrische Deletionen beinhalten das Ausschneiden eines zentri-
schen Fragments (üblicherweise ein Ringchromosom), das ein endogenes Centromer enthält, und die Fusion der zwei azentrischen Arme. Durch Neubil-
dung eines Centromers können diese Chromosomen die Mitose erfolgreich durchlaufen. Parazentrische Deletionen beinhalten das Ausschneiden eines
azentrischen Fragments, das durch Neubildung eines Centromers die Mitose erfolgreich durchlaufen kann, sowie die Fusion des zentrischen mit einem
azentrischen Fragment. »Inv-dups« beinhalten die Inversion und Duplikation eines distalen Abschnitts des Chromosoms; manchmal wird dieser Prozess
von komplementären terminalen Deletionen begleitet. (Nach Warburton 2004, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

werden können, schon lange bekannt. Beispiele hierfür sind die kann sich aber auch auf einzelne Chromosomen beschränken,
polyzentrischen oder holokinetischen Chromosomen, wie sie die in abnormaler Zahl, also vermehrt oder vermindert gegen-
bei Parascaris und anderen Nematoden, aber auch bei Insekten über den übrigen Chromosomenanzahlen, vorkommen. In die-
und Pflanzen beobachtet werden. In diesen Chromosomen exis- sem Fall handelt es sich um Aneuploidie. Beispielen für aneu-
tieren mehrere DNA-Bereiche mit fakultativer Centromeraktivi- ploide Genomkonstitutionen begegnen wir in der Monosomie
tät. Die Bildung von neuen Centromeren stellt auch eine Mög- oder Trisomie durch Nondisjunction. Aneuploidie führt nur in
lichkeit dar, um nach Translokationen dem neuen Chromosom Ausnahmefällen zu lebensfähigen genetischen Konstitutionen.
mitotische Stabilität zu verleihen. Die Konsequenzen in der Humangenetik werden ausführlich im
Auch in der Humangenetik kennen wir solche Fälle. In einem 7 Abschn. 13.2 diskutiert.
Übersichtsaufsatz beschreibt Warburton (2004) 70 Fälle von Polyploidisierung führt in der Regel zunächst zu genomischer
Centromer-Neubildungen, die an 19 verschiedenen Chromoso- Instabilität während der Mitose und Meiose, aber auch zu Verän-
men beobachtet werden. Einige Beispiele sind in . Abb. 10.2 dar- derungen der zellulären Architektur (vor allem Größe des Zell-
gestellt. Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um zufällige kerns und der Zellkernoberfläche). Sie spielt jedoch ebenso in der
Prozesse im menschlichen Genom, denn die Regionen 3q, 13q Evolution eine große Rolle, denn nach Durchgang durch diesen
und 15q sind dabei besonders häufig betroffen. Allerdings zeigt Flaschenhals genomischer Instabilität können sich neue, besser
der Vergleich der entsprechenden DNA-Sequenzen, dass es adaptierte Spezies etablieren. Dadurch wurde Ploidisierung ein
keine typische »Neocentromer-Sequenz« gibt. Vielmehr liegt der unverzichtbares Mittel in der Praxis der Pflanzenzucht. Polyploi-
neuen Bildung von Centromeren ein epigenetischer Prozess zu- die ist auch in der Natur weit verbreitet, wenn es auch nicht mehr
grunde, der auf der Anwesenheit des Centromer-Proteins A immer direkt erkennbar ist (. Abb. 10.3). So sind viele Genome
(CENP-A, 7 Abschn. 6.1.3) beruht. Dieser Prozess ist unabhängig von Vertebraten im Laufe der Evolution offenbar durch Ploidisie-
von der primären Sequenz, an die CENP-A gebunden hat. rung entstanden. Während natürliche Polyploidie bei Tieren die
Ausnahme ist, kann sie bei Pflanzen häufig beobachtet werden;
> Chromosomenfusionen und -spaltungen erfordern Verän-
bei Kulturpflanzen ist Polyploidie sogar die Regel (. Tab. 10.2).
derungen bzw. Neuentstehung von Telomeren und Centro-
meren. > Die Vervielfachung der Chromosomenzahl bezeichnet
man als Polyploidie.
Vervielfachung der Chromosomenzahl Bei Polyploidisierung ist generell die Vervielfachung des eigenen
(Polyploidie) Genoms (Autopolyploidie) von der Vervielfachung der Chro-
Einer Ploidisierung des Genoms sind wir bereits als Eigenschaft mosomen in der Folge von Kreuzungen verschiedener Arten
spezialisierter Zelltypen begegnet (7 Abschn. 9.3.3, DNA-Ampli- (Allopolyploidie) zu unterscheiden. In Autopolyploiden sind
fikation). Wir müssen jedoch diese somatische Form der Poly- alle Homologen gleichwertige Paarungspartner. Das führt z. B.
ploidisierung als Antwort auf die Notwendigkeit entwicklungs- bei Autotetraploiden in der meiotischen Prophase normalerwei-
biologischer Prozesse von der erblichen Form der Polyploidisie- se zur Bildung von Quadrivalenten (. Abb. 10.4). Die Segregati-
rung unterscheiden. on in der Meiose führt dann zu einer normalen Verteilung der
Unter der Ploidisierung versteht man eine Vermehrung der Homologen in den Gameten in einem Verhältnis von 1:1:1:1.
Chromosomenzahl des Genoms. Grundsätzlich kann diese Betrachten wir nun eine Situation, in der zwei verschiedene Al-
gleichmäßig alle Chromosomen erfassen, etwa in Form einer lele eines Gens in beiden Eltern (Konstitution jeweils AAaa) vor-
Verdreifachung des Genoms, einer Triploidisierung. Man spricht handen sind, so können in der Nachkommenschaft bereits fünf
dann allgemein von Polyploidie. Die Organismen bleiben in sol- verschiedene Genotypen auftreten (AAAA, AAAa, AAaa, Aaaa,
chen Fällen euploid. Die Veränderung der Chromosomenanzahl aaaa). Die Häufigkeit der verschiedenen Genotypen ist abhängig
406 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

. Abb. 10.3 Allopolyploider Ursprung verschiedener Pflanzenarten. a Fusion eines Pollens von Arabidopsis thaliana ohne Reduktionsteilung mit einer
Eizelle der tetraploiden Art A. arenosa führt zur allotetraploiden Art A. suecica. b Die Hybridisierung zwischen den hexaploiden Arten Spartina maritima und
S. alterniflora bringt S. x townsendii hervor, die wegen der unbalancierten Chromosomenzahl unfruchtbar ist. Autopolyploidisierung dieses ursprünglichen
10 Hybrids führt zur lebensfähigen allododecaploiden Art S. anglica. c Die Hybridisierung der diploiden Art Senecio squalidus mit der tetraploiden Art S. vulgaris
bildet die sterile triploide Form S. x baxteri. Eine folgende Genomduplikation ergibt die fertile, allohexaploide Art S. cambrensis. d Die frühere Hybridisierung
der diploiden Arten Gossypium herbaceum und G. raimondii führte zu einer nicht lebensfähigen Form in der F1-Generation. Die folgende Genomduplikation
ergab eine fruchtbare allotetraploide Art, die sich heute in fünf verschiedene Baumwollsorten aufgespalten hat, einschließlich G. hirsutum. (Nach Hegarty
und Hiscock 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

vom Abstand eines Gens vom Centromer, da Crossing-over zwi- ose kommen, sodass die Meioseprodukte aneuploid (hyper- oder
schen jeweils zwei Chromatiden in unterschiedlichen Kombina- hypoploid) werden. Solche Aneuploidien sind in einigen Prozent
tionen die Häufigkeiten der Allelkombinationen verändern. der Nachkommen polyploider Pflanzen regelmäßig zu beobach-
Gelegentlich kommt es in Autopolyploiden nicht zur Bildung ten. Folge davon ist eine partielle Sterilität der Pflanzen in der
von Quadrivalenten, sondern es entstehen beispielsweise ein Tri- Nachkommenschaft.
valent und ein Univalent oder zwei Bivalente (. Abb. 10.4). In Es stellt sich die Frage, welche phänotypischen Folgen Poly-
diesem Fall kann es zu ungleicher Segregation während der Mei- ploidie hat. Es gibt drei offensichtliche Vorteile der Polyploidie:

. Tab. 10.2 Ploidie von Kulturpflanzen

Pflanze Ausgangszahl der Heutiger 2n-Wert Ploidie


Chromosomen (n)

Allopolyploide

Malus ssp. (Apfel) 17 34 oder 51 2–3×

Pyrus communis (Birne) 17 34 oder 51 2–3×

Prunus ssp. (Pflaume) 8 15, 24, 32, 48 2–6×

Nicotiana tabacum (Tabak) 12 48 4×

Fragaria ananassa (Erdbeere) 7 56 8×

Triticum aestivum (Weizen) 7 42 6×

Autopolyploide

Solanum tuberosum (Kartoffel) 12 48 4×

Coffea arabica (Kaffee) 11 22, 44, 66, 88 2–8×

Musa sapientum (Banane) 11 22, 33 2–3×

Nach Leibenguth (1982)


10.2 · Chromosomenmutationen
407 10

a Meiose
Gameten Meiose I Gameten
(frühe Anaphase)

diploid (AA) diploid (BB)


polyploide Hybridform

Spezies 1
Genom-
F 1-Hybrid (AB) Duplikation
homoploide
Hybridform

autotetraploid (AAAA) allotetraploid (AABB) Spezies 2

b Meiotische Fehler
Gameten Gameten

Phänotyp

. Abb. 10.5 Hybridbildung und die adaptive Landschaft. Der »Hyper-


space« möglicher Phänotypen und Genotypen kann als eine adaptive Land-
c Mitose schaft dargestellt werden. Fitness-Optima (engl. adaptive peaks) sind in
Tochterzellen Tochterzellen Blau gezeichnet. Adaptive Landschaften sind nicht festgelegt, sondern kön-
nen sich durch Veränderungen der Umwelt oder des Lebensraums eben-
falls ändern. Die durchschnittlichen Phänotypen der Spezies und ihrer
Hybride sind als Kreuze gezeigt und die Verteilung der Nachkommen als
Punkte. Die Spezies 1 und 2 sind jeweils an unterschiedliche Fitness-Optima
angepasst. Natürliche Selektion agiert hauptsächlich innerhalb jeder
diploid Spezies, und die Hybriden sind »hoffnungsvolle Monster«, weit entfernt
von phänotypischen Optima (durchgezogene Pfeile). Man kann sich daher
Centrosom
tetraploid schlecht vorstellen, wie Hybride neue Optima erreichen. Polyploide
Hybride können jedoch vielfältige Vorteile gegenüber ihren Eltern haben
. Abb. 10.4 Polyploidiebildung führt zu meiotischer und mitotischer Insta- (z. B. Heterosis, extreme phänotypische Eigenschaften und reproduktive
bilität. a In der frühen Anaphase der Meiose I ist die Paarung homologer Isolation). Homoploide Hybride haben zwar anfangs geringe Vorteile, aber
Chromosomen der F1-Hybriden wegen der Unterschiedlichkeit in der Form ihre Nachkommen können extrem hohe Variabilität besitzen. Diese
und Zahl der Chromosomen gestört. Durch Genomduplikation wird die Paa- Schübe in der Variabilität können dazu beitragen, dass Homoploide neue
rungsfähigkeit wiederhergestellt; das führt zu Allotetraploiden, in denen die Fitness-Optima finden, die von denen ihrer Eltern weit entfernt sind
zwei homöologen Chromosomensätze unabhängig paaren (als homöolog (gestrichelte Pfeile). (Nach Mallet 2007, mit freundlicher Genehmigung der
bezeichnet man zwei sich entsprechende Chromosomen zweier unter- Nature Publishing Group)
schiedlicher Genome zur Unterscheidung von echten homologen Chromo-
somen). In Autotetraploiden führt die Paarung häufig zu Multivalenten, da
vier Chromosomen desselben Typs vorhanden sind. b Zwei Beispiele meio-
tischer Unregelmäßigkeiten, die zum Verlust eines Chromosoms (links) bzw. Diploiden triploide Nachkommen produziert werden, die zwar
zu Aneuploidie (rechts) führen. c In tierischen Zellen entspricht die Zahl der selbst lebensfähig, aber in der Regel steril sind. Polyploidisierung
Centrosomen dem Anstieg der Genomgröße. Es werden mehrfache Spin- ist also ein einfacher evolutionärer Sprung, der etwa 2–4 % der
deln gebildet, die zu unbalancierten Mitoseprodukten führen. (Nach Comai
Speziesbildung bei Blütenpflanzen erklärt. Untersuchungen der
2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
Flora unter extremen Bedingungen, z. B. in der Arktis, zeigen,
dass 78 % von 161 Spezies polyploid sind (der durchschnittliche
Heterosis, genetische Redundanz und asexuelle Reproduktion. Ploidiegrad ist 6). Viele haben ihre Markerheterogenität fixiert,
Wie wir bereits oben gesehen haben, zeigen polyploide Organis- was eine vollständige Allopolyploidie bedeutet. Nach ihrer Bil-
men eine größere genetische Vielfalt als diploide Organismen, dung hatten die neuen allopolyploiden Hybride zunächst die
daher können schädliche rezessive Allele länger durch dominan- üblichen Schwierigkeiten »hoffnungsvoller Monster«: deutliche
te Wildtyp-Allele maskiert werden. Der doppelte Satz von Genen Unterschiede zu ihren Eltern, ohne adaptive Geschichte zu ir-
kann außerdem verstärkt zu evolutionären Experimenten ge- gendeiner ökologischen Nische und mit offensichtlich geringer
nutzt werden. In manchen Fällen führt Polyploidie außerdem Aussicht auf Überleben. Wenn es allerdings gelingt, neue ökolo-
dazu, dass Selbstbefruchtung möglich wird (z. B. Allopolyploi- gische Nischen zu besetzen, die zugleich frei und räumlich ge-
den von Arabidopsis thaliana oder Autopolyploiden von Petunia trennt sind, können diese Nachteile überwunden werden. Bei-
hybrida). spiele dafür aus jüngerer Zeit sind die invasiven allopolyploiden
Polyploidisierung ist eine mögliche Form der Speziesbil- Pflanzen Senecio cambrensis in Wales und Spartina anglica in
dung. Polyploide Spezies sind von ihren Eltern in der Reproduk- England. In einer allgemeinen Form ist die Beziehung zwischen
tion isoliert, weil im Falle einer Paarung von Tetraploiden mit Polyploidisierung und Speziesbildung in . Abb. 10.5 dargestellt.
408 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

> Polyploidie spielt bei der evolutionären Entstehung neuer sexuellen Fortpflanzung imstande. Die Sterilität beruht vorwie-
Karyotypen eine wichtige Rolle. Allerdings können unter- gend auf der mangelnden Fähigkeit der Chromosomen, sich mei-
schiedliche Paarungen in der meiotischen Prophase zu otisch richtig zu paaren. Eine Folge davon ist die ungerichtete
Aneuploidien der Gameten führen (Flaschenhals genomi- Segregation, die zu Aneuploidie der Gameten führt und damit
scher Instabilität). Vorteile polyploider Organismen sind zur Letalität der Nachkommenschaft. Da sich solche Pflanzenhy-
stärkere Heterosis und Genredundanz. briden jedoch oft vegetativ fortpflanzen und damit zahlenmäßig
vermehren können, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei
zufälliger Segregation der Chromosomen gelegentlich einzelne
10.2.2 Polyploidie in der Pflanzenevolution Gameten bilden, die je einen haploiden Chromosomensatz bei-
und Pflanzenzucht der Elternarten besitzen. Befruchten sich zwei solcher Gameten,
so entsteht eine allotetraploide Zygote (. Abb. 10.4), die je ein
Viele Studien haben gezeigt, dass in der Evolution der Angio- diploides Genom beider Eltern enthält (auch als amphidiploid
spermen mehrfach Polyploidisierungen aufgetreten sind. Wei- bezeichnet). Solche Zellen können sich auch meiotisch normal
tere wichtige Beispiele beinhalten Genomduplikationen in den teilen, da nunmehr jedes Chromosom einen homologen Paa-
gemeinsamen Vorläufern moderner Nutzpflanzen (. Abb. 10.6). rungspartner besitzt. Die Folge ist eine normale Segregation.
Wenn es diese weit verbreiteten, aufeinanderfolgenden Epi- Man kann die Zelle also hinsichtlich ihres Segregationsverhal-
soden der Genomduplikation gibt, ergibt sich natürlich die Fra- tens mit einer diploiden Zelle mit der doppelten Chromosomen-
ge, welche evolutionären Prozesse dann dazu geführt haben, dass anzahl vergleichen. Sie unterscheidet sich jedoch von einer nor-
sich schließlich so kleine Genome wie das von Arabidopsis gebil- malen diploiden Zelle dadurch, dass die sich entsprechenden
det haben. Die Antwort ergibt sich daraus, dass nach der Poly- Chromosomen beider Ausgangsgenome partiell homolog sind.
ploidisierung ein Teil des redundanten Genommaterials wieder Die Paarung – und damit auch das Crossing-over – erfolgt im
verloren ging. So hat z. B. der Mais in seiner Evolution die Hälfte Allgemeinen bevorzugt zwischen den beiden homologen Part-
10 aller verdoppelten Gene in den 11 Mio. Jahren seit der letzten nern eines allopolyploiden Genoms, sodass beide Genome gewis-
Polyploidisierungsrunde wieder verloren. Dieses Phänomen gibt sermaßen nebeneinander bestehen bleiben. Das ist auch bei Allo-
es jedoch nicht nur bei den Angiospermen, sondern auch in der polyploiden höheren Grades (z. B. Hexapolyploiden) der Fall.
Hefe: Sequenzanalysen der engen Verwandten Saccharomyces
cerevisiae und Kluyveromyces waltii zeigen ein 2:1-Verhältnis der C Unsere heute gebräuchlichen Weizensorten sind typische
Kopplungsgruppen dieser zwei Linien. Ein allgemeines Schema Beispiele für Allopolyploidie. Durch Chromosomenanalysen
dieses zyklischen Prozesses aus Polyploidisierung und zufälligem hat man festgestellt, dass die Evolution des Genoms des
Überleben von Genen zeigt . Abb. 10.7. hexaploiden Weizens (Triticum aestivum, 2n = 42), dessen Ur-
Die Entstehung allopolyploider Genotypen spielt auch eine sprünge in Babylonien und Indien liegen, in zwei Ploidisie-
wichtige Rolle in der experimentellen Pflanzenzüchtung. Viele rungsschritten unter Einbezug des Genoms dreier diploider
Kulturpflanzen, wie Getreide, Tabak, Kohl u. a., sind allopoly- Arten verlaufen sein muss. Ausgangsarten waren vor mehr
ploid. Der erste Schritt zur Allopolyploidie sind gelegentliche als 10.000 Jahren wahrscheinlich die diploiden Arten Triti-
Fremdbefruchtungen, die zur Bildung von Hybriden führen. cum monococcum (2n = 14; heute als Einkorn noch kultiviert,
Arthybriden sind definitionsgemäß steril und damit nicht zur mit der Chromosomenkonstitution AA) und eine weitere,

. Abb. 10.6 Abgeleitete Polyploidisierungsereignisse während der


Evolution von Angiospermen. Die blauen Ovale deuten große Duplika-
tionsereignisse an. Die Zahlen sind grobe Schätzungen des Zeitab-
stands zwischen den Duplikationsereignissen (in Mio. Jahren); die Ver-
zweigungsäste sind nicht skaliert. (Nach Adams und Wendel 2005,
mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
10.2 · Chromosomenmutationen
409 10
nicht sicher bestimmte Art, wahrscheinlich Aegilops speltoi-
des (Synonym: Triticum speltoides) (2n = 14; mit der diploiden
Konstitution BB). Ein natürliches tetraploides Hybrid beider
Arten, Triticum turgidum (2n = 28), das seit etwa 10.000 Jah-
ren bekannt ist, hat die Chromosomenkonstitution AABB.
Es wird noch heute als Emmerweizen kultiviert. Nach einer
Kreuzung mit der diploiden Art Aegilops squamosum (Syno-
nym: Triticum tauschii) (2n = 14; diploide Chromosomen-
konstitution DD) entstand vor etwa 8000 Jahren der hexa-
ploide Weizen Triticum aestivum (Chromosomenkonstitution
AABBDD). Er besitzt 2n = 42 Chromosomen, die aus drei
verschiedenen Ursprungsgenomen mit haploid je sieben
Chromosomen abgeleitet sind, wie uns seine Entstehungs-
geschichte gezeigt hat. . Abb. 10.8 zeigt verschiedene
Weizen- und Gerstenarten.

> Die heutige hexaploide Kulturform des Weizens (Triticum


aestivum) ist ein Beispiel für die Entstehung allopolyploi-
der Formen durch stufenweise Hybridbildung zwischen
verschiedenen diploiden Ausgangsarten.

Der Vorteil allopolyploider Konstitutionen liegt letztlich in einem


größeren Reichtum an unterschiedlichen Allelen. Hierdurch sind
die Pflanzen anpassungsfähiger (Vergrößerung des Genpools,
7 Abschn. 11.5). Außerdem bewirkt die Vervielfachung der Ko-
pienzahl eines Gens oft eine Erhöhung der Menge an Genpro-
dukt, dem entscheidenden Kriterium in der kommerziellen
Pflanzenzüchtung, wenn es sich um Nahrungspflanzen handelt.
Die Entstehung allopolyploider Konstitutionen ist nicht
allein der natürlichen Selektion geeigneter Formen überlassen,
sondern kann auch experimentell erfolgen. Ausgangsformen
hierfür sind wiederum Amphidiploide, die durch Kreuzungen
verschiedener Arten und anschließende Ploidisierung, beispiels-
weise durch Colchicinbehandlung, erhalten werden. Ein wichti-
ges Beispiel hierfür ist die Züchtung der Gattungshybride Triti-
cale durch Kreuzungen von Weizen (Triticum) (2n = 42) und
Roggen (Secale) (2n = 14). Durch Bestäubung von Triticum mit
Pollen von Secale wurden zunächst (unfruchtbare) Hybriden er-
zeugt. Die Embryonen kultivierte man in Colchicin-haltigem
Nährmedium und erhielt so tetraploide Pflanzen, die sich als
fruchtbar erwiesen.

C Schließlich haben in der klassischen Pflanzenzüchtung


noch zwei weitere Möglichkeiten genetischer Eingriffe in
das Genom Bedeutung erlangt. Sie werden als Additions-
und Substitutionsbastardisierung bezeichnet. In Additions-
bastarden findet sich ein überzähliges Chromosomenpaar
aus einer anderen Art (Fremdaddition, engl. alien addition). . Abb. 10.7 Modell der zyklischen Polyploidie und des zufälligen Überle-
bens von Genen. Die kleinen Kästchen stellen Gene dar, die entlang der ho-
So lassen sich zum Weizengenom einzelne Chromosomen
möologen Chromosomen innerhalb eines Zellkerns (großer Kasten) ange-
des Roggens hinzufügen. Die allopolyploide genetische ordnet sind; die Färbung deutet jeweils einen neuen Satz von Genen an, der
Konstitution des Weizengenoms ist in der Lage, solche durch eine Polyploidisierungsrunde hinzukommt. Differenzielles Überleben
»überzähligen« Chromosomen, die ja zu Aneuploidie führen, von Genen führt zum Abweichen von der Co-Linearität in homöologen Ge-
zu akzeptieren. In diploiden Genomen würden solche Aneu- nen. (Nach Adams und Wendel 2005, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)
ploidien zur Letalität führen. In ähnlicher Weise können
einzelne Chromosomenpaare eines Allopolyploiden durch
ein Chromosomenpaar fremden Ursprungs ersetzt werden
(Fremdsubstitution, engl. alien substitution).
410 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

T. urartu Ae. speltoides Ae. tauschii T. monococcum T. turgidum ssp. T. turgidum ssp. T. aestivum
dicoccoides durum
(AuAu) (SS) (DD) (AmAm) (AABB) (AABB) (AABBDD)

. Abb. 10.8 Ähren von wilden und domestizierten Formen von Weizen
und Gerste. Die obere Reihe zeigt diploide wilde Urformen, die mit den
tetraploiden und hexaploiden Weizenarten verwandt sind: (i) Triticum urartu
(AuAu), (ii) Aegilops speltoides (SS) und (iii) Aegilops tauschii (DD). (iv) Kulti-
vierte diploide Weizenform T. monococcum (AmAm). Wilde und domesti-
zierte Form von tetraploidem Weizen: (v) Triticum turgidum ssp. dicoccoides
10 (AABB) und (vi) Triticum turgidum ssp. durum (AABB). (vii) Triticum aestivum
(Saatweizen, AABBDD) ist aus der Hybridisierung zwischen der tetraploiden
domestizierten Spezies T. turgidum ssp. dicoccum und der wilden diploiden
Form Aegilops tauschii hervorgegangen. Die untere Reihe zeigt zwei Unter-
arten von Gerste: (i) Der wilde Vorläufer Hordeum spontaneum (HH) hat
spröde Blattspindeln, sodass die Körner leicht aus den Ähren fallen (rechts).
(ii) Die zwei kultivierten Hauptformen von Hordeum vulgare (HH): sechs-
reihig (links) und zweireihig (rechts). Die Genomkonstitution ist unter den
jeweiligen Speziesnamen angegeben. (Nach Feuillet et al. 2007, mit freund-
H. spontaneum licher Genehmigung von Elsevier)
H. vulgare
(HH) (HH)

Die Kombination fremder Genombestandteile war eines der die strukturelle Integrität des Chromosoms wiederhergestellt
wichtigsten Mittel der klassischen Pflanzenzüchtung, um ge- werden. Liegen gleichzeitig mehrere Brüche in einem oder ver-
wünschte Eigenschaften bei Kulturpflanzen, in erster Linie schiedenen Chromosomen vor, so kann es zu »falschen« Repara-
hohen Ertrag und spezifische Resistenzen sowie Adaptation an turen kommen. Ohne sie würde das Chromosom sein Centromer
besondere Wachstumsbedingungen, herauszuzüchten. Die auf- oder Telomer verlieren und wäre damit funktionsunfähig
geführten Beispiele lassen erkennen, welch mühsamen und oft (7 Abschn. 6.1.3 und 7 Abschn. 6.1.4). Falsche Reparaturen von
weitgehend empirischen Weg der Züchter zu gehen hatte, um die Chromosomenbrüchen haben eine Veränderung der Anord-
gesuchten Varietäten zu erzeugen. Durch die Herstellung trans- nung der Gene im Genom zur Folge. Die verschiedenen Mög-
gener Pflanzen (7 Abschn. 10.7.1) werden entsprechende Gene lichkeiten, die sich hierbei ergeben, sind (. Abb. 10.9):
direkt ins Genom eingefügt und somit züchterische Schritte ver- 4 Duplikationen,
einfacht. 4 Deletionen,
> Durch die gezielte Kreuzung von Arten lassen sich experi-
4 Inversionen und
mentell neue allopolyploide Arten erzeugen, die als Kul-
4 Translokationen.
turpflanzen für die Ernährung von großer Bedeutung sein
können, da sie vorteilhafte Eigenschaften der verschiede-
Alle Arten von Chromosomenaberrationen (oder Chromoso-
nen Ausgangsarten in sich vereinigen.
menrearrangements) sind nicht nur in populationsgenetischer
Hinsicht von Bedeutung, sondern waren es auch für die Kartie-
rung von Genen in der experimentellen Genetik. Sie gestatteten
10.2.3 Strukturelle Chromosomenaberrationen die gezielte Herstellung bestimmter genetischer Konstitutionen
und die Stabilisierung bestimmter Allelkombinationen. Auch in
Strukturellen Chromosomenveränderungen sind wir bereits der Humangenetik spielen Chromosomenaberrationen eine
wiederholt begegnet. Es handelt sich hierbei stets um Abwei- wichtige Rolle bei der Entstehung von Erbkrankheiten.
chungen, die durch – meist mehrere – Brüche im Chromosom Aberrationen können spontan entstehen oder induziert wer-
verursacht werden. Solche Brüche können repariert und damit den. Ihre Induktion erfolgt in erster Linie durch energiereiche
10.2 · Chromosomenmutationen
411 10
. Abb. 10.9 Verschiedene Formen chromo-
somaler Umgestaltungen. Die Chromosomen
a d g
sind schwarz gezeichnet und ihre Centromere
grau. Gelbe Pfeile repräsentieren Sequenzen, die
über einen längeren Bereich eine signifikante
Übereinstimmung zeigen; die Pfeilrichtung gibt
die jeweilige Orientierung an. Die chromosoma-
len Umgestaltungen und die (vorhergesagten)
Rekombinationsprodukte sind von links nach
rechts entsprechend der beteiligten Mechanis-
b e h men sortiert (verschiedene Chromosomen: inter-
chromosomal; innerhalb eines Chromosoms:
intrachromosomal; innerhalb einer Chromatide:
intrachromatid); von oben nach unten: gleichsin-
nige, invertierte und komplexe Umgestaltungen.
a, d, g Falsche Anlagerung von Fragmenten in der
gleichen Orientierung führt zu Deletionen bzw.
Duplikationen, innerhalb einer Chromatide auch
zu einem azentrischen Fragment. b, e, h Falsche
c f i Anlagerung von Fragmenten in der entgegen-
gesetzten Orientierung führt zu Inversionen.
c, f, i Komplexe Austausche zwischen Fragmenten
mit Sequenzhomologien können auch für Dele-
tionen oder Duplikationen (bei c u. U. auch mit
Einschluss des Centromers) bzw. Inversionen ver-
antwortlich sein. (Nach Stankiewicz und Lupski
2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Strahlung (Röntgenstrahlung), kann aber auch durch chemische derten Chromatinkonstitution Veränderungen in der Aktivität
Mutagenese erfolgen. Chromosomenaberrationen sind in vielen der Gene entstehen. Solche Effekte sind vor allem dann zu beob-
Fällen bereits cytologisch zu erkennen, da sie mit Veränderungen achten, wenn ein euchromatischer Chromosomenbereich durch
in der Form oder Länge der betroffenen Chromosomen, in den eine Inversion (oder auch Translokation) in einen heterochroma-
Paarungseigenschaften während der meiotischen Prophase oder tischen Chromosomenabschnitt verlagert wird. Wie wir früher
in den Bandenmustern der Chromosomen (7 Abschn. 6.1.2) ver- gesehen haben, unterscheiden sich heterochromatische Chro-
bunden sind. mosomenbereiche sowohl durch ihre strukturelle Organisation
als auch durch speziell mit ihnen assoziierte chromosomale Pro-
Duplikationen und Deletionen teine von euchromatischen Chromosomenabschnitten. Wird ein
Bei der Entstehung von Duplikationen und Deletionen führen Gen in solche Regionen verlagert, so kann es in die strukturelle
partielle Homologien in der DNA-Sequenz zu einer Verschie- Organisation des heterochromatischen Chromosomenbereichs
bung in der meiotischen Paarung und zu nicht homologem einbezogen werden, sodass es zu einer Kondensation des Chro-
Crossing-over. Vergleichbare Ereignisse können sich natürlich mosoms auch in diesem Gen-tragenden Bereich kommt. Das
auch über größere Abstände im Chromosom hinweg abspielen, wiederum kann die Inaktivierung der einbezogenen Gene zur
sodass längere Chromosomenabschnitte dupliziert werden. Al- Folge haben. Offenbar wird durch die Bruchstellen die Unterglie-
lerdings stellen alle Duplikationen genetisch gesehen Aneuploi- derung der strukturellen Domänen eines Chromosoms teilweise
dien dar, und wir wissen, dass diese meist letal sind. Daher wer- zerstört, sodass deren Grenzen nicht mehr eindeutig definiert
den im Genom – nach Maßgabe der beteiligten Gene – auch werden. Das führt zu einer Variabilität in den Grenzen des hete-
meist nur kürzere Deletionen vorgefunden. rochromatischen Chromosomenbereichs in verschiedenen Zel-
len und damit zu Unterschieden in der Ausprägung der Gene im
Inversionen diesem Grenzbereich.
Inversionen erscheinen auf den ersten Blick als genetisch nicht Eine andere pathologische Konsequenz einer Inversion er-
sehr interessant, da man erwarten würde, dass hier die genetische gibt sich, wenn der Bruchpunkt innerhalb eines Gens liegt. In
Information unverändert erhalten geblieben ist. Das ist insofern der Humangenetik ist beispielsweise eine Inversion unter Betei-
nicht ganz richtig, als im Bruchstellenbereich Defekte induziert ligung des Introns 22 des F8-Gens die häufigste Ursache der
werden können, die Konsequenzen des Bruchereignisses selbst Hämophilie A (7 Abschn. 13.3.3).
sind (z. B. fehlerhafte Reparatur) und deren Folgen daher nicht
auf der Tatsache der Invertierung eines Chromosomenbereichs > Bei der Verlagerung von Genen in heterochromatische
beruhen. Chromosomenbereiche durch Inversionen oder Transloka-
Andererseits kommt es durch die Inversion eines Chromoso- tionen kann die andere Chromatinkonstitution der neuen
menbereichs jedoch zu Verlagerungen von Genen in andere Be- chromosomalen Umgebung die normale Expression von
reiche des Chromosoms. Hieraus können aufgrund einer verän- Genen beeinflussen.
412 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Die Anwesenheit heterozygoter Inversionen in einem diploi- a


den Organismus kann schwerwiegende Folgen während der
Meiose haben, wenn es im Inversionsbereich zu Crossing-over
kommt. Da die Lage der Inversion relativ zur Lage des Centro-
mers in dieser Hinsicht von großer Bedeutung ist, unterscheidet
man zwischen Inversionen, die sich auf einen Chromosomenarm
beschränken (parazentrischen Inversionen) und solchen, die b
den Centromerbereich einschließen (perizentrische Inversio-
nen). Im Falle eines Crossing-overs innerhalb einer perizentri-
schen Inversion entstehen Chromatiden mit partiellen Duplika-
tionen und Deletionen, die in den Nachkommen zu Aneuploidi-
en führen und damit im Allgemeinen eine letale Wirkung haben.
Erfolgt ein Crossing-over innerhalb einer parazentrischen c
Inversion, so kommt es bereits während der ersten meiotischen
Anaphase zu Störungen, da die entstehenden Chromatiden ent-
weder ihr Centromer verloren haben oder zwei Centromere be- d
sitzen. Cytologisch ist das in der Anaphase durch die Ausbildung
von Chromatidenbrücken erkennbar, wie sie charakteristischer-
weise durch Chromatiden mit zwei Centromeren gebildet wer-
den. Chromatidenbrücken zerbrechen gegen Ende der Anapha-
se. Da Chromatidenstücke ohne Centromer während der Zelltei-
lung verloren gehen, entstehen sowohl bei Verlust des Centro- e
10 mers (azentrisches Fragment) als auch bei der Anwesenheit
zweier Centromere (dizentrisches Fragment) aneuploide Game-
ten, die ebenfalls zur embryonalen Letalität führen, wenn sie
nicht bereits als Keimzellen eliminiert werden. Unter den Nach- f
kommen sind damit nur solche Individuen zu finden, die im
Inversionsbereich kein Crossing-over aufweisen. Alle Chromo-
somen mit Crossing-over innerhalb der Inversion sind hingegen
nicht lebensfähig. Daher sind heterozygote Inversionen, insbe-
sondere, wenn sie längere Chromosomenbereiche einschließen,
zur Stabilisierung bestimmter Allelkombinationen geeignet. g
Solche Chromosomenkonstitutionen kann man in der Natur
. Abb. 10.10 Mögliche Entstehung von Kopienzahlvariationen. Es sind
bei bestimmten Organismen häufig finden. Zum Beispiel sind aufeinanderfolgende Sprünge der Replikationsgabel zu verschiedenen ge-
Chironomiden-Populationen (Diptera) oft durch eine sehr aus- nomischen Positionen (verschiedene Farben) gezeigt, wobei sich jeweils
giebige und populationsspezifische Inversionsheterozygotie kurze Homologiebereiche ausbilden. Die Pfeilspitze deutet die DNA-Synthe-
gekennzeichnet. In der experimentellen Genetik werden Inver- serichtung an. a Abgebrochener Arm einer Replikationsgabel, die eine neue
fortschreitende Replikationsgabel (b) ausbildet. c, e Das verlängerte Ende
sionen mit dem gleichen Ziel, der Verhinderung von Rekombina-
löst sich wiederholt ab und bildet an einer anderen Stelle eine neue Repli-
tion in bestimmten Chromosomenbereichen, verwendet. Sie kationsgabel (d) aus. f Der Sprung führt zu dem ursprünglichen Schwester-
sind daher ein wesentlicher Bestandteil eines Balancer-Chromo- chromatidenstrang (blau) zurück. Es wird eine neue Replikationsgabel aus-
soms (7 Technikbox 22). gebildet, die die Replikation abschließt. g Das Endprodukt enthält Sequen-
Cytologisch sind heterozygote Inversionen in polytänen zen unterschiedlicher genomischer Regionen. (Nach Hastings et al. 2009)
Chromosomen ebenso gut wie heterozygote Deletionen oder
Inversionen zu erkennen. Da Chromatiden stets eine starke Ten-
denz zur Paarung haben, ist auch der Inversionsbereich weitge- gische Krankheiten, Entwicklungsstörungen und Krebs).
hend gepaart. Um diese Paarung überhaupt zu gestatten, bildet Kopienzahlmutationen entstehen häufiger als andere Muta-
sich zwischen den homologen Chromosomen eine Inversions- tionen, wobei der prinzipielle Mechanismus bei verschiede-
schleife aus, die lediglich im Bereich der ursprünglichen Bruch- nen Organismen (z. B. Bakterien, Hefen und Menschen) ähn-
punkte kurze ungepaarte Abschnitte zeigt. In Drosophila ist die lich zu sein scheint. Allerdings haben Mäuse eine deutlich
exakte Kartierung von Inversionen auf diese Weise sehr einfach. geringere Entstehungshäufigkeit als Primaten, ohne dass
wir die Ursache dafür kennen. Man geht davon aus, dass
*Deletionen und Duplikationen chromosomaler Segmente
werden heute auch als Kopienzahlvariationen (engl. copy
etwa 12 % des menschlichen Genoms von Kopienzahlvaria-
tionen betroffen ist.
number variants, CNVs) bezeichnet. Bei Menschen sind sie
eine Ursache individueller Unterschiede, aber auch ein wich- Kopienzahlvariationen können meiotisch und in somatischen
tiger Faktor der Evolution. Darüber hinaus sind sie für das Zellen entstehen und sind damit auch ein mögliches Unter-
Entstehen einiger Krankheiten verantwortlich (z. B. neurolo- scheidungsmerkmal eineiiger Zwillinge. Veränderungen in der
10.3 · Spontane Punktmutationen
413 10
Kopienzahl von chromosomalen Abschnitten (und damit der von 10−6 bis 10−11 Nukleotiden. Das erscheint zwar niedrig, doch
darin enthaltenen Gene) beeinflussen natürlich auch die Ex- in einem Genom, das wie das menschliche 2,75 × 109 Nukleotid-
pressionsstärke dieser Gene; sie können aber auch Grundlage paare enthält, hat diese Fehleinbaurate noch immer eine Muta-
neuer evolutionärer Prozesse werden. Zur Erklärung des Ent- tionshäufigkeit von einem Nukleotid in mindestens einer von
stehungsprozesses von Kopienzahlvariationen werden heute 100 replizierenden Zellen oder sogar in jedem Replikationszyklus
vor allem Störungen der DNA-Replikation und die Replikation zur Folge. Da in einem menschlichen Individuum bis zu 106 Zellen
von nicht zusammenhängenden DNA-Fragmenten favorisiert in jeder Sekunde replizieren, ist die gesamte Mutationshäufigkeit
(. Abb. 10.10). in jedem einzelnen Individuum außerordentlich hoch. Selbst bei
E. coli erwartet man noch etwa acht Basensubstitutionen per Re-
> Heterozygote Inversionen führen zu Chromosomenaber-
plikationszyklus in jeder Zelle. Auch wenn man davon ausgehen
rationen, wenn ein Crossing-over innerhalb des invertier-
kann, dass ein Teil dieser Fehler noch durch andere, nicht an die
ten Chromosomenabschnitts erfolgt. Die hierdurch be-
Replikation gekoppelte Reparaturmechanismen korrigiert wird
dingte Letalität der Nachkommen solcher Rekombina-
(7 Abschn. 10.6), so verbleibt noch immer eine überraschend
tionschromatiden hat zur Folge, dass Allelkombinationen
hohe basale Mutationsrate durch Replikationsfehler. Die Bedeu-
innerhalb einer heterozygoten Konstitution durch Cros-
tung der Korrekturleseaktivität wird deutlich, wenn man Muta-
sing-over nicht verändert werden. Diese Möglichkeit zur
tionen des entsprechenden Gens betrachtet: mutD-Mutanten
Stabilisierung bestimmter Allelkombinationen ist sowohl
von E. coli zeigen eine 1000-fach höhere Mutationsrate als Wild-
in natürlichen Populationen als auch experimentell in
typ-Bakterien. Ursache sind Mutationen in dem Gen, das für die
Balancer-Chromosomen von Bedeutung.
ε-Untereinheit der DNA-Polymerase III codiert.
Eine zweite Ursache für Replikationsfehler ist das Schlittern
Translokationen (engl. slippage) der DNA-Polymerase über repetitive Bereiche:
Translokationen entstehen durch Brüche in zwei oder mehr ver- Häufig löst sich die DNA-Polymerase kurzzeitig vom elterlichen
schiedenen Chromosomen. Es folgt eine Verheilung der chro- Strang und setzt kurz darauf wieder neu an. Besonders in Berei-
mosomalen Bruchstücke in neuen Kombinationen. Hierbei kön- chen, in denen sich ein Nukleotid mehrfach wiederholt (z. B.
nen auch multiple Translokationen entstehen, die komplexe 7-mal Guanosin in Folge), kann dies zu einer Deletion oder auch
meiotische Prophasepaarungsfiguren zur Folge haben. Erfolgt einer Insertion führen (Folge: 6- oder 8-mal Guanosin an dieser
eine Translokation in Form eines Austausches von Chromoso- Stelle), sodass dadurch der Leserahmen verändert wird.
menteilen zwischen zwei Chromosomen, so sprechen wir von
einer reziproken Translokation. Wie wir schon für Deletionen, *Eine wichtige Frage stellt sich im Zusammenhang mit Korrek-
turen von Replikationsfehlern: Wie ist das Korrektursystem
Duplikationen oder Inversionen gesehen haben, sind auch
in der Lage, den neu synthetisierten DNA-Strang vom alten
Translokationen in Drosophila und anderen Insekten an den Rie-
Strang zu unterscheiden? Diese Unterscheidung wäre not-
senchromosomen leicht zu erkennen, da sich hier komplexe
wendig, wenn die Korrektur einer Base nicht dem Zufall un-
Chromosomenpaarungen ergeben. Translokationen haben in
terliegen, sondern gezielt im richtigen Strang erfolgen soll,
der Humangenetik oft eine besondere Bedeutung (7 Abschn.
um eine Mutation zu vermeiden. Bei E. coli spielen hier me-
13.2.2).
thylierte Basen in der DNA eine Rolle, die mit geringer Fre-
> Die Verlagerung von (terminalen) Chromosomenberei- quenz im alten Strang, nicht jedoch im neu synthetisierten
chen oder ganzen Chromosomenarmen an ein anderes Strang vorkommen. Adenin und Cytosin werden innerhalb
Chromosom bezeichnet man als Translokation. bestimmter DNA-Sequenzen methyliert (. Abb. 8.5) und
dienen so zur Kennzeichnung des ursprünglichen DNA-
Strangs. Da die Methylierung postreplikativ und etwas ver-
zögert erfolgt, sind neu replizierte DNA-Bereiche noch
10.3 Spontane Punktmutationen
unmethyliert und dadurch als möglicherweise korrektur-
bedürftige Regionen gekennzeichnet.
10.3.1 Fehler bei Replikation und Rekombination
Eine weitere häufige Mutationsursache sind spontane Basenver-
Die Ursache von Replikationsfehlern in der DNA haben wir be- änderungen, die dann natürlich auch zu Fehlern in der Replika-
reits bei der Besprechung der Replikationsmechanismen ken- tion führen, ohne dass der Replikationsmechanismus als solcher
nengelernt (7 Abschn. 2.2). Der DNA-Polymerase unterlaufen fehlerhaft arbeitet. Wir werden das im nächsten Abschnitt im
beim Einbau von Nukleotiden aufgrund der Basenkomplemen- Detail betrachten.
tarität mit dem komplementären Strang in einem wachsenden Ein anderer wesentlicher genetischer Prozess, nämlich die
DNA-Strang relativ häufig Fehler (ungefähr einer in 104 Nukle- Rekombination (7 Abschn. 4.4.2 und 7 Abschn. 6.3.3), ist störan-
otiden). Obwohl der DNA-Polymerasekomplex solche Fehler fällig und Ursache vieler Mutationen. Auch hier sind repetitive
unmittelbar im Zusammenhang mit der Replikation korrigieren Bereiche besonders gefährdet. Solche Sequenzwiederholungen
kann (Korrekturleseaktivität der 3’→5’-Exonuklease im Polyme- können dazu führen, dass es während der meiotischen Homolo-
rasekomplex, engl. proof reading), kommt es trotzdem zum Fehl- genpaarung zu Fehlpaarungen und als Konsequenz zu Rekombi-
einbau von Nukleotiden. Die trotz der Reparaturvorgänge ver- nationsfehlern kommt. Das führt zu Duplikationen oder Deletio-
bleibende Fehlerrate liegt noch immer in einer Größenordnung nen im betroffenen DNA-Bereich. Eine besondere Rolle spielen
414 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

diese Phänomene bei der Entstehung struktureller Chromoso-


3
menaberrationen (7 Abschn. 10.2.3).
> Bei der Replikation der DNA werden mit hohen Fehler-
raten der DNA-Polymerase auch falsche Nukleotide einge-
baut. Die meisten Fehler werden jedoch durch einen
Polymerase-eigenen Reparaturmechanismus korrigiert.
Rekombinationsfehler aufgrund von Fehlpaarungen
während der meiotischen Homologenpaarungen können
zu Deletionen und Duplikationen führen.
3

10.3.2 Spontane Basenveränderungen

Nukleotidveränderungen können entweder spontan durch die


chemischen Eigenschaften der Nukleotide selbst auftreten, oder . Abb. 10.11 Desaminierung von Cytosin und von 5-Methylcytosin hat
sie können induziert sein. Als Ursachen für spontane Nukleotid- unterschiedliche Folgen. Das aus Cytosin entstehende Uracil wird durch die
substitutionen kommen in Betracht: endogene Uracil-Glykosylase entfernt, und Reparatursysteme korrigieren
4 die Instabilität der N-Glykosylbindungen zwischen Basen die DNA aufgrund des komplementären G. 5-Methylcytosin wird hingegen
in Thymin verwandelt, sodass es als Folge der Desaminierung zu einem
und Desoxyribose, die bei Purinnukleotiden mit einer nied- Basenaustausch kommt
rigen Frequenz spontan gelöst werden kann. Sie ist tempe-
raturabhängig und erfolgt bei einem pH-Wert von 7 bei
10 37 °C mit einer Häufigkeit von etwa einem von 300 Purin-
nukleotiden täglich;
4 der tautomere Charakter der Basen, aufgrund dessen sie
von der normalen Ketoform (Thymin, Guanin) in die sel-
tenere Enolform übergehen können, bzw. von der normalen
Aminoform (Cytosin, Adenin) in die seltene Iminoform;
4 spontane Desaminierung, insbesondere von Cytosin zu
Uracil, seltener von Adenin zu Hypoxanthin.

C Bei der Untersuchung der rII-Region des Bakteriophagen T4


hatte Benzer (1961) beobachtet, dass bestimmte Regionen
des Gens mit besonders hoher Frequenz mutierten. Sie wur-
den deshalb als hotspots für Mutationen bezeichnet. Es hat
sich herausgestellt, dass viele dieser Mutationen auf einer
Umwandlung von 5-Methylcytosin in Thymin als Folge einer
Desaminierung beruhen. 5-Methylcytosin-Positionen in der
DNA sind somit ein bevorzugter Angriffspunkt für Mutationen.

Cytosin und 5-Methylcytosin verlieren gelegentlich spontan ihre


Aminogruppen (Desaminierung; . Abb. 10.11). Dadurch wird
Cytosin in Uracil umgewandelt. Uracil kommt jedoch in der
DNA als normale Komponente nicht vor. Es wird daher im All-
gemeinen enzymatisch (durch die Uracil-Glykosylase) entfernt.
Durch Reparaturenzyme wird nach Maßgabe des komplementä-
ren G wieder ein C in die DNA eingefügt, sodass normalerweise
diese Desaminierung schließlich keine bleibende Mutation zur
Folge hat. Anders sieht es jedoch aus, wenn die Umwandlung in
Uracil kurz vor oder während der Replikation erfolgt, sodass zur
Reparatur keine Zeit verbleibt. In diesem Fall wird als komple-
. Abb. 10.12 Tautomerie der Basen. Die Keto- und Aminoformen werden
mentäres Nukleotid im neuen DNA-Strang ein A eingefügt, so- bevorzugt gebildet
dass nach weiteren Replikationen schließlich ein AT-Basenpaar
anstelle des ursprünglichen GC-Basenpaares steht. Desaminier-
tes 5-Methylcytosin hingegen verhält sich hinsichtlich seiner enzyme jedoch nicht aus der DNA entfernt wird, führt die Des-
Eigenschaften bei der Basenpaarung wie Thymin. Auch hier wird aminierung von 5-Methylcytosin unabhängig von ihrem Zeit-
bei der Replikation ein AT-Basenpaar anstelle eines GC-Basen- punkt stets zu einer Basensubstitution. Wie wir in 7 Abschn. 8.4.2
paares erzeugt. Da methyliertes Thymidin durch Reparatur- gesehen haben, spielt 5-Methylcytosin auch bei epigenetischen
10.3 · Spontane Punktmutationen
415 10
10.3.3 Dynamische Mutationen

Der Begriff dynamische Mutation wurde eingeführt, um die


einzigartigen Eigenschaften von expandierenden, instabilen re-
petitiven DNA-Sequenzen von anderen Mutationsformen zu
unterscheiden. Im Jahr 1991 berichteten Kenneth H. Fischbeck
(Kremer et al. 1991) sowie Robert I. Richards und Grant R.
Sutherland (La Spada et al. 1991) das erste Mal von »expandie-
renden Triplett-Mutationen« als Ursache verschiedener Erb-
krankheiten, dem fragilen X-Syndrom und einer besonderen
Form der Muskelatrophie. In beiden Fällen ist eine einfache
DNA-Wiederholungssequenz (CCG bzw. CAG) bei den betrof-
fenen Patienten erhöht. Bei Gesunden variiert zwar die Zahl die-
ser Tripletts ebenfalls, ist aber deutlich niedriger und liegt unter
einem bestimmten Schwellenwert. Seit ihrer Entdeckung ist die
Zahl der bekannten menschlichen Krankheiten in fragilen chro-
mosomalen Bereichen ständig gestiegen, und dynamische Muta-
tionen wurden zu einer bedeutenden Ursache menschlicher Er-
krankungen (. Tab. 10.3). Die bisherigen Arbeiten zur Aufklä-
rung dieses Mechanismus zeigen:
. Abb. 10.13 Ungewöhnliche Basenpaarungen durch die Bildung tauto- 4 Die Mutation manifestiert sich als eine Veränderung (übli-
merer Formen
cherweise Erhöhung) der Kopienzahl der Wiederholungen.
4 Seltene Ereignisse führen zu Allelen mit erhöhter Wahr-
Regulationsvorgängen eine wichtige Rolle, sodass die Bedeutung scheinlichkeit, die Kopienzahl zu erhöhen.
dieser Base nicht zu unterschätzen ist. 4 Die Krankheit, die durch die Ausbreitung der Wiederho-
Eine weitere Quelle für spontane Mutationen ist die Tauto- lungen verursacht wird, zeigt eine Abhängigkeit ihres
merie (Wechsel zwischen zwei strukturell verschiedenen For- Schweregrades bzw. des Zeitpunktes (Alter) ihres Beginns
men) einiger Basen (. Abb. 10.12 und . Abb. 10.13). Im tauto- von der Kopienzahl.
meren Zustand kommt es zu anomalen Basenpaarungen, die in
den folgenden Replikationen zu permanenten Basenveränderun- Diese Eigenschaften zusammengenommen führen dazu, dass
gen und damit zu Mutationen führen können. die entsprechenden Krankheiten im Verlaufe von Generationen
immer früher auftreten und der Schweregrad zunimmt (. Abb.
> Spontane Basenveränderungen in der DNA können auf- 10.14; Details einiger Beispiele siehe auch 7 Abschn. 13.3.3).
grund der Instabilität der Aminogruppen von Cytosin und Die ersten expandierenden Wiederholungssequenzen, von
5-Methylcytosin erfolgen oder wenn Basen während der denen berichtet wurde, waren die Trinukleotide CCG/CGG und
Replikation in einen selteneren tautomeren Zustand über- CAG/CTG. Ursprünglich ging man daher davon aus, dass nur
gehen. Trinukleotid-Wiederholungen expandieren könnten. Da außer-

. Abb. 10.14 Zusammenhang zwischen


Anzahl der Triplettwiederholungen und Ein-
trittsalter der Erkrankung. Verschiedene Daten
der Literatur wurden zusammengetragen,
um die Abhängigkeit des Eintrittsalters der
Erkrankung von der Anzahl der Triplettwieder-
Eintrittsalter (Jahre)

holungen darzustellen. Die Kurven wurden an


ein einfaches exponentielles Modell angepasst.
Für einige Erkrankungen ist auch das Eintritts-
alter der homozygoten Träger angegeben
(gefüllte Symbole). DRPLA: Dentatorubralpalli-
doluysische Atrophie; HD: Chorea Huntington;
MJD: Machado-Joseph-Erkrankung (= SCA3);
SBMA: Spino-bulbare Muskelatrophie; SCA:
Spino-cerebellare Ataxie. (Nach Gusella und
MacDonald 2000, mit freundlicher Genehmi-
gung der Nature Publishing Group)

Zahl der CAG-Codons


416 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

. Tab. 10.3 Erkrankungen durch Trinukleotid-Wiederholungen

Krankheit Gen Locus Protein Trinukleotid Wiederholungshäufigkeit Lokalisation

gesund krank

Spino-cerebellare Ataxie 7 ATXN37 3p14 Ataxin-7 CAG 4–35 37–306 Codierend


(SCA7) (N-terminal)

Chorea Huntington (HD) HTT 4p16.3 Huntingtin CAG 6–35 36–121 Codierend
(N-terminal)

Spino-cerebellare Ataxie 12 PPP2R2B 5q31-33 Protein-Phosphatase CAG 7–32 51–78 5’-UTR


(SCA12) PP2A

Spino-cerebellare Ataxie 17 TBP 6q27 TATA-Box bindendes CAG/CAA 25–44 47–63 Codierend
(SCA17) Protein

Spino-cerebellare Ataxie 1 ATXN1 6p23 Ataxin-1 CAG 6–44 39–82 Codierend


(SCA1) (N-terminal)

Friedreich’sche Ataxie (FRDA) FXN 9q21 Frataxin GAA 7–34 34–80 (Prä)* Intron 1
> 100 (Voll)**

Dentatorubral-pallidoluysische ATN1 12p13 Atrophin-1 CAG 7–23 53–88 Codierend


Atrophie (DRPLA) (N-terminal)

Spino-cerebellare Ataxie 2 ATXN2 12q24.1 Ataxin-2 CAG 13–31 32–79 Codierend


(SCA2) (bis 500) (N-terminal)

10 Spino-cerebellare Ataxie 8 ATXN8 13q21 Ataxin-8 CAG 15–50 71–1300 Codierend


(SCA8) ATXN8OS Gegenstrang-RNA CTG (N-terminal)
zu Ataxin-8 3’-UTR

Spino-cerebellare Ataxie 3 ATXN3 14q32 Ataxin-3 CAG < 44 52–86 Codierend


(Machado-Joseph-Erkrankung; (N-terminal)
SCA3)

Huntington-ähnliche JPH3 16q24 Junctophilin-3 CAG/CTG 6–28 > 41 Codierend


Erkrankung 2 (HDL2)

Spino-cerebellare Ataxie 6 CACNA1A 19p13 Calciumkanal CAG 4–18 19–33 Codierend


(SCA6) (N-terminal)

Myotone Dystrophie DMPK 19q13 Myotone-Dystrophie- CTG 5–37 50–1000 3’-UTR


(DM1) Proteinkinase (DMPK)

Spino-bulbare Muskelatrophie AR Xq12 Androgen-Rezeptor CAG 10–36 38–62 Codierend


(Kennedy; SMAX1) (AR) (N-terminal)

Fragiles-X-Tremor/Ataxia- FMR1 Xq27.3 FMR-1-Protein CGG 6–53 55–200 (Prä)* 5’-UTR


Syndrom (FXTAS) > 200 (Voll)**

Fragiles-X-Syndrom (E) (FRAXE) AFF2 Xq28 FMR-2-Protein GCC 6–35 61–200 (Prä)* 5’-UTR
> 200 (Voll)**

Nach Cummings und Zoghbi (2000), nach aufsteigenden Chromosomen geordnet; aktualisiert nach OMIM (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim;
2014); *Prämutation, **Vollmutation

dem diese beiden Formen der Wiederholungselemente Sekun- dass es eine wichtige Rolle bei der Instabilität von DNA-Wieder-
därstrukturen ausbilden können, nahm man an, dass dies eine holungselementen spielt: Mutanten von Rad27 zeigen häufig
notwendige Vorbedingung für die genetische Instabilität sei. Al- DNA-Brüche und Instabilitäten der Kopienzahl. Diese Befunde
lerdings wurden in der Zwischenzeit auch größere Wiederho- deuten darauf hin, dass auch hier Mechanismen aus dem Bereich
lungselemente gefunden (bis zu 42 bp). der DNA-Replikation eine wichtige Rolle bei der Veränderung
Der Grenzwert der Kopienzahl, ab dem die Krankheit auf- der Kopienzahl dieser DNA-Wiederholungselemente spielen. Al-
tritt, hängt möglicherweise mit der Länge der Okazaki-Fragmen- lerdings zeigt das gewebespezifische Auftreten von expandieren-
te während der Replikation zusammen. Die Sekundärstruktur den Tripletts in replikationsarmen Geweben (wie in Teilen des
der CAG/CTG- und CGG-Wiederholungen ist in der Lage, die Gehirns), dass es sich dabei wahrscheinlich eher um Reparatur-
Bindung und Spaltung der bakteriellen Okazaki-Flap-Endonuk- prozesse handelt, die Elemente der Replikationsmaschinerie mit-
lease (FEN1) zu hemmen. Das eukaryotische Homolog der Hefe benutzen, als um Fehler in der DNA-Replikation selbst. Dieser
ist das Genprodukt von Rad27, ein Enzym, von dem man weiß, Befund zeigt aber darüber hinaus auch, dass neben der ererbten
10.3 · Spontane Punktmutationen
417 10

(CAG)n in AR Protein: Funktionsverlust


codierend (CAG)n in SCA1, SCA2, SCA3, CACNA1A, SCA7, TBP RNA: Funktionsgewinn
(GCG)n in PABP2 Protein: Funktionsgewinn
(CTG)n in JPH3 Forschungsbedarf

(CAG)n in Huntingtin

5‘ UTR Exon Intron Exon Intron Exon 3‘ UTR


nicht-codierend

(CGG)n in FMR1
(CCG)n in FMR2 (GAA)n in FRDA (CTG)n in DMPK
(CGG)n in FMR1 (ATTCT)n in ATXN10 (CTG)n in SCA8
(CAG)n in PPP2R2B (CCTG)n in ZNF9

. Abb. 10.15 Mögliche Position von Wiederholungseinheiten in Genen. Die schematische Darstellung zeigt alle wichtigen Wiederholungseinheiten mit
ihren möglichen Positionen in einem Gen. Die Farben deuten an, welcher Mechanismus dem jeweiligen Krankheitsbild zugeordnet wird. Die Wiederholungs-
einheiten oberhalb des Gens befinden sich in codierenden Abschnitten, wohingegen die Wiederholungseinheiten, die unterhalb des Gens dargestellt sind,
nicht-codierende Bereiche betreffen. Erklärung der Gensymbole siehe . Tab. 10.3 und . Abb. 10.14 (Nach Brouwer et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung
von Wiley)

. Abb. 10.16 Das präzygote Modell der Expansion der FRA-X-Mutation.


Dem Modell liegt die Annahme zugrunde, dass die Expansion einer mater-
nalen Prämutation zu einer Vollmutation während der Meiose stattfindet.
Die befruchtete Eizelle trägt ein Allel mit einer Vollmutation. Nach der Tren-
nung von den somatischen Zellen (vgl. . Abb. 9.27b) haben die zukünf-
tigen Keimzellen eine Vollmutation. Einige Allele werden zu Prämutationen
schrumpfen. Um zu erklären, warum Vollmutationen nur durch Frauen
übertragen werden, muss es einige Selektionsmechanismen gegen Vollmu-
tationen in der männlichen Keimbahn geben. In den reifen Hoden überwie-
gen Allele mit Prämutationen. In somatischen Zellen und in der weiblichen
Keimbahn gibt es derartige Selektionsprozesse nicht. Zellen mit Prämutati-
onen sind grün und Zellen mit Vollmutationen (FM) orange dargestellt.
(Nach Brouwer et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

Kopienzahl die weitere Erhöhung der Kopienzahl in bestimmten


Geweben im Laufe des Lebens für den Zeitpunkt (und den Schwe-
regrad) der Erkrankung entscheidend sind.
Die expandierenden Tripletts betreffen vor allem drei Berei-
che der Gene (. Abb. 10.15):
4 Nicht-codierende Elemente (Promotor oder Enhancer-Be-
reiche, 3’-UTR), die dazu führen, dass das betroffene Gen
abgeschaltet wird (loss of function bzw. Haploinsuffizienz,
z. B. beim fragilen X-Chromosom-Syndrom) oder das Tran-
skript in seiner Stabilität betroffen ist (Spino-cerebellare
Ataxie 8).
4 Die Ausbildung von Glutamin(Gln)-reichen Wiederho-
lungssequenzen im translatierten Protein (CAG = Codon
für Gln, z. B. Chorea Huntington). Offensichtlich sind lange
Poly-Glutamin-Bereiche toxisch für die Zelle (z. B. durch
die Bildung größerer Aggregate im Zellkern, engl. nuclear
inclusions).
4 Die Wiederholungssequenzen können das Spleißen der
RNA beeinflussen und verändern so die Funktion des be-
troffenen Proteins.
418 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Neben den Faktoren, die die Wiederholungssequenzen direkt (280–320 nm) und UV-C (200–280 nm). UV-Strahlung verfügt
betreffen, gibt es auch noch weitere Faktoren, die einen Einfluss nicht über genügend Energie, um tief in Gewebe einzudringen
auf die Entwicklung der Krankheit haben. So spielt offensichtlich – daher ist ihr Einfluss begrenzter als der anderer Strahlungs-
das Geschlecht eine wichtige Rolle bei der Übertragung von einer formen. Die Effekte von UV-Strahlung werden daher praktisch
Generation auf die andere. Die meisten Fälle einer erblichen ausschließlich bei Einzellern und in Zellen an der Oberfläche
myotonen Dystrophie werden über die mütterliche Linie vererbt, multizellulärer Organismen beobachtet. Zwar ist die höchste
wohingegen die jugendliche Form der Chorea Huntington über Eigenabsorption von Nukleinsäuren bei 254 nm (UV-C), die in-
die Väter vererbt wird (. Abb. 10.16). Obwohl der grundlegende tensivste Wirkung entfalten UV-Strahlen allerdings im UV-B-
Mechanismus (expandierende Wiederholungssequenzen) offen- Bereich.
sichtlich einzigartig und charakteristisch für diese dynamischen Die Wirkung ultravioletter Strahlung besteht in der Induktion
Mutationen ist, ergeben sich für die jeweiligen Erkrankungen von unüblichen Pyrimidin-Dimeren (besonders Thymin-Dime-
unterschiedliche Pathogenesemechanismen. ren) zwischen benachbarten Basen in der DNA. Durch Kohlen-
stoff-Kohlenstoff-Bindungen werden Cyclobutanringe (engl. cyc-
> Dynamische Mutationen können über mehrere Gene- lobutane pyrimidine dimers, CPD) gebildet, die zu einer Aufhe-
rationen hinweg expandieren und schließlich zu schwe- bung der Basenpaarungen mit dem komplementären Strang der
ren Erkrankungen führen. Häufig betroffen sind CAG- DNA führen (. Abb. 10.17). Darüber hinaus spielen auch 6-4-Py-
Tripletts (expandierende Triplett-Erkrankungen); jede rimidin-Photoreaktionsprodukte eine wesentliche Rolle bei der
Erkrankung hat ihren eigenen Schwellenwert von Wieder- Dimerbildung. Purin-Dimere und Pyrimidin-Monoaddukte sind
holungseinheiten, oberhalb dessen die Erkrankung demgegenüber seltener.
auftritt. CPDs werden zwischen den 5,6-Bindungen von zwei an be-
liebigen Stellen nebeneinanderliegenden Pyrimidin-Basen gebil-
det. 6-4-Pyrimidin-Photoreaktionsprodukte sind durch stabile
10 10.4 Induzierte Mutationen Bindungen zwischen den Positionen 6 und 4 zweier benachbar-
ter Pyrimidine charakterisiert und scheinen bevorzugt an 5’-TC-
Im Gegensatz zu den Mutationen, die durch endogene Fehler und 5’-CC-Sequenzen gebildet zu werden. In Säugerzellen sind
hervorgerufen werden und die wir oben besprochen haben, ste- CPDs für über 80 % der UV-B-induzierten Mutationen verant-
hen in diesem Abschnitt Mutationen im Vordergrund, die durch wortlich. Dabei sind offensichtlich 5-Methylcytosin-Reste be-
Umwelteinflüsse hervorgerufen werden. Dazu gehören Strah- sonders häufig in Mutationsereignisse verwickelt: einmal über
lung (UV-Licht, ionisierende Strahlung) und chemische Stoffe. die spontane Desaminierung zu Thymidin (. Abb. 10.11) und
Diese mutagenen Agenzien sind in unterschiedlicher Weise und zum anderen wegen der Verschiebung der Energieabsorption von
in unterschiedlichem Ausmaß schon immer vorhanden oder von 5-Methylcytosin zu höheren Wellenlängen gegenüber dem un-
menschlichen Aktivitäten abhängig; daher wird hier beispiels- methylierten Cytosin. 5-Methylcytosin trägt in Säugerzellen sig-
weise nicht unterschieden, ob das UV-Licht von der Sonne oder nifikant zu Sonnenlicht-induzierten Mutationen bei. Demgegen-
aus dem Solarium kommt. über ist die Bildung von Thymidin-Dimeren nicht die am häu-
figsten produzierte Dipyrimidin-Läsion nach Sonnenlichtexpo-
sition in Säugerzellen, auch wenn diese über Jahrzehnte als
10.4.1 Mutationen durch ultraviolette Strahlung Äquivalent für UV-Schäden dargestellt wurde (für einen aus-
führlichen Überblick dazu siehe Pfeifer et al. 2005). Verschiedene
Ultraviolette Strahlung wirkt direkt auf die DNA ein. Wir unter- Mechanismen, die an der UV-induzierten Mutagenese an Cyclo-
scheiden drei Wellenlängenbereiche: UV-A (320–400 nm), UV-B butan-Dimeren beteiligt sind, zeigt . Abb. 10.18.

. Abb. 10.17 Mutagener Einfluss von UV-


Strahlung. Zwischen nebeneinanderliegenden
oder gegenüberliegenden Thymin-Basen
werden unter dem Einfluss von UV-Strahlung
überwiegend Cyclobutan-Pyrimidin-Dimere
(CPD) gebildet; es entstehen aber auch in nen-
nenswertem Umfang 6-4-Photoreaktionspro-
dukte (6-4 PP). Beide können durch entspre-
chende Photolyasen wieder zurückgebildet
werden. (Nach Essen und Klar 2006, mit
freundlicher Genehmigung von Springer)
10.4 · Induzierte Mutationen
419 10
m UV-B
C AA Replikation CAA
GCC GT T G→C + C→G
m
G→T + C→A
Replikation G→A + C→T
GG→AA + CC→TT
fehleranfällige
m Polymerase m T→A + A→T
C GG CGG Pol η CAA
GCC G TU T→C + A→G
G TU
m T→G + A→C
multiple Basensubstitution
fehlerfreie einzelne Deletion/Insertion
Sonnenlicht Reparatur Desaminierung Replikation

m m
UV-A
Desaminierung Pol η CAG
C GG CGG
GCC G TC GTC G→C + C→G
m
G→T + C→A
Replikation G→A + C→T
T→A + A→T
fehleranfällige
Polymerase Replikation T→C + A→G
m C AG
C AG G TC T→G + A→C
GCC
m einzelne Deletion/Insertion
Tandem-Deletion
. Abb. 10.18 Mechanismen der UV-Mutagenese an Cyclobutan-Pyrimidin-
Dimeren (CPD). Der Sequenzkontext (5’-mCGG) ist besonders anfällig für
CPD-Bildung durch Sonnenlicht wegen der Anwesenheit der Base 5-Metyl- . Abb. 10.19 Die Mutationsspektren von UV-B (oben) und UV-A (unten).
cytosin (mC). Die Umgehung von CPD durch eine fehleranfällige DNA-Poly- Die Daten zeigen die Werte, wie sie in Maus-Fibroblastenzellen nach UV-A-
merase kann eine CൺT- oder CCൺTT-Mutation induzieren. Desaminierung (18 J/cm2) bzw. UV-B-Bestrahlung (0,05 J/cm2) mit einem Reportergen er-
kann innerhalb des CPD vorkommen und das 5-Methylcytosin alleine oder halten wurden. Die Mutationsraten stiegen insgesamt um das 4,6-fache
das 5-Methylcytosin und das benachbarte Cytosin zusammen betreffen (UV-A) bzw. das 12-fache (UV-B) an. Das UV-B-Spektrum unterscheidet sich
(doppelte Desaminierung). Wenn das desaminierte CPD umgangen werden vom UV-A-Spektrum vor allem durch den deutlich überwiegenden Anteil
kann (hauptsächlich durch die fehlerfreie DNA-Polymerase η), wird eine von CൺT-Transitionen (inklusive der CCൺTT-Tandemmutationen). UV-A er-
CൺT-Transition oder eine CCൺTT-Tandemtransition entstehen. Die Startse- höht dagegen deutlich den Anteil der GൺT-Transversionen. (Nach Pfeifer
quenz ist durch ein grünes Kästchen gekennzeichnet; die Sequenzen, die et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
durch die Mutation entstehen, sind rot umrahmt. (Nach Pfeifer et al. 2005,
mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

energiereicher Strahlung beruht. Ionisierende Effekte üben so-


wohl Röntgenstrahlung (engl. X-ray) als auch Protonen-, Neu-
Im Gegensatz zu UV-B induziert UV-A überwiegend oxida- tronenstrahlung und α-, β- und γ-Strahlung aus, wie sie von
tive Schäden an der DNA; entsprechend unterscheiden sich auch Radioisotopen emittiert wird.
die Mutationsspektren, die durch UV-A und UV-B induziert Die durch Ionisierung entstehenden Radikale sind in der
werden. Typische oxidative DNA-Schäden sind die Bildung von Lage, Einzel- und Doppelstrangbrüche in der DNA, aber auch
8-Oxo-7,8-dihydro-2’-desoxyguanosin (8-oxo-dG) und DNA- Veränderungen einzelner Basen hervorzurufen. Während Ein-
Strangbrüche. Ein Vergleich der UV-B- und UV-A-induzierten zelstrangbrüche repariert werden können und seltener zu Muta-
Mutationsspektren ist in . Abb. 10.19 dargestellt. tionen führen, führen Doppelstrangbrüche entweder zu Chro-
mosomenumlagerungen oder sind spätestens nach der Mitose
> UV-B-Strahlung induziert die Entstehung von Cyclobutan-
für die betroffene Zelle durch Verlust von Chromosomenstücken
ringen zwischen Pyrimidinen in der DNA. Eine besondere
letal. Auch Umlagerungen führen oft zu Aneuploidie und damit
Rolle spielt dabei 5-Methylcytosin. Das Mutationsspekt-
zum Zelltod (7 Abschn. 10.2.1). Doppelstrangbrüche sollten im
rum von UV-B unterscheidet sich deutlich von dem, das
Prinzip durch Reparaturprozesse entfernt werden können, da die
durch UV-A induziert wird.
Kontinuität des Chromosoms durch einen Bruch in der DNA
nicht notwendigerweise sofort völlig zerstört wird. Vielmehr
10.4.2 Mutagenität ionisierender Strahlung werden Chromosomen durch chromosomale Proteine in ihrer
Struktur in einem ausreichenden Maß zusammengehalten, um
Im Gegensatz zu UV-Licht vermag kürzerwellige Strahlung in eine Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen zu gestatten.
Gewebe einzudringen und dort Mutationen zu induzieren. Die Doppelstrangbrüche sind auch das primäre Ereignis bei somati-
molekularen Mechanismen sind hierbei heterogen, da nur ein scher Rekombination (7 Abschn. 10.3.1) sowie bei Transpositi-
geringer Anteil der Mutationen durch die direkte Wirkung kurz- onsereignissen (7 Abschn. 10.2.3).
welliger Strahlung auf die DNA zustande kommt, während der Basenveränderungen als Folge energiereicher Strahlung er-
Hauptteil solcher Mutationen auf den ionisierenden Effekten folgen in Gegenwart von Sauerstoff durch freie Radikale, die
420 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

durch die Ionisierung entstehen. Ihre Häufigkeit kann durch die Röntgenstrahlung
in den Zellen vorhandenen Enzyme reduziert werden, deren
spezielle Aufgabe es ist, freie Radikale oder entsprechende Oxida- C Die mutagene Wirkung von Röntgenstrahlung war durch
den späteren Nobelpreisträger Hermann J. Muller (1930) in
tionsprodukte (z. B. H2O2) zu entgiften. Die Mutationsfrequenz
genetischen Studien an Drosophila erkannt worden. In sei-
ist hierbei stark abhängig vom physiologischen Zustand einer
nen Analysen ermittelte er geschlechtsgebundene Letal-
Zelle. Aktive Gene sind offenbar mutagenen Effekten besonders
Mutationen. Diese Arbeiten von Muller an Drosophila mela-
stark ausgesetzt. Das ist verständlich, da hier ja die DNA nicht
nogaster hatten zwei grundlegende Parameter der mutage-
durch eine Verpackung in chromosomale Proteine geschützt ist
nen Wirkungen von Röntgenstrahlung erkennen lassen:
und somit der Radikal-Einwirkung unmittelbar zugänglich ist.
5 Die Anzahl von geschlechtsgebundenen letalen Mutatio-
Umgekehrt sind Zellen, deren Genom sich in einem Ruhezu-
nen steigt, zumindest in einem mittleren Strahlungsbe-
stand befindet, wie etwa ruhende Pflanzensamen, weniger an-
reich, linear mit der verabreichten Strahlungsdosis an;
fällig für mutagene Einflüsse.
5 die Anzahl von Mutationen ist kumulativ, d. h. es ist
> Energiereiche Strahlung bewirkt vorwiegend Chromoso- (zumindest in einem mittleren Strahlungsbereich) nicht
menbrüche. Diese Wirkung der Strahlung beruht vor allem von Bedeutung, ob eine bestimmte Strahlungsmenge
auf ihrer ionisierenden Eigenschaft. Durch Strahlung in einer einzigen Dosis (akute Bestrahlung) oder in meh-
entstehen auch freie Radikale und andere Oxidationspro- reren geringen Dosen (chronische Bestrahlung) verab-
dukte in der Zelle. Sie führen zu Basenveränderungen. reicht wird.

. Abb. 10.20 Ansätze zur Erfassung von


Keimbahnmutationen in der Maus. Die ver-
10 schiedenen Methoden beinhalten die Ana-
lyse von Spermien exponierter Männchen
(Quadrate), des Inhalts der Gebärmutter von
unbehandelten Weibchen (Kreise), die mit
behandelten Männchen verpaart waren,
oder der ersten Generation von Nachkom-
men (F1) aus Paarungen exponierter Männ-
chen mit unbehandelten Weibchen. (Nach
Singer et al. 2006, mit freundlicher Geneh-
migung von Springer)
10.4 · Induzierte Mutationen
421 10

ace
a dic
b
. Abb. 10.21 Biologische Dosimetrie (I). a Die Chromosomen 2, 4 und 8 sind mit TexasRed (rot) farblich markiert (je zweimal vorhanden). Gleichzeitig
werden alle anderen Chromosomen mit einem blauen Fluoreszenzfarbstoff (DAPI) gegengefärbt. Austausche zwischen markierten und gegengefärbten
Chromosomen können als symmetrische Translokationen (weiße Pfeile) identifiziert werden; hier ist eine symmetrische Translokation unter Beteiligung von
Chromosom 2 mit einem mit DAPI gefärbten Chromosom zu sehen. Die Chromosomenveränderung stammt aus den peripheren Lymphocyten einer weib-
lichen Person. Die Blutentnahme erfolgte mehrere Jahre nach einer vermuteten Inkorporation mit radioaktiven Nukliden. b Menschlicher Lymphocyt in
Mitose aus dem peripheren Blut nach in-vitro-Bestrahlung mit Röntgenstrahlung (1,0 Gy). Zu sehen ist ein dizentrisches Chromosom (dic) und ein beglei-
tendes azentrisches Fragment (ace). (Fotos: Ursula Oestreicher, Bundesamt für Strahlenschutz, Oberschleißheim)

Für höhere Strahlungsdosen verändert sich diese Relation, da nicht immer fehlerfrei. Diese Fehler führen dann auf cytogeneti-
hierbei einerseits nicht ohne Weiteres erkennbare Doppelmuta- scher Ebene zu Chromosomenveränderungen und auf der Ebene
tionen auftreten können, die zu einer scheinbaren geringeren betroffener Organe in der Regel zu Krebserkrankungen. Aller-
Zunahme der Mutationshäufigkeit führen. Vor allem aber ver- dings sind auch nicht-cancerogene Effekte von ionisierender
fälscht die mit der Strahlungsdosis zunehmende Häufigkeit des Strahlung bekannt, z. B. Trübungen der Augenlinsen und Verhal-
Zelltodes, der durch die physiologischen Auswirkungen der tensänderungen. Die Bestimmung von Chromosomenaberratio-
Strahlung verursacht wird, die Messung der Mutationsrate. Die nen in Lymphocyten des leicht zugänglichen peripheren Blutes
Wirkung niedriger Strahlendosen ist dagegen Gegenstand vieler kann daher auch zur Bestimmung der personenbezogenen Strah-
aktueller Untersuchungen. lendosis von Menschen verwendet werden. Im Gegensatz zu den
Die Muller’schen Arbeiten wurden später an der Maus als physikalischen Verfahren, die die Strahlung an einem Ort bestim-
Modellorganismus fortgesetzt. Die grundlegenden Arbeiten von men, wird dieses Verfahren als Biologische Dosimetrie bezeich-
Paula Hertwig (1935), H. Brennecke (1937) und H. Schäfer net. Es kann eingesetzt werden, wenn der Verdacht besteht, dass
(1939) an bestrahlten männlichen Mäusen zeigten, dass die Wurf- eine Person einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt war.
größe der Mäuse nach Verpaarung zunächst deutlich verkleinert Für die cytogenetischen Verfahren der Biologischen Dosime-
ist und danach in eine vorübergehende sterile Phase übergeht. Da trie haben sich zwei Ansätze als besonders aussagekräftig und
kein Effekt auf die Beweglichkeit der Spermien zu beobachten robust unter verschiedenen Laborbedingungen erwiesen: die
und die Zahl der befruchteten Eizellen unverändert war, musste Bestimmung der Zahl dizentrischer Chromosomen und von
man annehmen, dass die verminderte Wurfgröße auf den Tod der Translokationen, basierend auf der Technik der fluoreszierenden
Embryonen nach der Befruchtung zurückzuführen war. In der Tat in-situ-Hybridisierung (FISH; . Abb. 6.4). Da dizentrische Chro-
zeigten spätere Experimente, dass die Ursache dafür chromo- mosomen bei Zellteilungen verloren gehen (7 Abschn. 6.1), eig-
somale Veränderungen waren, die durch die Bestrahlung an net sich deren Bestimmung nur für eine Dosimetrie bei einer
reifen Spermatozoen erzeugt wurden. In früheren Stadien der akuten (oder kurze Zeit zurückliegenden) Bestrahlung; wir kön-
Spermatogenese werden überwiegend kleinere Deletionen er- nen hier von einem Zeitraum von 0,5 bis 3 Jahren ausgehen. Die
zeugt. Eine Übersicht über die verschiedenen Methoden zur Bestimmung persistierender Translokationen ist dagegen bei
Abschätzung des genetischen Risikos von Strahlung (aber auch lange zurückliegenden bzw. chronischen Bestrahlungen die Me-
von Chemikalien, 7 Abschn. 10.4.3) in Mäusen gibt . Abb. 10.20. thode der Wahl. In . Abb. 10.21 ist dafür je ein Beispiel gezeigt
(eine aktuelle Übersicht über die verschiedenen Methoden der
Strahlenbelastung des Menschen retrospektiven Dosimetrie gibt der Aufsatz von Ainsbury et al.
Wir haben oben gesehen, dass ionisierende Strahlung zu Doppel- 2011). Man beachte jedoch, dass bei der Auswertung der Daten
strangbrüchen führt, die zwar repariert werden können, aber auch die Strahlenbelastung aus medizinischer Diagnostik mit
422 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

a b
. Abb. 10.22 Biologische Dosimetrie (II). Dargestellt ist die Ausbeute an dizentrischen Chromosomen in Lymphocyten des peripheren Blutes bei Menschen
in Abhängigkeit von der absorbierten Strahlungsdosis. Es fällt dabei auf, dass im Bereich niedriger Dosen nicht immer eine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung
besteht. a Für Neutronen und Röntgen- bzw. γ-Strahlung; b für geladene Partikel (die Energie ist jeweils in MeV in Klammern angegeben). (Nach Edwards
1997, mit freundlicher Genehmigung von Kluge Carden Jennings Publisher)

einbezogen werden muss (insbesondere die Computertomo- Tschernobyl (im April 1986 in der früheren Sowjetunion); der
graphie). Störfall im amerikanischen Kernkraftwerk Harrisburg (1979)
Die biologische Antwort ist aber nicht für jede Strahlenart blieb dagegen weitgehend folgenlos. Die genetischen Auswir-
10 gleich – Beispiele für die nicht immer linearen Dosis-Wirkungs- kungen der Katastrophe in Fukushima (2011) sind dagegen heute
Beziehungen verschiedener Strahlenarten sind in . Abb. 10.22 noch nicht absehbar.
aufgeführt. Die Folgen der beiden Atombombenabwürfe wurden sehr
Mehrere Ereignisse haben uns die Wirkung von radioaktiver intensiv untersucht. Neben den akuten Todesfällen wurde in
Strahlung in grausamer Weise vor Augen geführt: die Atombom- den Folgejahren eine massive Zunahme an Krebserkrankungen
benabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des 2. Welt- festgestellt, besonders an Leukämie und Dickdarmkrebs. Dabei
krieges (im August 1945) und der Unfall im Kernkraftwerk fällt auf, dass bei niedriger Dosisbelastung keine besondere

. Abb. 10.23 Sterblichkeitsrisiko für solide Tumoren und für Leukämie bei den Überlebenden des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki.
Die Werte sind mit den zugehörigen Standardabweichungen für jeden Dosispunkt angegeben (oben: Sterblichkeit aufgrund solider Tumoren; unten: Sterb-
lichkeit aufgrund von Leukämie). Die Diagramme auf der rechten Seite zeigen in höherer Auflösung den Bereich niedriger Organdosen (bis 200 mSv). Es sind
dabei die Untersuchungen von 1950 bis 1990 berücksichtigt. (Nach Kellerer 2000, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
10.4 · Induzierte Mutationen
423 10

kBq/m2 Ci/m2

1482 40

185 5

40 1.08

10 0.27

2 0.054

keine Daten

Hauptstadt

. Abb. 10.24 Strahlenbelastung nach dem Tschernobyl-Unfall. Die Verteilung des radioaktiven Niederschlags in Europa ist am Beispiel des 137Cs gezeigt.
(Nach De Cort et al. 1998, mit freundlicher Genehmigung der Europäischen Kommission)

Zunahme zu beobachten war (. Abb. 10.23). Die Zunahme der


Krebserkrankungen bei den betroffenen Patienten ist auf eine
*Bei einigen Arbeitern wurde nach dem Unfall in Fukushima
die externe Strahlungbelastung durch die Bestimmung der
Zunahme der Mutationen in den Körperzellen (somatische Zel- Zahl dizentrischer Chromosomen in Zellen des peripheren
len) zurückzuführen. Die Untersuchungen an etwa 50 % der Blutes bestimmt. Dazu wurden ca. 1000 Metaphasen gezählt
Nachkommen überlebender Atombombenopfer zeigten auch und die Zahl der dizentrischen (oder multizentrischen)
nach über 50 Jahren keine signifikanten Unterschiede cytolo- Chromosomen bestimmt. Dabei ergaben sich Strahlenbelas-
gisch messbarer chromosomaler Veränderungen (Übersicht in tungen für einzelne Arbeiter zwischen 26 und 171 mGy; für
Verger 1997). den niedrigsten Wert ergibt sich ein 95-%-Vertrauensbereich
Die Belastung durch den radioaktiven Niederschlag nach von 0–137 mGy und für den höchsten Wert ein Intervall zwi-
dem Tschernobyl-Unfall war dagegen offensichtlich anders. schen 77 und 299 mGy. Diese Werte stimmen mit den ent-
Hier wurden vor allem 137Cs, 90Sr und 131J, aber auch 239Pu und sprechenden physikalischen Dosimetern gut überein und
240Pu freigesetzt. Die radioaktive Wolke breitete sich bis nach
demonstrieren die Leistungsfähigkeit dieser Methode unter
Skandinavien und Mitteleuropa aus; einen Überblick über die standardisierten Bedingungen (Suto et al. 2013). Eine Über-
Verteilung des radioaktiven Niederschlags mit 137Cs vermittelt sicht über die Belastung der Arbeiter und der Bevölkerung
. Abb. 10.24. in Fukushima gibt der UNSCEAR-Report 2013.
Im Kerngebiet des Unfalls, im Dreiländereck von Russland,
Weißrussland und der Ukraine, führte besonders die Belastung > Mithilfe der »Biologischen Dosimetrie« lassen sich schon
mit radioaktivem Jod in den auf den Unfall folgenden Jahren zu nach wenigen Stunden durch die Bestimmung dizentri-
einer massiven Zunahme der Erkrankungen von Kindern und scher Chromosomen im peripheren Blut exponierter Per-
Jugendlichen an Schilddrüsenkrebs, wobei die Häufigkeit mit sonen verlässliche Dosisabschätzungen bei einer externen
der aufgenommenen Schilddrüsendosis korreliert (. Abb. 10.25). Strahlenbelastung erhalten; bei lange zurückliegenden
Die nächsten Jahre werden zeigen, mit welchen weiteren Krank- Ereignissen liefern hingegen Untersuchungen von Trans-
heitsbildern wir noch rechnen müssen. lokationen gute Ergebnisse.
424 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

a Frauen . Abb. 10.25 Schilddrüsenkrebs aufgrund der


140
Strahlenbelastung nach dem Tschernobyl-Unfall.
0-9 Jahre Es ist jeweils die Inzidenz der Schilddrüsenkrebs-
120 10-19 Jahre erkrankungen pro 1 Mio. Einwohner in verschie-
20-29 Jahre denen Altersgruppen in Weißrussland angegeben:
a Frauen; b Männer (Alter zur Zeit der Diagnose).
100
Inzidenz (pro 1 Million)

Die Spitze der Häufigkeit bei Kindern wurde etwa


1993 registriert, etwa 40 Fälle (pro 1 Mio.) bei
80 Mädchen und 20 Fälle (pro 1 Mio.) bei Jungen.
Ab dem Jahr 2005 erreichten die jüngsten Kinder
60 das Alter der Jugendlichen – entsprechend nahm
die Zahl der Erkrankungen bei Kindern ab, und die
Zahl der erkrankten Jugendlichen (10–19 Jahre)
40 stieg an. Entsprechend ist in der Gruppe der jun-
gen Erwachsenen (20–29 Jahre) noch immer eine
20 Zunahme zu beobachten. Man beachte die unter-
schiedliche Skala auf der y-Achse für Männer
und Frauen. (Nach Reiners 2011)
0
1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004
Jahr der Diagnose

b Männer
60

50 0-9 Jahre
10-19 Jahre
Inzidenz (pro 1 Million)

10 20-29 Jahre
40

30

20

10

0
1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004
Jahr der Diagnose

10.4.3 Chemische Mutagenese Zuckers (die im Darm bakteriell erfolgt) in reaktive und damit
mutagene Verbindungen verwandeln. Solche Stoffwechselpro-
Nukleotidveränderungen können durch eine große Zahl chemi- zesse können z. B. zur Entstehung von Darmkrebs führen.
scher Agenzien induziert werden, wobei eine Reihe unterschied- Nach der Art ihres Wirkungsmechanismus unterscheiden
licher chemischer Mechanismen eine Rolle spielen. Solche che- wir als chemische Mutagene die folgenden Gruppen mutagener
misch induzierten Mutationen hatten eine große Bedeutung für Agenzien (. Tab. 10.4):
die Aufklärung des genetischen Codes und haben damit wesent- 4 Basenanaloga;
liche Beiträge zur Aufklärung der molekularen Grundlagen der 4 basenmodifizierende Agenzien, die sich grob unterteilen
Vererbung und Genfunktion geliefert und liefern sie auch heute lassen in
noch. In zunehmendem Maße gewinnen sie heute eine prakti- 5 alkylierende Agenzien,
sche Bedeutung durch die weite Verbreitung mutagener Substan- 5 depurinierende Agenzien,
zen in unserer Umwelt, vor allem in unserer Nahrung. Die mu- 5 desaminierende Agenzien,
tagenen Effekte solcher Substanzen übertreffen in ihrem Aus- 5 hydroxylierende Agenzien u. a.;
maß gegenwärtig wahrscheinlich bei Weitem die der energierei- 4 interkalierende Agenzien;
chen Strahlung. Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass 4 vernetzende Agenzien.
chemische Mutagene auch in normalen, d. h. natürlichen Nah-
rungsmitteln enthalten sind, ohne dass sie – etwa zur Stabilisie- Die Wirkungsweise chemischer Mutagene unterscheidet sich
rung, Färbung oder aus Geschmacksgründen – absichtlich hin- nicht nur von der vorher besprochenen strahleninduzierten Mu-
zugefügt wurden oder unbeabsichtigt aus der Verpackung in tagenese, sondern jede Gruppe von Chemikalien hat auch ihr
Nahrungsmittel gelangen. Sie sind entweder natürliche Bestand- eigenes Wirkungsspektrum. Innerhalb der einzelnen Gruppen
teile der Nahrungsstoffe oder entstehen durch Stoffwechsel- sind natürlich auch noch Unterschiede zu beachten, so z. B. in
prozesse im Körper. Zu solchen Nahrungsbestandteilen können Bezug auf die Reaktionsgeschwindigkeit oder die Basenspezifität
z. B. Glykoside gehören. Diese können sich, nach Abspaltung des innerhalb der Gruppe der alkylierenden Agenzien. Allerdings
10.4 · Induzierte Mutationen
425 10

. Tab. 10.4 Mutagene und ihre Wirkung

Trivialname Chemische Bezeichnung Wirkung, Besonderheiten

Alkylierende Agenzien

Senfgas Di-(2-chlorethyl)sulfid Transitionen u. a.

EMS Ethylmethansulfonat Ethylierung von Basen, aktiviert fehlerhafte Reparatur

EES Ethylethansulfonat Ethylierung von Basen, aktiviert fehlerhafte Reparatur

ENU Ethylnitrosoharnstoff Ethylierung von Basen, aktiviert fehlerhafte Reparatur

MNNG N-Methyl-N’-nitro-N-nitrosoguanidin Desaminierung; besonders wirksam während der Replikation

Basenanaloga

5-BU 5-Bromuracil Transitionen durch Tautomerie

5-BrdU 5-Bromdesoxyuridin Transitionen durch Tautomerie

2-AP 2-Aminopurin Transitionen durch Tautomerie

Acridinfarbstoffe

Proflavin 2,9-Diaminoacridin Leserasterverschiebungen durch Interkalation

Acridinorange Dimethyl-2,8-diaminoacridin Leserasterverschiebungen durch Interkalation

Desaminierende Verbindungen

Schweflige Säure Oxidative Desaminierung von A, G und C, ergibt Transitionen

Salpetrige Säure Oxidative Desaminierung von A, G und C, ergibt Transitionen

Andere

HA Hydroxylamin GCൺAT-Transitionen durch Hydroxylierung der NH2-Gruppe von C

Benzo(a)pyren 3,4-Benzpyren (reaktive Verbindung: Entstehung reaktiver Diol-Epoxid-Radikale im Stoffwechsel


7,8-Diol-9,10-oxid)

VC Vinylchlorid Indirekt durch Stoffwechselzwischenprodukte

Aflatoxin B1 Indirekt durch Stoffwechselzwischenprodukte

kommt es auch immer auf den betrachteten Endpunkt an. So ist mit der jeweiligen individuellen Wirkung unter den entspre-
Ethylnitrosoharnstoff (engl. ethylnitrosourea, ENU; . Abb. 10.27) chenden Testbedingungen vergleicht (z. B. bei der Kombination
ein relativ schwaches Mutagen, wenn man seine Wirkung auf die von Röntgenstrahlen und alkylierenden Agenzien auf die Ausbil-
Häufigkeit der Induktion von Schwesterchromatid-Austauschen dung einer Leukämie; UNSCEAR 2000).
betrachtet (. Abb. 10.34). Allerdings hat es sich als besonders
wirksam bei der Erzeugung von Punktmutationen in Keimzellen C Aufgrund vieler experimenteller Hinweise wurde im Rahmen
erwiesen. Es wird daher in der experimentellen Mutationsfor- des 1981 erlassenen Chemikaliengesetzes vorgeschrieben,
schung bei Drosophila, Pflanzen und Mäusen gerne eingesetzt, dass alle Chemikalien, die neu auf den Markt kommen, auch
um eine große Zahl an Nachkommen mit erblichen Defekten auf ihre mutagene Wirkung getestet werden müssen; für
zu erhalten (siehe dazu z. B. Hrabé de Angelis et al. 2000). In Stoffe, die schon länger am Markt waren, wurde diese Über-
. Tab. 10.5 ist der Unterschied im Mutationsspektrum zwischen prüfung nachträglich durchgeführt (dies geschah natürlich
spontan auftretenden, strahlen- und ENU-induzierten Mutatio- nicht in einem deutschen Alleingang, sondern war inner-
nen am Beispiel des »spezifischen Locus-Tests« der Maus darge- halb der OECD und der EU eng abgestimmt; andere Staaten
stellt, der sieben rezessive Gene umfasst, die als sichtbare Marker haben daher ähnliche Gesetze). Im 7 Abschn. 10.5.1 werden
leicht erkannt werden können (die Gene betreffen vor allem Fell- einige Testsysteme dazu vorgestellt.
farben).
Die Belastung mit chemischen Mutagenen ist für den Men- > Basenveränderungen können sich spontan aufgrund der
schen von ähnlicher Bedeutung wie die Belastung mit Strahlung. chemischen Eigenschaften von Nukleinsäurekomponen-
Daher wurde auch die kombinierte Wirkung dieser beiden Klas- ten ereignen oder durch verschiedene Formen von Strah-
sen mutagener Agenzien untersucht. Dabei zeigte sich, dass in lung und durch chemische Einflüsse von außen induziert
vielen Fällen eine überadditive Wirkung auftritt, wenn man es werden.
426 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

. Tab. 10.5 Relative Mutationshäufigkeiten

Behandlung Gene

agouti (a) brown (b) chinchilla (c) dilute (d) short ear (se) pink-eyed (ps) spotting (s)

Kontrolle 0 7 (46 %) 3 (20 %) 1 (7 %) 0 4 (27 %) 0

Strahlung 2 (1 %) 34 (20 %) 18 (10 %) 25 (14 %) 2 (1 %) 22 (13 %) 71 (41 %)

ENU 10 (6 %) 21 (12 %) 25 (14 %) 37 (21 %) 10 (6 %) 61 (35 %) 9 (5 %)

Häufigkeitsverteilung der betroffenen Gene im spezifischen Locus-Test der Maus (vgl. . Abb. 10.20) nach Behandlung der Tiere mit unterschiedlichen
Mutagenen (Strahlung: Röntgen- oder γ-Strahlung) im Vergleich zu dem wichtigsten experimentellen Mutagen, Ethylnitrosoharnstoff (engl. ethyl-
nitrosourea, ENU), und zu spontanen Mutationen. Nach Favor (1994)

Basenverluste
Der Verlust von Basen kann spontan oder durch chemische Agen-
zien erfolgen. Er wird durch die AP-Endonuklease (engl. apurinic
acid endonuclease) erkannt, die die Phosphodiesterbindung ne-
ben der fehlenden Base löst und damit für die DNA-Polymerase I
ein freies 3’-Ende zur DNA-Neusynthese vorbereitet. Nach Ein-
bau einer begrenzten Anzahl von Nukleotiden wird der reparier-
te DNA-Einzelstrang durch eine Ligase geschlossen. Normaler-
10 weise sollte hier also aufgrund des gewöhnlichen DNA-Synthese-
mechanismus automatisch das richtige Nukleotid eingebaut
werden und keine Mutation resultieren. Ein Basenverlust kann
jedoch auch durch Desaminierung eines Cytosins erfolgen, da die
N-glykosidische Bindung dieser Base weniger stabil ist als die der
übrigen Basen und insbesondere bei höheren Temperaturen de-
stabilisiert wird. Wie wir bereits gesehen haben (. Abb. 10.11),
wird hier eine Basensubstitution von GC nach AT induziert.
Basensubstitutionen durch Tautomerie
und Basenanaloga
Obwohl die tautomeren Formen der Basen sehr instabil sind und
daher selten vorkommen, können sie gelegentlich während der
Replikation zu Basenaustauschen führen. So kann beispielsweise
die Iminoform des Adenins mit Cytosin Wasserstoffbrücken
ausbilden und damit zum Fehleinbau eines Nukleotids führen
(. Abb. 10.12, . Abb. 10.13 und . Abb. 10.26). Eine größere Rolle
bei Mutationen spielen jedoch tautomere Formen von Basenana-
loga, also Verbindungen, die anstelle einer bestimmten normalen
Base in die DNA eingefügt werden können. Es handelt sich hier-
bei um geringfügig modifizierte Formen von Basen, die eine stär-
kere Tendenz zur Ausbildung ihrer tautomeren Formen besitzen
als die normalen Basen. Experimentell häufig verwendete Basen-
analoga sind:
4 5-Bromuracil (5-BU) oder 5-Bromdesoxyuridin (5-BrdU),
die in ihrer stabileren Ketoform mit Adenin paaren, in der
instabileren Enolform mit Guanin (. Abb. 10.26).
4 2-Aminopurin (2-AP), das in seiner stabilen Aminoform
mit Thymin paart, in der instabileren Iminoform mit Cyto-
sin (. Abb. 10.26).
> Die Ausbildung der seltenen tautomeren Basen (Imino-
. Abb. 10.26 Basenpaarungen mit Basenanaloga. Die selteneren tautome-
bzw. Enolformen der Basen) in der DNA oder die Substi-
ren Formen der Basenanaloga bilden sich mit größerer Häufigkeit als die
tution von Basen durch Basenanaloga (z. B. 2-Aminopurin der normalen Basen
oder 5-Bromuracil) führt zu Veränderungen von Basen-
paaren in Zusammenhang mit der Replikation.
10.4 · Induzierte Mutationen
427 10
Die Wirkung alkylierender Agenzien -Methylguanin
Das erste bekannte chemische Mutagen, Senfgas (engl. mustard
gas; chemische Bezeichnung: Bis(2-chlorethyl)sulfid oder
2,2’-Dichlordiethylsulfid), wurde während des 2. Weltkrieges
von Charlotte Auerbach in Edinburgh unter militärischer Ge-
heimhaltung untersucht. Die Ergebnisse wurden nach Kriegsen-
de veröffentlicht (eine Zusammenfassung findet sich bei Auer-
bach 1978). Alkylierende Agenzien gehören zu den effektivsten
mutagenen Verbindungen. Agenzien wie Ethylmethansulfonat
(engl. ethylmethane sulfonate, EMS) und Ethylnitrosoharnstoff
(engl. ethylnitrosourea, ENU) werden daher, und aufgrund ihres
großen Wirkungsspektrums, in der experimentellen Mutage-
nese bevorzugt verwendet (. Abb. 10.27). Sie können, wie alle
übrigen basenmodifizierenden Verbindungen, die DNA auch
ohne Replikation verändern, da sie vorhandene Basen in der
DNA modifizieren. Angriffspunkte für die Alkylierung sind –
neben den an der Wasserstoffbrückenbildung beteiligten Mole-
külpositionen – insbesondere der N7 des Guanins und der N3
des Adenins. Alkylierung dieser Positionen destabilisiert die
N-glykosidischen Bindungen der betreffenden Basen und füh-
ren daher zu Depurinierung mit ihren bereits besprochenen
Konsequenzen.
Eine weitere besonders anfällige Stelle ist die O6-Position
des Guanosins (. Abb. 10.27), die leicht methyliert wird und
dadurch O6-Methylguanosin bildet. Diese modifizierte Base
paart während der folgenden Replikationen häufig mit Thymin
statt mit Cytosin. In E. coli dient eine O6-Methylguanosin-
Methyltransferase als Schutzmechanimus gegen diese Methy-
lierung. Dieses Enzym wird vom ada-Gen codiert und kann
bei Methylierungen des Zucker-Phosphat-Rückgrats die Me- . Abb. 10.27 Mutagene Wirkung alkylierender Agenzien. Das an der
Position O6 alkylierte Guanin kann nicht mehr drei, sondern nur noch zwei
thylgruppen aus der DNA entfernen. Das ada-Gen vermittelt
Wasserstoffbrücken ausbilden (rote Striche). Es paart daher bei der Replika-
der Zelle einen etwas ungewöhnlichen Adaptationsmecha- tion nicht mehr mit Cytosin, sondern mit Thymin unter Ausbildung von
nismus (engl. adaptive response): Zellen, die man unter Zusatz zwei Wasserstoffbrücken. Bei der nächsten Replikationsrunde wird die Mu-
einer niedrigen Dosis eines methylierenden Agens (z. B. Nitro- tation dann dadurch fixiert, dass das Thymin sich wie üblich mit einem
soguanidin, . Abb. 10.27) kultiviert hat, sind gegen methylie- Adenin paart – aus einem G/C-Paar wird dann ein A/T-Paar. Darunter: einige
wichtige alkylierende Verbindungen
rende Verbindungen resistenter, was auf einer stark erhöhten
zellulären Konzentration des von ada codierten Enzyms be-
ruht.
Vergleichbare Mechanismen der Entfernung von Methyl- > Alkylierung von Nukleinsäuren führt zu Depurinierung
gruppen durch Methyltransferasen wurden auch bei Eukaryoten von Nukleotiden, Fehlpaarungen methylierter Basen, zu
gefunden. DNA-Reparatur-Methyltransferasen sind als Enzy- Verschiebungen im Gleichgewicht tautomerer Formen
me etwas ungewöhnlich, weil sie durch die Übernahme der Me- oder zur Vernetzung. Folgen davon sind Fehlpaarungen
thylgruppe von der DNA inaktiviert werden, also keine wieder- von Basen während der Replikation, Hemmung der Repli-
holbare katalytische Aktivität besitzen. Man bezeichnet sie auch kation, Fehler bei der RNA-Synthese und Chromosomen-
als Selbstmord-Enzyme (engl. suicide enzymes). Andere alky- aberrationen.
lierte Basen werden mithilfe von Glykosylasen aus der DNA
entfernt. Die Wirkung desaminierender und
Durch Alkylierungen wird auch das Gleichgewicht der tau- hydroxylierender Verbindungen
tomeren Formen der Basen in Richtung der selteneren tautome- Wie der Name bereits anzeigt, werden durch desaminierende
ren Formen verschoben. Solche Basenmodifikationen führen zu: Verbindungen die Aminogruppen der Basen Adenin, Guanin
4 Basenpaarsubstitutionen während der Replikation; und Cytosin abgespalten, sodass Hypoxanthin, Xanthin oder
4 Fehlern in der RNA-Synthese mit allen Konsequenzen Uracil entstehen. Hypoxanthin paart mit Cytosin, sodass hier-
falscher Codons für die Proteinsynthese; durch eine Basenpaarsubstitution von AT nach GC erfolgt. Xan-
4 Crosslinking innerhalb der DNA oder der DNA mit thin paart unverändert – wenn auch mit einer Wasserstoffbrü-
Proteinen; ckenbindung weniger – mit Cytosin, sodass eine Desaminierung
4 DNA-Brüchen und als Folge davon Chromosomen- von Guanosin ohne Folgen bleibt, während die Substitution von
aberrationen. Cytosin zu Uracil und schließlich (durch Exzisionsreparatur) zu
428 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

> Desaminierende und hydroxylierende Agenzien induzie-


ren Basenveränderungen.

Die Wirkung interkalierender Verbindungen


Interkalierende Verbindungen haben ihren Namen daher erhal-
ten, dass sie sich zwischen die Basen der DNA-Doppelhelix ein-
fügen (. Tab. 10.4 und . Abb. 10.29). Es handelt sich meist um
polyzyklische Verbindungen wie Acridinfarbstoffe (z. B. 2,8-Di-
aminoacridin = Proflavin oder Acridinorange), die sich aufgrund
ihrer flachen Konformation zwischen die Basenpaare einschie-
ben können. Sie erzeugen daher eine lokale Deformation der
Doppelhelix, die zu Replikationsfehlern führt. Als Folge hiervon
kann es zu Deletionen oder zum zusätzlichen Einbau von Basen-
paaren kommen. Interkalierende Verbindungen können daher
gezielt zur Erzeugung von Veränderungen des Leserasters (engl.
frameshift mutations) eingesetzt werden.

Vernetzung
Verschiedene chemische Verbindungen können kovalente Bin-
dungen mit den Basen einer DNA-Doppelhelix eingehen. Eine
für experimentelle Vernetzung (engl. crosslinking; der Begriff
wird auch im Deutschen häufig so verwendet) gebrauchte Ver-
10 bindung ist das Psoralen (. Abb. 10.30), das zunächst in der
DNA interkaliert und dann unter Lichteinfluss (360 nm) sowohl
mit einzelnen als auch mit zwei Basen kovalente Bindungen
eingehen kann. Sind zwei Basen komplementärer DNA-
Stränge eine Bindung mit einem Psoralenmolekül eingegangen,
so wird die Replikation und Transkription der Doppelhelix
unterbunden. Auch einige Antibiotika, wie Mitomycin C, ver-
ursachen solche Vernetzungen innerhalb der DNA. Sowohl
pro- als auch eukaryotische Zellen können Vernetzungen durch
ihre Reparaturmechanismen entfernen. Hierbei sind jedoch
oft eine direkte Exzision der betroffenen Basen und eine an-
schließende DNA-Neusynthese durch DNA-Polymerase nicht
möglich, da das komplementäre Nukleotid aufgrund der Ver-
netzung nicht als Template dienen kann. In einem solchem Fall
werden zur Reparatur der Nukleotid-Exzisionsmechanismus
(NER) oder der Rekombinations-Reparaturmechanismus akti-
viert (7 Abschn. 10.6). An beiden Mechanismen ist eine speziel-
le DNA-Polymerase beteiligt, die E. coli-DNA-Polymerase II
(polB).

Andere Mutagene
Es gibt eine große Anzahl anderer chemischer Mutagene, deren
. Abb. 10.28 Die Wirkung verschiedener Mutagene (vgl. . Tab. 10.4) Wirkungsmechanismen oft nicht bekannt sind bzw. auf unter-
schiedlichen Wegen ablaufen können. Überraschenderweise ge-
Thymin führt. Die wichtigste desaminierende Verbindung ist hören dazu auch viele organische Verbindungen, von denen
salpetrige Säure (HNO2; . Tab. 10.4, . Abb. 10.28). man eine mutagene Wirkung wegen ihrer relativen chemischen
Hydroxylamin (HA) induziert, wahrscheinlich durch Hydro- Inaktivität und ihrer geringen Wasserlöslichkeit zunächst gar
xylierung der Aminogruppe des Cytosins, während der Replika- nicht erwarten würde. Solche Verbindungen entstehen unter an-
tion eine Paarung von Cytosin mit Adenin, sodass es zu einer derem bei der Verbrennung organischen Materials.
Substitution von GC-Basenpaaren durch AT-Basenpaare kommt.
Man bezeichnet solche Veränderungen von einer Purinbase in C Ein Beispiel für ein solches Mutagen mit hoher krebserzeu-
die andere (A in G oder G in A) oder von einer Pyrimidinbase in gender (cancerogener) Wirkung ist das Benzpyren, unter an-
eine andere als Transitionen, während der Austausch von Purin- derem ein Bestandteil des Zigarettenrauches (. Abb. 10.31).
basen gegen Pyrimidinbasen (oder umgekehrt) Transversionen Als polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoff ist seine
sind (. Abb. 10.1). chemische Reaktivität nicht sehr hoch. Im Organismus
10.5 · Mutagenität und Mutationsraten
429 10
a b

. Abb. 10.29 Interkalation. a Interkalierende Verbindungen. Die flachen


Ringe schieben sich zwischen die Basenpaare in der DNA-Doppelhelix und
verursachen dadurch Deformationen der Doppelhelix. Hierdurch kommt
es zu Replikationsfehlern, insbesondere zu Leserahmenverschiebungen.
b Modell der Interkalation durch Ethidiumbromid (EtBr). Aufgrund der flachen
Molekülstruktur kann sich EtBr (blau) zwischen die gestapelten Basenpaare
schieben. Dadurch kann es während der Transkription und Replikation zu Stö-
rungen kommen (Einbau bzw. Verlust von Nukleotiden). (b nach Munk 2001,
mit freundlicher Genehmigung von Springer)

werden derartige inerte Kohlenwasserstoffe jedoch zu > Viele chemische Mutagene üben ihre Wirkung durch Inter-
wasserlöslichen Verbindungen umgesetzt, die dann ausge- mediärprodukte ihres Stoffwechsels im Organismus aus,
schieden werden können. Bei solchen Umsetzungen wer- die wasserlöslich und oft besonders reaktiv sind. Insbe-
den häufig Zwischenprodukte gebildet, die eine hohe muta- sondere Oxidationsprodukte spielen hierbei eine wichtige
gene Wirkung ausüben können. So werden Oxidations- Rolle.
produkte geformt (z. B. stark reaktive Diol-Epoxid-Derivate),
die dann mit der Aminogruppe des Guanins reagieren
können. 10.5 Mutagenität und Mutationsraten

Betrachtet man die unterschiedlichen relativen Mutationshäufig-


keiten in der Maus nach Bestrahlung oder Behandlung mit ENU
(. Tab. 10.5), ist es verständlich, dass wohl jedes Gen sein eigenes
Mutationsspektrum besitzt, das noch dazu für unterschiedliche
Mutagene variiert. In der Tat können sich die Mutationsraten
verschiedener Gene über zwei Größenordnungen voneinander
unterscheiden (10−5 bis 10−7 Mutationen je Zellgeneration;
. Abb. 10.30 Psoralen. Dieses Furocumarin (und seine Derivate) kann DNA . Tab. 10.6).
nach Interkalieren vernetzen. Die 4’,5’- oder 3,4-Doppelbindung (rot) des
Psoralens reagiert in einer Photoreaktion bei langwelligem UV-Licht mit
den 5,6-Doppelbindungen von Pyrimidinen in der DNA unter Bildung eines
10.5.1 Mutagenitätstests
Cyclobutanrings (. Abb. 9.17). Liegt eine weitere Pyrimidinbase im komple-
mentären Strang der DNA vor, so kann die noch freie der beiden reaktiven
Doppelbindungen des Psoralens mit dieser in einer weiteren Photoreaktion Eine wichtige Aufgabe der angewandten Genetik ist es, die Muta-
einen weiteren Cyclobutanring ausbilden, sodass nunmehr eine kovalente genität chemischer Verbindungen zu testen. Man hat hierfür eine
Vernetzung der DNA vorliegt. Psoralen kann auf dieser Grundlage auch zur Reihe von Testmöglichkeiten entwickelt, die ein abgestuftes Ver-
Demonstration von Doppelstrangregionen in RNA dienen. Außerdem kann
fahren ermöglichen und die bakterielle Testsysteme, Zellkulturen
es Nukleinsäuren kovalent an Proteine binden, sodass die Bindungsstellen
von Proteinen an DNA ermittelt werden können. (Nach Wiesehahn und und verschiedene Tierversuche einschließen. Diese gestuften
Hearst 1978, mit freundlicher Genehmigung der Nationalen Akademie der Verfahren ermöglichen eine gute Abschätzung der Eigenschaften
Wissenschaften der USA von Verbindungen, die möglicherweise mutagen sind.
430 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

10

b
. Abb. 10.31 Mutagene Wirkung von Benzolderivaten. a Die Aktivierung von Aflatoxin B1 (AFB1), 2-Acetylaminofluoren (AAF) und Benz[a]pyren (BP) be-
nötigt die Aktivität der Cytochrom-P450-abhängigen Monooxygenasen (CYPs). Die an sich inerten Moleküle werden dadurch zunächst oxidiert und hydro-
xyliert und somit löslich. CYP3A4 aktiviert AFB1 an der 8,9-Doppelbindung, wodurch das Exo-8,9-oxid entsteht. AAF wird durch CYP1A2 in das N-Hydroxy-
AAF umgewandelt, was durch eine Sulfotransferase-Reaktion (SULT) schließlich in die genotoxische Form, das N-Sulphoxy-AAF, überführt wird. BP wird
zunächst durch CYP1A1 oder CYP1B1 in das 7,8-Epoxid umgewandelt (nicht dargestellt). In der weiteren Umsetzung zu Benzpyren-7,8-diol-9,10-epoxid
(BPDE) wird es stark reaktiv. b Von den verschiedenen stereoisomeren Formen hat das (+)-anti-BPDE das größte genotoxische Potenzial. Mit Guanin-Resten
der DNA kann es eine kovalente Bindung eingehen. Diese Komplexe führen zur Deformation der Doppelhelix, die Reparaturmechanismen (7 Abschn. 10.6)
in Gang setzen, aber dabei zu GൺT-Transversionen führen. Die roten Pfeile zeigen auf die Stellen, an denen der nukleophile Angriff durch die DNA erfolgen
kann. (Nach Luch 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Ames-Test Der Test beruht auf einer Suche nach Revertanten von einer his−-
Der gegenwärtig wichtigste mikrobiologische Test ist der Ames- Konstitution zur his+-Konstitution der Zellen. Da in verschiede-
Test, der durch Bruce Ames 1973 eingeführt wurde (. Abb. nen Salmonella-Stämmen unterschiedliche his-Mutationen ver-
10.32; Ames et al. 1973). Man verwendet dabei mehrere genetisch fügbar sind, die entweder Basensubstitutionen oder Leseraster-
verschiedene Stämme von Salmonella thyphimurium. Diese be- mutationen innerhalb der Protein-codierenden Region des his-
sitzen: Gens besitzen, kann man unterschiedliche Arten der mutagenen
4 unterschiedliche Mutationen im his-Gen (Histidin-Gen) Wirkung erfassen. Hierzu plattiert man die Bakterienzellen auf
und sind zugleich durch eine uvrB-Mutation in ihrem Agarplatten mit einem niedrigen Titer von Histidin zusammen
Reparatursystem (7 Abschn. 10.6) defekt und daher beson- mit einer Mikrosomenfraktion aus Rattenleber aus, um ein limi-
ders empfindlich gegen Mutagene; tiertes (auxotrophes) Wachstum und die Replikation der Zellen
4 zusätzliche erbliche Defekte in der Zellwand der Bakterien, zu ermöglichen. Viele Mutagene werden erst in der Replikation
die diese besonders permeabel für Chemikalien machen, wirksam, wie wir zuvor gesehen haben. Die Mikrosomenfraktion
und entsteht bei der Zellfraktionierung aus Membranfragmenten des
4 ein Plasmid, das die mutagene Wirkung durch Plasmid- endoplasmatischen Reticulums, die sich zu Vesikeln zusammen-
Gene verstärkt, die dem umu-Gensystem verwandte Funk- schließen. Sie enthalten Enzyme (z. B. Oxidasen), die imstande
tionen ausüben (7 Abschn. 10.6.6). sind, potenzielle Mutagene umzusetzen. Dadurch ist es möglich,
10.5 · Mutagenität und Mutationsraten
431 10

. Tab. 10.6 Mutationsraten

Organismus Gen Rate

Bakteriophage T2 r nach r+ (Reversion) 1 u 10−8 je Replikation


h+ nach h 3u 10−9 je Replikation
E. coli lac− nach lac+ (Reversion) 2u 10−7 je Zellteilung
his+ nach his− 2 u 10−6 je Zellteilung
Streptomycinresistenz 4u 10−4 je Zellteilung
try− nach try+ 6 u 10−8 je Zellteilung
Chlamydomonas reinhardtii pens nach penr 1u 10−7 je Zellteilung
Neurospora crassa ad− nach ad+ (Reversion) 4 u 10−8 asexuelle Sporen
Saccharomyces cerevisiae Histidinunabhängigkeit (Reversion) ad− nach ad+ 3u 10−9 asexuelle Sporen
Argininunabhängigkeit (Reversion) 9u 10−7 asexuelle Sporen
Zea mays Sh nach sh 1 u 10−6 je Generation
Su nach su 2u 10−6 je Generation
Drosophila melanogaster y+ nach y 1 u 10−4 je Keimzelle
bw+ nach bw 3u 10−5 je Keimzelle
Mus musculus D nach d 3 u 10−5 je Keimzelle
Homo sapiens + nach Hämophilie A 3u 10−5 je Keimzelle
+ nach albino 3u 10−5 je Keimzelle
+ nach Duchenne’sche Muskeldystrophie 1 u 10−4 je Keimzelle
+ nach Achondroplasie 7u 10−5 je Keimzelle
+ nach Chorea Huntington 1 u 10−6 je Keimzelle
+ nach Retinoblastom 2u 10−5 je Keimzelle
+ nach Neurofibromatose 3–25 u 10−5 je Keimzelle

Gene in der Reihenfolge ihrer Nennung: r: rapid lysis, h: host range, lac: β-Galactosidase, his: histidine auxotrophy, try: Tryptophansynthetase,
pen: Penicillin resistence, ad: adenine independence, Sh: Shrunken, su: sugary, y: yellow, bw: brown eyes, D: Dilution; +: von Wildtyp (gesund)

. Abb. 10.32 Ames-Test. Verschiedene Histidinmangelmutanten von Sal-


monella typhimurium werden mit einer Spur Histidin auf einem Glucose-Mi-
nimalmedium angezüchtet; nur die Zellen, die zur Histidin-Unabhängigkeit
revertieren (His+), können Kolonien bilden. Die ursprüngliche geringe Men-
ge an Histidin erlaubt den Zellen einige wenige Teilungen, in denen eine
Mutation auftreten und fixiert werden kann. Die His+-Revertanten können
als Kolonien gegenüber einem leichten Hintergrundwachstum leicht ge-
zählt werden. Die Kontrolle zeigt die spontane Mutationsrate an. Wenn ein
Mutagen zur Platte dazugegeben wird, erhöht sich die Zahl der Rever-
tanten pro Platte; üblicherweise ist diese Zunahme dosisabhängig. Die Ver-
wendung unterschiedlicher Histidinmutanten gestattet die Analyse der Art
der mutagenen Wirkung (Basenpaarsubstitutionen oder Leserasterverschie-
bungen, vgl. . Tab. 10.1). (Nach Mortelmans und Zeiger 2000, mit freund-
licher Genehmigung von Elsevier)
432 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

a 1800
Test eine Schlüsselrolle als Mutagenitäts- und Karzinogenitäts-
1600 test erlangt. Durch den Einschluss von Säugerzellbestandteilen
in Form der Lebermikrosomenfraktion schließt das Testsystem
Zahl der Revertanten/Platte

1400
eine säugerspezifische Komponente ein. Die hohe Sensitivität
1200 des Tests wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass man
mit ihm bereits nachweisen kann, dass Kondensate des Rauches
1000
von 1/100 einer Zigarette deutliche mutagene Effekte anzeigen.
800
> Der Ames-Test ist ein wichtiges bakterielles Testsystem zur
600 ersten Abschätzung einer möglichen mutagenen Wirkung
von chemischen Verbindungen.
400

200
Schwesterchromatid-Austausch
0 Für manche Mutagene ist jedoch die direkte Verwendung von
0 0,2 0,4 0,6 0,8 1,0 1,2 1,4 1,6 1,8 2,0
Säugerzellkulturen als Testsystem wichtig, bevor man auf direkte
Aflatoxin B1 (nmol)
Tierversuche an Ratten oder Mäusen übergeht, die nach wie vor
unentbehrlich sind. In Zellkulturen kann die mutagene Wirkung
b 3000
durch die Häufigkeit der Induktion von Schwesterchromatid-
Austauschen (engl. sister chromatid exchange, SCE) ermittelt
2500 werden. Deren Nachweis beruht auf der Eigenschaft von Chro-
Zahl der Revertanten/Platte

mosomen, die über einen von zwei Zellzyklen in BrdU-haltigem


2000 Medium gewachsen sind, nach Giemsa-Färbung eine unter-
10 schiedlich starke Färbung der beiden Chromatiden zu zeigen.
1500 Die schwächere Färbung wird durch den Gehalt an BrdU in der
einen Chromatide verursacht. Da die Zellen über einen Zellzyk-
1000
lus ohne BrdU gewachsen sind, besitzt die zweite Chromatide
nur einen BrdU-markierten DNA-Strang. Lässt man die Zellen
nun in Gegenwart von Mutagenen wachsen, so wird die Anzahl
500
der SCEs drastisch erhöht. Man konnte zeigen, dass die Häufig-
keit von SCEs eine direkte Korrelation zur Mutagenität der be-
0 treffenden Induktorsubstanzen aufweist (. Abb. 10.34). Natür-
0 5 10 15 20 25 30 35 40
lich kann man auf diesem Wege nur Substanzen identifizieren,
Kaffeesäure (μmol)
. Abb. 10.33 Mutagene Wirkungen im Ames-Test. Zwei Salmonella-Histi-
dinmangelmutanten (TA98, TA100) wurden in der in . Abb. 10.32 beschrie-
benen Weise getestet. Reversionen im Stamm TA98 beruhen auf Leseraster-
mutationen, wohingegen Reversionen im Stamm TA100 durch Basenpaar-
substitutionen hervorgerufen werden. a Aflatoxin B1 erweist sich im Ames-
Test als starkes Mutagen, das vor allem Basensubstitutionen induziert.
Hiervon unterscheidet sich seine Wirkung zur Induktion von Leseraster-
mutationen im Stamm TA98, die nur vergleichweise gering ist. b Kaffeesäure
(3,4-Dihydroxyzimtsäure) zeigt im Ames-Test unter Verwendung des Test-
stamms TA100 eine deutliche, dosisabhängige antimutagene Antwort.
Im Stamm TA98 ist dieser Effekt nicht so deutlich ausgeprägt. (Nach Karekar
et al. 2000, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

zugleich auch die mutagene Wirkung von zumindest einigen der


Stoffwechselprodukte der getesteten Verbindung zu erfassen.
Man bestimmt anschließend die Anzahl von Revertanten zu his+
(also zu prototrophem Wachstum) auf normalen Agarplatten
ohne Zusatz im Vergleich zu solchen, denen die Testverbindung
zugefügt wird.
Umfangreiche Daten lassen heute erkennen, dass man grö-
ßenordnungsmäßig etwa 80 bis 90 % der krebserregenden Ver- . Abb. 10.34 Zwischen der Häufigkeit der Induktion von Genmutationen
und der Induktion von Schwesterchromatid-Austauschen (SCEs) in ovarialen
bindungen mithilfe dieses Tests als mutagen identifizieren kann
Zellen des Chinesischen Hamsters besteht eine lineare Beziehung. Das gilt
(. Abb. 10.33). Ein ebenso hoher Prozentsatz nicht-karzinogener für so unterschiedliche Mutagene wie Mitomycin C, Proflavin, Ethylmethan-
Verbindungen weist keine mutagenen Wirkungen in diesem Test sulfonat (EMS) und N-Ethyl-N-nitrosoharnstoff (ENU). (Nach Carrano et al.
auf. Damit hat dieser relativ billige und einfach durchzuführende 1978, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
10.5 · Mutagenität und Mutationsraten
433 10
die Chromosomenbrüche verursachen, während Basensubstitu- pam (Valium) und Griseofulvin (ein Fungizid) Disomien und
tionen und andere Mutationen unentdeckt bleiben. Diploidien induzieren können, wohingegen andere Stoffe nur
Diploidien (z. B. Carbendazim, Pestizid; Thiobendazol, Wurm-
Test auf Aneuploidie mittel) oder nur Disomien (z. B. Colchizin, Spindelgift; Trichlor-
Aneuploidien führen bei Menschen oft zu Fehlbildungen oder fon, Pestizid) induzieren. Ein quantitativer Vergleich der Maus-
– häufiger – zu Fehlgeburten (7 Abschn. 13.2.1). Es ist daher daten nach Valiumbehandlung mit entsprechenden Proben
wichtig zu wissen, ob Chemikalien diese Mutationsereignisse männlicher Patienten mit chronischem Valium-Missbrauch
auslösen können. Als Testsystem eignen sich dafür natürlich deutet allerdings darauf hin, dass die Keimzellentwicklung bei
Mäuse; es bedarf aber auch einer sehr sensitiven und spezifi- Männern 10- bis 100-mal empfindlicher ist als die der Maus
schen Methode, Fehlverteilungen einzelner Chromosomen (Adler et al. 2002).
nachzuweisen. Wie wir bereits an früherer Stelle gesehen haben
(. Abb. 6.4), können chromosomenspezifische DNA-Proben Mikrokerntest
eingesetzt werden, um einzelne Chromosomen spezifisch anzu- Doppelstrangbrüche, die nicht repariert werden, oder chromo-
färben. Verbunden mit einer guten Bildverarbeitung ist es leicht somale Rearrangements durch falsch reparierte Brüche führen
möglich, Diploidien als eine besondere Form der Aneuploidie zu chromosomalen Anomalitäten, die durch die oben genannten
in Spermien  behandelter Mäuse zu erkennen. Voraussetzung Tests nur unzureichend erfasst werden. Diese Veränderungen
für diese Untersuchung ist allerdings, dass es in den Reifeprozes- können zwar durch klassische cytogenetische Techniken erkannt
sen der Spermien zu keinen Verzögerungen in den Meiosen werden, allerdings nur unter hohem Zeitaufwand. Für schnelle
kommt, was durch den spezifischen Einbau von BrdU über- Routineuntersuchungen wurde deshalb der Mikrokerntest ent-
prüft wird (. Abb. 10.35a). Das Beispiel in . Abb. 10.35b zeigt wickelt. Mikrokerne (. Abb. 10.36) werden in Zellen sichtbar, die
fünf disome Spermien (d. h. mit einem zusätzlichen Chromo- sich teilen und dabei Chromosomen enthalten, die keine Centro-
som) und ein diploides Spermium nach Behandlung der Maus mere (azentrische Chromosomen) mehr enthalten, und/oder
mit Chemikalien. In diesem Versuch zeigte sich, dass Diaze- solche Chromosomen, die nicht mehr zu den Polen wandern
können. In der Telophase bildet sich um diese zurückgelassenen
Chromosomen(fragmente) eine Hülle; später entspiralisieren
sich die Chromosomen und erscheinen wie ein Interphasekern
– eben nur kleiner, daher der Name »Mikrokern«. Die Zahl der
Mikrokerne in einem Präparat (z. B. aus dem Knochenmark be-
handelter Mäuse) ist ein Maß für induzierte Chromosomenbrü-
che bzw. -verluste. Der Mikrokerntest kann auch im peripheren
Blut angewendet werden und steht deshalb als ein möglicher
Schnelltest für die biologische Dosimetrie nach Belastung mit
ionisierender Strahlung zur Verfügung.

. Abb. 10.35 Aneuploidie-Test mit Mausspermien. a Darstellung BrdU-posi-


tiver und -negativer Spermien der Maus. Die Spermien wurden mit einem
fluoreszierenden Anti-BrdU-Antikörper markiert (grün) und mit Propidium-
iodid gegengefärbt (rot). b Beispiel für fünf Disomien (X88, Y88, YY8, XX8 und
XY8) und eine Diploidie (XX88) in Mausspermien. Es wurden die Geschlechts- . Abb. 10.36 Lymphocyt aus dem peripheren Blut mit zwei Zellkernen
chromosomen (X, Y) und das Chromosom 8 untersucht. (Nach Adler et al. und einem Mikrokern (MN, Pfeil). (Nach Fenech 2007, mit freundlicher
2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier) Genehmigung der Nature Publishing Group)
434 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Transgene Mäuse in der Mutagenitätstestung transgenen Assays zur Entdeckung von Mutationen in jedem
Um quantitative Risikoabschätzungen an einem Säugetier durch- Gewebe eines lebenden Tieres ein epochales Ereignis war, ist die
zuführen, stand lange Zeit nur der schon beschriebene spezifi- Methode doch sehr zeitaufwendig und teuer. Daher wurde bald
sche Locus-Test bei der Maus (. Abb. 10.20) zur Verfügung. Aller- das cII-Gen als Reportergen eingesetzt, das eine Positiv-Selektion
dings versuchte man schon bald, auf der Basis transgener Mäuse ermöglicht und mit seiner geringen Größe (300 bp) auch schnell
empfindlichere Testsysteme zu etablieren. Diese sind unter der sequenziert werden kann (es kann in beiden Maussystemen –
Bezeichnung »MutaMouse« und »Big Blue Mouse« bekannt ge- MutaMouse und Big Blue Mouse – eingesetzt werden). Das
worden. Sie verwenden das bakterielle lacZ bzw. lacI als Repor- λ-CII-Protein ist eine essenzielle Komponente in der Ent-
tergen für die Mutationen (. Abb. 10.37a). Die Reportergene sind scheidung über vegetative Vermehrung oder Lysogenisierung,
jeweils in das Mausgenom als Teil eines λ-»Shuttle«-Vektors in- die ein Bakteriophage nach der Infektion einer Wirtszelle trifft
tegriert, der leicht als Phagenpartikel aus der genomischen (7 Abschn. 4.6). Dieses System ist ein exzellentes Beispiel einer
Maus-DNA durch in-vitro-Verpackung erhalten werden kann. fruchtbaren Zusammenarbeit verschiedener genetischer Teil-
Die transgenen Mäuse, die den λ-Vektor tragen, werden mit der disziplinen zur eleganten Lösung eines gemeinsamen Problems,
Testsubstanz behandelt, und die mutierten Phagen werden auf- hier der Abschätzung von Mutationsraten.
grund der Farbe der Plaques bei der Anwesenheit von X-Gal Alle drei Reportergene (lacZ, lacI, cII) haben in allen Gewe-
erkannt. Im lacZ-System werden farblose oder hellblaue Plaques ben etwa die gleiche spontane Mutationsrate (10−5). Man geht
vor einem blauen Hintergrund als Mutanten bewertet, wohinge- davon aus, dass die spontanen Mutationen im Wesentlichen
gen im lacI-System blaue Plaques vor einem farblosen Hinter- durch Desaminierung von 5-Methylcytosin im Dinukleotid
grund Mutationen anzeigen. Obwohl die Entwicklung dieses CpG hervorgerufen werden, da bakterielle Transgene in Säuger-

. Abb. 10.37 Mutationstest mit transgenen Mäusen.


10 a Schema des Mutationsassays mit lacZ-, cII- und lacI-
Genen der MutaMouse oder der Big Blue Mouse. b Schema
des gpt-delta-Mutagenitätstests: Zwei verschiedene
E. coli-Wirtszellen werden mit einem λEG10-Phagen infi-
ziert. Der eine E. coli-Stamm (YG6020) exprimiert Cre-
Rekombinase für die 6-Thioguanin(6-TG)-Selektion und
der andere ist lysogen für die Spi−-Selektion. In den
Zellen, die Cre-Rekombinase exprimieren, wird die
λEG10-DNA in ein Plasmid umgeformt, das die Gene gpt
und cat (codiert für Chloramphenicol-Acetyltransferase)
trägt. Die E. coli-Zellen, die Plasmide tragen, die im gpt-
Gen mutiert sind, können auf Platten mit 6-TG und
Chloramphenicol positiv selektioniert werden. Mutierte
λEG10-Phagen, denen die red/gam-Genfunktion fehlt,
können als Spi−-Plaques in P2-lysogenen E. coli-Zellen po-
sitiv selektioniert werden. Dadurch können die Mutations-
normale
Plaques raten von Punktmutationen und Deletionen in der glei-
chen DNA-Probe verglichen werden. (Nach Nohmi et al.
2000, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
a

(80 Kopien/haploid)

λEG10-Phagen-
Infektion

b E. coli P2-lysogen
10.5 · Mutagenität und Mutationsraten
435 10

. Tab. 10.7 EU-Testschema auf genotoxische Wirkungen von Chemikalien

Chemikalie Industrie- Pestizide Pharmazeutische Tierarznei- Kosmetika Nahrungsmittel- Haarfärbemittel


produkte Stoffe mittel zusatzstoffe

Erste Stufe Bakterielle Genmutationen

In-vitro-Test In-vitro-Test auf In-vitro-MLA oder CA In-vitro-Test auf Genmutationen (bevorzugt MLA)
auf CA (Säuger- Genmutationen
zellen) (bevorzugt MLA)

In-vitro-MN oder CA In-vitro-MN oder CA In vitro-CA,


in vitro-MN,
in vitro-UDS,
in-vitro-SHE-CT

Wenn positiv: in-vivo-MN oder CA Wenn positiv: in-vivo-Test

Zweite Stufe Wenn positiv, Wenn in vivo positiv,


Test auf Keim- Test auf Keimzell-
zell-Effekte Effekte

In Einzelfällen können weitere Tests nötig werden. CA: Chromosomenaberration; MLA: Maus-Lymphoma-Assay; MN: Mikrokerntest; UDS: ungerichtete
DNA-Synthese; SHE-CT: Zell-Transformationstest in Zellen des Syrischen Hamsters (für oxidative Substanzen). Nach Cimino (2006)

zellen sehr stark methyliert sind. Wegen diesem starken Hinter- > Es gibt verschiedene Mutagenitätstests an Säugerzellen
grund von Basenpaar-Austauschen sind seltene Mutationen wie und an Tieren, die aber jeweils unterschiedliche Aussage-
Deletionen nur schwer zu erkennen. Es gibt auch Hinweise, dass kraft haben. Es muss deshalb für neue Chemikalien eine
dieses System gegenüber der genotoxischen Wirkung von Testbatterie aus verschiedenen Untersuchungen durchge-
γ-Strahlen unempfindlich ist. Daher wurde die Spi−-Selektion führt werden.
in das System eingeführt (engl. sensitive to P2 interference,
. Abb. 10.37b). Die Besonderheit dieser Form der Spi−-Selektion
besteht darin, dass sie bevorzugt Deletionen im λ-Phagen er- 10.5.2 Mutationsraten und Evolution
kennt und positiv selektioniert. Allerdings ist die Größe der
Deletion wegen der Größenbeschränkung der Verpackung des Vor etwa 80 Jahren postulierte John B. S. Haldane (1935), dass
λ-Genoms auf etwa 10 kb begrenzt (die lineare λ-DNA benötigt die männliche Mutationsrate bei Menschen deutlich höher sei
zwei cos-sites, die durch 38–51 kb DNA getrennt sein müssen; als die weibliche, da die männlichen Keimzellen wesentlich
vgl. 7 Abschn. 4.3.2). Um jetzt das System noch weiter zu opti- mehr Zellteilungen und damit DNA-Replikationsrunden pro
mieren, wurde das gpt-Gen als zusätzliches Reportergen für Generation erleben, als dies bei weiblichen Keimzellen der Fall
Punktmutationen eingeführt: Das gpt-Gen codiert für eine Gu- ist (7 Abschn. 12.6.5). Diese Hypothese ist in der Zwischenzeit
aninphosphoribosyl-Transferase und modifiziert 6-Thioguanin zwar weitgehend akzeptiert, allerdings war die Größenordnung
(6-TG) in eine Substanz, die für E. coli toxisch ist, sodass nur des Verhältnisses der männlichen zur weiblichen Mutationsrate
Mutanten überleben können, bei denen das gpt-Gen entweder (ausgedrückt als Faktor α) lange Zeit umstritten. Die Kenntnis
durch Deletionen oder Punktmutationen zerstört ist. Da das dieser Größenordnung ist wichtig, um zu wissen, ob die Muta-
gpt-Gen nur 456 bp groß ist, kann die Punktmutation auch tionsrate im Wesentlichen durch Fehler während der DNA-
schnell durch Sequenzierung charakterisiert werden; dieses Sys- Replikation verursacht wird. Darüber hinaus besteht die Frage,
tem ist als »gpt delta« bekannt. ob es eine schnellere »molekulare Uhr« für solche Organismen
In der Praxis wird vielfach vorgeschlagen, eine Batterie be- gibt, die eine kürzere Generationszeit haben als solche mit einer
stehend aus verschiedenen einfachen Mutagenitätstest vor der langen Generationszeit (»Generationszeit-Hypothese«).
Einführung neuer Chemikalien, pharmazeutischer Produkte Frühere Arbeiten benutzten eine direkte Methode, um
o. Ä. durchzuführen. Dazu gehören in der Regel ein Mutage- Mutationsraten zu bestimmen (wobei sich die nachfolgenden
nitätstest auf der Basis des Salmonellen-Systems, ein Test auf Betrachtungen im Wesentlichen auf Punktmutationen bezie-
chromosomale Aberrationen in CHO-Zellen oder humanen hen). Am Beispiel der X-gekoppelten Bluterkrankheit Hämo-
Lymphocyten sowie ein Mikrokerntest aus dem Knochenmark philie A (7 Abschn. 13.3.3) wurde bei 119 Patienten ein Wert für
von Maus oder Ratte. . Tab. 10.7 gibt einen Überblick über das α von 15 berechnet; dieser Wert deckte sich zunächst mit vielen
derzeitige Testprotokoll, das die EU für die Überprüfung auf Beobachtungen an anderen Krankheiten. Allerdings treten die
genotoxische Wirkungen einer Chemikalie vorschreibt. Das beobachteten Mutationen an wenigen Stellen gehäuft auf, die als
Protokoll ist abhängig von der jeweiligen Anwendung der Che- CpG-Dinukleotide charakterisiert werden können. In Säuger-
mikalie; in anderen industrialisierten Ländern gibt es ähnliche zellen wird nämlich das C in einem CpG-Dinukleotid relativ
Regularien. häufig methyliert; Desaminierung verändert das Methylcyto-
436 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

sin zu einem Thymin, das damit eine C→T-Transition bewirkt Region in männlichen Zellen vor. Damit fehlt ihm der natürliche
(7 Abschn. 10.3.2). Da Methylierungen in der DNA der Spermien Rekombinationspartner, und so bleiben die Kombinationen der
häufiger vorkommen als in Oocyten, scheint dies zunächst die verschiedenen Allele auf dem Y-Chromosom in der Regel über
höhere Mutationsrate zu erklären. Es werden allerdings auch Generationen männlicher Verwandter hinweg unverändert.
C→G-Transversionen beobachtet, daher kann man die Methylie- Chromosomale Rearrangements sind also selten, sodass die
rung dafür nicht verantwortlich machen. Zusammen gesehen überwiegende Zahl der Mutationen einfach verfolgt werden
wird deutlich, dass die unterschiedliche Methylierung und kann. Studien an Y-Chromosomen sind daher besonders inte-
nachfolgende Transitionen nicht die Hauptursachen dafür sind, ressant, weil sie überwiegend nur solche Mutationen zeigen, die
dass man bei Menschen einen relativ hohen Wert für α findet. das Ergebnis intraalleler Prozesse sind; rekombinatorische Pro-
So zeigen vergleichende Untersuchungen an ausgewählten zesse, die in anderen Chromosomen hinzukommen, entfallen
Genen bei höheren Primaten, Katzen, Nagern und Vögeln, dass hier.
es offensichtlich tatsächlich einen deutlichen »Generationszeit-
Effekt« gibt – der Wert für α ist bei höheren Primaten etwa drei-
mal so hoch wie bei Nagern und wird mit etwa 5 bis 6 angegeben
*istDurch die neuen Sequenziertechniken (7 Technikbox 7)
es schneller und billiger geworden, ganze Genome
(Li et al. 2002). durchzusequenzieren. Um die Mutationsrate in Menschen
Weitere Daten zeigen, dass offensichtlich darüber hinaus experimentell zu bestimmen, hat daher die Gruppe um Evan
auch die chromosomale Region die Mutationsrate beeinflusst. So Eichler fünf Trios (beide Eltern und ein Kind) aus der Gruppe
haben benachbarte Gene ähnlich hohe (oder auch ähnlich nied- der Hutterer vollständig durchsequenziert. Die Hutterer sind
rige) Mutationsraten. Dies gilt auch über Speziesgrenzen hinweg eine Gruppe von Wiedertäufern, die in der 2. Hälfte des 19.
im Vergleich Maus – Mensch – Schimpanse. Dabei korrelieren Jahrhunderts von Europa nach Nordamerika auswanderten
Regionen mit einem hohen GC-Gehalt auch mit einer höheren und heute in abgeschotteten Gemeinden im Norden der
Mutationsrate. Es deutet viel darauf hin, dass dabei Rekombina- USA und Kanada leben. Die Gruppe, die Evan Eichler unter-
10 tionsereignisse die Entstehung von Mutationen wesentlich be- sucht hat, umfasst heute insgesamt 1400 Menschen; sie
einflussen. So korreliert die hohe Mutationsrate in der pseudo- basiert auf 64 Gründungsmitgliedern, und der Stammbaum
autosomalen Region des Y-Chromosoms deutlich mit ihrer umfasst 13 Generation. In den ausgewählten Familientrios
hohen Rekombinationsrate. Warum Mutationsraten mit Rekom- sind die Eltern über sechs bis acht Generationen miteinan-
binationsraten verknüpft werden können, lässt sich nach Unter- der verwandt. Die Autoren untersuchten dabei solche Ein-
suchungen an Hefe und Säugetieren erklären. Offensichtlich ist zelnukleotidvarianten (engl. single nucleotide variants, SNVs),
die Reparatur von Doppelstrangbrüchen während der Rekombi- die als Heterozygote in autozygoten Bereichen identifiziert
nation ein mutagener Prozess. Es gibt Arbeiten, die darauf hin- wurden (ein autozygoter Locus ist homozygot; die beiden
deuten, dass ein hoher GC-Gehalt die Rekombinationshäufigkeit Allele sind jedoch herkunftsgleich [engl. identity by descent]
erhöht. Neben der Desaminierung des C wäre dies eine weitere – sie wurden also ausgehend von einem gemeinsamen
Erklärung dafür, dass Mutationen bevorzugt an CpG-Dinukleo- Vorfahren sowohl über die väterliche als auch über die
tiden auftreten. mütterliche Seite des Stammbaums weitergegeben). Sie
Ein dritter wichtiger mutagener Mechanismus in der Evolu- beobachteten 72 solcher SNVs und berechneten daraus eine
tion ist die Verdopplung von Genomfragmenten. Die Analyse Mutationsrate (μ) von 1,20 × 10−8 Mutationen pro Basenpaar
des menschlichen Genoms hat gezeigt, dass es zu etwa 5 % aus und Generation (mit einem 95-%-Vertrauensbereich von
verstreuten Verdopplungen besteht, die in den vergangenen 0,89–1,43 × 10−8). Es gibt darunter mehr Transitionen als
35 Mio. Jahren entstanden sind. Es können dabei zwei Kategorien Transversionen (Faktor 1,64); der Anteil der Mutationen, der
unterschieden werden: segmentale Duplikationen zwischen CpG-Dinukleotide betrifft, ist knapp 10-fach höher als
nicht homologen Chromosomen einerseits und andererseits Du- in anderen Bereichen des Genoms. Zu 84,6 % entstanden die
plikationen, die im Wesentlichen auf ein Chromosom beschränkt Mutationen in der väterlichen Keimbahn (Campbell et al.
bleiben. Letztere entstehen vor allem durch ungleiche Crossing- 2012). Damit haben sich frühere Daten im Wesentlichen be-
over und führen zur Bildung von Clustern eng verwandter Gene stätigt; wir können aber erwarten, dass in nächster Zukunft
(z. B. Globin-Gene, Hox-Gene, einige Kristallin-Gene). Ein wei- noch viele derartige Studien durchgeführt werden und so
terer möglicher Mechanismus der Genduplikation besteht in der die Daten auch für andere Organismen wesentlich präziser
Wirkung von Transposons, wobei hier beide Möglichkeiten (in- werden.
tra- und interchromosomale Duplikation) in der Evolution rea- In diesem Zusammenhang wurde 2015 von Harris eine inte-
lisiert wurden. Diese »segmentale Evolution« ist von Vorteil, ressante Beobachtung publiziert: Er verglich Mutations-
denn durch sie können vielfach neue Funktionen ausprobiert raten verschiedener Populationen von Menschen und stellte
werden, ohne alte zu verlieren, wie das normalerweise bei Muta- dabei fest, dass die Mutation TCC ൺTTC bei Europäern fast
tionen der Fall ist. doppelt so häufig vorkommt wie bei Afrikanern und Asiaten.
Das menschliche Y-Chromosom (7 Abschn. 13.3.4) liefert Dieses Phänomen ist vor etwa 80.000 bis 40.000 Jahren auf-
auch dafür ein gutes Beispiel. Denn der Bereich, der nicht zur getreten; eine Erklärung gibt es dafür noch nicht. Der Autor
pseudoautosomalen Region gehört (und das sind immerhin spekuliert über eine höhere Empfindlichkeit von Europäern
ca. 57 Mb der insgesamt 60 Mb; . Abb. 13.38), liegt als haploide gegenüber UV-Strahlung.
10.6 · Reparaturmechanismen
437 10
10.6 Reparaturmechanismen können – so können strahleninduzierte Doppelstrangbrüche so-
wohl über die nicht-homologe Verbindung von freien Enden als
Zellen verfügen über verschiedene Reparaturmechanismen, die auch durch homologe Rekombination repariert werden. Wichti-
Schäden an der DNA entfernen können. Die Mechanismen dafür ge Untersuchungen zur DNA-Reparatur wurden nach Bestrah-
sind zum Teil auch von der Art des Schadens abhängig, und sie lung bei Hefen durchgeführt; daher tragen viele Gene aufgrund
haben unterschiedliche Genauigkeitsgrade, mit der die Repara- ihrer strahlenbiologischen Geschichte die Bezeichnung »RAD«
tur durchgeführt wird: So ist zwar die SOS-Reparatur (7 Abschn. im Namen.
10.6.6) sehr störanfällig, erlaubt aber der Zelle trotz eines großen
Schadens überhaupt zu überleben. Dagegen sind Reparaturme-
chanismen genauer, die eher über Rekombinationsmechanismen 10.6.1 Reparatur UV-induzierter DNA-Schäden
ablaufen. Die Überprüfung der DNA auf mögliche Schäden und durch Photolyasen
deren erfolgreiche Reparatur ist häufig auch Voraussetzung für
den Eintritt der DNA in die Mitose. Die Überprüfung an geeig- Einer der wichtigsten UV-induzierten DNA-Schäden ist die Bil-
neten »Checkpoints« (7 Abschn. 5.2.1) kann den Fortschritt im dung von Cyclobutan-Pyrimidin-Dimeren (CPDs). In archai-
Zellzyklus so lange verlangsamen, bis die Reparatur stattgefun- schen Zeiten (vor 3,2–2,5 Mrd. Jahren) bestand kein Ozon-
den hat. Diese Überprüfung mit Stoppen des Zellzyklus und an- Schutzschild auf der Erde, sodass die UV-Strahlung der Sonne
schließender DNA-Reparatur wird oft auch ganz allgemein als ungefiltert auf der Erde ankam. Man nimmt an, dass damals die
Antwort auf DNA-Schäden bezeichnet (engl. DNA damage res- DNA-schädigende Wirkung des UV-Lichts etwa drei Größen-
ponse, DDR). ordnungen höher war als heute. Wenn man diese Umweltsitua-

*Neben der Schadensart bestimmt auch der Zustand der Zel-


le im Zellzyklus die Auswahl des entsprechenden Reparatur-
tion annimmt, ist es nicht verwunderlich, dass sich bei Archae-
bakterien, Eubakterien und Eukaryoten ein effizientes Repara-
tursystem gegenüber UV-Schäden entwickelt hat. Das verant-
weges. Nach dem Erkennen des Schadens und der Bindung
wortliche Enzym wurde als Flavoprotein charakterisiert und
spezifischer Proteine an die Schadensstelle erfolgt die Repa-
wegen der lichtabhängigen Reaktion zunächst als »photoreakti-
ratur über einen längeren Zeitraum und mithilfe größerer
vierendes Enzym« bezeichnet; heute hat sich die Bezeichnung
Reparaturkomplexe. Wenn die Reparatur abgeschlossen ist,
»Photolyase« allgemein eingebürgert. Die Photolyase ist neben
müssen die Komplexe wieder abgebaut werden. Wie wir in
der NAD(P)H-abhängigen Oxidoreduktase in der Chlorophyll-
den letzten Jahren gelernt haben, werden viele dieser ver-
Biosynthese photosynthetischer Organismen das einzige licht-
schiedenen Prozesse durch die Modifikation beteiligter Pro-
abhängige Enzym.
teine durch Ubiquitin und SUMO (engl. small ubiquitin-rela-
Photolyasen reparieren sowohl die CPDs als auch die
ted modifier) reguliert. Dazu gehört beispielsweise der Ab-
6-4-Photoprodukte (. Abb. 10.17) in einer lichtabhängigen
bau der angehaltenen DNA-Polymerase oder der Reparatur-
Reaktion. Es handelt sich dabei um monomere Proteine mit
enzyme nach Beendigung ihrer Arbeit. Es sind in der
einem Molekulargewicht von 45–66 kDa. Abhängig von ihrer
Zwischenzeit aber auch andere Funktionen von Ubiquitin-
Substratspezifität können wir zwei Klassen unterscheiden:
Modifikationen bekannt, die beispielsweise zur Erhöhung
CPD-Photolyasen reparieren CPD-Schäden in doppel- und
der DNA-Bindung bei DNA-Reparaturproteinen führen. Hier
einzelsträngiger DNA, während die 6-4-Photoprodukte durch
werden wir sicherlich in den nächsten Jahren noch interes-
6-4-Photolyasen repariert werden; die CPD-Photolyasen können
sante Ergebnisse in Bezug auf die Feinsteuerung der ver-
noch weiter in Klasse-I- und Klasse-II-CPD-Photolyasen unter-
schiedenen DNA-Reparaturwege zu erwarten haben. Einen
teilt werden (. Abb. 10.38a). Bei Tieren und Menschen zeigen die
ausführlichen Überblick über diesen Signalweg geben
Cryptochrome eine hohe Sequenzähnlichkeit zu den Photo-
Thomson und Guerra-Rebello (2010).
lyasen (40–60 % Sequenzidentität). Alle Photolyasen und Cryp-
Reparaturprozesse können nach verschiedenen Kriterien cha- tochrome besitzen FAD (Flavin-Adenin-Dinukleotid) als licht-
rakterisiert werden – einmal nach den zugrunde liegenden Me- empfindlichen Cofaktor und Chromophor. In Photolyasen über-
chanismen, aber auch nach den veschiedenen Schadenstypen. trägt dieser Cofaktor nach der Anregung ein Elektron vorüber-
Wir wollen hier die verschiedenen Mechanismen betrachten: gehend auf die schadhafte Stelle der DNA, um die Reparatur
4 lichtabhängige Reparatur UV-induzierter DNA-Schäden über einen Radikalmechanismus anzutreiben. Die Reparatur
durch Photolyasen (direkte Reparatur); beinhaltet die Spaltung der Pyrimidin-Dimere, wobei nahes
4 Exzisions-Reparaturmechanismen (Basen-Exzisionsrepara- UV- oder blaues Licht (λ = 320–500 nm) zur Anregung verwen-
tur, Nukleotid-Exzisionsreparatur); det wird. Voraussetzung für die erfolgreiche Reparatur ist aller-
4 DNA-Fehlpaarungsreparatur; dings die freie Zugänglichkeit der Schadstelle im Nukleosom
4 homologe Rekombinationsreparatur; (. Abb. 10.38b).
4 nicht-homologes Verknüpfen von freien Enden;
4 postreplikative DNA-Reparatur. > UV-induzierte Dimere können mithilfe von Reparatur-
mechanismen aus der DNA entfernt werden. Durch Photo-
Wenn wir jedoch die Schäden betrachten, so finden wir häufig lyasen werden Cyclobutan-Dimere und 6-4-Photopro-
verschiedene Mechanismen, die an der Reparatur beteiligt sein dukte enzymatisch unter Lichteinwirkung entfernt.
438 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

a Klasse-II-CPD-Photolyasen

Methanobacterium Arabidopsis
thermoautotrophicum thaliana Chlamydomonas reinhardtii

Myxococcus xanthus Drosophila melanogaster

Fowlpox virus
6-4-Photolyasen Danio rerio, 64PHR
Potorous tridactylis

Xenopus laevis, 64PHR Monodelphis domestica

Oryzias latipes
Drosophila melanogaster, 64PHR
Carassius auratus
Arabidopsis thaliana, 64PHR

Anacystis nidulans Streptomyces griseus

Synechocystis sp. PCC6803


Thermus thermophilus
Halobacterium halobium
Bacillus firmus
Escherichia coli
Saccharomyces cerevisiae
Salmonella typhimurium

10 Neurospora crassa Trichoderma harzianum

Klasse-I-CPD-Photolyasen

b Photolyase T4-Endonuklease V
3 3
2 2

4 4

1 H3 H2B 1 H3 H2B
H4 H2A H4 H2A
5 5

5‘ 5‘
0 3‘ 6 0 3‘ 6

effiziente Reparatur >34 % effizienter Schnitt >18 %


moderate Reparatur 34–24 % moderater Schnitt 8–18 %
ineffiziente Reparatur <24 % ineffizienter Schnitt <8 %

. Abb. 10.38 Reparatur von UV-Schäden durch Photolyasen. a Das Dendrogramm zeigt die Sequenzbeziehungen innerhalb der verschiedenen Photolyase-
Subfamilien. In den fett gedruckten Arten wurden die Enzyme der Klasse-I-CPD-Photolyasen bereits als Kristalle dargestellt. b Ortsspezifische Reparatur von
CPDs in einem rekonstituierten Nukleosom durch E. coli-Photolyase (links) und durch T4-Endonuklease V (rechts). Relativ effiziente Reparatur und Einschnitte
werden an den Stellen beobachtet, an denen die DNA durch H2A-H2B gebunden ist und das Zucker-Phosphat-Rückgrat zur Spitze des Nukleosoms hin
orientiert ist. (a nach Essen und Klar 2006, mit freundlicher Genehmigung von Springer; b nach Thoma 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

10.6.2 Exzisionsreparaturen UV-A-induzierte oxidative DNA-Schäden; die Nukleotid-Ex-


zisionsreparatur (NER) entfernt UV-B-induzierte Photopro-
Schäden in der DNA, die nur einen Strang betreffen, können dukte, wobei die 6-4-Photoprodukte 5-mal schneller abgebaut
auch durch das Ausschneiden der schadhaften Stelle repariert werden als CPD; im Gegensatz zur Phospholyase-Reaktion ver-
werden (Exzisionsreparatur). Wir unterscheiden dabei zwei läuft NER aber lichtunabhängig. Andere Substrate für NER sind
Wege: Die Basen-Exzisionsreparatur (BER) entfernt vor allem DNA-Schäden, die durch polyzyklische aromatische Kohlenwas-
10.6 · Reparaturmechanismen
439 10
serstoffe hervorgerufen werden sowie durch Substanzen, die zur Globale Genom- Transkriptions-gekoppelte
Vernetzung von DNA führen (z. B. Cisplatin). Reparatur (GGR) Reparatur (TCR)
5‘ 3‘ 5‘ 3‘
C Die Nukleotid-Exzisionsreparatur (NER) wurde bei E. coli
durch den Befund nachgewiesen, dass eine Reparatur von 3‘ 5‘ 3‘ 5‘
XPC
CPDs auch ohne Lichteinfluss erfolgen kann. In UV-emp- (hHR23B & Centrin-2) Pol II
findlichen Mutanten von E. coli wurde das hierzu erforderli- I
che Uvr-System (engl. UV repair) entdeckt, das vier Gene CSA CSB
(uvrA, uvrB, uvrC und uvrD) umfasst. Die Gene uvrA und uvrB
TFIIH XPG TFIIH XPG
codieren für Enzyme, die einen Proteinkomplex mit endonu-
kleolytischer Aktivität (Ultraviolett-endo I) bilden. Dieser Pro-
teinkomplex sucht in der DNA nach Fehlern oder wird an
Stellen, an denen es zur Unterbrechung der Replikation XPA
II XPB XPD
kommt, an die DNA angelagert. Das UvrB-Protein bildet RPA
dann einen stabilen Komplex mit der DNA (UvrB-DNA), der
vom UvrC-Protein erkannt wird. Der daraufhin gebildete TTD-A TFIIH
UvrBC-Komplex induziert zunächst einen endonukleolyti-
III XPF XPG
schen Einzelstrangschnitt an der 3’-Seite, dann einen Einzel- (ERCC1)
strangschnitt an der 5’-Seite der defekten DNA. Die Einzel-
strangbrüche werden durch eine Exonuklease erkannt und
haben die Entfernung von sechs Nukleotiden zur Folge.
Danach ist die DNA-Polymerase I in der Lage, durch Neusyn-
IV
these die entstandene Einzelstrangregion in der DNA aufzu-
füllen. Eine Ligase stellt abschließend, wie bei der normalen Polymerasen Ligasen und andere
DNA-Replikation, die kovalente Bindung der neu syntheti-
sierten Nukleotide mit dem DNA-Strang wieder her. V
Im Säugersystem ist der Prozess komplexer und umfasst 20 bis
. Abb. 10.39 Nukleotid-Exzisionsreparatur (NER). (I) Im globalen Genom-
30 Proteine, die in einer definierten Reihenfolge tätig werden.
Reparaturmechanismus (links) wird der DNA-Schaden durch einen Komplex
Das allgemeine Schema ist in . Abb. 10.39 angegeben. Beim erkannt, dessen wesentliche Komponente XPC ist. Im Transkriptions-gekop-
Menschen sind für das NER-System im engeren Sinne sieben pelten Reparaturmechanismus (rechts) wird durch den Schaden die Poly-
Gene (XPA bis XPG) verantwortlich; Mutationen führen zu Erb- merase II blockiert. (II) Der Schaden wird eingegrenzt; daran sind das Repli-
krankheiten wie z. B. Xeroderma pigmentosum (XP; vgl. dazu kations-Protein A (RPA) und der Transkriptionsfaktor IIH (TFIIH) beteiligt. (III)
An beiden Seiten wird die DNA durch die Endonukleasen XPG (5–6 Nukleo-
auch 7 Abschn. 13.4.1 und . Abb. 13.48).
tide oberhalb) und XPF (20–22 Nukleotide unterhalb) geschnitten. (IV) Das
NER eliminiert DNA-Schäden aus allen Stellen des Genoms schadhafte Oligonukleotid wird entfernt. (V) Der komplementäre Strang
und wird daher auch als »globaler Genom-Reparaturmechanis- wird als Matrize benutzt, um ein neues Oligonukleotid zu synthetisieren,
mus« (GGR) bezeichnet. Im Gegensatz dazu wird ein DNA- das die Lücke füllt. Daran sind vor allem die DNA-Polymerasen δ und/oder ε
Schaden in transkriptionsaktiven Genen viel schneller repariert beteiligt. Ligase I schließt den verbleibenden Einzelstrangbruch. XPA–G:
Proteine, deren Ausfall zu Xeroderma pigmentosum führt; CSA/CSB: Proteine,
als irgendwo im Genom; diese Form von NER wird als »Tran-
deren Ausfall zum Cockayne-Syndrom führt; TTD-A: Protein, dessen Aus-
skriptions-gekoppelte Reparatur« bezeichnet (engl. transcription fall zur Trichothiodystrophie führt (Untereinheit von TFIIH); hHR23B: homo-
coupled repair, TCR). Beide Formen unterscheiden sich nur im loges Protein des Menschen zu RAD23; ERCC1: excision repair cross com-
ersten Schritt der Erkennung des DNA-Schadens (. Abb. 10.39): plementation group 1. (Nach Leibeling et al. 2006, mit freundlicher Geneh-
Der globale Schaden im Genom wird durch einen Komplex mit migung von Springer)
der wesentlichen Komponente XPC erkannt, wohingegen ein
Schaden, der während der Transkription erkannt wird, zu einer
Blockade der RNA-Polymerase II führt. serviert. Grundsätzlich läuft BER in zwei Schritten ab: Zunächst
Wie oben schon für die Photolyase-Reaktion erwähnt, ver- wird der Schaden erkannt und die schadhafte Base ausgeschnit-
mindert eine Verpackung der DNA in Nukleosomen auch die ten (nicht das ganze Nukleotid – das Zucker-Phosphat-Rückgrat
Effizienz des NER-Systems in Hefen. Die Korrelation der DNA- der DNA bleibt zunächst erhalten!). Daran sind unterschiedliche
Reparatur-Raten mit bestimmten Positionen im Nukleosom lässt DNA-Glykosylasen beteiligt. Ein solches Enzym schneidet zu-
vermuten, dass manche Eigenschaften der Nukleosomen, wie nächst die Glykosylbindung zwischen der Base und dem Zucker-
ihre Beweglichkeit und vorübergehendes Auswickeln der nukle- Phosphat-Rückgrat der DNA. Erst nach dem Ausschneiden der
osomalen DNA, die Erkennung des Schadens erleichtern. Ein Base spaltet eine Endonuklease die zugehörige Zucker-Phos-
Modell, das die heutigen Kenntnisse über den Einfluss der Nuk- phat-Bindung an der pyrimidin- bzw. purinfreien Stelle (engl.
leosomenstruktur auf die Photolyase und das NER-System zu- apyrimidine/apurine, AP). 3’-Enden werden durch strukturspe-
sammenfasst, ist in . Abb. 10.40 dargestellt. zifische Nukleasen (z. B. FEN-1) weiter bearbeitet, und die Lücke
Im Gegensatz zu NER wurden die Kernelemente des BER- in der DNA wird durch eine DNA-Polymerase aufgefüllt und
Systems (. Abb. 10.41) in der Evolution wesentlich stärker kon- durch eine Ligase geschlossen. Dieser Reparaturmechanismus
440 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Photolyase Nukleotid-Exzisionsreparatur

(ii) (i) (iii) Eigenschaften der


Spiralisierung Entfaltung/Unterbrechung Dissoziation Nukleosomen
DNA-Schaden
Aktivitäten zum Chromatin-
umbau
Histon-Modifikationen
Histon-Varianten
Beweglichkeit Nicht-Histon-Proteine
Ausbreitung Zusammenbau
der Spiralisierung Ausbreitung
der Ausbuchtung

10

b c

Schaden-Erkennung
Chromatinumbau
Schaden-Bestätigung

Lichtinduzierte
Reparatur
(350-450 nm)
Einschneiden
Ausschneiden
DNA-Reparatur-Synthese

Regeneration der
Repositionierung Nukleosomen und der
höheren Chromatin-
strukturen

. Abb. 10.40 Dynamische Eigenschaften von Nukleosomen erleichtern DNA-Schaden-Erkennung und Reparatur. a Nukleosomen befinden sich in ver-
schiedenen Zuständen, die in einem dynamischen Gleichgewicht stehen (Pfeile) und zu veränderten Positionen führen (Beweglichkeit): (i) Teilweise Entfal-
tung führt dazu, dass die Enden der nukleosomalen DNA (die üblicherweise an H2A-H2B-Histone gebunden sind) bevorzugt freigesetzt werden und
damit den Zugang zu DNA-Schäden erleichtern. Die Bindung der Verbindungs-DNA an die Histone führt zur Bildung einer Ausbuchtung; die Ausbreitung
der Ausbuchtung bewirkt eine veränderte Nukleosomenposition. (ii) Über- oder Unterspiralisierung führt zu einer veränderten Einstellung der Rotation.
Die Ausbreitung des Spiralisierungsdefekts bewirkt eine veränderte Nukleosomenposition. (iii) Nukleosomen können dissoziieren und sich neu zusammen-
fügen. Dabei sind die Histone H2A und H2B schwächer gebunden und werden bevorzugt freigesetzt. Der erneute Zusammenbau an einer anderen Stelle
führt zu einer veränderten Nukleosomenposition. Die Gleichgewichte werden durch die Eigenschaften der Nukleosomen eingestellt (DNA-Sequenz,
Histon-Zusammensetzung und ihrer Modifikationen) und können durch DNA-Schäden beeinflusst werden. b Photolyase erkennt DNA-Schäden bevorzugt
in Verbindungsregionen oder in teilweise entfalteten bzw. unterbrochenen Nukleosomen und entfernt die Pyrimidin-Dimere mithilfe von Lichtenergie.
c In Hefe benötigt NER eine Reihe verschiedener Cofaktoren sowie einen freien Bereich von ca. 100 bp. Der reparierte Strang (rot) ist empfindlich gegenüber
Nukleasen und wird durch Nukleosomen-Rearrangements erneut in das Nukleosom eingebaut. Blau: Histone; grau: DNA; rote Balken: reparierte Bereiche;
rote Kreise: DNA-Schaden; grün: Protein, das den DNA-Schaden erkennt. (Nach Thoma 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
10.6 · Reparaturmechanismen
441 10
. Abb. 10.41 Reparatur der DNA durch Basen-Exzisionsreparatur (BER).
DNA-Schaden Nach einem DNA-Schaden katalysieren spezifische Glykosylasen die Entfer-
nung der beschädigten Base, wodurch eine abasische Stelle entsteht. Die
APEX1-Endonuklease öffnet dann den jeweiligen DNA-Strang direkt ober-
halb der abasischen Stelle. Im linken, etwas kürzeren Reparaturweg ersetzt
die Polymerase β (POLB) die abasische Stelle und füllt die Lücke dadurch
wieder auf; eine Ligase (LIG3) katalysiert die Wiederherstellung der Phos-
phodiesterbindung und schließt damit die Reparatur ab. Die Abbildung
zeigt im oberen Teil die Vielzahl der Glykosylasen und Endonukleasen, die
an der Schadenserkennung beteiligt sein können: OGG1: 8-Oxoguanin-
DNA-Glykosylase, NTHL1: ähnlich wie NTH-Endonuklease III; NEIL: ähnlich
wie NEI-Endonuklease VIII; MUTYH: homolog zu MutY; MPG: N-Methylpurin-
DNA-Glykosylase; SMUG1: monofunktionale Uracil-DNA-Glykosylase; TDG:
Thymin-DNA-Glykosylase; MBD4: Protein, das eine Methyl-CpG-bindende
Domäne enthält. Am rechten, etwas längeren Reparaturweg ist außer der
Polymerase β auch die Polymerase δ (POLD) beteiligt sowie die Flap-Struk-
tur-spezifische Endonuklease-1 (FEN1). Neben FEN1 sind einige Koopera-
tionspartner genannt: PCNA: nukleares Antigen proliferierender Zellen;
RPA: Replikationsprotein A; RFC: Replikationsfaktor C; WRN: Werner-Syndrom-
Protein; EP300: E1A-bindendes Protein (auch p300); BLM: Bloom-Syndrom-
Protein. (Nach Robertson et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung von
Springer)

wird durch Glykosylasen mit jeweils unterschiedlichen Eigen- Wasserstoffbrücke zu dem zusätzlichen Sauerstoffatom. Au-
schaften kontrolliert. ßerdem verfügt das Enzym über zwei »Taschen« – eine spezi-
fisch für oxoG und eine für das »normale« G. Andererseits
*Eine faszinierende Eigenschaft von DNA-Reparaturenzymen
ist es, aus einem Meer von Basen die wenigen herauszufinden,
braucht die Glykosylase auch den Kontakt zu dem »richtigen«
C im Gegenstrang. Eine Reparatur erfolgt also nur im üblichen
die modifiziert sind und somit in der nächsten Replikations- Basenpaar-Kontext und nach der Bindung in der oxoG-spezifi-
runde zu einer »falschen« Basenpaarung führen. Banerjee schen Tasche. Die Wasserstoffbrückenbindung zum Sauerstoff
und Mitarbeiter (2005) haben dazu am Beispiel des Enzyms ist offensichtlich notwendig, um in einem Zwischenschritt
8-Oxoguanin-Glykosylase einen interessanten Mechanismus eine erneute Kontrolle zu ermöglichen und so den Ausbau ei-
vorgeschlagen: Dieses Enzym erkennt eine oxidierte Form des ner »richtigen« Base zu verhindern.
Guanins (oxoG), die ein zusätzliches Sauerstoffatom trägt
(wenn diese Base nicht entfernt wird, führt das in der nächs- > Die Exzisionsreparatur verläuft ohne Lichteinwirkung durch
ten Replikationsrunde zum Einbau eines »T« im neu syntheti- endonukleolytische Einzelstrangschnitte neben dem Scha-
sierten Gegenstrang). Offensichtlich besteht die Erkennung den und durch die Entfernung der defekten Nukleotide, die
von oxoG durch das Reparaturenzym in der Ausbildung einer dann durch DNA-Polymerasen neu eingefügt werden.
442 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

10.6.3 Fehlpaarungsreparatur C Mutator-Proteine werden durch Gene codiert, die zunächst


dadurch charakterisiert waren, dass Mutationen in diesen Genen
Eine hochkonservierte Reparaturvariante ist die Fehlpaarungs- die Mutationsrate in den betroffenen Organismen insgesamt
reparatur (engl. mismatch repair; MMR): Sie erkennt falsch ge- erhöht haben. In E. coli wurde zuerst erkannt, dass die Gene
paarte Basen oder kleine DNA-Schlaufen, die durch Fehler der MutS, MutL und MutH ein Reparatursystem aufbauen, sodass bei
DNA-Polymerase während der Replikation entstehen. Wichtig einer Störung der entsprechenden Komponenten Fehler in der
ist dafür in einem ersten Schritt die Unterscheidung zwischen DNA nicht mehr korrigiert werden. Später wurden aufgrund der
dem Elternstrang und dem neu synthetisierten Strang. In E. coli Sequenzähnlichkeiten homologe Gene u. a. in Hefen, Mäusen
ist zunächst nur der Elternstrang methyliert, der neu syntheti- und Menschen beschrieben. Mutationen in menschlichen Muta-
sierte Strang aber noch nicht. Durch eine Reihe verwandter tor-Genen führen zu frühen Krebserkrankungen (vor allem
Mutator-Proteine (MutS, MutL, MutH) sowie Exonukleasen, Dickdarm, Eierstöcke und Gebärmutterschleimhaut).
Helikasen, DNA-Polymerase III (oder Polymerase δ bei Eukaryo-
ten), Einzelstrang-bindende Proteine (SSB) und Ligasen wird die In E. coli wird die Fehlpaarungsreparatur durch die Bindung
fehlerhafte Stelle erkannt und repariert. von MutS an eine Fehlpaarungsstelle initiiert. MutS tritt dabei

a MutSα/MutLα EXO1 EXO1 PCNA . Abb. 10.42 Schematische Darstellung der


G G Pol-δ A Schlüsselschritte in der Fehlpaarungsreparatur. In
T PCNA T T T
5´ 5´ 5´ zellfreien Systemen benötigt der zirkuläre DNA-
(i) (ii) (iii) Strang einen Einzelstrangbruch zusätzlich zu der
Fehlpaarung; dieser Bruch simuliert den neu syn-
thetisierten Strang in der Replikation. Ist der Ein-
zelstrangbruch im äußeren Strang auf der 5’- oder
10 3’-Seite der Fehlpaarung, erfolgt die Reparatur wie
dargestellt entsprechend von G/T zu A/T (a, b);
b MutSα/MutLα
G PCNA 5´ A
wäre der Bruch dagegen im inneren Strang, würde
EXO1 T Pol-δ T T die Reparatur von G/T nach G/C erfolgen. Nach
PCNA der Bindung von MutSα und MutLα an die Fehl-
(ii) (iii)
paarungsstelle tritt dieser Komplex mit der
Gleitklammer PCNA und der Exonuklease EXO1
in Wechselwirkung; es wird die neu syntheti-
sierte DNA um die Fehlpaarungsstelle herum ab-
gebaut; durch die Polymerase δ zusammen mit
c der Ringklammer wird die Lücke wieder aufgefüllt.
PCNA-Ladestelle c Die Gleitklammer PCNA und der MutSα/MutLα-
Komplex binden in gerichteter Weise aneinander;
3´ 5´
5´ 3´ daher ergibt sich eine vorgegebene Orientierung
für die Bewegung an der DNA entlang. Da die
PMS2-Untereinheit von MutLα immer nur einen
Typ der Phosphodiesterbindung schneiden kann,
d wird immer derselbe DNA-Strang geschnitten
(hier der rote). d Wenn das Ende des wachsenden
5´ G DNA-Strangs auf der 3’-Seite des falsch einge-
T
3´ 5´ bauten Nukleotids liegt (hier im Leitstrang, der
durch die Polymerase ε synthetisiert wird), muss
MutLα zusätzliche Brüche auf der 5’-Seite ein-
fügen. Die Gleitklammer kann sich in dieser Situa-
5´ tion in beide Richtungen bewegen (grüner Pfeil);
e MutSα/MutLα PCNA auf der 3’-Seite jedoch nicht über das Ende des
G Pol-δ T FEN1, A Leitstrangs hinaus. e Wenn sich der Einzelstrang-
5´ T
DNA-Ligase T
PCNA bruch auf der 5’-Seite der Fehlpaarungsstelle
befindet, kann die Reparatur einfach durch die
MutSα-aktivierte Strangverdrängungsaktivität
der Polymerase δ erfolgen; der 5’-Überhang wird
durch die FEN1-Endonuklease entfernt und der
Einzelstrangbruch durch die DNA-Ligase I ver-
schlossen. f Wenn sich zwischen der Ringklammer
und dem MutSα/MutLα-Komplex eine größere
f Schlaufe befindet, ist die Kommunikation behin-
dert und es muss ein anderer Weg zur Reparatur
5´ 3´ gewählt werden. RFC: Replikationsfaktor C. (Nach
3´ 5´ Peña-Diaz et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)
10.6 · Reparaturmechanismen
443 10
mit der Gleitklammer in Wechselwirkung, die zum Voran- 10.6.4 Homologe Rekombinationsreparatur
schreiten der DNA-Replikation benötigt wird (7 Abschn. 2.2.2);
dabei muss der neu synthetisierte Strang erkannt und vom In der homologen Rekombinationsreparatur (HRR) veranlasst
elterlichen Strang unterschieden werden. MutS aktiviert dann RecA in Verbindung mit einer Reihe weiterer Proteine (. Tab.
zusammen mit MutL die verborgene Endonuklease-Aktivität 10.8) die Auflösung der angehaltenen Replikationsgabel: Kommt
von MutH. MutH gehört zur Familie der Typ-II-Restriktions- der Replikationskomplex an eine schadhafte DNA-Stelle, löst er
enzyme und schneidet den neuen Strang an einer noch hemi- sich und überspringt den Schaden, um an anderer Stelle fortzu-
methylierten GATC-Stelle innerhalb von ungefähr 1 kb von fahren. Es entsteht eine Replikationslücke im Tochterstrang, die
der Fehlerstelle entfernt (beachte: In E. coli ist nach der Re- über 800 Basen umfassen kann. Bei der »rekombinatorischen
plikation zunächst nur der Elternstrang methyliert, der neu Reparatur« bindet das RecA-Protein an die Einzelstrang-DNA-
synthetisierte Strang aber noch nicht; die Dam-Methylase Enden links und rechts der Replikationslücke und sucht die
[DNA-Adenin-Methylase] methyliert das Adenin der Sequenz Schwesterchromatide oder das homologe Chromosom nach ho-
5ಿ-GATC-3ಿ in neu synthetisierter DNA). Der durch die Endo- mologen Sequenzen ab. Ist eine solche Stelle gefunden, dringt
nuklease entstandene Einzelstrangbruch kann entweder ober- der Komplex in die Doppelhelix ein, verdrängt den homologen
halb oder unterhalb der Fehlpaarungsstelle sein und ist die und bindet den komplementären Strang. Dieser dient dann als
Eintrittsstelle für die MutL-abhängige DNA-Helikase II und Matrize zum Auffüllen der Replikationslücke. Der verdrängte
die Bindung von Einzelstrang-bindenden Proteinen. Die so Strang paart sich mit dem Strang, der den DNA-Schaden auf-
entstandene einzelsträngige DNA wird durch Exonukleasen weist. Durch Endonuklease-Schnitte und anschließende Liga-
abgebaut. Dadurch wird auch die Fehlpaarung entfernt und tion bilden sich letztendlich wieder zwei komplette Doppel-
die präzise DNA-Polymerase III kann den Strang korrekt helices aus (. Abb. 10.43). Zu beachten ist, dass der ursprüng-
neu synthetisieren. Eine DNA-Ligase verschließt den ver- liche DNA-Schaden bei dieser Reparatur nicht behoben wird,
bleibenden Einzelstrangbruch und beendet die Fehlpaarungs- sondern nur die Lücke im Tochterstrang. In Hefen und höheren
reparatur.
Die eukaryotische Fehlpaarungsreparatur läuft im Prinzip
ähnlich ab; die Proteine, die an dem Prozess beteiligt sind,
können in Abhängigkeit von der Schadensart etwas variieren.
Ähnlich wie bei Bakterien beginnt die Reaktionskette, wenn
eines der beiden MutS-Homologe an die Fehlpaarungsstelle
bindet. Wir kennen im Wesentlichen zwei Homologe, die als
MutSα und MutSβ bezeichnet werden und jeweils aus zwei
Untereinheiten bestehen, MSH2-MSH6 bzw. MSH2-MSH3.
Dabei ist MutSα offensichtlich überwiegend für die Reparatur
von Ein-Basen-Fehlpaarungen bzw. Insertionen/Deletionen
verantwortlich, wohingegen MutSβ eher Insertionen/Deletio-
nen bis zu 16 bp erkennt. MutSα bzw. MutSβ treten dann mit der
eukaryotischen Gleitklammer PCNA (7 Abschn. 2.2.3) in Wech-
selwirkung sowie mit dem homologen Protein zu MutL – auch
hier gibt es bei Eukaryoten verschiedene Heterodimere (MutLα
und MutLβ, die aus jeweils zwei Untereinheiten bestehen,
MLH1-PMS2 bzw. MLH1-PMS1). Das eukaryotische MutLα-
Protein verfügt auch über eine Endonuklease-Aktivität, um
einen Einzelstrangschnitt in der Umgebung der Fehlpaarungs-
stelle zu setzen; damit erklärt sich auch das Fehlen eines MutH-
Homologen bei Eukaryoten. Zusammen mit der Exonuklease
EXO1 kann dann der fehlerhafte Strang um die Fehlpaarungs-
stelle herum abgebaut werden (bis zu ~ 150 bp unterhalb der
Fehlpaarungsstelle); an der Neusynthese sind die Gleitklammer
PCNA, die DNA-Polymerase δ und die DNA-Ligase I beteiligt.
Eine Übersicht über verschiedene Schritte der Fehlpaarungs- . Abb. 10.43 Die Reparatur von Doppelstrangbrüchen über homologe
Rekombination. In der Initiationsphase nach einem Doppelstrangbruch
reparatur bei Säugern zeigt . Abb. 10.42. werden die einzelnen Stränge jeweils über einen kurzen Bereich in 5’ൺ3’-
Richtung abgebaut. Die freien 3’-Enden werden benutzt, um in den
> Die Fehlpaarungsreparatur ist ein hochkonservierter Doppelstrang-Bereich der homologen DNA einzuwandern (die dicken und
Mechanismus. Nach dem Erkennen der Fehlpaarung wäh- dünnen Linien erlauben die Unterscheidung der beiden Chromosomen).
rend der DNA-Replikation wird der Bereich um die Fehl- Die Holliday-Struktur wird mithilfe der Rekombinationsenzyme RecA,
RuvAB, RuvC und Ligasen aufgelöst. Die RecFOR-Proteine sind bei der
paarungsstelle im neu synthetisierten Strang abgebaut
Herstellung aktiver RecA-Nukleoproteinfilamente zum Neustart der DNA-
und erneut neu synthesiert; der verbleibende Einzelstrang- Replikation wichtig; SSB: Einzelstrang-bindende Proteine. (Nach McGrew
bruch wird durch eine Ligase geschlossen. und Knight 2003, mit freundlicher Genehmigung von Informa)
444 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

. Tab. 10.8 Beteiligte Enzyme bei der Reparatur über homologe Rekombination

Bakteriophage T4 E. coli Eukaryoten

Rekombinase UvsX RecA Rad51/Rad54, Dmc1

Einzelstrang-Bindungsprotein Gen 32 SSB RPA

RMP UvsY RecOR, RecBCD Rad52, Rad55/Rad57

Helikase an der Replikationsgabel UvsW RecG, RuvAB

Abbau der Enden (5’ൺ3’-Exonuklease) gp46/gp47 SbcCD, RecBCD Rad50, Mre11, Xrs2/Nbs1

Auflösung der Holliday-Strukturen Endonuklease VII RuvC/Rus

Replikations-Neustart-RMP gp59 PriA, Restart-Primosom

Replikative Helikase gp41 DnaB

DNA-Polymerase T4-Polymerase DNA-Polymerasen II/III DNA-Polymerasen α, δ, ε, RFC, PCNA etc.

RMP: an der Replikation beteiligte Proteine (engl. replication-mediated proteins). Nach Cox (2002)

Eukaryoten ist dieses System in ähnlicher Form ebenfalls vor- mus (durch die Störung des NHEJ-Prozesses), sondern auch zu
handen (. Tab. 10.8). einer schweren Immundefizienz.
10 > Die Reparatur von Doppelstrangbrüchen über homologe > Die Reparatur von Doppelstrangbrüchen über eine nicht-
Rekombination ist eine sehr genaue Reparatur, da sie an- homologe Verbindung von DNA-Enden ist relativ unge-
hand einer intakten Matrize erfolgt. nau, da dieser Prozess unabhängig von einer Matrize er-
folgt.

10.6.5 Nicht-homologe Verbindung


von DNA-Enden

Die Reparatur über die nicht-homologe Verbindung von DNA-


Enden (engl. non-homologous end joining, NHEJ) ist eine Mög-
lichkeit, Doppelstrangbrüche in der DNA nach Bestrahlung mit
UV-Licht oder mit ionisierenden Strahlen oder nach extremen
Schädigungen durch alkylierende Agenzien zu reparieren. Im
Gegensatz zu den meisten oben besprochenen Reparaturmecha-
nismen ist die NHEJ relativ ungenau. Die freien DNA-Enden
werden von dem heterodimeren Proteinkomplex Ku70/Ku80
erkannt. Hierbei handelt es sich um zwei Proteine mit einem
Molekulargewicht von 70 bzw. 80 kDa; die Proteine werden (bei
Menschen) von den Genen XRCC6 (Ku70) bzw. XRCC5 (Ku80;
engl. X-ray repair complementing defective repair in Chinese
hamster cells, XRCC) codiert. Weitere Proteine treten dann hinzu
(. Abb. 10.44), und es erfolgt eine Verknüpfung der freien DNA-
. Abb. 10.44 Nicht-homologe Verbindung von DNA-Enden. Nach einem
Enden, ohne dass eine Matrize die richtige Form der Verknüp- Doppelstrangbruch der DNA bindet der heterodimere Komplex aus Ku70
fung vorgibt. Diese Art der DNA-Reparatur hat in den vergange- und Ku80 (grün) an die Bruchstelle und führt die katalytische Untereinheit
nen Jahren eine besondere Bedeutung erlangt, weil sie sehr der DNA-abhängigen Proteinkinase (DNA-PKcs; blau) an den Komplex
effizient genutzt werden kann, um über Zinkfinger-Nukleasen heran. Durch Phosphorylierung wird die Endonuklease Artemis aktiviert
(orange) und spaltet die DNA-Enden so versetzt, dass überhängende Enden
spezifische Punktmutationen in einen Wirbeltierorganismus
entstehen. Durch einen Komplex aus DNA-Polymerasen, Ligase IV (LIG4),
einzuführen (7 Abschn. 10.7.2). XRCC4 und XLF (engl. XRCC4-like factor) wird der Doppelstrangbruch ge-
Eines der zentralen Proteine ist die Endonuklease Artemis schlossen. (Nach Iyama und Wilson 2013, mit freundlicher Genehmigung
(humanes Gensymbol: DCLRE1C; engl. DNA cross-link repair von Elsevier)
1C). Neben seiner Rolle im NHEJ-Prozess ist es auch für die
V(D)J Rekombination (7 Abschn. 9.4.2) von besonderer Bedeu-
tung. Mutationen in diesem Gen führen deshalb nicht nur zu
einer höheren Strahlenempfindlichkeit des jeweiligen Organis-
10.6 · Reparaturmechanismen
445 10
10.6.6 SOS-Rekombinationsreparatur
. Tab. 10.9 Die UmuC/DinB-Superfamilie von DNA-Polymerasen
oder postreplikative Reparatur
Name Alternative Bezeichnung Organismus
Die bisher besprochenen Mechanismen der Reparatur führen in
der Regel zu einer vollständigen Reparatur von Dimeren und Pol V UmuD’2C/UmuC Bakterien
auch von anderen Defekten. Wenn diese Systeme aber ausgelastet Pol IV DinB Bakterien
oder nicht in der Lage sind, den Schaden zu reparieren, könnte
Pol η Rad30 Hefe
das den Tod der Zelle zur Folge haben. Um den Zelltod zu ver-
meiden, verfügen alle Zellen über Mechanismen, Schäden zu- XP-V Pol η/Rad30A Mensch
nächst in einem gewissen Umfang zu tolerieren. Pol ι Rad30B Mensch, Maus

C Wenn UV-induzierte DNA-Schäden nicht durch NER repa- Pol κ DinB1 Mensch, Maus
riert werden können, treten zunächst Einzelstrangbrüche Rev1 Desoxycytidyl-Transferase Hefe, Mensch
auf. Diese können beobachtet werden, wenn genomische
Pol ζ a Rev3–Rev7 Hefe
DNA im alkalischen Sucrosegradienten aufgetrennt wird.
Werden die Zellen allerdings etwas länger inkubiert, »ver- aDiePol ζ gehört nicht direkt zur UmuC/DinB-Superfamilie; sie spielt
wandelt« sich die fagmentierte genomische DNA in eine aber eine wichtige Rolle in der TLS bei Hefen und Menschen und
hochmolekulare Form, wie wir sie in der unbestrahlten Kon- wurde deshalb in die Tabelle aufgenommen. Nach Sutton et al. (2000)
trolle finden. Dieser Prozess wird als postreplikative Repa-
ratur (PPR) bezeichnet. Die niedermolekulare DNA, die im
alkalischen Sucrosegradienten entdeckt wurde, entsteht
DNA-Polymerase V), die jedoch alleine nur sehr geringe Polyme-
durch angehaltene Replikationsgabeln, sodass Einzelstrang-
rase-Aktivität besitzt. Erst in Kombination mit UmuD’, RecA und
lücken entstehen. Die Schäden, die für das Anhalten der
SSB erlangt diese Polymerase ihre volle Aktivität, die 10- bis 100-
Replikation verantwortlich sind, werden dabei nicht besei-
fach höher ist als die der E. coli-DNA-Polymerasen I, II oder III
tigt, selbst wenn die Lücken aufgefüllt werden. Wenn sie
(Holoenzym). Allerdings verfügen die UmuC/UmuD’-Komplexe
aber durch einen Exzisionsmechanismus erkannt werden,
über keine 3’→5’-proofreading-Exonuklease-Aktivität.
können sie vor der nächsten Replikationsrunde »richtig«
Neben dieser eigenen Polymerase-Aktivität üben UmuC und
repariert werden.
UmuD auch eine Kontrollfunktion auf die DNA-Polymerase III
In E. coli ist dieses System Teil des SOS-Regulons und wird als von E. coli aus, die dazu führt, dass die Replikationsgeschwindig-
Antwort auf Einzelstrangschäden in der DNA induziert. Dabei keit des normalen Replikationsenzyms im Falle von DNA-Defek-
werden die Fehler allerdings oft nicht richtig korrigiert, sondern ten vermindert wird. Die Gene des umuDC-Operons nehmen
führen im Gegenteil zu zusätzlichen Fehlern in der DNA. Die damit zugleich eine Kontrollfunktion (engl. checkpoint) für
Funktion dieser sogenannten »SOS-Reparatursysteme« beruht DNA-Schäden wahr. Vergleichbare Gene für DNA-Polymerasen
im Prinzip auf einer Reduktion der Genauigkeit der Replikation. hat man auch bei Hefen (REV1, REV3, REV7) und beim Men-
Es gibt in E. coli zwei SOS-abhängige Systeme, die DNA-Schäden schen gefunden.
tolerieren können: Das eine System wird als »Transläsionssyn- Die Sequenzierung des menschlichen Genoms und vieler
these« bezeichnet (engl. translesion synthesis, TLS); den zweiten Modellorganismen führte in jüngerer Zeit zur Entdeckung vieler
Mechanismus haben wir schon als homologe Rekombinations- konservierter prokaryotischer und eukaryotischer Gene, die or-
reparatur kennengelernt (7 Abschn. 10.6.4). In beiden Mechanis- tholog oder paralog zu den E. coli-Genen dinB, umuC und umuD
men nimmt das RecA-Protein eine Schlüsselstellung ein: Bei der sind. Die zugehörigen Proteine gehören zu einer ausgedehnten
TLS aktiviert es über seine Protease-Aktivität die entsprechen- Superfamilie der Y-DNA-Polymerasen . Tab. 10.9), die sich
den Enzymsysteme. von den bisher bekannten Polymerasen in vier Punkten unter-
Der Protease-Aktivität von RecA sind wir bereits bei der UV- scheiden:
Induktion des lytischen Zyklus des Bakteriophagen λ begegnet. 4 Sie haben eine 2- bis 4-fach höhere Fehlerrate, wenn sie an
Diese Protease-Funktion wird durch UV-Bestrahlung aktiviert unbeschädigter DNA arbeiten.
(7 Abschn. 4.6.2). Normalerweise wird das SOS-Reparatursystem 4 Sie haben keine 3’→5’-proofreading-Exonuklease-Aktivität.
durch das LexA-Protein, ein Produkt des lexA-Gens, reprimiert. 4 Ihre Aktivität ist auf wenige Basen beschränkt.
Wird das LexA-Protein jedoch durch die Aktivität der RecA- 4 Sie unterstützen einen Prozess, der die Verlängerung eines
Protease, die nur auf bestimmte Proteine proteolytisch wirkt und DNA-Strangs über eine Schadensstelle hinaus ermöglicht.
nur durch Störungen in der DNA-Replikation induziert wird,
abgebaut, kommt es zur Induktion des TLS-SOS-Reparatursys- > Das induzierbare SOS-Reparatursystem mit Transläsions-
tems. Dieses System schließt die Funktion der Gene umuC, synthese ist bei E. coli eine physiologische Antwort auf
umuD und dinB ein. Nach der Induktion des SOS-Reparatur- DNA-Schäden, wenn sie nicht vor der Replikation repariert
mechanismus wird das UmuD-Protein synthetisiert; durch die wurden. Im Mittelpunkt steht dabei die UmuDC-Polymera-
Wirkung des RecA-Proteins werden die 24 N-terminalen Amino- sen-Aktivität. Durch ausgedehnte Speziesvergleiche ist
säuren abgespalten (das verkürzte Protein wird als UmuD’ be- bekannt, dass dieses System in vielen Organismen vor-
zeichnet). Das UmuC-Protein ist eine DNA-Polymerase (E. coli- kommt.
446 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

10.7 Ortsspezifische Mutationen

Im Gegensatz zu den zufälligen und ungerichteten Mutations-


ereignissen, die wir bisher in diesem Kapitel besprochen hatten,
verfügt die moderne Genetik über verschiedene Möglichkeiten,
gezielt in das Erbgut von Modellorganismen einzugreifen. Diese Ti-Plasmid
gentechnisch veränderten Organismen werden auch als »trans- ohne T-DNA
gen« bezeichnet. Im Folgenden sollen die Herstellung transgener vir
Pflanzen und Tiere besprochen und mögliche Entwicklungs-
trends aufgezeigt werden.

10.7.1 Gentechnische Modifikationen


von Pflanzen
A.t. ori
In der pflanzlichen Gentechnik gibt es drei etablierte Methoden,
DNA zu übertragen: durch Vektoren auf der Basis von Agrobac-
terium tumefaciens, die biolistische Transformation und die Pro-
toplastentransformation. Wir wollen die verschiedenen Metho- LB T2 Gen P2 T1 SMG P1 RB
den im Folgenden kurz skizzieren.
Als Überträger der DNA wird häufig das Bodenbakterium
Agrobacterium tumefaciens (7 Abschn. 4.2.2) verwendet, das
10 bei Pflanzen Tumoren verursacht. Dieses Bakterium besitzt ein mod. T-DNA
Ti-Plasmid, auf dem die Tumor-induzierenden Eigenschaften
codiert werden (. Abb. 4.11). Ein kleiner Teil des Ti-Plasmids LB RB
kann von Agrobacterium in zweikeimblättrige Pflanzen über-
tragen werden. Die ersten Arbeiten zur Übertragung einer frem- E. coli-
A.t. ori E.c. ori
den DNA (hier: Transposons Tn5 und Tn7) durch A. tumefaciens Plasmid mit
wurden Ende der 1970er-Jahre durch Jozef S. Schell und Eugene T-DNA
W. Nester publiziert (Holsters et al. 1978, Garfinkel und Nester
1980), und schon wenige Jahre später wurden in grundlegenden
Arbeiten von mehreren Forschergruppen Resistenzen gegen
kan R
Antibiotika übertragen. Dabei wurde das Ti-Plasmid soweit
modifiziert, dass es seine Tumor-induzierende Wirkung ver- . Abb. 10.45 Schematische Darstellung eines binären Vektorsystems
loren hat. Seither wurde eine stetig wachsende Zahl von Pflan- für die Transformation mittels A. tumefaciens. Das größere Plasmid (oben)
zen nahezu aller systematischen Gruppen erfolgreich trans- besteht aus dem Ti-Plasmid mit der Virulenzregion (vir), aber ohne T-DNA.
Das kleinere Plasmid (unten) kann in E. coli kloniert werden und enthält
formiert.
die modifizierte T-DNA: Aus der T-DNA wurden die Gene für die Tumor-
Das Ti-Plasmid selbst ist über 200 kb groß und daher für Klo- induktion und Nährstoffsynthese (Nopalinsynthese) entfernt. Die T-DNA
nierungsarbeiten schwierig zu handhaben. Heute werden daher trägt ein Markergen für die Selektion in Pflanzenzellen (SMG: kleines
binäre Vektorsysteme verwendet, bei denen die Funktionen des G-Protein, engl. small G-protein) und weitere Gene (»Gen«) können ein-
Ti-Plasmids auf zwei Plasmide verteilt sind. Dabei trägt das »gro- gefügt werden. A. t. ori: Replikationsursprung für die Vermehrung in
A. tumefaciens; E. c. ori: Replikationsursprung für die Vermehrung in E. coli;
ße« die Region, die für die Virulenz und damit die Übertragung
kanR: Kanamycin-Resistenzgen für die Selektion; LB: linke Grenze;
der DNA in die Pflanzenzelle verantwortlich ist (Komplemen- RB: rechte Grenze; P1, P2: Promotoren; T1, T2: Terminatoren. (Nach Kempken
tationsgruppen virA bis virG). Das kleinere Plasmid enthält die und Kempken 2004, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
Signalsequenzen, die zum Ausschneiden der später zu übetra-
genden DNA benötigt werden, und kann dazwischen Markerge-
ne zur Selektion und weitere erwünschte Gene enthalten. Dieses riert. Nach 2 bis 6 Wochen bilden sich Spross und Kallus; wenn
Plasmid kann in E. coli-Zellen vermehrt werden, sodass alle not- dann Blattstücke auf Medium ohne Phytohormone inkubiert
wendigen Klonierungsarbeiten leicht durchführbar sind. Erst werden, bilden sich nach weiteren 3 bis 6 Wochen Wurzeln, und
das fertige Plasmid muss dann in A. tumefaciens-Zellen übertra- es ensteht eine regenerierte transgene Pflanze.
gen werden, die bereits das größere Plasmid tragen. Einen sche- Zur genetischen Veränderung stehen noch weitere Metho-
matischen Überblick dazu gibt . Abb. 10.45. Die Transformation den zur Verfügung: 1985 wurde von Michael Fromm und seinen
selbst erfolgt dann an geeigneten Teilen der Pflanze (z. B. Blatt- Kollegen die Transformation von Maisprotoplasten beschrieben.
stücken) oder auch an der ganzen Pflanze (z. B. Arabidopsis). Dabei wird die Zellwand durch Pektinasen (Abbau des Pektins)
Nach einer geeigneten Inkubationszeit mit den Agrobakterien und Zellulasen (Abbau der Zellulose) abgebaut. Dadurch entste-
werden diese mit Antibiotika abgetötet, die transformierten hen zellwandlose Protoplasten, die zur Stabilisierung in einem
Pflanzenzellen selektioniert und mit Phytohormonen regene- isoosmotischen Medium gehalten werden müssen. Für die
10.7 · Ortsspezifische Mutationen
447 10

gesamt 27 Staaten mit biotechno-


Industrieländer logischen Anbauflächen

Entwicklungsländer

. Abb. 10.46 Zunahme globaler Anbauflächen biotechnologischer Kulturpflanzen von 1996 bis 2012. (Nach James 2013, mit freundlicher Genehmigung
des International Service for the Acquisition of Agri-biotech Applications, ISAAA)

Transformation in Protoplasten können einfache E. coli-Vekto- tion) zu untersuchen. Mithilfe zufälliger Insertions-Mutage-
ren verwendet werden, die über ein Resistenzgen sowie einen nese durch Transposons wurden über 225.000 unabhängige
pflanzenspezifischen Promotor und Terminator verfügen, zwi- Linien bei Arabidopsis etabliert. Diese Technik erlaubt nicht
schen die das gewünschte Gen kloniert werden kann. Die eigent- nur die Identifikation von Null-Mutanten (engl. knockout
liche Transformation der DNA erfolgt über Polyethylenglykol mutants), sondern auch die Charakterisierung von Promoto-
oder elektrische Depolarisierung (Elektroporation). Dieser Weg ren und Enhancern (Alonso et al. 2003).
escheint zwar zunächst einfacher, allerdings ist die Regeneration
zur intakten Pflanze häufig schwierig, sodass die Anwendung Das Anwendungsspektrum transgener Pflanzen ist breit: So gibt
dieser Methode eingeschränkt ist. es Bemühungen, die Erträge einzelner Pflanzen zu steigern, die
Seit 1987 wird außerdem die biolistische Transformation Pflanzen resistent gegen Schädlinge zu machen oder gegen Un-
verwendet, bei der pflanzliche Zellen mit Gold- oder Wolfram- krautvernichtungsmittel, um so die Unkrautbekämpfung zu er-
partikeln beschossen werden, die DNA-beschichtet sind. Mit leichtern. 1985 wurden erstmals transgene Pflanzen beschrieben,
dieser Methode gelang die Transformation wichtiger einkeim- denen Resistenzen gegen ein Herbizid verliehen worden waren.
blättriger Pflanzen (Reis: 1988, Mais: 1990, Weizen: 1992). Als Mit der Generierung insektenresistenter Tabak- und Tomaten-
Vektor wird ebenso wie bei der Protoplastentransformation ein pflanzen wurde 1987 ein weiterer wichtiger Schritt in der pflanz-
einfaches E. coli-Plasmid vewendet. Obwohl durch diese Metho- lichen Gentechnik gemacht. Ein anderes bedeutendes Ereignis
de wichtige Erfolge erzielt wurden, ist die Effizienz der Methode war 1988 die Kontrolle der Fruchtreife bei Tomaten, die ab 1994
relativ gering. Für eine ausführliche und vergleichende Darstel- als erstes gentechnisch verändertes Nahrungsmittel kommerziell
lung der verschiedenen Argumente für und gegen dieses Trans- erhältlich war; diese Tomate konnte sich aber am Markt nicht
formationssystem sei auf die Übersicht von Taylor und Fauquet durchsetzen.
(2002) verwiesen. Pflanzen können auch zur gezielten Herstellung von Biopro-
dukten verwendet werden. Dazu können nicht nur die Kohlen-
> Zur Herstellung transgener Pflanzen sind vor allem drei hydrat- oder Fettsäurenzusammensetzungen geändert werden
Transformationssysteme etabliert: Vektoren auf der Basis (z. B. Raps als »Biodiesel«). Es wurde auch bei der Tollkirsche die
von Agrobacterium tumefaciens, die Protoplastentransfor- Alkaloidzusammensetzung verändert (1992), sodass Pflanzen
mation und die biolistische Transformation. auch für die Gewinnung von Arzneimitteln herangezogen werden

*Nachdem
können. Weitere Überlegungen sind, Pflanzen mit ganz neuen
auch bei der Pflanze die großen spektakulären Se- Eigenschaften als Bioreaktoren zur Herstellung nachwachsender
quenzierungsprogramme ganzer Genome weitgehend ab- Rohstoffe zu verwenden, nachdem bereits 1992 Pflanzen vorge-
geschlossen sind, steht die funktionelle Aufklärung der Gen- stellt wurden, die bioabbaubaren Kunststoff synthetisieren.
sequenzen im Vordergrund. Dabei ist es wichtig, das gesam- Der kommerzielle Anbau von transgenen Nutzpflanzen in
te Genom mit Mutationen abzudecken (zu »sättigen«; engl. der Landwirtschaft ist seit 1996 kontinuierlich gestiegen, er be-
saturation mutagenesis), um so für alle Gene die Funktion trug weltweit im Jahr 2013 über 175 Mio. Hektar (. Abb. 10.46)
anhand der Funktionsverlust-Mutanten (engl. loss of func- – das sind etwa 11 % der gesamten Ackerfläche weltweit. In der
448 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

. Abb. 10.47 Wirkungsweise des Cry1A-Toxins


in der Larve des Tabakschwärmers. (1) Die Larve
nimmt das Cry1A-Protein mit der Nahrung auf;
aufgrund des hohen pH-Wertes im Mitteldarm
wird das zunächst kristalline Protein löslich.
Durch Proteasen wird das Protein gespalten, so-
dass das toxische Fragment 3D-Cry1A entsteht.
(2) Das monomere 3D-Cry1A bindet an Amino-
peptidasen bzw. alkalische Phosphatasen, die
über Glykosylphosphatidylinositol (GPI) in der
Membran verankert sind. (3) Das monomere
Spore 3D-Cry1A-Toxin bindet an Cadherin, wodurch
pro-toxischer Cry-Kristall weitere Proteasen in der Lage sind, ein N-termi-
aktiviertes Cry-Monomer nales Fragment (α1-Helix der Domäne 1) ab-
α1-Helix des Cry-Toxins zuspalten. (4) Bildung von Oligomeren und
oligomeres Cry Bindung der Oligomere an GPI-verankerte Re-
zeptoren. (5) Einbau der Cry1A-Oligomere in
Cadherin die Membran und Ausbildung einer Pore. (Nach
Bravo et al. 2011, mit freundlicher Genehmi-
GPI-verankerte Rezeptoren gung von Elsevier)
Aminopeptidasen oder
alkalische Phosphatasen
Proteasen

10 Europäischen Union werden transgene Pflanzen vor allem in Schmetterlingsspezies: der Tabakschwärmer (Manduca sexta),
Spanien, Portugal, Rumänien, der Slowakei und der Tschechi- der Seidenspinner (Bombyx mori), der Amerikanischen Tabak-
schen Republik angebaut (James 2013). eule (Heliothis virescens), der Baumwoll-Kapseleule (Helicoverpa
Ein wichtiges Produkt unter den gentechnisch veränderten armigera), des Roten Baumwollkapselwurms (Pectinophora gos-
Nutzpflanzen ist Bt-Mais, der ein Gen des Bakteriums Bacillus sypiella) und des Maiszünslers (Ostrinia nubilalis). Durch Pro-
thuringiensis enthält. Dieses Gen codiert für ein kristallines Pro- teasen des Insekts wird das Cry1Ab-Protein in das eigentlich
tein (Gensymbol cry), das auf Larven einiger Insekten, Schmet- toxische Protein gespalten, das aus drei Domänen besteht (»3D-
terlinge und Zweiflügler als Gift wirkt. Es soll damit einen wirk- Cry-Toxin-Familie«): Die Domäne 1 ist ein Bündel aus sieben
samen Schutz gegen Schädlinge wie den Maiszünsler (Ostrinia α-Helices, die für die Einbettung in die Membran, für die Oligo-
nubilalis) bieten und die Anwendung entsprechender versprüh- merisierung des Toxins und für die Porenbildung verantwortlich
ter Insektizide überflüssig machen. Wir kennen heute eine Viel- ist. Die Domänen 2 und 3 enthalten drei (bzw. zwei) antiparalle-
zahl von cry-Genen, die sich hinsichtlich der Spezifität ihrer to- le β-Faltblätter, die für die Wirtsspezifität verantwortlich sind.
xischen Wirkung unterscheiden: Die cryI-Gene codieren für Durch die Bindung des 3D-Toxins an die Cadherine wird die
Proteine, die auf Schmetterlinge (Lepidoptera) giftig wirken, Bildung von cAMP stimuliert, das dann wiederum die Protein-
cryII-Genprodukte sind für Schmetterlinge und Zweiflügler (Di- kinase A aktiviert, sodass damit der Zelltod herbeigeführt wird.
ptera) giftig, cryIII codiert für Toxine gegen Käfer (Coleoptera) Eine schematische Darstellung der Wirkungsweise des Cry1A-
und cryIV-Genprodukte sind für Zweiflügler giftig. Außer in Toxins zeigt . Abb. 10.47.
gentechnisch verändertem Mais wurden verschiedene cry-Gene Ein Problem beim Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen
auch in Baumwolle, Kartoffeln und Reis eingeführt. Derart ver- ist ihre Interaktion mit der Umwelt. Pollen werden von Wind
änderte Maisarten wurden im Jahr 2013 weltweit auf 56,6 Mio. und Insekten weiterverbreitet, sodass eine vollständige Be-
Hektar Ackerland angebaut (James 2013). In der öffentlichen schränkung auf die Anbaufläche nicht möglich ist. Bei einer Un-
Diskussion ist vor allem die Spezifität der Toxinwirkung umstrit- tersuchung einer transgenen, herbizidresistenten Winterraps-
ten sowie mögliche Resistenzentwicklungen bei den Schädlingen Sorte wurden transgene Pollen trotz eines 8 m breiten Streifens
und die Entwicklung von Allergien beim Verbraucher; eine ak- von nicht-transgenen Rapspflanzen um das betroffene Feld noch
tuelle Übersicht über Bt-Toxine findet sich bei Bravo et al. (2011). im Umkreis von 200 m nachgewiesen; in Einzelfällen sogar bis in
Die Wirtsspezifität eines Bt-Toxins entsteht dabei durch des- einer Entfernung von 4 km. Durch diese Ausbreitung kann es
sen Bindung an Oberflächenproteine in den Mikrovilli des Mit- auch zu Kreuzungen mit verwandten Wildarten kommen und
teldarms der Larven von Schmetterlingen (Lepidoptera), Zwei- dabei auch zu einer Übertragung der Herbizidresistenz, was die
flüglern (Diptera) und Käfern (Coleoptera). Bei diesen Oberflä- Handhabung deutlich erschwert. In Untersuchungen zur Pollen-
chenproteinen handelt es sich im Wesentlichen um Cadherin- verbreitung von transgenen Rapssamen und ihren Auskreuzun-
ähnliche Proteine oder um Aminopeptidasen bzw. alkalische gen wurden überraschend hohe Auskreuzungsraten von 0,26 %
Phosphatasen, die über Glykosylphosphatidylinositol (GPI) in in Sareptasenf gefunden. Die Bastarde entwickelten sich gut,
der Membran verankert sind. In der transgenen Maissorte bildeten aber keine vermehrungsfähigen Samen. Aber auch das
MON810 der Firma Monsanto wird das Cry1Ab-Gen verwendet; Ausfallen von Samen der transgenen Pflanzen selbst bei der
es bindet an die Cadherine der Larven von mindestens sechs Ernte kann zum Überdauern der Pflanzen beitragen. Das Über-
10.7 · Ortsspezifische Mutationen
449 10
dauerungsvermögen ist vom Genotyp der Pflanze und der Art Gen mit Exon/Intron-Struktur
der Bodenbearbeitung abhängig. Diese Fragen werden uns si-
cherlich in den nächsten Jahren weiter beschäftigen, wenn im-
mer mehr transgene Pflanzen kommerziell eingesetzt werden;
eine interessante Zusammenfassung der Bedeutung von Gen-
fluss, Invasivität und die ökologische Bedeutung gentechnisch
veränderter Pflanzen findet sich bei Warwick et al. (2009) sowie
bei Hellmich und Hellmich (2012).

*Mit der weiteren Zunahme der Verwendung von Bt-Mais


gewinnt das Resistenz-Problem zunehmend an Bedeutung. Promotor MCS Transgen pA
Theoretisch kann Resistenz bei jedem der in . Abb. 10.47 a
gezeigten Schritte auftreten. Laborexperimente haben ge-

DNA
zeigt, dass dies auch geschieht. Die Mutationen betreffen
vor allem die Rezeptoren von Cry1A und die Aktivitäten der
beteiligten Proteasen. Je nach Typ der Modifikation sinkt
damit die Empfindlichkeit der Larven gegenüber Cry1A um
bis zum 10.000-fachen. Eine detaillierte Beschreibung dieser Embryonenspender Zygote DNA-Injektion Embryotransfer
verschiedenen Resistenzmöglichkeiten findet sich bei in Vorkern
Pardo-López et al. (2013).

> Der Anbau gentechnisch veränderter Nutzpflanzen steigt X

global deutlich an. Dabei wird es zunehmend wichtiger,


die Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen auf transgene oder nichttransgene Zucht der transgenen Linie
b Nachkommen
den unmittelbaren Bereich der Anwendung zu beschrän-
ken. Andererseits entwickeln die Schädlinge unter dem . Abb. 10.48 Transgene Mäuse. a Bei dem Vektor für die Vorkerninjektion
ist es wichtig, dass neben den codierenden Sequenzen ein Promotor vor-
entsprechenden Selektionsdruck zunehmend Abwehrme-
handen ist. Üblicherweise kloniert man die zu untersuchende Sequenz in
chanismen. einen Bereich, der viele Restriktionsschnittstellen aufweist (engl. multiple
cloning site, MCS). Außerdem ist am 3’-Ende eine Poly(A)-Region (pA) not-
wendig. b Zur Erzeugung der transgenen Maus werden aus einem Spender-
10.7.2 Gentechnische Modifikationen von Tieren tier nach Superovulation befruchtete Eizellen im Einzellstadium entnom-
men. Die DNA (aus a) wird in einen der beiden sichtbaren Vorkerne injiziert
Der Transfer von DNA in Tiere unterscheidet sich von dem in und die Zygoten danach in den Eileiter einer scheinträchtigen Maus trans-
Pflanzen vor allem in zweierlei Hinsicht: Da Tiere keine vegeta- feriert. Mit den transgenen Tieren kann eine Zucht aufgebaut werden.
tive Form der Fortpflanzung kennen, muss der Transfer die (Nach Schenkel 2006, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

Keimzellen erreichen, um in der nächsten Generation wirksam


zu werden. Zum anderen sind Zellkulturtechniken bei tierischen dass dabei veränderte DNA eingesetzt wird (dies ist erst
Zellen leichter zu handhaben, da die aufwendigen Vorbereitun- durch Kombination mit einer der beiden anderen Methoden
gen zum Verdauen der Zellwände wegfallen. Von daher ist es möglich). Im ersten spektakulären Experiment an Säugern
nicht verwunderlich, dass die ersten transgenen Tiere vor trans- wurde einem Schaf aus einer Milchdrüsen-Epithelzelle der
genen Pflanzen hergestellt wurden (Drosophila: Spradling und Zellkern entnommen und in eine kernlose Oocyte injiziert.
Rubin 1982; Maus: Palmiter et al. 1982). Das entstandene Klonschaf Dolly (. Abb. 12.56) bekam
Einige wesentliche Aspekte der Herstellung transgener Tiere mehrere Nachkommen, alterte aber früh und musste einge-
sollen am Beispiel der Maus besprochen werden. Dabei werden schläfert werden.
zwei Wege grundsätzlich unterschieden: das Einbringen eines
zusätzlichen Gens durch zufällige Integration, ohne das Ge- Da die spezifische Veränderung genetischer Information über
nom gezielt zu verändern (durch Vorkerninjektion in die be- homologe Rekombination bei der Maus ein komplexes Verfahren
fruchtete Eizelle; . Abb. 10.48; 7 Technikbox 26), und das ge- mit vielen Möglichkeiten darstellt (wegen seiner Zielgenauigkeit
zielte Verändern (oder Ausschalten) eines Gens durch homo- wird es im Englischen auch als gene targeting bezeichnet), wollen
loge Rekombination (in embryonalen Stammzellen und der wir es etwas genauer betrachten. Hierzu werden zunächst Zellen
nachfolgenden Übertragung in die Blastocyste; 7 Technikbox 27). aus frühen Embryonalstadien (z. B. Blastocysten) gewonnen und
als pluripotente Zelllinien etabliert (embryonale Stammzellen,
C Eine dritte Methode der DNA-Übertragung soll nur kurz an- Abk.: ES-Zellen; 7 Abschn. 12.7.2). Diese Zelllinien sind inzwi-
gedeutet werden: der somatische Kerntransfer. Dabei wer- schen für viele Mausstämme etabliert. Die ES-Zellen können wie
den Zellkerne aus embryonalen oder adulten Körperzellen in einer normalen Zellkultur mit Vektoren transfiziert werden,
in kernlose Oocyten übertragen. Diese Methode war in der die in E. coli kloniert werden. Der Vektor enthält dabei das ver-
Entwicklungsbiologie schon lange etabliert (. Abb. 12.55) änderte Gen mit flankierenden genomischen Sequenzen, um
und erlaubt prinzipiell das »Klonen« eines Organismus, ohne später eine homologe Rekombination (7 Abschn. 6.3.3) zu er-
450 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Vektorkonstruktion

Transfektion und Selektion von


ES-Zellen (Stammhintergrund
agouti) für Resistenz gegen
G418 und Gancyclovir
Kultur von ES-
Zellen der Maus
Injektion transgener
ES-Zellen in
Blastocysten

Transfer der Blastocysten in


den Uterus schein-
schwangerer albino -
Weibchen (weißes Fell)

Untersuchung der Fellfarbe und Zucht von chimären,


10 heterozygoten (+/ −)-Mäusen, um homozygote (−/−)-Mäuse
zu erhalten

. Abb. 10.49 Spezifische Geninaktivierung in der Maus. (1) Für die homologe Rekombination wird ein Vektor konstruiert, der in seinen Intron-Exon-Struk-
turen und flankierenden Regionen komplementär zum Chromosom ist. Um ein Gen gezielt auszuschalten (engl. knockout), wird eine positive Selektions-
kassette (hier: neoR) in ein Exon kloniert; die Behandlung mit G418 überleben nur die Zellen, die den Vektor integriert haben. Die negative Selektionskas-
sette (hier tkR) befindet sich außerhalb des Homologiebereichs. Zellen, die dennoch das tkR-Gen enthalten, überleben die Behandlung mit Gancyclovir
nicht. (2) Der Vektor wird in embryonale Stammzellen (ES-Zellen; Stammhintergrund 129/Sv [agouti]: gelbe Pigmentierung auf schwarzem oder braunem
Fellhintergrund) transfiziert. Findet eine Rekombination zwischen dem Vektor und der genomischen DNA der Wirtszelle statt, so erhält man ein Exon, das
zusätzlich die positive Selektionskassette enthält; die tkR-Kassette geht dagegen bei der Rekombination verloren. Nach einem Selektionsschritt werden
Klone gepickt und mit PCR oder Southern-Blot auf homolog rekombinierte Produkte untersucht. (3) Die rekombinanten ES-Zellklone werden in Blasto-
cysten injiziert, die aus C57BL/6-Mäusen stammen (Fellfarbe schwarz), die dann (4) in scheinschwangere Mäuse übertragen werden (CD1-Auszuchtmäuse
[albino]: Fellfarbe weiß), um chimäre Mäuse zu generieren. (5) Die Chimären werden mit C57BL/6-Mäusen gekreuzt, um Keimbahntransmission zu erhalten.
(Nach Belizário et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

möglichen. In der Regel wird nur eine spezifische Funktion des Lesch-Nyhan-Syndrom). Am Ende des Artikels schreiben die
Zielgens verändert (z. B. Einführung eines Stoppcodons nach Autoren (Kirk R. Thomas und Mario R. Capecchi 1987) ein-
dem ersten Exon). Ein typischer Vektor ist in . Abb. 10.49 (1) fach: »Das hier beschriebene Protokoll könnte für gezielte
dargestellt. Eine homologe Rekombination tritt nach der Trans- Mutationen in jedem Gen benutzt werden.« So ist es gekom-
fektion einer Zelle nur mit sehr geringer Frequenz auf (10−6 bis men, und 20 Jahre später wurden Mario R. Capecchi, Martin
10−9); deshalb müssen solche Zellen selektioniert werden kön- J. Evans und Oliver Smithies für die Vorarbeiten, die zu die-
nen, in denen eine Rekombination tatsächlich stattgefunden hat. sem Durchbruch geführt haben, mit dem Nobelpreis für
Die entsprechend identifizierten und angereicherten Zellen wer- Medizin ausgezeichnet.
den dann in Blastocysten einer anderen Linie injiziert. Nach dem
Austragen durch eine Amme erhält man Mosaike (. Abb. 8.30), Beide Methoden sind in den letzten Jahren wesentlich ausgebaut
da nur manche Zellen der Maus Nachkommen der übertragenen und verfeinert worden. So lassen sich über Vorkerninjektion
ES-Zelle sind. Nur wenn sich aus den übertragenen ES-Zellen beispielsweise auch Reportergene einbringen (z. B. das Gen für
auch Keimzellen entwickelt haben, besteht die Möglichkeit, die das grün fluoreszierende Protein, GFP; 7 Technikbox 34) oder
Linie stabil zu etablieren. Das Verfahren ist in . Abb. 10.49 sche- RNA-Gene zur Inaktivierung definierter Zielsequenzen (RNAi,
matisch dargestellt; für weitere Details siehe 7 Technikbox 27. siRNA; 7 Abschn. 8.2).
Besonders interessant ist die gewebespezifische Expression
C Die ersten Arbeiten zur Etablierung dieser Technik wurden der Cre-Rekombinase des Phagen P1 (engl. causes recombinati-
in den 1980er-Jahren durchgeführt; 1987 erschien in der on, Cre; . Abb. 4.16). Durch die Aktivität der Cre-Rekombinase
Zeitschrift Cell die erste Arbeit, die über das gezielte Aus- wird aus genomischer DNA ein Abschnitt dauerhaft entfernt, der
schalten eines Gens in der Maus berichtete, das Hprt-Gen durch loxP-Sequenzen flankiert ist (engl. locus of cross-over (x)
(codiert für das Enzym Hypoxanthin-Phosphoribosyl-Trans- des Phagen P1; loxP). Diese loxP-Stellen können natürlich in
ferase 1; Mutationen beim Menschen sind ursächlich für das einen Vektor so eingefügt werden, dass sie eine Wunschsequenz
10.7 · Ortsspezifische Mutationen
451 10
a 34-bp-
34 bp LoxP-Sequenz
loxP-Sequenz

34-bp- loxP-Sequenz Rekombination in cis

b LoxP /FRT-Sequenzen
loxP/FRT Sequenzenininderselben
derselbenOrientierung
Orientierung – Rekombination in cis

c loxP/FRT -Sequenzen in entgegengesetzter Orientierung Exzision

Inversion
. Abb. 10.50 Konditionale Mutagenese in der Maus. a Die loxP-Sequenz (symbolisiert durch hell- bzw. dunkelblaue Dreiecke) besteht aus zwei 13 bp langen
Wiederholungseinheiten und einem dazwischenliegenden 8 bp umfassenden Zentralelement. Die beiden Wiederholungseinheiten erlauben die Bindung
der Cre-Rekombinase. Da die Zentraleinheit asymmetrisch ist, ergibt sich daraus die Orientierung des Abschnitts (angedeutet durch die Spitze der Dreiecke).
Die FRT-Sequenz (die von der Flp-Rekombinase erkannt wird) ist entsprechend aufgebaut. Abhängig von der jeweiligen Position der loxP- bzw. der FRT-Se-
quenzen zueinander, sind verschiedene Rekombinationen desselben DNA-Moleküls möglich (angedeutet durch das Kreuz und die verschiedenen Farbkombi-
nationen der Dreiecke), was als »Rekombination in cis« bezeichnet wird. b Im dargestellten Beispiel befinden sich zwei loxP-Sequenzen in derselben Orientie-
rung in zwei Introns eines Gens, das aus vier Exons besteht. Die Cre-Rekombinase bewirkt das Ausschneiden des dazwischenliegenden DNA-Abschnitts
(grüner Kreis und rotes Dreieck: Exons 2 und 3); dabei bleibt ein loxP-Element zurück, das aus je einer Hälfte der beiden ursprünglichen loxP-Sequenzen be-
steht. Dieses Verfahren wird häufig angewendet, um konditionale Null-Allele herzustellen. c Wenn dagegen die beiden loxP-Sequenzen antiparallel angeord-
net sind, bewirkt die Cre-Rekombinase eine Inversion, die dazu führt, dass die dazwischenliegende DNA (grüner Kreis und rotes Dreieck) nicht ausgeschnitten
und verworfen wird, sondern in der umgekehrten Richtung (Inversion) wieder eingebaut wird. (Nach Belizário et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung
von Springer)

flankieren (z. B. das erste Exon); im Laborjargon spricht man N-terminale Teil der FokI-Nuklease durch Elemente ersetzt,
dann von »gefloxten Genen«. Durch Kreuzung einer transgenen die die Bindung an jede gewünschte DNA-Sequenz ermögli-
Maus, die die Cre-Rekombinase unter der Kontrolle eines spezi- chen; der C-Terminus der FokI-Nuklease schneidet die DNA
fischen Promotors gewebespezifisch exprimiert, mit einer Maus, dann an der gewünschten Stelle. Zunächst wurden »Zink-
die loxP-flankierte Elemente enthält, wird in den Hybriden die finger-Nukleasen« entwickelt, wobei wenige Aminosäuren in
mit loxP-flankierte Stelle nur in dem Gewebe entfernt, das die einem Zinkfinger (. Abb. 7.18) für die spezifische Bindung
Cre-Rekombinase exprimiert (»konditionale Mutagenese«). Dies an etwa drei Basen verantwortlich sind. Eine neuere Entwick-
erlaubt die Untersuchung von Mutanten, bei denen das Aus- lung sind TALENs (engl. transcription activator-like effector
schalten einer Genfunktion im gesamten Organismus letal ist. nucleases) – hier ist das Design der sequenzspezifischen
Der Methodenkasten der Mausgenetiker enthält jedoch noch DNA-Bindemodule wesentlich einfacher als bei den Zinkfin-
weitere ortsspezifische Rekombinasen, um so für das Heraus- ger-Nukleasen; die Verknüpfung mit der FokI-Nuklease ist je-
schneiden jeder Kassette eine eigene, spezifisch induzierbare doch gleich geblieben. Das neueste System zum Editieren
Rekombinase zu erhalten. Eine davon ist die Flp-Rekombinase von Genomen ist das CRISPR/Cas9-System; es ist in seinen
aus Hefe, die Genomfragmente entfernt, die durch FRT-Stellen Gründzügen einfacher als das TALENs-System. Es basiert auf
flankiert sind (engl. Flp recombinase target). Diese Methoden einem bakteriellen Immunsystem gegenüber fremder DNA,
sind schematisch in . Abb. 10.50 dargestellt. die durch einen RNA-gesteuerten Mechanismus gespalten
wird (CRISPR, engl. clustered regularly interspaced short
*Einen Quantensprung in der gezielten Veränderung des
Genoms stellen die Entwicklungen von Nukleasen dar, die
palindromic repeats). Das CRISPR-assoziierte Protein 9 (Cas9)
besitzt eine Nuklease-Aktivität und schneidet die DNA an der
sequenzspezifisch einen Doppelstrangbruch einführen; gewünschten Stelle; die Reparatur des Doppelstrangbruchs
durch die Ausnutzung verschiedener Reparaturmechanis- erfolgt dann nach den bereits beschriebenen Mechanismen.
men (homologe Rekombination, 7 Abschn. 10.6.4, bzw. Die entsprechenden DNA- und/oder RNA-Fragmente, die für
nicht-homologe Verbindung freier DNA-Enden, 7 Abschn. die Zinkfinger-Nukleasen, für TALENs oder für CRISPR/Cas9
10.6.5) können verschiedene Mutationen induziert werden. codieren, werden in den Vorkern frisch befruchteter Eizellen
In einem modularen Aufbau wird der sequenzspezifische, injiziert; diese Eizellen werden dann in »Leihmütter« implan-
452 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

10

. Abb. 10.51 Das IGF2-Gen und quantitative Merkmale beim Schwein. Die beobachteten Unterschiede zwischen den verschiedenen Schweinen (höhere
Muskularität, weniger Rückenfett und ein größeres Herz bei den Hausschweinen) können auf einen Nukleotidaustausch (GൺA) im Intron 3 des IGF2-Gens
zurückgeführt werden: Diese Mutation hat keinen Einfluss auf die genetische Prägung des IGF2-Gens (. Abb. 8.39) und verändert auch nicht die Methylie-
rung dieser Region, die im Skelettmuskel untermethyliert ist. Die Wildtyp-Sequenz bindet einen Kernfaktor; diese Wechselwirkung wird durch die Mutation
und durch Methylierung beseitigt. Aus Transfektionsanalysen ist bekannt, dass diese Intronsequenz als Silencer wirkt, wohingegen diese Wirkung der mu-
tierten Sequenz signifikant schwächer ist. Schließlich ist die Expression von IGF2 postnatal im Skelett- und Herzmuskel etwa dreimal höher, bleibt dagegen
unverändert in der Leber und den pränatalen Stadien der Muskeln. Diese Ergebnisse erklären die phänotypischen Befunde: Das IGF2*Q-Allel ist mit hohem
Muskelwachstum und einem vergrößerten Herzen verbunden, hat aber keinen Einfluss auf das Geburtsgewicht oder die Leber. Damit ist der IGF2-QTL für
die Schweinezucht besonders interessant, da er nur das Muskelwachstum nach der Geburt beeinflusst, nicht aber das Geburtsgewicht. (Nach Andersson
und Georges 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

tiert und die Nachkommen auf das Vorliegen der gewünsch- Mutanten: in Europa das Europäische Mausmutanten-Archiv
ten Mutation untersucht. Diese Methoden können bei vielen (EMMA: https://www.infrafrontier.eu) und in den USA das Jack-
Modellorganismen (Fliege, Zebrafisch, Frosch, Ratte, Maus) son-Labor (http://www.jax.org/index.html). Von dort können
genauso eingesetzt werden wie bei Nutztieren, z. B. bei viele wichtige Mausmutanten (auch Knock-out-Mutanten) bezo-
Schweinen und Rindern. Eine sehr detaillierte Darstellung gen werden. Allerdings ist aus vielen Gründen die Maus nicht
der Methoden und ihrer möglichen Anwendungen in der Zu- immer der geeignete Modellorganismus. Daher werden auch an
kunft findet sich bei Joung und Sander (2013). Es zeichnet anderen Tieren entsprechende Verfahren etabliert; im wissen-
sich aber ab, dass vor allem das CRISPR/Cas9-System auf- schaftlichen Bereich betrifft das in erster Linie die Ratte (für eine
grund seiner einfachen Handhabung die Genetik auf allen schnelle Orientierung hilft ein Blick in die Rattengenom-Daten-
Feldern revolutionieren wird (Doudna und Charpentier bank: http://www.rgd.mcw.edu/).
2014). Alle drei Systeme sind in der 7 Technikbox 33 genauer Aber auch in der Tierzucht wird versucht, bei Schafen, Rin-
beschrieben. dern und Schweinen mithilfe der Gentechnik neue Zuchtziele zu
erreichen bzw. die Ursachen für die Anfälligkeit für bestimmte
Wir haben gesehen, dass die Herstellung transgener Mäuse in- Krankheiten (z. B. Scrapie beim Schaf und BSE bei Rindern) zu
zwischen in vielen Labors etabliert ist – es kommt aber auch charakterisieren, um sie schließlich vermeiden zu können. Allein
darauf an, diese Mutanten für die Nachwelt zu erhalten. Darum beim Schwein verursachen genetisch bedingte Erkrankungen
bemühen sich zwei Labors besonders um die Archivierung der einen Verlust von etwa 30 Mio. Euro pro Jahr. Eine wichtige
10.7 · Ortsspezifische Mutationen
453 10
Motivation für eine genbasierte Zucht ist auch der Tierschutzge-
danke, der nicht nur »Qualzuchten« verbietet, sondern auch über
die Erkennung von Genvarianten, die die Widerstandskraft ge-
genüber Infektionen beeinflussen, die Züchtung resistenter oder
weniger anfälliger Tiere ermöglichen will. Langfristig gewinnt
allerdings die Suche nach wirtschaftlich interessanten Genen
immer mehr an Bedeutung: Dabei geht es darum, Gene zu
identifizieren, die mit einer verbesserten Fleisch-, Fett- und
Milchqualität in Zusammenhang stehen. Solche Leistungsmerk-
male werden in der Regel als »quantitative Merkmale« vererbt
(7 Abschn. 11.3.4 und 7 Abschn. 11.4.5; . Abb. 10.51).

C Ein frühes Beispiel für die Verbesserung der Zucht ist die
Erkennung des Stress-Syndroms bei Schweinen (malignes
Hyperthermie-Syndrom, MHS). In Belastungssituationen
können betroffene Tiere an Kreislaufversagen verenden. Zur
Diagnose dieser autosomal-rezessiven Erkrankung mit varia-
bler Penetranz wurden früher betroffene Tiere als Ferkel mit
Halothan narkotisiert: Gesunde Tiere sacken dabei schlaff
zusammen, während betroffene Tiere verkrampfen. Das ver-
antwortliche Gen codiert für einen Ryanodin-Rezeptor
(Gensymbol RYR1), dessen Defekt (Aminosäureaustausch
von Arginin zu Cystein an der Codonposition 614: Arg614Cys)
den Transport von Calcium-Ionen durch die Zellmembran
und damit die Muskelkontraktion beeinflusst (Fujii et al. 1991).
Tiere mit diesem Gendefekt setzen allerdings auch über-
durchschnittlich viel mageres Fleisch an, sodass durch die
Selektion auf eine höhere Fleischleistung die Anfälligkeit
für MHS mitgezüchtet wurde.

Es gibt eine Reihe weiterer Beispiele dafür, dass bestimmte Alle- . Abb. 10.52 Doppelmuskel in Rindern. Vergleich eines Blauen Belgiers
(oben) mit dem Doppellender-Phänotyp mit einem Charolais-Bullen (unten),
le mit Vergrößerungen einzelner Muskeln gekoppelt sind. . Abb.
der dieses Merkmal nicht aufweist. Der Doppellender-Phänotyp wird durch
10.52 zeigt das Beispiel eines belgischen Bullen; Ursache in die- eine homozygote Funktionsverlustmutation im Myostatin-Gen hervorge-
sem Fall ist der homozygote Funktionsverlust des Myostatin- rufen. Die weiße Farbe des Weiß-Blauen Belgiers wird durch eine Mutation
Gens. Die Tierzucht bewegt sich darauf hin, zur Zucht eine Viel- im Gen für den Mastzellwachstumsfaktor (MGF) hervorgerufen, der ein
zahl genetischer Tests heranzuziehen. Die vollständigen Sequen- Ligand für den Kit-Rezeptor ist. (Nach Andersson 2001, mit freundlicher
Genehmigung der Nature Publishing Group)
zen der für die Landwirtschaft wichtigsten Tiergenome liegen
inzwischen auch komplett vor und können über die entsprechen-
den freien Datenbanken des Europäischen DNA-Sequenznetz-
werks abgerufen werden (http://www.ensembl.org/index.html). Organspender infrage kommen. Ansatzpunkte dazu sind die Ex-
Zu den neuen Zuchtzielen gehört neben einer verbesserten pression menschlicher Komplementinhibitoren (wie CD29) und
Produktivität auch, Medikamente zu erzeugen. Das Schaf »Tra- die verminderte Bindung von Antikörpern durch die Expression
cy« produzierte in seiner Milch das für die Lungenfunktion der menschlichen α-1,2-Fucosyltransferase. Die kombinierte Ex-
wichtige Protein α1-Antitrypsin (AAT), das zur Behandlung von pression dieser beiden Komponenten in transgenen Schweinen
Zystischer Fibrose (7 Abschn. 13.3.1) und von Lungenemphyse- zeigte schon einen deutlichen Fortschritt in der Resistenz periphe-
men eingesetzt werden kann (50 % des Proteingehalts der Milch rer Blutzellen dieser Schweine gegenüber einer Lysis durch huma-
von »Tracy« war humanes AAT!). Zwar war der Integrationsort nes Serum (Costa et al. 2002). Aufgrund des zunehmenden Bedarfs
des humanen AAT-Gens nicht stabil, sodass es nicht in ge- an Transplantationsmaterial enthalten derartige Entwicklungen
wünschter Form auf die Nachkommen von »Tracy« übertragen großes medizinisches Potenzial.
werden konnte. Allerdings wurde dieses Phänomen bei einem
anderen Tier nicht beobachtet, und schließlich konnte daraus > Gentechnische Modifikationen in Tieren haben sich in
eine Herde mit über 600 Tieren aufgebaut werden, die AAT je- vielen Fällen zu einem Routineverfahren entwickelt, um
weils in einer Konzentration von 13–16 g/l Milch lieferten. Das gezielte Mutationen in Genen durchzuführen. In Modell-
führte zu einer Produktion von über 1 kg klinisch-reinem AAT organismen erlauben diese Methoden die funktionelle
pro Woche (Reinheitsgrad > 99,999 %; Colman 1999). Charakterisierung der jeweiligen Gene entweder auf der
Bei Schweinen wird daran gearbeitet, die Zelloberflächen so zu Ebene des ganzen Tieres oder in ausgewählten Geweben.
verändern, dass sie vom menschlichen Immunsystem nicht als Die derzeit verwendeten Technologien sind teilweise
fremd erkannt werden. Sollte dies gelingen, könnten Schweine als auch auf Nutztiere anwendbar.
454 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Kernaussagen
5 Mutationen sind ein Grundphänomen von Lebewesen. Sie sind 5 Mutagenitätstests gestatten eine allgemeine Abschätzung der
die Grundlage für evolutionäre Prozesse. Für ein Individuum mutagenen Wirkung von chemischen Verbindungen und ihren
haben sie oft negative Folgen. möglichen Metaboliten.
5 Mutationen können sich in Keimzellen und in somatischen 5 Die gezielte Übertragung von Genen in verschiedene Organis-
Zellen in gleicher Weise ereignen. men erlaubt deren Überexpression oder gezielte Hemmung;
5 Chromosomenmutationen können die Zahl (Aneuploidie, der neue Organismus wird als »transgen« bezeichnet.
Polyploidie; Monosomie, Trisomie) oder die Struktur der Chro- 5 Gentechnisch veränderte Pflanzen sollen den Ertrag steigern,
mosomen (Deletion, Inversion, Translokation) betreffen. neuartige Produkte (»nachwachsende Rohstoffe«) liefern
5 Verschiedenartige molekulare Mechanismen sind für spontane und einen effizienteren Einsatz von Pflanzenschutzmitteln er-
Mutationen verantwortlich. Mutationen können auch durch möglichen.
Strahlen und Chemikalien induziert werden; der Ort der Muta- 5 Transgene Modellorganismen (vor allem Fliegen und Mäuse)
tion ist in allen Fällen zufällig. erlauben die funktionelle Charakterisierung definierter Gene;
5 Reparaturmechanismen sorgen für eine teilweise Korrektur viele Arzneimittel werden in rekombinanten Zellkulturen oder
von Mutationen. Spontane Mutationsraten und die Effektivität Tieren hergestellt.
von Reparaturmechanismen stehen in einem Gleichgewicht, 5 In der Tierzucht werden transgene Tiere zur Verbesserung der
das durch die Erfordernisse der Evolution bestimmt wird. Tiergesundheit und zur Steigerung des Ertrags eingesetzt.

Übungsfragen
1. Erläutern Sie, warum Mutationen möglich 3. Was sind tautomere Basen, und welche Be- 5. Warum werden konditionale Mausmutan-
und notwendig sind. deutung haben sie für die Ausprägung von ten verwendet?
2. Erläutern Sie die Bedeutung repetitiver Ele- Mutationen?
10 mente für die Art der Mutation und ihre 4. Erläutern Sie den möglichen cancerogenen
Frequenz. Mechanismus bei Ethidiumbromid.

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456 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Technikbox 25

SSCP-Analyse (single strand conformation polymorphism-Analyse)


Eine der wichtigsten Aufgaben der Molekular- trischen Feld, da sie durch die Gelporen in In der Praxis führt man SSCP-Experimente
biologie in der Medizin ist die Identifikation unterschiedlichem Maße in ihrer Bewegung in Kombination mit der PCR-Technik aus. Man
von Punktmutationen und von Polymorphis- behindert werden. Die Gelzusammensetzung amplifiziert einen Genbereich, der aus diag-
men in der DNA einzelner Gene. Eine geeigne- ist entscheidend für die Auflösung bei der nostischen Überlegungen interessant ist, mit-
te Möglichkeit hierfür bietet sich in der Trennung. tels geeigneter Primer durch PCR an genomi-
Gelelektrophorese von Einzelstrang-DNA unter Man kann durch diese Methode unter ge- scher DNA und analysiert die PCR-Produkte
nicht-denaturierenden Gelbedingungen. Ein- eigneten Bedingungen Mutationen einzelner auf nativen Polyacrylamidgelen. Ein veränder-
zelstrang-DNA erhält man durch Denaturie- Basen erkennen. Sie hat daher in der Human- tes Bandenmuster ist ein deutlicher Hinweis
rung der DNA (7 Technikbox 2). Die Einzel- genetik eine wichtige Bedeutung für diagnos- darauf, dass eine Mutation vorliegt – um die
stränge bilden, abhängig von den Temperatur- tische Zwecke erlangt; das Gleiche gilt für mutierte Stelle jedoch zu identifizieren,
und Salzbedingungen, eine komplexe Sekun- die Überwachung von Zuchtergebnissen bei muss der Bereich aber sequenziert werden
därstruktur, die spezifisch für die Nukleotid- Tieren. Allerdings ist die Anwendung der (7 Technikbox 6 und 7 Technikbox 7). Im fol-
sequenz ist und sich daher bei beiden Strängen SSCP-Analytik auf relativ kurze DNA-Stränge genden Beispiel ist das für die Mutationsana-
unterscheidet. Als Folge unterschiedlicher begrenzt (bis zu etwa 400 Nukleotide), für lytik des menschlichen Opticin-Gens (OPTC)
Sekundärstrukturen wandern DNA-Stränge längere Moleküle erzielt man keine ausrei- dargestellt, das für eine spezielle Form des
gleicher Länge, aber unterschiedlicher Basen- chende Auflösung der elektrophoretischen Glaukoms (Grüner Star) verantwortlich ist.
sequenzen unterschiedlich schnell im elek- Mobilität.

10

Die Abbildung zeigt vier SSCP-Analysen verschiedener Glaukom-Patienten; dabei wurden jeweils unterschiedliche Bereiche des OPTC-Gens unter-
sucht. Die Pfeile in den jeweils linken Bildern deuten auf Proben mit unterschiedlichem Muster hin (SSCP-PAGE: SSCP-Analyse auf Polyacrylamidge-
len). Die entsprechenden Proben wurden sequenziert und heterozygote Stellen identifiziert (Pfeile in den Sequenzen mit Angabe der heterozygoten
Basen). Über den jeweiligen Doppelbildern ist der Basenaustausch für die jeweilige Position der cDNA angegeben; in Klammern der dazugehörige
Aminosäureaustausch an dem betroffenen Codon. (Nach Acharya et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung des Autors)
Technikbox
457 10

Technikbox 26

Transgene Mäuse
Anwendung: Dauerhafter Transfer von frem- Mutationen; dabei wird allerdings die (üblicherweise wird das Derivat Doxycyclin
dem Erbmaterial zur Herstellung neuer Eigen- ursprüngliche Mutation nicht entfernt. verwendet, das über das Trinkwasser verab-
schaften in Tieren. 5 Einführung eines neuen Gens zur Funk- reicht werden kann). Dieser Tet-abhängige
Voraussetzungen: Mikroinjektionsanlagen, tionsanalyse oder zur Herstellung spezi- Transaktivator (tTA) besteht aus einem gewe-
Tierhaltungskapazitäten. fischer Produkte (z. B. Arzneistoffe in der bespezifischen Promotor, dem tetR-Gen (aus
Methoden: Durch direkte DNA-Mikroinjektion Milch); dabei ist allerdings auf die Wahl E. coli) und Sequenzen für die Aktivierungsdo-
in den Vorkern einer befruchteten Eizelle kann eines geeigneten Promotors zu achten, mäne des Proteins VP16 des Herpes-simplex-
neue genetische Information in das Genom ei- um eine zeitlich/räumlich spezifische Ex- Virus. Der zweite, unabhängige Bestandteil
nes Tieres eingeführt werden; die Methode ist pression zu erhalten. enthält das zu exprimierende Gen unter einem
insbesondere für Mäuse etabliert (. Abb. 5 Expressionsanalyse: Durch Kopplung Promotor, der Bindestellen für den Transaktiva-
10.48). In etwa 30 % der Fälle wird die von au- von Promotorfragmenten mit einem Re- tor enthält (tetO).
ßen zugeführte DNA stabil in das Genom inte- portergen (z. B. lacZ) ist es möglich, die Beide Komponenten können zunächst als
griert; der Integrationsort ist weitgehend zu- zeitlichen und räumlichen Aktivitäts- unabhängige Transgene in Mauslinien etab-
fällig. Die Eizelle mit der fremden DNA wird muster von Promotorfragmenten in vivo liert werden; durch Kreuzung werden die Kom-
chirurgisch in den Uterus von scheinschwan- zu untersuchen. ponenten in einer Maus zusammengebracht.
geren Ammenmüttern übertragen. Es werden In Abwesenheit von Doxycyclin können tTA-
transgene Tiere geboren, die die veränderte Spezialfall: induzierbare Systeme Dimere spezifisch an die tetO-Sequenzen bin-
Erbinformation an die nächste Generation wei- Oft ist die Expression eines Transgens nur zu den, wodurch die Expression des Zielgens in-
tergeben. Die Herstellung transgener Tiere ist bestimmten Entwicklungsabschnitten oder zu duziert wird. Durch Gabe von Doxycyclin im
allerdings nicht auf die Maus beschränkt, son- bestimmten Zeitpunkten erwünscht. Diese Trinkwasser kann diese Expression gestoppt
dern inzwischen in vielen Tierarten möglich, Feinregulation ist mit der traditionellen Me- werden. – Es wurde auch das umgekehrte Sys-
darunter auch Nutztiere wie Schweine und thode eines einzelnen Promotors in der Regel tem entwickelt (reverses Tet-on/Tet-off-Sys-
Rinder. nicht möglich, sodass hierzu binäre Systeme tem). Dabei wurde das tetR-Gen so mutiert,
Die Herstellung transgener Tiere kann zu verwendet werden. Am bekanntesten ist das dass eine Bindung von tetR an tetO nur in An-
verschiedenen Zwecken verwendet werden: Tet-on/Tet-off-System (Baron und Bujard 2000; wesenheit von Doxycyclin stattfinden kann.
5 Zusätzliches Einführen von Wildtyp-Se- siehe Abb.), das auf der Tetracyclin(Tet)-abhän-
quenzen eines Gens zur Korrektur von gigen Wirkung eines Transaktivators beruht

a b

Das Tet-on/Tet-off-System. a Im klassischen System bindet tTA mit seiner DNA-Bindedomäne (rot) in Abwesenheit von Doxycyclin (dox, gelb) an die
tet-Operatoren stromaufwärts der TATA-Box und aktiviert die Transkription des Zielgens. Ist Doxycyclin vorhanden, so bindet dieses an tTA. Es
kommt zu einer Konformationsänderung (rotes Viereck), sodass tTA von tetO dissoziiert; die Aktivierung des Zielgens wird damit aufgehoben. b Im
reversen System kann rtTA nicht an die tet-Operatoren binden, sodass die Transkription des Zielgens nicht aktiviert wird. Ist Doxycyclin vorhanden,
so bindet dieses an rtTA. Es kommt zu einer Konformationsänderung, sodass rtTA jetzt an die tet-Operatoren stromaufwärts der TATA-Box binden
kann; damit wird die Transkription des Zielgens aktiviert. (Nach Hillen und Berens 2002, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
458 Kapitel 10 · Veränderungen im Genom: Mutationen

Technikbox 27

Geninaktivierung bei Mäusen


Anwendung: Funktionelle Genanalyse durch Die gezielte Ausschaltung eines Gens be- ten Gewebe auszuschalten, wurde ein binäres
Ausschalten von Genen in Mäusen (Knock-out). ruht auf der Induktion homologer Rekombinati- System entwickelt, das die Deletion eines Gens
Voraussetzungen: Zellkultur von embryonalen on zwischen einem geeigneten Vektorkonstrukt nur dann zulässt, wenn zwei Gen-codierte
Stammzellen der Maus, Tierhaltungskapazitä- mit der gewünschten Mutation und dem endo- Komponenten gleichzeitig exprimiert werden
ten. genen, homologen Gen in Zellkulturzellen (7 Abschn. 10.7.2; Lewandoski 2001). Das zu
Methoden: Eine der wichtigsten Methoden zur (. Abb.). Durch Verwendung von Markern im inaktivierende Gen wird dazu in einem Vektor
funktionellen Genanalyse ist die Untersuchung Vektorkonstrukt (z. B. Neomycin-Resistenz) kön- von Schnittstellen für erkennungsspezifische
der Auswirkungen von Mutationen auf den nen nach Einführung des Vektorkonstrukts in die Rekombinasen (engl. site-specific recombina-
Phänotyp des betroffenen Organismus. Die Zelle (z. B. durch Elektroporation) transformierte ses) flankiert; breite Verwendung findet dabei
Analyse spontaner oder durch ein mutagenes Zellen durch Hinzufügung des Neomycin-Deri- das Cre/loxP-System. Dabei schneidet die
Agens induzierter Mutationen erfordert jedoch vats G418 zum Medium selektiert werden (nicht Cre-Rekombinase des Bakteriophagen P1
immer als ersten Schritt die Kartierung und transformierte Zellen sterben in Gegenwart von (. Abb. 4.16) eine DNA-Sequenz aus, die zwi-
Identifikation des betroffenen Gens. Die Aus- G418). Durch PCR (7 Technikbox 4) oder Sou- schen zwei antiparallelen loxP-Stellen liegt;
schaltung eines definierten Gens aufgrund thern-Blot (7 Technikbox 13) kann experimentell dabei bleibt eine der beiden loxP-Stellen zurück
homologer Rekombination in embryonalen überprüft werden, ob die gewünschte homologe (loxP-Stellen sind kurze DNA-Fragmente mit
Stammzellen (Capecchi 1989, Nobelpreis für Rekombination stattgefunden hat, d. h. ob die 34 bp; die Core-Sequenz mit 8 bp bestimmt die
Medizin 2007) erlaubt dagegen die präzise Mutation sich nunmehr anstelle des ursprüngli- Orientierung der jeweiligen loxP-Stelle).
Analyse des Phänotyps, der durch den Verlust chen Allels im Genom befindet. Durch die regulierte Expression der Cre-Re-
der jeweiligen Genaktivität entsteht (engl. loss- Als Zellen für solche Transformationsex- kombinase (durch die geeignete Wahl eines
of-function; knockout; gene targeting). Aller- perimente werden embryonale Stammzellen Promotors) kann man das Zielgen gewebespe-
dings kann die Funktion des ausgeschalteten verwendet (ES-Zellen), die man aus der inne- zifisch ausschalten. Dies geschieht in der Regel
Gens auch von anderen Genen übernommen ren Zellmasse früher Mausembryonen erhält durch die Herstellung eines zweiten Maus-
werden, sodass keine besonderen Auffälligkei- (. Abb. 12.42) und die sich leicht in Zellkultur stamms, der den Rekombinase-Expressionsvek-
10 ten beobachtet werden. Eine andere Möglich- halten lassen. Erfolgreich transformierte ES-Zel- tor unter der Kontrolle eines gewebespezifi-
keit besteht darin, dass die Funktion des unter- len kann man anschließend in Mäuse-Blastocys- schen oder induzierbaren (7 Technikbox 26)
suchten Gens so wichtig ist, dass die Maus be- ten injizieren, um auf diese Weise transformierte Promotors trägt. Nach Kreuzung der zwei Maus-
stimmte Phasen in der Embryonalentwicklung Mäuse zu erhalten. Diese Mäuse sind Mosaike stämme wird in den F-Tieren Cre-Rekombinase
nicht überlebt. Besonders für solche Fälle bie- (Chimären), da nur ein Teil von der transformier- nur zu einem gewünschten Zeitpunkt (induzier-
ten sich konditionale Systeme an (siehe unten). ten Zelle abstammt. Wenn auch Keimbahnzel- bares System) oder in einem gewünschten Ge-
Es wird auch häufig beobachtet, dass sich len von einer transformierten Zelle abgeleitet webe (gewebespezifischer Promotor) expri-
Knock-out-Allele von anderen Allelen des je- sind, erhält man unter den Nachkommen hete- miert; nur unter diesen Bedingungen wird das
weiligen Gens in Bezug auf den ausgebildeten rozygote, stabile Transformanten. Zielgen deletiert. Ein anderes, aber ähnliches
Phänotyp unterscheiden, sodass zum vollen System verwendet die Flp-Rekombinase und
Verständnis einer Genfunktion immer mehrere Spezialfall: konditionale Systeme ihre FRT-Erkennungsstellen aus Hefe.
Allele eines Gens betrachtet werden sollten Um das zu untersuchende Gen nur ab einem
(»allelische Reihe«). bestimmen Zeitpunkt oder in einem bestimm-

a Die 34-bp-Fragmente der loxP- und FRT-Erkennungsstellen bestehen aus 13 bp als


a invertierte Wiederholungseinheiten (schwarz), die die rote Core-Sequenz aus 8 bp
flankieren. Diese Core-Sequenz bestimmt die Orientierung dieser Erkennungsstellen
(rote Pfeile). b Dimere der Cre- oder Flp-Rekombinase (rosa) katalysieren die Rekombi-
nation zwischen den beiden gleichsinnigen Erkennungsstellen (orange und rote Pfeil-
spitzen). Das führt zunächst zu einer Schlaufenbildung und dann zu einer direkten Ver-
b bindung der Regionen A und C; dabei geht die Region zwischen den beiden Erken-
nungsstellen zusammen mit einer der beiden Erkennungsstellen verloren. Wenn B eine
essenzielle Region eines Gens ist, führt die Rekombination zu einer Inaktivierung des
Gens. TSP: gewebespezifischer Promotor, cre/FLP: Gene der Cre- bzw. FLP-Rekombinase;
pA: Polyadenylierungsstelle. (Nach Lewandoski 2001, mit freundlicher Genehmigung
der Nature Publishing Group)
459 11

Formalgenetik

Das Untersuchungsmaterial Gregor Mendels: die Erbse (Pisum sativum) (Tuschezeichnung: S. Erni, Luzern)

11.1 Grundregeln der Vererbung: die Mendel’schen Regeln . . . . . . . 461

11.2 Statistische Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470


11.2.1 Mathematische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
11.2.2 Die χ2-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

11.3 Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln . . . . . 473


11.3.1 Unvollständige Dominanz und Codominanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
11.3.2 Multiple Allelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
11.3.3 Der Ausprägungsgrad von Merkmalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478
11.3.4 Polygene Vererbung – Genetik quantitativer Merkmale . . . . . . . . . . . 481
11.3.5 Pleiotropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485

11.4 Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen . . . . . . . 486


11.4.1 Geschlechtsgebundene Vererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486
11.4.2 Kopplung von Merkmalen auf autosomalen Chromosomen . . . . . . . . 486
11.4.3 Klassische Dreipunkt-Kreuzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
11.4.4 Moderne genomweite Kartierung mit Mikrosatelliten- und SNP-Markern 493
11.4.5 Kartierung von quantitativen Merkmalen und Modifikator-Genen . . . . 496

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
11.5 Populationsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
11.5.1 Hardy-Weinberg-Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
11.5.2 Genetische Zufallsveränderungen (random drift) . . . . . . . . . . . . . . . 502
11.5.3 Natürliche Selektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
11.5.4 Migration und Isolation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508

11.6 Evolutionsgenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511


11.6.1 Der letzte gemeinsame Vorfahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
11.6.2 Genetische Aspekte der Artbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 520
11.1 · Grundregeln der Vererbung: die Mendel’schen Regeln
461 11

Überblick

Die Ausprägung einzelner Merkmale ist über schiedliche Ausprägungsformen (Allele) gibt. Viele phänotypische Merkmale werden
Generationen hinweg genetisch eindeutig In den diploiden Zellen eines Organismus nicht durch ein einziges Gen bestimmt,
festgelegt. Bestimmte Eigenschaften treten können zwei identische (homozygote) oder sondern durch das Zusammenspiel mehrerer
daher in Individuen aufeinanderfolgender Ge- zwei unterschiedliche (heterozygote) Allele Gene (polygene Vererbung). Auch können
nerationen immer wieder in gleicher Art und vorhanden sein. Im heterozygoten Zustand einzelne Gene mehrere Merkmale in ihrer Aus-
Weise auf. Gregor Mendel (1822–1884) hat ist häufig nur das eine Allel erkennbar, wenn prägung beeinflussen (Pleiotropie). Diese
sich diese Beobachtung zunutze gemacht und man das Erscheinungsbild (den Phänotyp) Eigenschaften von Genen führen zu Phäno-
durch konsequente Kreuzungsanalyse von des Organismus betrachtet. Mendel hat diese typen, die sich nicht einfach nach den Men-
Pflanzen mit ausgewählten Merkmalen die Eigenart als Dominanz einer Merkmalsform del’schen Gesetzen vorhersagen lassen,
Grundregeln der Vererbung erkannt. bezeichnet. Die nicht sichtbare Form des Gens sondern komplizierterer genetischer Analysen
Der erste Schritt für das Verständnis von nannte er rezessiv; sie ist nur dann sichtbar, bedürfen.
Vererbungsvorgängen war die Erkenntnis, dass wenn sie in einem Individuum homozygot Die Verteilung von Allelen kann nicht nur
es konkrete erbliche Einheiten – die Gene – auftritt. auf der Ebene von Individuen, sondern auch
gibt (Mendel selbst sprach noch von »Merkma- Damit lässt sich die relative Anzahl unter- innerhalb von Populationen betrachtet wer-
len«). Für das Verständnis der Vererbung in schiedlicher Phänotypen der Nachkommen den. Die Gesamtheit der Gene in einer Genera-
Pflanzen und Tieren war als zweiter Schritt die errechnen. Diese Vorhersage gilt auf statisti- tion (Genpool) ist von einer Reihe von Fakto-
Erkenntnis entscheidend, dass jedes Gen in je- scher Grundlage, da die Vereinigung von ren abhängig, z. B. Selektion, Gründereffekt
der Zelle zweifach vorhanden ist (Diploidie). zwei Gameten in der Zygote dem Zufall unter- (bei kleinen Gruppen) und Zu- oder Abwande-
Schließlich folgte als dritter Schritt die Fest- liegt und man nur Aussagen über die mittle- rung von Individuen. Populationen unterlie-
stellung, dass die in Körperzellen doppelt vor- ren Häufigkeiten bestimmter Kombinatio- gen also im Laufe der Zeit Veränderungen, die
handenen Gene sich in den Keimzellen tren- nen machen kann. Mendel hatte jedoch nur dazu führen können, dass sich eine Population
nen müssen, um in den Gameten in einer ein- einen kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt genetisch von anderen, zunächst gleichartigen
fachen Ausführung (haploid) an die Nachkom- der Eigenschaften des Erbmaterials erfasst. Populationen entfernt und zu einer neuen Art
men übergeben werden zu können. So besitzen verschiedene Allele eines Gens weiterentwickelt.
Eine wichtige Voraussetzung für Mendels nicht immer klare Dominanz-Rezessivitäts-
Experimente war, dass es für Gene unter- Beziehungen.

11.1 Grundregeln der Vererbung: 4 Ein zweites, bis dahin in der Biologie ganz ungebräuch-
die Mendel’schen Regeln liches Mittel war die Verwendung statistischer Methoden
für die Auswertung seiner Kreuzungsexperimente. Mendel
Der Augustinerpater Gregor Mendel (1822–1884) gilt wegen der war als Physiker ausgebildet, sodass ihm die Anwendung
Auswertung und Interpretation seiner in großer Zahl angelegten mathematischer Methoden und die Forderung nach klarer
Kreuzungsexperimente als Gründer der Genetik als wissen- Abgrenzung experimenteller Parameter in naturwissen-
schaftlicher Disziplin. Er beschrieb diese Versuche und deren schaftlichen Versuchen vertraut waren.
Ergebnisse in seiner Arbeit Versuche über Pflanzenhybriden, die
1866 vom Naturforschenden Verein zu Brünn eröffentlicht wur- Die Beobachtungen Mendels sind zunächst völlig unverstanden
de (heute online unter http://www.deutschestextarchiv.de/book/ geblieben und bis zur Jahrhundertwende nicht weiter beachtet
show/mendel_pflanzenhybriden_1866 zu finden). Mendel be- worden. Das ist umso überraschender, als Darwins Deszendenz-
wies hier, dass erbliche Information in diskreten Einheiten, die theorie 1859, also kurz vor der Veröffentlichung von Mendels
er als Merkmale bezeichnete, an die Nachkommen weitergege- Schrift Versuche über Pflanzenhybriden, der Öffentlichkeit
ben werden: Er hatte damit die Existenz der Gene entdeckt. Zu- vorgelegt worden war. Hätte Charles Darwin (1809–1882) die
gleich aber konnte er durch seine Kreuzungsversuche die Grund- Mendel’schen Arbeiten in ihrer Bedeutung wahrgenommen,
regeln aufklären, die der Verteilung und der Wechselwirkung der wäre er vielleicht zu Erkenntnissen über den Verlauf der Evo-
Gene bei der Weitergabe an die nächste Generation zugrunde lution der Organismen gekommen, die erst im 20. Jahrhun-
liegen. Die Versuche wurden hauptsächlich an der Erbse (Pisum dert von anderen Wissenschaftlern formuliert wurden. Genau
sativum) durchgeführt, jedoch zum Teil an verschiedenen Pha- zur Jahrhundertwende, im Jahre 1900, begann sich die Gene-
seolus-Arten wiederholt, sodass Mendel von ihrer allgemeinen tik endgültig als eine eigene biologische Disziplin zu profilieren.
Gültigkeit überzeugt war. Vier Wissenschaftler – Hugo de Vries (1848–1935), Carl Erich
Mendel hat seine Entdeckung zwei wichtigen methodischen Correns (1864–1933), Erich von Tschermak-Seysenegg (1871–
Ansätzen zu verdanken, die er ganz bewusst zur Grundlage seiner 1962) und dessen Bruder Armin (1870–1952) – erkannten gleich-
Versuche gewählt hatte: zeitig aufgrund eigener neuer Experimente die Bedeutung der
4 Der Erfolg seiner Analyse beruhte zum einen auf der Arbeiten Mendels. In den folgenden Abschnitten wollen wir
Wahl eindeutig und klar gegeneinander abgrenzbarer zunächst Mendels Experimenten und deren Ergebnissen, in den
Merkmale, die er durch die Kreuzungen hinweg leicht ver- wichtigsten Abschnitten mit seinen eigenen Worten, nach-
folgen konnte. Die klare Abgrenzbarkeit des Charakters gehen.
eines Merkmals ist bis heute eine der wichtigsten Forde- Mendel wählte für seine Versuchsserien an Erbsen sieben
rungen für seine Verwendung in genetischen Versuchen Merkmale aus Unterschieden »in der Länge und Färbung der
geblieben. Stengel, in der Grösse und Gestalt der Blätter, in der Stellung,
462 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Abb. 11.1 Die von Gregor Mendel


untersuchten sieben Merkmale von
Pisum sativum (Nummerierung wie
in . Tab. 11.1). (Originalzeichnung:
S. Erni, Luzern)

11

Farbe und Größe der Blüthen, in der Lage der Blüthenstiele, in tischen Konstitution einmal als weiblicher Partner (bei Pflan-
der Farbe, Gestalt und Größe der Hülsen, in der Gestalt und zen also als Pollenempfänger), das andere Mal als männlicher
Größe der Samen, in der Färbung der Samenschale und des Partner (bei Pflanzen als Pollenspender) dienen. Pflanzen bie-
Albumens«. Er begründet diese Auswahl damit, dass ein Teil ten für solche Versuche besondere Vorteile, wenn sie ein-
der vorhandenen Merkmale »eine sichere und scharfe Trennung häusig  (monözisch) sind, da in diesem Fall die männlichen
nicht« zulässt, »indem der Unterschied auf einem oft schwierig und weiblichen Blüten auf einer Pflanze zu finden sind. Man
zu bestimmenden ›mehr oder weniger‹ beruht ... Solche Merk- kann mit ihnen Selbstbefruchtungen durchführen, sodass die
male waren für die Einzelversuche nicht verwendbar, diese genetische Konstitution der Gameten einheitlich ist. Erzeugt
konnten sich nur auf Charactere beschränken, die an den Pflan- man durch wiederholte Selbstbefruchtung reine Linien, d. h.
zen deutlich und entschieden hervortreten.« Die von Mendel Pflanzen, die in allen Nachkommengenerationen ein Merkmal
gewählten Merkmale und ihre alternativen Formen sind in stets nur in derselben Ausprägungsform aufweisen, sind die
. Abb. 11.1 und . Tab. 11.1 zusammengefasst. Ausgangsbedingungen der mit diesen Linien durchgeführten
Mendel kombinierte in seinen Versuchen jeweils zwei alter- Versuche eindeutig festgelegt. Neue Merkmalsformen oder
native Formen eines Merkmals und führte reziproke Kreuzun- Merkmalskombinationen in der Nachkommenschaft können
gen damit durch. Als reziproke Kreuzungen bezeichnet man dann ausschließlich ein Ergebnis der Kreuzungsbedingungen
Kreuzungen, bei denen Individuen einer bestimmten gene- sein.
11.1 · Grundregeln der Vererbung: die Mendel’schen Regeln
463 11

. Tab. 11.1 Mendels sieben Merkmale

Merkmal Ausprägungsform dominant Ausprägungsform rezessiv

(1) Gestalt der reifen Samen Kugelrund bis rundlich Unregelmäßig kantig, tief runzelig

(2) Farbe des Endosperms Blassgelb, hellgelb, orange Mehr oder weniger intensiv grün

(3) Färbung der Blüte (und Samenschale) Violette Fahne und purpurne Flügel (Samenschale grau, Weiße Blüte (Samenschale weiß)
graubraun oder lederbraun mit oder ohne violette
Punktierung; rötliche Stengel an den Blattachsen)

(4) Form der reifen Hülse Einfach gewölbt Eingeschnürt und mehr oder weniger
runzelig

(5) Farbe der unreifen Früchte Licht- bis dunkelgrün Lebhaft gelb

(6) Stellung der Blüten Achsenständig Endständig

(7) Achsenlänge Lang Kurz

Nach Mendel (1866)

Als erstes Ergebnis solcher Kreuzungen zeigte es sich, dass Ausführungen, d. h. diese werden während der Keimzellentwick-
stets nur eine der beiden alternativen Merkmalsformen in lung auf verschiedene Zellen verteilt. Bei der Befruchtung ver-
den Hybriden (wir sprechen heute von der F1-Generation oder schmelzen eine väterliche und eine mütterliche Keimzelle zur
1. Filialgeneration) zur Ausprägung kommt, während die alter- Zygote, und es entsteht so wieder eine Zelle mit zwei Ausführun-
native Form eines Merkmals nicht sichtbar ist (. Abb. 11.2). Die- gen des Merkmals.
se Beobachtung, dass reziproke Kreuzungen reiner Linien stets Zur leichten formalen Analyse von Kreuzungsexperimenten
gleiche Nachkommen ergeben, ist heute unter der Bezeichnung und den zu erwartenden Ergebnissen führte Reginald C. Punnett
1. Mendel’sche Regel oder als Uniformitäts- oder Reziprozi- zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1911) die in . Abb. 11.3c gezeigte
tätsregel eine der Grundregeln der Genetik. Darstellung ein, das heute als Punnett-Viereck bezeichnete Sche-
Die Interpretation dieser Beobachtungen ist in . Abb. 11.3a ma. In diesem Schema werden in den äußeren horizontalen und
gegeben. Mendel nahm an, dass der Organismus zwei Ausfüh- vertikalen Positionen alle möglichen genetischen Konstitutionen
rungen eines jeden Merkmals (im Beispiel also für die Parental- der väterlichen und mütterlichen Keimzellen eingetragen. In den
generation P: AA oder aa) besitzt. In den Nachkommen (F1) inneren Feldern des Vierecks ergeben sich dann aus den Kombi-
sind ebenfalls zwei Ausführungen zu finden, nun jedoch in ver- nationen beider Gametenkonstitutionen alle genetischen Konsti-
änderter Kombination: Es ist je eine Ausführung des väterlichen tutionen der Nachkommen. Diese Art der Auswertung hat sich als
und des mütterlichen Merkmals vorhanden. Wie erklärt sich besonders übersichtlich erwiesen, und wir werden noch sehen,
diese Neukombination, und wie kommt sie zustande? Die Erklä- dass sie auch bei komplexeren genetischen Konstitutionen der
rung finden wird in . Abb. 11.3b. Während gewöhnliche Zellen Gameten und bei der Untersuchung der Häufigkeiten der unter-
eines Organismus jeweils zwei Ausführungen des Merkmals be- schiedlichen F2-Konstitutionen sehr gute Dienste leistet. Sie ist
sitzen, enthalten Gameten (Keimzellen) nur eine dieser beiden daher anderen Kreuzungsschemata vorzuziehen.

. Abb. 11.2 1. Mendel’sche Regel. Monohybride Kreuzung


zweier reiner Linien unterschiedlicher Blütenfarbe von Pisum
sativum. Die Staubfäden des weiblichen Kreuzungspartners
(links) sind entfernt worden, um Selbstbefruchtung zu verhin-
dern. Der Pollen wird mit einem Pinsel auf die Narbe der
Samenpflanze übertragen. Die Nachkommen (F1-Generation)
zeigen alle einheitlich die dominante Blütenfarbe (purpur),
unabhängig davon, welche Linie als Pollen- oder Samen-
pflanze für die Kreuzung verwendet wurde
464 Kapitel 11 · Formalgenetik

b c
. Abb. 11.3 a Mendels Interpretation der Ergebnisse der monohybriden Kreuzung: Schema der Verteilung der Merkmale auf zellulärer Ebene. Die domi-
nanten Merkmale (Blütenfarbe purpur) sind mit großen Buchstaben, die rezessiven Merkmale (Blütenfarbe weiß) mit kleinen Buchstaben charakterisiert.
Mendel nahm an, dass jede gewöhnliche Zelle der Pflanze zwei Ausführungen jedes Merkmals enthält, die sich nur bei der Keimzellentwicklung voneinan-
der trennen und auf einzelne Gameten verteilen (Haploidie). Bei der Befruchtung wird der Zustand mit zwei Merkmalen wiederhergestellt (Diploidie).
11 b Genetische Konstitution der in a gezeigten Individuen. Das Schema gestattet es, die genetische Konstitution dieser Individuen zu erklären. Die reinen
Linien der Parentalgeneration (P) besitzen jeweils homozygot das dominante (AA) oder das rezessive (aa) Merkmal. Durch Aufspaltung in den Gameten
kommt es zur heterozygoten Konstitution (Aa) in der Filialgeneration (F1). Nur die dominante Merkmalsform (Allel) A kommt zur Ausprägung im Phänotyp.
c Die geeignete Darstellung der Kreuzung und ihrer Ergebnisse ist das Viereck nach Punnett. In den horizontalen und vertikalen Außenreihen werden alle
jeweils möglichen Gametenkonstitutionen der Eltern eingetragen. Die genetischen Konstitutionen der Nachkommen und ihre Häufigkeiten können dann
im Inneren des Vierecks direkt abgelesen werden

Mendel führte zur Kennzeichnung der in den Hybriden größer sind als beide Homozygoten. Mendel selbst schreibt hier-
sichtbaren Merkmalsform den Begriff dominant, für die un- zu: »Was das letzte Merkmal anbelangt, muss bemerkt werden,
sichtbare Form des Merkmals die Bezeichnung rezessiv ein. dass die längere der beiden Stamm-Achsen von der Hybride ge-
»Der Ausdruck ›recessiv‹ wurde deshalb gewählt, weil die damit wöhnlich noch übertroffen wird, was vielleicht nur der großen
benannten Merkmale in den Hybriden zurücktreten oder ganz Ueppigkeit zuzuschreiben ist, welche in allen Pflanzentheilen
verschwinden, jedoch unter den Nachkommen derselben, wie auftritt, wenn Axen von sehr verschiedener Länge verbunden
später gezeigt wird, wieder unverändert zum Vorschein kom- sind.« Man bezeichnet diese Erscheinung, dass ein Hybrid in
men« (Mendel 1866). Dieses Ergebnis bedeutete zugleich, dass seiner Erscheinungsform die Homozygoten übertrifft, heute als
alle Hybride das gleiche Erscheinungsbild aufweisen. Es ist hier- Heterosis oder Überdominanz (Shull 1908). Wir werden hierauf
bei ohne Bedeutung, aus welcher der beiden reziproken Kreu- in anderem Zusammenhang zurückkommen (7 Abschn. 11.5.3
zungen die dominante Form des Merkmals kommt. Mendel ver- und 7 Abschn. 11.3.4).
weist übrigens auch darauf, dass diese Beobachtung bereits zuvor Die in den zuvor beschriebenen Experimenten erhaltenen
von anderen Beobachtern beschrieben worden war und von ihm Hybriden wurden nun von Mendel untereinander weiterge-
praktisch nur bestätigt wird. kreuzt. Es zeigte sich, dass in der Nachkommenschaft (heute F2-
Für die Darstellung dominanter und rezessiver Merkmale in Generation oder 2. Filialgeneration genannt) beide ursprüngli-
Kreuzungen ist es üblich, dominante Merkmale mit großen, re- chen Merkmale wieder sichtbar werden. Allerdings treten diese
zessive mit kleinen Buchstaben anzugeben. Die Buchstaben sind nicht mit gleicher Häufigkeit auf, sondern das rezessive Merkmal
Abkürzungen der Bezeichnungen der Merkmale und werden wird nur in 25 % aller Nachkommen gefunden. Das Gleiche gilt
kursiv gesetzt. auch für die reziproke Kreuzung (. Abb. 11.4).
Wir wollen uns diese Ergebnisse anhand der von Mendel
> 1. Mendel’sche Regel: Nachkommen reziproker Kreuzungen
selbst beobachteten Zahlenverhältnisse vor Augen führen. In
reiner Linien besitzen einen einheitlichen Phänotyp
. Tab. 11.2 sind die Ergebnisse Mendels für die sieben zuvor be-
(Uniformitätsregel).
schriebenen Merkmale zusammengestellt. Das 3:1-Verhältnis
Es soll noch erwähnt werden, dass bei dem letzten der in wird in diesen Versuchen innerhalb gewisser Grenzen recht
. Tab. 11.1 verzeichneten Merkmale (Achsenlänge) die Hybriden gut erreicht. Wir erkennen aber auch, von welcher Bedeutung
11.1 · Grundregeln der Vererbung: die Mendel’schen Regeln
465 11
. Abb. 11.4 2. Mendel’sche Regel. Kreuzung der F1-Indivi-
duen der in . Abb. 11.2 dargestellten Kreuzung durch
Selbstbefruchtung. Die Nachkommen (F2) spalten im Ver-
hältnis 3:1 auf und zeigen in 25 % der Individuen das rezes-
sive Merkmal der P-Generation (weiße Blüten). Diese Indivi-
duen behalten ihren rezessiven Phänotyp bei Kreuzungen
mit anderen Individuen rezessiven Phänotyps bei. Sie sind
also reinerbig für das rezessive Merkmal. Kreuzt man hin-
gegen die Individuen mit dominantem Phänotyp (purpur-
farbige Blüten) durch Selbstbefruchtung weiter, so erhält
man in der folgenden Generation (F3) bei 2/3 der Indivi-
duen erneut eine Aufspaltung in Pflanzen mit rezessivem
oder dominantem Phänotyp im Zahlenverhältnis 1:3. Das
restliche Drittel der Individuen mit dominantem Phänotyp
behält diesen unverändert auch in den folgenden Gene-
rationen bei. Die genetische Konstitution der F2-Individuen
ist somit zu 25 % reinerbig (homozygot) für das rezessive
Merkmal (weiß: aa), zu 25 % reinerbig (homozygot) für das
dominante Merkmal (purpur: AA) und zu 50 % mischerbig
(heterozygot; Aa) (vgl. . Abb. 11.5)

es ist, dass eine ausreichende Anzahl von Nachkommen unter- gen (. Abb. 11.4). Bei den F2-Individuen mit dominanten Merk-
sucht wird, um dem theoretischen Wert möglichst nahezu- malsformen zeigt jedoch in den folgenden Generationen nur 1/3
kommen. unverändert die dominante Merkmalsausprägung, während die
Kreuzt man die verschiedenen Individuen der F2-Generation übrigen 2/3 wiederum bei 25 % ihrer Nachkommen die rezessive
durch Selbstbefruchtung weiter, so stellt sich heraus, dass die Merkmalsform sichtbar werden lassen. 75 % der Individuen der
Individuen mit der rezessiven Form eines Merkmals diese Form folgenden Generation tragen die dominante Merkmalsform.
in allen weiteren Generationen konstant zur Ausprägung brin- Auch in den folgenden Generationen verhalten sie sich bei Kreu-

. Tab. 11.2 F2-Generation einer monohybriden Kreuzung

Merkmal Phänotyp F1 Phänotypen F2 Anzahl F2-Individuen Verhältnis der F2-Phänotypen

(1) Samenform Rundlich Rundlich 5474

Kantig 1850 2,96:1

(2) Endosperm Blassgelb Blassgelb 6022

Grün 2001 3,01:1

(3) Blütenfarbe Violett Violett 705

Weiß 224 3,15:1

(4) Hülse Gewölbt Gewölbt 882

Eingeschnürt 299 2,95:1

(5) Früchte Dunkelgrün Dunkelgrün 428

Gelb 152 2,82:1

(6) Blütenstellung Achsenständig Achsenständig 651

Endständig 207 3,14:1

(7) Achsenlänge Lang Lang 787

Kurz 277 2,84:1

Nach Mendel (1866)


466 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Abb. 11.5 Mendels Interpretation der Ergebnisse der monohybriden


Kreuzung. Schema der Verteilung der Merkmale in der in . Abb. 11.4 dar-
gestellten Kreuzung auf zellulärer Ebene. Einzelheiten der Abbildung sind
in der Legende zu . Abb. 11.3 erklärt

zungen untereinander jeweils so, wie es für die Individuen der genetische Konstitution heterozygot, es liegt Heterozygotie
F2-Generation beschrieben wurde. vor. Diese genetische Konstitution eines Organismus bezeichnet
»Das Verhältnis 3:1, nach welchem die Vertheilung des do- man – zur Unterscheidung von seinem Erscheinungsbild (Phäno-
11 minanten und recessiven Characters in der ersten Generation typ) – als seinen Genotyp.
erfolgt, löst sich demnach für alle Versuche in die Verhältnisse
> Gene liegen in den somatischen Zellen eines Individuums
2:1:1 auf, wenn man zugleich das dominirende Merkmal in sei-
jeweils zweifach vor: Jede Zelle besitzt zwei Allele. Diese
ner Bedeutung als hybrides Merkmal und als Stamm-Character
beiden Allele können identisch oder verschieden sein. Der
unterscheidet« (Mendel 1866).
rezessive Phänotyp kommt nur in solchen Individuen zum
Mendel zieht nun auf der Grundlage dieser Versuche den fol-
Ausdruck, die homozygot für das rezessive Allel sind. Sind
genden Schluss: »Bezeichnet A das eine der beiden constanten
beide Allele unterschiedlich, kommt nur der dominante
Merkmale, z. B. das dominirende, a das recessive, und Aa die Hy-
Phänotyp zur Ausprägung.
bridform, in welcher beide vereinigt sind, so ergibt der Ausdruck:
In den bisher beschriebenen Experimenten wurde die Vererbung
A + 2 Aa + a
jeweils eines Merkmalspaares untersucht. Man bezeichnet solche
die Entwicklungsreihe für die Nachkommen der Hybriden je Kreuzungen daher auch als monohybride Kreuzungen. Als
zweier differirender Merkmale.« einen konsequenten weiteren Schritt führte Mendel Kreuzungen
In . Abb. 11.5 ist dieses Ergebnis in Anlehnung an . Abb. mit Pflanzen durch, die sich in mehreren Merkmalspaaren unter-
11.3 durch Darstellung der genetischen Konstitutionen der ver- schieden. Je nach der Anzahl der untersuchten Merkmalspaare
schiedenen Individuen wiedergegeben. spricht man dann von dihybriden Kreuzungen, trihybriden
Kreuzungen usw. Für solche polyhybriden Kreuzungen erwie-
> 2. Mendel’sche Regel: Kreuzungen der heterozygoten
sen sich insbesondere Samenmerkmale als besonders geeignet,
(mischerbigen) Nachkommen (F1) zweier reinerbiger
da sie am leichtesten zu analysieren sind (. Abb. 11.1). Mendels
Elternlinien untereinander führen zur Aufspaltung der
Beispiel für eine dihybride Kreuzung ist in . Abb. 11.6 darge-
Phänotypen nach bestimmten Zahlenverhältnissen
stellt.
(Spaltungsregel).
Das Wesentliche der Ergebnisse dihybrider Kreuzungen
Durch diese Versuche beweist Mendel, dass es Merkmale in ver- lässt sich wie folgt zusammenfassen: Unter neun verschiedenen
schiedenen Ausführungsformen gibt, die Varianten desselben Gruppen von Nachkommen, die sich aufgrund ihrer Merkmals-
genetischen Elementes (oder wie wir heute sagen: Gens) sind. kombinationen unterscheiden lassen, findet man bei weiteren
Man bezeichnet diese alternativen Formen als verschiedene Kreuzungen in den folgenden Generationen, dass sie hinsichtlich
Allele eines Gens. In jedem Individuum sind jeweils zwei Allele ihrer Merkmalsausprägung drei Hauptgruppen zuzuordnen sind
desselben Gens vorhanden. Diese beiden Allele innerhalb eines (Kombinationen I + IV, II, III; . Tab. 11.3). Die erste Gruppe
Organismus können identisch oder verschieden sein. Sind beide (I + IV) zeigt nur eine Form der Merkmale, und diese kommt
Allele in einem Organismus identisch, so nennt man die gene- auch in allen folgenden Generationen unverändert zum Aus-
tische Konstitution des Organismus homozygot, es liegt Homo- druck. In einer zweite Gruppe (II) ist jeweils eines der Merkmals-
zygotie vor. Sind die beiden Allele verschieden, so ist die paare in den folgenden Generationen unverändert, während das
11.1 · Grundregeln der Vererbung: die Mendel’schen Regeln
467 11

a b
. Abb. 11.6 3. Mendel’sche Regel. Dihybride Kreuzung (vgl. . Tab. 11.3). Die Eltern sind für zwei verschiedene Merkmale (A und B) heterozygot. a Die Ab-
bildung zeigt, entsprechend . Abb. 11.3 und . Abb. 11.5, den Erbgang auf zellulärer Ebene. Die Konstitution der Gameten der P-Generation repräsentiert
alle möglichen Kombinationen der in den diploiden Zellen vorhandenen Allele. Durch die zufällige Kombination der Gameten in der Zygote können neun
verschiedene Genotypen entstehen. b Darstellung der Kreuzung im Punnett-Viereck. Hieraus ist das für eine dihybride Kreuzung zweier heterozygoter
Eltern charakteristische Zahlenverhältnis der Phänotypen von 9:3:3:1 leicht abzuleiten

andere in beiden alternativen Formen vorkommen kann. In der 1866) beschaffen sein müssen, um die Ergebnisse seiner Kreu-
dritten Gruppe (III) treten für beide Merkmale beide alternative zungen zu erklären. Die Erklärung gibt Mendel mit den fol-
Formen in den Nachkommen auf (. Tab. 11.3, Analyse der F1- genden  Worten (Mendel 1866): »Da die verschiedenen con-
Phänotypen). Mendel schreibt: »Daher entwickeln sich die stanten Formen an einer Pflanze, ja in einer Blüthe derselben
Nachkommen der Hybriden, wenn in denselben zweierlei diffe- [d. h. Hybridpflanze] erzeugt werden, erscheint die Annahme
rirende Merkmale verbunden sind, nach dem Ausdrucke: folgerichtig, dass in den Fruchtknoten der Hybriden so vieler-
lei  Keimzellen (Keimbläschen) und in den Antheren so vieler-
AB + Ab + aB + ab + 2 ABb + 2 aBb + 2 AaB lei  Pollenzellen gebildet werden, als constante Combinations-
+2 Aab + 4 AaBb. formen möglich sind, und dass diese Keim- und Pollenzellen
ihrer inneren Beschaffenheit nach den einzelnen Formen ent-
Diese Entwicklungsreihe ist unbestritten eine Combinationsrei- sprechen.
he, in welcher die beiden Entwicklungsreihen für die Merkmale In der That lässt sich auf theoretischem Wege zeigen, dass
A und a, B und b gliedweise verbunden sind. Man erhält die diese Annahme vollständig ausreichen würde, um die Entwick-
Glieder der Reihe vollzählig durch Combinirung der Ausdrücke: lung der Hybriden in den einzelnen Generationen zu erklären,
wenn man zugleich voraussetzen dürfte, dass die verschiedenen
A + 2 Aa + a Arten von Keim- und Pollenzellen an der Hybride durchschnitt-
B + 2 Bb + b.« lich in gleicher Anzahl gebildet werden.«
Mendel führt auf der Grundlage dieser Überlegungen Kreu-
Ein gleicher Versuch wurde mit drei Merkmalen durchgeführt zungsversuche durch, die diese Annahmen bestätigen sollten.
und ergab ein dementsprechendes Ergebnis. Mendel schloss da- Auch sie wurden in reziproken Ansätzen ausgeführt, um die
raus, dass alle Merkmalsformen in allen denkbaren Kombinatio- Gleichwertigkeit von Samen- und Pollenzellen zu prüfen. Die
nen auftreten können, wenn man eine ausreichende Anzahl Ergebnisse bestätigten die Annahmen vollständig, und Mendel
künstlicher Befruchtungen ausführt. Mendel hatte damit er- hat damit erkannt, dass während der Bildung der Geschlechtszel-
kannt, dass Merkmale im Prinzip unabhängig voneinander auf len eine Verteilung der Allele erfolgt. Bei der Befruchtung wird
die Nachkommen übertragen werden. Dieser Befund wird allge- je ein Allel eines jeden Gens durch die beiden Gameten in der
mein als 3. Mendel’sche Regel oder als Prinzip der unabhängi- Zygote vereinigt. Wir sprechen daher von einem haploiden Zu-
gen Segregation von Merkmalen (engl. independent assort- stand (Haploidie) der reifen Keimzellen und einem diploiden
ment) bezeichnet. Zustand (Diploidie) der übrigen (= somatischen) Zellen eines
Organismus.
> 3. Mendel’sche Regel: Allele verteilen sich im Prinzip
unabhängig voneinander und unabhängig von den
> In höheren Organismen erfolgt ein Wechsel zwischen
Allelen anderer Gene auf die Nachkommen (Unabhängig-
Diploidie in somatischen Zellen und Haploidie in Ge-
keitsregel).
schlechtszellen. Bei der Verschmelzung zweier haploider
Eine weitere Versuchsreihe Mendels war nun der Frage gewid- Geschlechtszellen entsteht eine diploide Zygote, deren
met, wie die »Keim- und Pollenzellen der Hybriden« (Mendel Tochterzellen ebenfalls diploid sind.
468 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Tab. 11.3 Verlauf, Ergebnisse und Interpretation von Mendels dihybrider Kreuzung

Fragestellung: Kreuzung:
Besteht Koppelung?
P:
Verwendet werden Merkmale (1) und (2) aus . Tab. 11.1. Die Samenpflanze der P-Generation enthält die domi-
Kreuzung: nanten Formen der Merkmale (A und B), die Pollenpflanze die rezessiven (a und b).
homozygote Doppelmutante Genotypen: A/A B/B × a/a b/b
mit Wildtyp
Phänotypen: rund und gelb kantig und grün

F1: Analyse und Phänotypen:


F1: Analyse der Phänotypen
Genotypen: A/a B/b

Phänotypen: rund und gelb

Kreuzung der F1 untereinander:


Kreuzung:
A/a B/b × A/a B/b
F1 untereinander
Analyse der F2-Phänotypen:

Merkmalskombination Anzahl

F2: Analyse der Phänotypen I. rund und gelb 315


II. kantig und gelb 101
III. rund und grün 108
IV. kantig und grün 32
Interpretation Insgesamt 556
11 Kreuzung der F2 in Einzeltests:
Kreuzung:
Selbstbefruchtung F3 Merkmalskombination I:

rund und gelb × rund und gelb

F3:
F3: Analyse der Phänotypen
Merkmale Anzahl Allele in Eltern

rund und gelb 38 AB


rund und gelb oder grün 65 ABb
rund oder kantig und gelb 60 AaB
rund oder kantig und gelb oder grün 138 AaBb

Merkmalskombination II:

kantig und gelb × kantig und gelb

F 3:

Merkmale Anzahl Allele in Eltern

kantig und gelb 28 aB

kantig und gelb oder grün 68 aBb

Merkmalskombination III:

rund und grün × rund und grün

F 3:

Merkmale Anzahl Allele in Eltern

rund und grün 35 Ab


rund oder kantig und grün 67 Aab
11.1 · Grundregeln der Vererbung: die Mendel’schen Regeln
469 11

. Tab. 11.3 (Fortsetzung)

Merkmalskombination IV:

kantig und grün × kantig und grün

F3:

Merkmale Anzahl Allele in Eltern

kantig und grün 30 ab

Interpretation: Mendel teilt die Nachkommen aus Selbstbefruchtung aller Merkmalskombinationen in drei
Interpretation Gruppen ein. Deren erste ist dadurch gekennzeichnet, dass die jeweiligen Merkmale in allen folgenden Genera-
tionen unverändert auftreten. Diese Gruppe muss also homozygot für jedes der Merkmale sein.

Gruppe 1: Merkmale Pflanzen Konstitution

AB 38 A/A B/B

Ab 35 A/A b/b

aB 28 a/a B/B

ab 30

Gemittelt: 33

Die zweite Gruppe ist nur für eines der beiden Merkmale homozygot, spaltet aber bei Selbstbefruchtung für
das andere in der folgenden Generation auf.

Gruppe 2: Merkmale Pflanzen Konstitution

ABb 65 A/A B/b

aBb 68 a/a B/b

AaB 60 A/A b/B

Aab 67 A/a b/b

Gemittelt: 65

Die dritte Gruppe spaltet für beide Merkmale in der folgenden Generation auf, ist also für beide Merkmale
heterozygot.

Gruppe 3: Merkmale Pflanzen Konstitution

AaBb 138 A/a B/b

Ergebnis: Das Zahlenverhältnis der Pflanzen in den Gruppen 1 bis 3 ist:


33:65:138 = 1:1,97:4,18, also etwa 1:2:4

Resultat: Resultat: Mendel erkannte, dass sich alle Genotypen und ihre Häufigkeiten durch die folgende mathematische
unabhängige Vererbung Formulierung ermitteln lassen:
oder nicht
(A + 2Aa + a) (B + 2Bb + b) =
AB + 2ABb + Ab + 2AaB + 4AaBb + 2Aab + aB + 2aBb + ab

Häufigkeiten im 38 65 35 60 138 67 28 68 30
Experiment:

Gerundet: 1 2 1 2 4 2 1 2 1

Diese Feststellung besagt, dass sich alle Merkmale in den Nachkommen untereinander frei miteinander kombi-
nieren können, d. h. dass sie unabhängig voneinander auf die Keimzellen verteilt werden.

Daten nach Mendel (1866)


470 Kapitel 11 · Formalgenetik

11.2 Statistische Methoden lässig angesehen wird. Die Größe dieses Bereichs kann vom Expe-
rimentator festgelegt werden. Natürlich sind die Ergebnisse umso
Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass der Erfolg der zuverlässiger, je kleiner die zugestandene Schwankungsbreite ist.
Mendel’schen Versuchsanordnung auf der Verwendung statisti- Diese Überlegungen machen deutlich, dass es kein eindeutiges
scher Methoden beruht. Das wird aus seinen Versuchsdaten Maß dafür gibt, ob ein experimenteller Wert tatsächlich dem theo-
deutlich, wenn wir uns die . Tab. 11.2 ansehen. Für alle Merk- retisch erwarteten Wert entspricht. Vielmehr lassen uns statistische
male sind relativ große Anzahlen von Nachkommen auf ihren Behandlungen nur sehen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass
Phänotyp hin untersucht worden. Es ist deutlich, dass die Abwei- ein experimentell ermittelter Wert der Erwartung entspricht.
chung vom theoretischen Wert 3:1, der nach den Mendel’schen Wir erkennen aus dieser Diskussion ein weiteres wichtiges
Vorstellungen erwartet werden muss, umso größer ist, je geringer Element der statistischen Behandlung von Daten: Es muss zu-
die Anzahl der ausgezählten Phänotypen ist (Merkmale 3, 5, 6 nächst eine theoretische Grundlage dessen formuliert werden,
und 7). Das ist auch nach den Regeln der Statistik verständlich, was geprüft werden soll. Die statistische Behandlung besteht
denn bei kleineren Mengen sind Zufallsschwankungen stets dann darin, mathematisch zu testen, ob ein experimentelles Er-
stärker ausgeprägt. gebnis dieser theoretischen Vorgabe wahrscheinlich entspricht
Hiernach stellt sich die Frage, wann eine genügende Anzahl oder nicht. Man bezeichnet einen solchen Vorgang der Formu-
von Phänotypen untersucht worden ist, um sicher zu sein, dass lierung einer theoretischen Grundlage, die mit dem Ergebnis
das Ergebnis richtig interpretiert wird und man nicht durch übereinstimmen soll, als Hypothesentest. Es ist ein Prüfverfah-
Zufallsschwankungen falsche Rückschlüsse über einen Ver- ren, das Auskunft darüber gibt, ob die Hypothese richtig oder
erbungsgang zieht. Dieses Problem stellt sich vor allem dann, falsch ist, d. h. ob sie »angenommen« oder »verworfen« werden
wenn man in Mehrfaktoren-Kreuzungen eine große Anzahl soll. Sind die Abweichungen von der Hypothese klein, d. h. sind
unterschiedlicher Phänotypen erhält und man sicherstellen sie rein zufallsbedingt, dann wird die Hypothese angenom-
muss, dass diese nicht falsch interpretiert werden. Für die Kar- men. Sind die Abweichungen hingegen durch den Zufall allein
tierung von Genen durch Crossing-over ist es besonders wichtig nicht erklärbar – handelt es sich also um signifikante Abwei-
zu entscheiden, wie groß die Genauigkeit eines ermittelten chungen –, dann wird die Hypothese abgelehnt. Die Hypothese,
Wertes ist. dass Abweichungen dem Zufall zuzuschreiben sind, nennt man
11 die Nullhypothese (H0). Die Gegen- oder Alternativhypothese
wird in der Statistik mit HA bezeichnet.
11.2.1 Mathematische Grundlagen Es sei nur nebenbei bemerkt, dass dieses Vorgehen ganz ge-
nerell der Methodik empirischer naturwissenschaftlicher For-
Bei einer statistischen Behandlung von Kreuzungsergebnissen schung entspricht: Aufgrund bereits vorhandener Daten formu-
geht man davon aus, dass ein experimentell ermittelter Wert im lieren wir Arbeitshypothesen, die wir dann durch geeignete
Rahmen einer Zufallsverteilung (Normalverteilung) schwankt. Experimente zu bestätigen versuchen. Gelingt das in ausreichen-
Eine solche Normalverteilung wird durch den Mittelwert μ dem Maße, so akzeptieren wir eine Hypothese als richtig und
und die Standardabweichung σ charakterisiert. Die Standard- bezeichnen sie dann als eine Theorie (z. B. Chromosomentheorie
abweichung σ lässt erkennen, ob eine Gauß-Verteilungskurve der Vererbung). Ist es jedoch nicht möglich, diese Hypothese
schmal (σ klein) oder sehr breit (σ groß) ist. Unter Einbezug des zu bestätigen und widersprechen die Ergebnisse unserer Ex-
Wertes der Standardabweichung kann man die Verteilungs- perimente, die zur Bestätigung gedacht waren, ihren Annah-
kurve normieren und erhält dann eine normierte Normalver- men,  so müssen wir diese Hypothese als unrichtig verwerfen
teilung. Diese normierte Normalverteilung ist eine Verteilung (7 Abschn. 1.3).
mit dem Mittelwert μ = 0 und der Standardabweichung σ = 1
(. Abb. 11.7). Beschreibt man die Fläche unter einer Normalver-
y
teilungskurve als Funktion von x (also: )(x)), so gibt der Flä-
chenanteil jedes einzelnen Teilelementes dieser Fläche Wendepunkt Wendepunkt
d)(x) = ij(x) dx die Wahrscheinlichkeit wieder, in einem Expe- der Kurve der Kurve
σ σ
riment einen x-Wert zu erhalten, der zwischen den Grenzwer-
ten  x und x + dx dieses Flächenelementes liegt. Je kleiner ein
Flächenelement ist, das durch zwei experimentell erhaltene
x x
x-Werte begrenzt wird, desto geringer wird die Wahrscheinlich- μ-4σ μ-3σ μ-2σ μ-σ μ μ+σ μ+2σ μ+3σ μ+4σ
keit, dass ein experimentell erhaltener Wert dem Mittelwert μ 68,27%
zugeordnet werden kann. In . Abb. 11.7 ist das jeweils für ein 95,45 %
Vielfaches von σ angegeben: Wir sehen dabei, dass etwa 95 % 99,73 %
99,99 %
aller Werte innerhalb des Bereichs von μ − 2σ und μ + 2σ liegen;
der genaue Wert für 95 % beträgt dabei μ ± 1,96σ (und entspre- . Abb. 11.7 Normalverteilung. Die Kurve zeigt die Wahrscheinlichkeit einer
Zufallsabweichung von Beobachtungsdaten vom theoretischen Mittelwert
chend für 99 % μ ± 2,58σ).
μ. Die Standardabweichung σ wird durch die Wendepunkte der Kurve defi-
Diese mathematischen Grundlagen gestatten es also, Aussagen niert. Rund 95 % aller Beobachtungen liegen zwischen μ − 2σ und μ + 2σ;
über die Wahrscheinlichkeit zu machen, dass ein experimenteller weitere Flächenanteile der Normalverteilung sind in der Abbildung angege-
Wert innerhalb eines Schwankungsbereichs liegt, der noch als zu- ben. (Nach Sachs 2002, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
11.2 · Statistische Methoden
471 11
Eine Methode zur Bestätigung oder Ablehnung von Hypo-
thesen kann übrigens auch in dem Versuch bestehen, Möglich- H0 trifft zu HA trifft zu
Teststärke
keiten zur Widerlegung (Falsifizierung) der Aussage zu prüfen. 1−β
Gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, eine Hypothese zu wi- β TS
α
derlegen, so wird meistens auch das als ein Argument für ihre
Kritischer Wert (Schwellenwert) der Teststatistik (Prüfgröße) TS
Richtigkeit akzeptiert.
. Abb. 11.8 Trennschärfe von Stichprobenverteilungen. Es sind zwei
> Statistische Methoden dienen dazu, die Wahrscheinlich-
Stichprobenverteilungen angegeben: Die linke repräsentiert die Null-
keit zu ermitteln, mit der experimentell ermittelte Daten hypothese (H0), die rechte die Alternativhypothese (HA). Der Balken mar-
den theoretisch geforderten Ergebnissen eines Experi- kiert den kritischen Wert (Schwellenwert): Erreicht oder überschreitet
ments entsprechen. Die theoretischen Werte erhält man dieser Wert der Teststatistik den kritischen Wert, dann wird die Nullhypo-
durch Formulierung einer Nullhypothese. these abgelehnt, d. h. die Alternativhypothese akzeptiert. Wird der
kritische Wert durch die Teststatistik nicht erreicht, dann besteht keine
Veranlassung, die Nullhypothese abzulehnen, d. h. sie wird beibehalten.
Mit kleiner werdender Irrtumswahrscheinlichkeit α nimmt die Trenn-
schärfe (Teststärke: 1 − β) ab. Häufig begnügt man sich mit α = 0,05 (= 5 %)
11.2.2 Die χ2-Methode und einer Teststärke von etwa 80 %. (Nach Sachs 2002, mit freundlicher
Genehmigung von Springer)
Experimentelle Daten kann man als verschiedene x-Werte
unserer normierten Zufallsverteilung ansehen. Um den Grad
der Wahrscheinlichkeit zu prüfen, dass sie einem erwarteten
Mittelwert μ zugeordnet werden dürften, hat man durch mathe- Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Hypothese. Es steht
matische Anwendung der Kurvenfunktion φ(x) einen Wert χ2 natürlich jedem frei, das Kriterium für die Wahrscheinlichkeit
(chi-Quadrat, engl. chi-square) eingeführt, mit dessen Hilfe die zu erhöhen und erst höhere Werte von p als statistisch signi-
Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit einer bestimmten Hypo- fikant anzusehen. In unserer normierten Normalverteilung
these leicht abgeschätzt werden kann. Dieser Wert χ2 errechnet (. Abb. 11.7) würde damit der vom Mittelwert μ als zufällige
sich nach der Gleichung Abweichung zulässige Bereich der Verteilungskurve stärker
eingeengt. Einen Überblick über die verschiedenen Größen,
2
⎡ B − E − 1 2⎤⎦ die für diese statistischen Überlegungen relevant sind, gibt
χ2 = ∑ ⎣ , . Abb. 11.8.
E

wobei B der Beobachtungswert und E der erwartete Wert ist. C Zur Veranschaulichung wollen wir diese Berechnungen am
Die Verminderung um 1/2 vom Absolutwert der Abwei- praktischen Beispiel der Mendel’schen Experimente für die
chung (beobachtet – erwartet) wird als Yates-Korrektur bezeich- F2-Generation einer monohybriden Kreuzung durchführen
net. Sie erhöht die Genauigkeit der Ȥ2-Bestimmung, wenn die (. Tab. 11.2). Zum Vergleich wurden die Resultate der Kreu-
Zahlen in beiden erwarteten Klassen klein sind. Die Yates-Kor- zung mit der niedrigsten und der höchsten Anzahl ermittelter
rektur entfällt jedoch immer, wenn die Freiheitsgrade größer als Phänotypen (Merkmale 5 und 2) ausgewählt und dem χ2-Test
1 sind (d. h. bei der Auswertung dihybrider Kreuzungen mit der unterworfen (. Tab. 11.5). Die Berechnung lässt uns erken-
Erwartung einer 9:3:3:1-Aufspaltung). nen, dass beide Datensätze einen p-Wert von deutlich über
Ein weiterer Parameter ist zur Berechnung noch zu berück- 0,05 haben, also mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit da-
sichtigen. Wollen wir nämlich mehrere Werte, die miteinander für sprechen, dass die Nullhypothese einer 1:3-Verteilung
zusammenhängen, wie etwa die 9:3:3:1-Verteilung einer dihy- richtig ist. Wir können aus dem Beispiel auch erkennen, dass
briden Kreuzung, auf ihre Signifikanz beurteilen, so müssen wir die größere Anzahl ausgewerteter Phänotypen (Merkmal 2)
die Anzahl der Freiheitsgrade berücksichtigen. Die Anzahl der eine größere Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Null-
Freiheitsgrade ist im Allgemeinen um 1 geringer als die Gesamt- hypothese mit sich bringt. Beurteilungen von Kreuzungs-
zahl der Möglichkeiten. Das ist leicht einzusehen, wenn wir uns daten können auch mit anderen statistischen Mitteln erfol-
die 9:3:3:1-Verteilung betrachten. Von den vier Möglichkeiten gen, z. B. mithilfe der Varianz. Die χ2-Methode ist jedoch
verschiedener Phänotypen hat man, von einem Phänotyp aus am gebräuchlichsten.
gesehen, nur noch drei alternative Möglichkeiten, d. h. die An-
zahl seiner Freiheitsgrade ist 4 − 1 = 3. > Die am häufigsten verwendete statistische Methode
Die Korrelation zwischen dem experimentell ermittelten zur Prüfung von Kreuzungsergebnissen ist die χ2-Me-
Ȥ2-Wert, der Anzahl der Freiheitsgrade und der Wahrschein- thode. Sie dient dazu, die Wahrscheinlichkeit zu er-
lichkeit (p) (engl. probability) ist komplex und wird daher in mitteln, mit der ein experimentell ermittelter Wert dem
Tabellen zusammengefasst (. Tab. 11.4). Je höher die Wahr- erwarteten Mittelwert einer normierten Zufallsvertei-
scheinlichkeit, je größer also der Wert von p, desto verlässli- lung entspricht.
cher  entsprechen die experimentellen Daten der aufgestellten
Nullhypothese. Nach allgemeiner Übereinkunft wird ein Wert
von p ≥ 0,05 als statistisch signifikant angesehen, d. h. Werte,
die in einen solchen p-Wertbereich fallen, sprechen mit großer
472 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Tab. 11.4 Die Ȥ2-Verteilung. Kritische Werte Ȥ2 (p, f )

Irrtumswahrscheinlichkeit p

f 0,99 0,975 0,95 0,90 0,70 0,50 0,30 0,10 0,05 0,025 0,01 0,001
1 0,00016 0,001 0,004 0,0158 0,148 0,455 1,07 2,71 3,84 5,02 6,62 10,8
2 0,0201 0,0506 0,103 0,211 0,713 1,39 2,41 4,61 5,99 7,38 9,21 13,8
3 0,115 0,216 0,352 0,584 1,42 2,37 3,67 6,25 7,81 9,35 11,3 16,3
4 0,297 0,484 0,711 1,06 2,19 3,36 4,88 7,78 9,49 11,1 13,3 18,5
5 0,554 0,831 1,15 1,61 3,00 4,35 6,06 9,24 11,1 12,8 15,1 20,5
6 0,872 1,24 1,64 2,20 3,83 5,35 7,23 10,6 12,6 14,4 16,8 22,5
7 1,24 1,69 2,17 2,83 4,67 6,35 8,38 12,0 14,1 16,0 18,5 24,3
8 1,65 2,18 2,73 3,49 5,53 7,34 9,52 13,4 15,5 17,5 20,1 26,1
9 2,09 2,70 3,33 4,17 6,39 8,34 10,7 14,7 16,9 19,0 21,7 27,9
10 2,56 3,25 3,94 4,87 7,27 9,34 11,8 16,0 18,3 20,5 23,2 29,6
11 3,05 3,82 4,57 5,58 8,15 10,3 12,9 17,3 19,7 21,9 24,7 31,3
12 3,57 4,40 5,23 6,30 9,03 11,3 14,0 18,5 21,0 23,3 26,2 32,9
13 4,11 5,01 5,89 7,04 9,93 12,3 15,1 19,8 22,4 24,7 27,7 34,5
14 4,66 5,63 6,57 7,79 10,8 13,3 16,2 21,1 23,7 26,1 29,1 36,1
15 5,23 6,26 7,26 8,55 11,7 14,3 17,3 22,3 25,0 27,5 30,6 37,7
16 5,81 6,91 7,96 9,31 12,6 15,3 18,4 23,5 26,3 28,8 32,0 39,3
17 6,41 7,56 8,67 10,1 13,5 16,3 19,5 24,8 27,6 30,2 33,4 40,8
18 7,01 8,23 9,39 10,9 14,4 17,3 20,6 26,0 28,9 31,5 34,8 42,3
11 19 7,63 8,91 10,1 11,7 15,4 18,3 21,7 27,2 30,1 32,9 36,2 43,8
20 8,26 9,59 10,9 12,4 16,3 19,3 22,8 28,4 31,4 34,2 37,6 45,3
30 15,0 16,8 18,5 20,6 25,5 29,3 33,5 40,3 43,8 47,0 50,9 59,7
40 22,2 24,4 26,5 29,1 34,9 39,3 44,2 51,8 55,8 59,3 63,7 73,4
50 29,7 32,4 34,8 37,7 44,3 49,3 54,7 63,2 67,5 71,4 76,2 86,7
60 37,5 40,5 43,2 46,5 53,8 59,3 65,2 74,4 79,1 83,3 88,4 99,6
70 45,4 48,8 51,7 55,3 63,3 69,3 75,1 85,5 90,5 95,0 100,4 112,3
80 53,5 57,2 60,4 64,3 72,9 79,3 86,1 96,6 101,9 106,6 112,3 124,8
90 61,8 65,6 69,1 73,3 82,5 89,3 96,5 107,6 113,1 118,1 124,1 137,2
100 70,1 74,2 77,9 82,4 92,1 99,3 106,9 118,5 124,3 129,6 135,8 149,4

f: Anzahl der Freiheitsgrade

. Tab. 11.5 Berechnung des χ2-Wertes für ausgewählte F2-Generationen der Experimente in . Tab. 11.2

Merkmal (2)

Hypothese Merkmal Beobachtet B Erwartet E |B−E| − 1/2 = A A2/E = Ȥ2

3/4 blassgelb 6022 6017 4,5 0,00337


1/4 grün 2001 2006 4,5 0,01009
6Ȥ2 = 0,01346
p liegt nach . Tab. 11.4 zwischen 0,95 und 0,90

Merkmal (5)

Hypothese Merkmal Beobachtet B Erwartet E |B−E| − 1/2 = A A2/E = Ȥ2

3/4 dunkelgrün 428 434 5,5 0,0697


1/4 gelb 152 145 6,5 0,2914
6Ȥ2 = 0,3611

p liegt nach . Tab. 11.4 zwischen 0,7 und 0,5


11.3 · Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
473 11
11.3 Mendel aus heutiger Sicht – zu erklären. Die Bezeichnung »Ausnahme« wird jedoch den
Ergänzungen seiner Regeln Tatsachen nicht gerecht: Die Grundannahme Mendels, dass
ein Wechsel zwischen Diploidie und Haploidie besteht und
Mendel hat durch seine Versuche das Prinzip der Vererbung ver- dass Merkmale bei der Bildung der Gameten im Prinzip un-
stehen gelernt und es in beeindruckender Weise wissenschaftlich abhängig voneinander verteilt werden, behält auch für schein-
dokumentiert. Obwohl viele Einzelbeobachtungen über die Ver- bar  abweichende Vererbungsphänomene ihre prinzipielle
erbung von Eigenschaften bereits vor ihm beschrieben worden Geltung. Die vermeintlichen Ausnahmen sind dadurch be-
waren, haben diese einen rein deskriptiven Charakter behalten, dingt, dass zusätzliche Eigenschaften im Charakter und in der
und es ist erst ihm gelungen, seine Beobachtungen durch eine Art der Verteilung des genetischen Materials vorliegen, die
sorgfältige Wahl des Versuchsmaterials und durch die Anwen- Mendels Regeln nicht erfassen. Diese Regeln bedürfen daher der
dung statistischer Methoden in einem theoretischen Konzept Ergänzung.
zusammenzufassen und in einen kausalen Zusammenhang zu Eine dieser Ergänzungen betrifft das Konzept der cyto-
bringen. plasmatischen Vererbung. Dieser Begriff wurde von Carl Erich

*Inwiederholt
den letzten Jahren ist in der wissenschaftlichen Literatur
Kritik an Mendel geübt worden, und man hat
Correns geprägt; darunter versteht man die Tatsache, dass
nicht alle genetischen Informationen auf den Chromosomen
des Zellkerns lokalisiert sind. Vielmehr verfügen die Mito-
die Korrektheit seiner Daten aus statistischer Sicht ange-
chondrien aller eukaryotischen Zellen sowie die Chloroplasten
zweifelt. Die quantitativen Analysen der Kreuzungsdaten
der Pflanzenzellen jeweils über eine eigene DNA, die unab-
geben eine von der Zufallserwartung abweichende Vertei-
hängig vom Kerngenom vererbt wird (vgl. 7 Abschn. 5.1.3 und
lung, die wohl nur damit erklärt werden kann, dass Mendel
7 Abschn. 5.1.4). Weitere Ergänzungen werden im Folgenden
stark abweichende Ergebnisse in seine publizierten Daten-
besprochen.
sammlungen nicht eingeschlossen hat. Der Vorwurf be-
steht also letztlich darin, dass Mendel seine Ergebnisse
manipuliert hat, um seine Schlüsse deutlicher herauszustel-
11.3.1 Unvollständige Dominanz
len. Es erscheint durchaus denkbar, dass Mendel in der Tat
und Codominanz
extrem abweichende Kreuzungsdaten nicht in seine Doku-
mentation einbezogen hat (Edwards 1986). Nach unseren
heutigen Vorstellungen muss das als Manipulation angese-
C Ein Beispiel für eine scheinbare Ausnahme von den Mendel’schen
Regeln bietet die Blütenfarbe der Wunderblume Mirabilis jalapa,
hen werden.
wenn man eine reine weiße und eine reine rote Rasse kreuzt
Ganz unabhängig von der Frage, ob die Behauptung der Mani- (. Abb. 11.9). Die F1-Hybriden sind weder weiß noch rot, wie
pulation gerechtfertigt ist, geht die Kritik an der Tatsache vorbei, nach Mendel zu erwarten wäre, sondern rosa. Sie zeigen also
dass Mendel auf der Grundlage seiner Beobachtungen Erkennt- eine Merkmalsausprägung, die wie eine Mischung der Eltern-
nisse formulieren konnte, die völliges Neuland in der Biologie merkmale aussieht. Man hat diese Art der Vererbung daher frü-
darstellten und die sich als sachlich richtig erwiesen haben. Es her auch als intermediär bezeichnet. Kreuzt man solche F1-Hybri-
lässt sich heute kaum ermessen, welchen Stellenwert biologische den untereinander, so findet man unter den Nachkommen sol-
Experimente und zudem die Auswertung quantitativer Daten che mit weißer, mit roter und mit rosa Blütenfarbe. Die relativen
zu einer Zeit hatten, in der die Biologie als rein deskriptive Anzahlen dieser drei Merkmalstypen entsprechen denen, die
Wissenschaft betrieben wurde. Es ist zudem ein fragwürdiger nach den Mendel’schen Regeln für eine Aufspaltung erwartet
Versuch, die wissenschaftliche Aufrichtigkeit Mendels mit den werden (1:2:1, . Abb. 11.4 und . Abb. 11.5).
Augen moderner Wissenschaftler zu beurteilen. Uns kommt
aufgrund der sich in den letzten Jahren stets zunehmenden Allerdings bedürfen alle neu beobachteten Phänotypen einer
Häufigkeit versuchter Manipulation von Daten ein solcher Ver- sorgfältigen Überprüfung der 1:2:1-Aufspaltung hinsichtlich
dacht nur allzu leicht auf, zumindest, wenn es sich um Ergeb- ihres monogenen Charakters, um sie von ähnlichen Aufspaltun-
nisse von grundlegender Bedeutung handelt. Wir müssen uns gen zu unterscheiden, die durch Interaktionen zwischen mehre-
jedoch vor Augen halten, dass der Stellenwert der Wissenschaft ren Genpaaren hervorgerufen werden können. Dies ist anhand
zu Mendels Zeit zu gering war, als dass die Manipulation von einer Analyse der F3-Nachkommen in einfacher Weise möglich:
Daten von irgendeinem Vorteil gewesen wäre oder praktische Die als homozygot beurteilten F2-Individuen dürfen nach einer
Bedeutung gehabt hätte. Die Bedeutungslosigkeit der Men- inter-se-Kreuzung in der F3-Generation niemals eine Aufspal-
del’schen Befunde für nahezu ein halbes Jahrhundert spricht tung zeigen, während die als heterozygot eingestuften Individuen
für sich selbst. stets erneut eine 1:2:1-Aufspaltung zeigen.
Obwohl sich Mendels Interpretationen seiner Versuchser- Zurück zur Wunderblume: Die Pflanzen mit weißen und ro-
gebnisse auch von unserer heutigen Kenntnis der molekularen ten Blüten erweisen sich in weiteren Kreuzungen als homozygot,
Grundlagen der Vererbung her als richtig erwiesen haben, während Pflanzen mit rosa Blüten sich stets wieder in gleicher
lassen sich einige Beobachtungen über die Vererbung bestimm- Weise in Nachkommen mit weißer, roter und rosa Blütenfarbe
ter Merkmale nicht ohne zusätzliches Wissen verstehen. Man aufspalten (. Abb. 11.5). Das zeigt uns, dass die rosa Farbe durch
hat daher bisweilen von »Ausnahmen von den Mendel’schen das Zusammenspiel beider Allele, dem für weiße und dem für
Regeln« gesprochen, um anscheinend abweichende Erbgänge rote Blütenfarbe, zustande kommt. Von unserem heutigen Wis-
474 Kapitel 11 · Formalgenetik

chenden Beobachtungen nicht mit Mischung (unvollständiger


Dominanz) der Merkmale, sondern durch eine multifaktorielle
Vererbung zu erklären.

*(2005),
Eine Überraschung erlebten allerdings Lolle und Mitarbeiter
als sie eine Mutante bei Arabidopsis untersuchten, die
Fusionen der Blüte zeigt (engl. HOTHEAD, Gensymbol HTH).
Die Autoren haben insgesamt elf Mutationen an diesem
Genort entdeckt. Wenn sie nun homozygote Mutanten durch
Selbstbestäubung weiterzüchten wollten, traten unter den
Nachkommen Wildtyp-Pflanzen auf, und zwar mit einer Häu-
figkeit von 10−1 bis 10−2. Die molekulare Analyse zeigte in
allen Fällen, dass diese Wildtyp-Nachkommen heterozygote
HTH-Gene tragen. Noch komplizierter wird die Sache durch
den Befund, dass dieses Phänomen wohl im Wesentlichen
über die männliche Keimbahn (den Pollen) hervorgerufen
wird. Die weitere Analyse zeigte, dass die Reversion zum
Wildtyp mit gängigen Hypothesen, wie verminderte Pene-
tranz, Epistasie (7 Abschn. 11.3.3) oder Genkonversion, nicht
. Abb. 11.9 Unvollständige Dominanz. Bei Kreuzung einer roten und einer
weißen Rasse der Wunderblume Mirabilis jalapa zeigt die F1 eine rosa Blü- erklärbar ist. Die Autoren spekulieren deshalb über einen
tenfarbe. Kreuzungen der F1 untereinander führt in der F2 zur Aufspaltung »Speicher«, in dem die genetische Information früherer
in Pflanzen mit roten, rosa und weißen Blüten im Verhältnis 1:2:1. Die hete- Generationen aufbewahrt wird. Neuere Arbeiten geben
rozygoten und die homozygoten Konstitutionen sind also zu unterscheiden aber eine viel einfachere Erklärung: eine Bestäubung durch
und lassen im Gegensatz zu Kreuzungen von Heterozygoten mit einem do- Wildtyp-Pollen, die offensichtlich durch eine Kontamina-
minanten und einem rezessiven Allel die Zahlenverhältnisse der verschie-
tion hervorgerufen wurde. Unter vollständigen Isolations-
denen Genotypen direkt erkennen (vgl. . Abb. 11.4 und . Abb. 11.5). (Da-
11 ten aus Showalter 1934; Blütenbilder aus Storch et al. 2007, mit freundlicher bedingungen bleiben auch die Mutanten stabil (Mercier
Genehmigung von Springer) et al. 2008).

> Bestimmte Allele erzeugen bei Heterozygotie einen neuen


Phänotyp, der als eine Mischung der Eigenschaften beider
sen lässt sich diese Erscheinung relativ leicht verstehen: Das Allel Allele angesehen werden kann. Man bezeichnet eine
für weiße Farbe ist nicht in der Lage, überhaupt Pigment zu er- solche Merkmalsausprägung als unvollständige Dominanz
zeugen, während das für rote Farbe in heterozygotem Zustand der Allele.
nicht genügend roten Farbstoff zu bilden vermag, sodass eine
Zwischenfarbe als Merkmal entsteht. Wir haben nun gesehen, dass die klassische Einteilung von
Für diesen Fall erscheint die Bezeichnung »intermediäre Merkmalsformen in solche mit rezessiven und dominanten
Vererbung« durchaus als angemessen. Wir werden jedoch noch Eigenschaften der tatsächlichen Vielfalt der Merkmalsausprä-
sehen, dass die Vererbungsverhältnisse nicht immer so leicht gung nicht gerecht wird. Unser Beispiel von unvollständiger
zu überblicken sind. Beispielsweise führt die Kreuzung von Dominanz haben wir zunächst mit der Möglichkeit erklärt, dass
weißäugigen und rotäugigen Drosophila melanogaster durchaus eines der beiden Allele nicht wirksam ist und dass das andere
nicht zu Nachkommen mit rosa Augen. Außerdem lässt sich Allel nicht imstande ist, den Ausfall dieses Allels funktionell
eine »gemischte« Ausprägung eines Merkmals oft nicht ohne völlig zu kompensieren. Nun könnte man aber auch annehmen,
Weiteres erkennen. Man bezeichnet daher diese Art eines Erb- dass jedes von zwei Allelen funktionell, jedoch jeweils für eine
gangs heute etwas neutraler als unvollständig dominant. In etwas anders geartete Merkmalsausprägung verantwortlich ist.
unserem Beispiel hat sowohl das Allel für rote Blütenfarbe als In diesem Fall könnten stets beide Allele voll zur Ausprägung
auch das für weiße Blütenfarbe den Charakter einer unvollstän- kommen, unabhängig davon, ob sie homozygot oder hetero-
digen Dominanz: Keines von beiden herrscht in der Ausprägung zygot vorliegen.
vollständig vor. Eine solche Situation lässt sich aus dem Bereich der Human-
Übrigens hat Mendel in seinen Experimenten bereits beob- genetik besonders gut veranschaulichen. Wir wollen dazu das
achtet, dass eine solche Mischung von Merkmalscharakteren Beispiel der verschiedenen Blutgruppenallele des AB0-Blutgrup-
vorkommt, allerdings nicht bei Pisum sativum, sondern bei Pha- pensystems betrachten. Das AB0-Blutgruppensystem wurde
seolus-Arten. »Aber auch diese räthselhafte Erscheinungen wür- von Karl Landsteiner 1901 entdeckt und ist bis heute das wich-
den sich wahrscheinlich nach den für Pisum geltenden Gesetzen tigste Blutgruppensystem in der Transfusionsmedizin (Landstei-
erklären lassen, wenn man voraussetzen dürfte, dass die Blumen- ner erhielt dafür 1930 den Nobelpreis für Medizin). Die antige-
und Samenfarbe des Ph. multiflorus aus zwei oder mehreren ganz nen Determinanten des Systems sind Oligosaccharide an Glyko-
selbständigen Farben zusammengesetzt sei, die sich einzeln proteinen und Glykolipiden. Als solche sind sie natürlich nicht
ebenso verhalten, wie jedes andere constante Merkmal an der direkt die Produkte des AB0-Gens, das auf dem Chromosom
Pflanze« (Mendel 1866). Mendel neigt also dazu, seine abwei- 9q34 lokalisiert ist. Das AB0-Gen codiert Enzyme, die als Glyko-
11.3 · Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
475 11
. Abb. 11.10 Biosynthese der Ober-
flächenantigene des AB0-Blutgruppen-
systems. Die Blutgruppenspezifität
liegt in dem hier dargestellten Bereich
von Glykoproteinen, die sich an der
Oberfläche von Erythrocyten befinden.
Das A-Antigen unterscheidet sich vom
B-Antigen lediglich in einer N-Acetyl-
gruppe (Pfeil). Die genetische Ursache
liegt in der unterschiedlichen Spezifi-
tät der Glykosyltransferase, die im Fall
der Blutgruppe A ein UDP-N-Acetyl-
galactosamin (α1,3-GalNac) auf das
α-Fucose-(1,2)-β-Galactose-Disaccharid
überträgt. Im Fall der Blutgruppe B
wird dagegen eine UDP-Galactose
(α1,3-Gal) ohne die entsprechende
N-Acetylgruppe übertragen. Bei der
Blutgruppe »0« ist die Glykosyltrans-
ferase inaktiv, sodass das α-Fucose-
(1,2)-β-Galactose-Disaccharid ohne
Zusatz bleibt (es wird auch als H-Anti-
gen bezeichnet). (Nach Yazer 2005,
mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)

syltransferasen bekannt sind und verschiedene Zuckerreste auf teren genetischen Mechanismen wie Rekombination und Gen-
den gleichen Akzeptor (das H-Antigen) übertragen – erst da- konversion erklären die hohe genetische Diversität des AB0-
durch werden die A- oder B-Antigene produziert. Es gibt im We- Systems (Yip 2002).
sentlichen drei Allele (A, B, 0): Das A-Allel codiert eine α1→α3- Die unterschiedlichen Blutgruppenarten A, B, AB und 0 wer-
N-Acetyl-Galactosylaminotransferase, und das B-Allel codiert den mithilfe immunologischer Methoden identifiziert. Glyko-
eine α1→α3-Galactosylaminotransferase; das 0-Allel produziert sidgruppen sind sehr immunogen und induzieren, z. B. nach
kein aktives Enzym (. Abb. 11.10). Inzwischen kennen wir über Injektion in Kaninchen, eine intensive Antikörperproduktion
70 verschiedene Allele des AB0-Gens; . Abb. 11.11 zeigt eine (7 Abschn. 9.4). Mithilfe solcher Antikörper sind Glykosidgrup-
kleine Auswahl. Die Vielfältigkeit der Allele zusammen mit wei- pen an den Erythrocytenmembranen leicht nachweisbar, da sie
eine Agglutination der Erythrocyten bewirken. Das ist auch die
Ursache, warum Bluttransfusionen beim Menschen in Fällen un-
terschiedlicher Blutgruppencharaktere gegebenenfalls zu Unver-
träglichkeiten führen: Werden beispielsweise in ein Individuum
mit der Blutgruppeneigenschaft A Erythrocyten mit dem Blut-
gruppenantigen B transfundiert, so beginnt das Immunsystem
mit einer Antikörperproduktion gegen diese organismusfrem-
den Erythrocyten: Die entstehenden Antikörper verursachen
eine Agglutination der Erythrocyten.

. Abb. 11.11 Wichtige Allele des AB0-Gens. Es sind die vorhergesagten


Längen der offenen Leserahmen verschiedener Allele des AB0-Gens darge-
stellt (rechts: Länge in Nukleotiden). Die offenen Balken repräsentieren den
translatierten Bereich des üblichen A-Allels (A1-Consensussequenz); die
schwarzen Balken (bzw. Striche) stellen veränderte Bereiche dar. Die durch-
gehenden Linien deuten die wichtigsten Stellen für Aminosäureaustausche
an (die entsprechende Nukleotid-Position in der cDNA ist oben angegeben;
der Stern kennzeichnet die B-Allel-Mutationen, die sich an den Positionen
796 und 803 befinden). Im B-Allel sind hier sieben veränderte Nukleotide
gegenüber der A1-Consensussequenz dargestellt, vier davon führen zu
Aminosäureaustauschen. Das übliche 0-Allel (01) hat eine Deletion (G261),
die zu einer Verschiebung des offenen Leserahmens führt: Die veränderte
Aminosäuresequenz beginnt nach Codon 88 und endet nach insgesamt
117 Aminosäuren an einem vorzeitigen Stoppcodon; das Protein besitzt
keine enzymatische Aktivität. (Nach Olsson und Chester 2001, mit freund-
licher Genehmigung von Wiley)
476 Kapitel 11 · Formalgenetik

11.3.2 Multiple Allelie

Aus den vorangegangenen Beispielen für die unterschiedliche


Ausprägung von verschiedenen Allelen bestimmter Merkmale
können wir ableiten, dass es nicht nur zwei Ausführungen eines
Merkmals gibt, sondern sehr unterschiedliche Formen von
Allelen. Man kann nach der Art der Ausprägung verschiedene
Arten von Allelen unterscheiden (Hermann J. Muller 1932), wo-
bei die Übergänge fließend sein können. So gibt es:
4 Allele, die nicht funktionsfähig sind (Null-Allele). Sie
werden vielfach auch als amorphe Allele bezeichnet, da
durch den Ausfall einer Funktion der Phänotyp oft zerstört
wird;
. Abb. 11.12 Die Allele, die für die Glykosyltransferase A (GTA) bzw. für 4 Allele, die nur partiell funktionell sind (hypomorphe
die Glykosyltransferase B (GTB) codieren, sind gegeneinander codominant:
Wenn beide Allele vorliegen, führt das zur Blutgruppe AB. Sie sind aber
Allele). Sie zeigen einen variablen Phänotyp;
jeweils dominant über das rezessive Allel GT«0«, das keine enzymatische 4 Allele, die über das normale Maß hinaus aktiv sind (hyper-
Aktivität besitzt. (Nach Zschocke 2008, mit freundlicher Genehmigung morphe Allele);
von Springer) 4 Allele, die als Antagonisten zu den Wildtyp-Allelen wirken
(antimorphe Allele);
4 Allele, die voll funktionell, aber für eine veränderte Eigen-
Betrachten wir nun die Genetik des AB0-Blutgruppensys- schaft verantwortlich sind (neomorphe Allele). Sie zeigen
tems, so ist diese aus dem zuvor Gesagten leicht zu verstehen: Im einen neuen Phänotyp, der sich qualitativ von dem des
diploiden Zustand sind jeweils zwei der drei Allele – A, B oder 0 – Wildtyps unterscheidet.
vorhanden. Möglich sind also die Genotypen A/A, B/B, A/B, 0/A,
0/B und 0/0, die durch die speziellen Zelloberflächenantigene Die verschiedenen Arten von Allelen können im Prinzip bei je-
11 charakterisiert werden. So reagieren die Erythrocyten homo- dem Gen vorkommen; es gibt also eine sehr große mögliche An-
zygoter A/A- oder heterozygoter 0/A-Individuen mit Anti-A- zahl unterschiedlicher Allele für jedes Merkmal. Wir fassen die
Antiserum, die Erythrocyten homozygoter B/B- und hetero- Erscheinung der Möglichkeit zur Ausbildung so verschiedenar-
zygoter 0/B-Individuen mit Anti-B-Antiserum und die Erythro- tiger Allele nach der Definition von Thomas H. Morgan unter
cyten heterozygoter A/B-Individuen sowohl mit Anti-A- als auch dem Begriff der multiplen Allelie zusammen. So sind beispiels-
mit Anti-B-Antiserum. Homozygote 0/0-Erythrocyten hingegen weise für das wichtige Kontrollgen der Augenentwicklung, PAX6,
agglutinieren mit keinem der Antikörper. bis jetzt (April 2015) über 350 verschiedene Allele bekannt und
Dieses Beispiel zeigt, dass bestimmte Merkmale, wie hier die für das F8-Gen, dessen Mutationen für die Ausprägung der Blu-
Blutgruppenantigene, gleichwertig im Phänotyp zur Ausprägung terkrankheit (Hämophilie A) verantwortlich sind, über 2100 ver-
kommen, also keine Beziehungen zueinander zeigen, die durch schiedene Allele. Diese verschiedenen Allele sind in öffentlichen
die Begriffe »rezessiv« oder »dominant« beschrieben werden Datenbanken allgemein zugänglich (http://pax6.hgu.mrc.ac.uk;
können. Vielmehr sind beide dominant, d. h. sie kommen bei http://www.factorviii-db.org/); eine genaue Betrachtung dieser
ihrer Anwesenheit im Genom unabhängig von der Konstitution Listen zeigt, dass einige Allele bei mehreren Patienten vorkommen.
des zweiten Allels auch voll zur Ausprägung. Man bezeichnet Es ist an dieser Stelle allerdings hilfreich, sich noch etwas
solche Merkmale als codominant (. Abb. 11.12). genauer über die Wirkungsmöglichkeiten verschiedener Allele
Gedanken zu machen. So lassen sich die oben genannten Kate-
> In Fällen, in denen zwei Allele ihren jeweiligen Charakter gorien der amorphen und hypomorphen Allele auch unter dem
nebeneinander im Phänotyp ausprägen, sprechen wir von Gesichtspunkt des Funktionsverlustes (engl. loss of function) zu-
Codominanz der Allele. sammenfassen. Wenn das verbleibende, funktionsfähige Allel
aber nicht ausreicht, die Genfunktion aufrechtzuerhalten, spre-
C Um die Blutgruppensystematik zu ergänzen, sei darauf chen wir auch von Haploinsuffizienz. Allele, die Haploinsuffizi-
hingewiesen, dass es noch weitere Unterscheidungsmerk- enz zeigen, fallen in zwei Kategorien: Einige wenige codieren für
male gibt. Dazu gehört das I/i-System, das von Alexander große Mengen gewebespezifischer Proteine (z. B. Typ-I-Colla-
S. Wiener und Mitarbeitern 1956 beschrieben wurde. Die gen, Globin), andere betreffen regulatorische Proteine, die nahe
entsprechenden Antigene werden durch lineare bzw. ver- an ihrem Schwellenwert arbeiten. Dies betrifft eine Reihe von
zweigte Poly-N-Acetyllactosaminoglykane determiniert. Transkriptionsfaktoren wie Pax3 oder Pax6. Eine Besonderheit
Dabei wird die lineare Form (i) während der Embryonalzeit in diesem Zusammenhang sind Genduplikationen, die auch als
ausgebildet und ist im Erwachsenen durch die verzweigte Kopienzahlvariationen bezeichnet werden (engl. copy number
Form (I) ersetzt. Diese Umwandlung ist von dem Enzym variations, CNVs); sie stellen eine wichtige Triebfeder für die
β1,6-N-Acetylglucosamintransferase abhängig, das im Eng- Evolution dar. Einen Überblick über den Zusammenhang zwi-
lischen auch als I-branching enzyme bezeichnet wird. Das schen Gendosis und der biologischen Wirkung bei unterschied-
entsprechende Gen liegt auf dem Chromosom 6p24-p23. lichen Funktionen gibt . Abb. 11.13.
11.3 · Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
477 11

. Abb. 11.13 Zusammenhang zwischen der Gendosis und der Fitness


(Phänotyp). »A« repräsentiert das Wildtyp-Allel, und »a« ein Allel mit Funk-
tionsverlust; AA,AA stellt eine Duplikation des Wildtyp-Allels dar (Kopien-
zahlvariation). Die rote Gerade zeigt einen linearen Zusammenhang zwischen
der Gendosis und dem Phänotyp; dieser Verlauf ist typisch für einfache
Strukturproteine und regulatorische Proteine. Der phänotypische Unter- . Abb. 11.14 Schematische Darstellung eines dominant-negativen Ef-
schied zwischen homozygoten Wildtypen (AA) und Heterozygoten fektes bei einem homotetrameren Membrankanal. Heterozygotie für eine
(Aa, mit der Hälfte der funktionellen Gendosis) ist für solche Gene gering, Nullmutation, die zu einem instabilen Protein führt, bewirkt nur die vermin-
die für Enzyme codieren, die nur geringe Veränderungen über einen wei- derte Anzahl (8 von 16) strukturell normaler Kanäle (links). Im Gegensatz
ten Dosis-Bereich zeigen (violette Parabel; Michaelis-Menten-Kinetik). dazu führt Heterozygotie einer dominant-negativen Form dazu, dass zufäl-
Einige Gene (vor allem solche, die für Untereinheiten in Proteinkomplexen lig ein stabiles, aber falsch gefaltetes Protein eingebaut wird, sodass eine
codieren) können zu einer Abnahme der Fitness des Organismus sowohl wesentlich größere Anzahl von Kanälen betroffen ist. Theoretisch besteht
bei der Verminderung als auch bei der Erhöhung ihrer Gendosis führen nur einer von 16 gebildeten Kanälen aus vier Wildtyp-Untereinheiten und
(grün). Die verschiedenen schwarzen Linien deuten die relative Fitness bei ist entsprechend funktionsfähig (rechts); die 15 anderen Formen mit sta-
definierten Gendosen und verschiedenen Dosis-Wirkungsbeziehungen bilen, aber falsch gefalteten Untereinheiten sind funktionsunfähig (die Zah-
an. (Nach Kondrashov und Koonin 2004, mit freundlicher Genehmigung len deuten die unterschiedlichen Häufigkeiten an). Grün: Wildtyp-Protein;
von Elsevier) gelb: mutiertes Protein. (Nach Zschocke 2008, mit freundlicher Genehmi-
gung von Springer)

Andere Kategorien (hypermorph, antimorph und neo- in einer Population der Normalfall ist. Das Vorkommen ver-
morph) sind mit einer Änderung der Funktion verbunden (engl. schiedener Allele mit unterschiedlichen Konsequenzen für den
gain of function). Ein Spezialfall dieses Mutationstyps wird auch Phänotyp (beim Menschen oftmals verbunden mit unterschied-
als »dominant negativ« bezeichnet: So kann es beispielsweise lichen Formen oder Schweregraden der Erkrankung) ist auch
für die Aktivität eines Proteins notwendig sein, dass es sich mit für das funktionelle Verständnis der betroffenen Domänen des
anderen zu einem Komplex zusammenlagert. . Abb. 11.14 zeigt jeweiligen Proteins von besonderer Bedeutung. . Tab. 11.6 ver-
ein Beispiel für ein Kanalprotein, das aus vier gleichen Unterein- deutlicht das am Beispiel des Gens, das für den »Mikrophthalmie-
heiten aufgebaut ist (homotetramerer Komplex). Die Mischung assoziierten Transkriptionsfaktor« (Mitf) codiert. Wie der Name
der Proteine des Wildtyp- und Mutanten-Allels im Verhältnis andeutet, führen Mutationen oft zu kleinen Augen (bei Mäusen,
von 1:1 (wie es bei Heterozygoten der Fall ist) führt aber dann Hamstern, Menschen); es wird aber deutlich, dass die Auswir-
nur in einem von 16 Kombinationsmöglichkeiten zu normalen kungen der verschiedenen Allele ein sehr breites Spektrum
Dimeren, aber in 15 von 16 Möglichkeiten zu einer veränderten aufweisen. Nicht jede Mutation führt zu einem veränderten Phä-
Funktion. Für monomere Proteine können dominant-negative notyp (bzw. zum Ausbruch einer Krankheit). Inwieweit solche
Effekte dann auftreten, wenn die Verfügbarkeit eines Substrats Polymorphismen aber empfindlicher gegenüber bestimmten
der geschwindigkeitsbestimmende Schritt in einer Reaktionsket- Erkrankungen machen, wird derzeit von der genetischen Epi-
te ist: Eine Mutation führt beispielsweise dazu, dass ein Enzym demiologie bei der Analyse multifaktorieller Krankheiten, wie
das Substrat zwar noch binden, aber nicht mehr umsetzen kann. Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Allergien, unter-
Dies gilt nicht nur für komplexe Stoffwechselwege, sondern auch sucht (7 Abschn. 13.4).
für Signalkaskaden und Funktionen in der Transkriptionskon- Das Vorkommen unterschiedlicher Allele eines Merkmals
trolle. erfordert eine klare Nomenklatur zu ihrer Kennzeichnung. Man
Es ist für das Verständnis von Erbvorgängen und die richtige hat sich darauf geeinigt, das am häufigsten vorkommende Allel
Interpretation von Merkmalsanalysen entscheidend, sich zu als Wildtyp-Allel zu bezeichnen. Es wird in genetischer Schreib-
vergegenwärtigen, dass nicht das Vorkommen zweier unter- weise durch den Zusatz eines »+«-Zeichens zur Genbezeichnung
schiedlicher Allele, wie es vielleicht durch die Erscheinung der (z. B. w+) oder einfach durch ein »+« in der genetischen Formel
Diploidie impliziert werden könnte, sondern die multiple Allelie gekennzeichnet (z. B. w/+ statt w/w+). Mutante Allele, d. h. vom
478 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Tab. 11.6 Multiple Allelie des Mitf-Gens der Maus

Allel Phänotyp Molekularer Defekt

Unvollständige Dominanz: Heterozygot Homozygot

Mitfor (Oak Ridge) Leichte Abschwächung der Haarfarbe, Weiße Haut, kleine oder abwesende Arg216Lys
blasse Ohren und Schwanz, Bauchstrei- Augen, Probleme beim Durchbruch der
fen oder Kopfflecken Schneidezähne, Osteopetrosis

Mitfwh (white) Abschwächung der Haarfarbe, vermin- Weiße Haut, kleine Augen, innere Iris Ile212Asn
derte Pigmentierung am Auge, Flecken schwach pigmentiert, Spinalganglien
an Zehen, Schwanz und Bauch, Innen- kleiner als normal, Innenohrdefekte,
ohrdefekte, keine Melanocyten in der Mastzell-Defizienz
Haut

Mitfws (white spot) Weißer Bauchfleck, Zehen und Weiße Haut, rote Augen von annähernd Deletion am N-Terminus
Schwanz oft weiß normaler Größe

Rezessiv:

Mitfew (eyeless-white) Ohne Befund Weiße Haut, Augen meist nicht gebildet, Deletion
Augenlider geschlossen

Mitfce (cloudy-eyed) Ohne Befund Weiße Haut, blasse und kleine Augen Arg263Stopp
(neblig weiß), Innenohrdefekte

Mitfrw (red-eyed white) Ohne Befund Weiße Haut mit einem oder mehreren Deletion im 5’-Bereich
pigmentierten Flecken am Kopf und/oder
Schwanz, kleine rote Augen

Mitfvit (vitiligo) Ohne Befund Die ersten Haare haben noch Flecken an Asp222Asn
11 Brust und Bauch, späte graduelle Depig-
mentierung, retinale Degeneration

Kein Phänotyp:

Mitf sp (spotted) Ohne Befund Ohne besonderen Befund; verminderte Insertion von C;
Tyrosinase-Aktivität in der Haut Spleißeffekt:
18 bp alternatives Exon

Nach Steingrimsson et al. (1994)

Wildtyp abweichende Allele, werden durch die Genbezeichnung 11.3.3 Der Ausprägungsgrad von Merkmalen
(z. B. w) und gegebenenfalls durch eine nähere Bezeichnung des
Allels (z. B. wa für white apricot) gekennzeichnet. Generell wer- Vergleichen wir verschiedene Individuen hinsichtlich der Aus-
den Gene und ihre Symbole kursiv gesetzt; die entsprechenden prägung bestimmter Merkmale miteinander, so können wir bis-
Abkürzungen für die Proteine bleiben aber zur Unterscheidung weilen feststellen, dass sie sich in der Intensität der Ausprägung
unverändert und in Großbuchstaben (z. B. Mitf – Gen; MITF – unterscheiden. Zeigt ein Teil der Individuen gleichen Genotyps
Protein). Rezessive Gene werden durch einen kleinen Anfangs- die erwartete Merkmalsform nicht, spricht man von unvollstän-
buchstaben gekennzeichnet, dominante Gene haben einen gro- diger Penetranz (geringer als 100 %). Sind alle Individuen des
ßen Anfangsbuchstaben. Menschliche Gensymbole erscheinen gleichen Genotyps identisch, ist die Penetranz vollständig (oder
im Unterschied zu denen der Maus in der Regel immer mit Groß- 100 %). Diese Kennzeichnung kann sowohl auf dominante als
buchstaben. Es gibt aber zunehmend auch den Versuch, dasselbe auch auf rezessive oder unvollständig dominante Allele ange-
Gensymbol mit dem Zusatz »h« (für human), »m« (für mouse), wendet werden. Man beachte aber, dass die Penetranz ein »Alles-
»d« (für Drosophila), »x« (für Xenopus) oder »z« (für Zebrafisch) oder-nichts-Phänomen« ist: Individuen zeigen den Phänotyp
zu kennzeichnen. oder nicht.

> Wir sprechen von multipler Allelie, wenn mehrere Allele C Als Beispiel für eine unvollständige Penetranz können wir
eines Merkmals vorhanden sind. Grundsätzlich muss die Myoclonus-Dystonie beim Menschen betrachten. Diese
multiple Allelie für alle Merkmale als gegeben angesehen Krankheit ist eine Bewegungsstörung, die durch eine
werden, da jede Veränderung im Gen ein eigenes Allel Kombination von schnellen, kurzen Muskelkontraktionen
hervorbringt, unabhängig davon, ob man es in seiner (Myoclonus) und anhaltendem Verdrehen und wiederholten
phänotypischen Ausprägung von anderen Allelen unter- Bewegungen charakterisiert ist, was zu ungewöhnlichen
scheiden kann oder nicht. Körperhaltungen führt. Die Krankheit wird durch Mutationen
11.3 · Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
479 11
im ε-Sarcoglykan-Gen verursacht. Kürzlich wurde berichtet, In unseren bisherigen Beispielen für die verschiedenen Arten
dass bei einem paternalen Erbgang die Penetranz der Er- von Genfunktionen sind wir davon ausgegangen, dass die Wir-
krankung vermindert ist: Der Vater war klinisch unauffällig, kung eines Gens auf ein oder mehrere Merkmale unabhängig von
aber der Träger der Mutation. Die Erklärung dafür ist mater- der Funktion anderer Gene ist. Diese Annahme ist jedoch frag-
nales Imprinting (7 Abschn. 8.4), das das mutierte Gen würdig. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass viele Merk-
im Vater offensichtlich stillgelegt hat und einen autosomal- male durch Wechselwirkungen mehrerer Gene hervorgerufen
rezessiven Erbgang vortäuschte (Müller et al. 2002). Die werden können. Für diese Wechselwirkung verschiedener Gene
Autoren vermuten, dass die Großmutter (die für die Analyse zur Ausprägung eines Phänotyps wurde von William Bateson
nicht mehr zur Verfügung stand) das mutierte, aber durch (1909) der Begriff Epistasie geprägt. Im engeren Sinne versteht
Imprinting stillgelegte Gen auf ihren Sohn übertragen ha- man darunter allerdings die Wechselwirkung zweier nicht-alleler
ben könnte. In der männlichen Keimbahn wird das Imprin- Gene, wobei das eine Gen die Wirkung des anderen unterdrückt.
ting aufgelöst, und bei den Kindern wird dadurch die Muta- Dadurch verändert sich die in der F2-Generation beobachtete
tion wieder wirksam. Vermutlich liefert die Analyse solcher Aufspaltung gegenüber den nach den Mendel’schen Gesetzen
nicht-mendelnder Erbgänge unter epigenetischen Gesichts- erwarteten Werten von 9:3:3:1 (dihybride Kreuzungen) zu 15:1,
punkten (7 Abschn. 8.4) in vielen Fällen eine Erklärung 9:7, 12:3:1 oder 13:3. Die Kreuzung von Linien mit klaren paren-
für zunächst nicht erklärbare Phänomene wie verminderte talen Phänotypen und erwarteten Aufspaltungen erlaubt daher,
Penetranz, wobei die klinische Erkrankung eine oder Hierarchien in Genwirkungsketten aufzubauen. Oftmals legen
mehrere Generationen überspringt. Dies erschwert dann derartige genetische Experimente die Grundlagen für die spä-
die genetische Beratung. tere  biochemische Aufklärung der entsprechenden Mechanis-
men. Die Analyse epistatischer Phänomene hat in den letzten
Unter der Expressivität verstehen wir dagegen den Grad der Jahren besonders bei der Erforschung komplexer Erkrankun-
Ausprägung eines Merkmals. Auch hier kann die unvollständige gen  des Menschen an Bedeutung gewonnen (Cordell 2002;
Expression auf regulatorische Faktoren im Genom oder auf Ein- 7 Abschn. 13.4).
flüsse der Umwelt zurückzuführen sein. Die Folgen eines relativ einfachen Zusammenspiels mehrerer
Gene können wir uns an einem Stoffwechselprozess verdeutli-
C Als Beispiel kann eine Form der Mikrophthalmie der Maus chen, der ausgehend von den Arbeiten von George Beadle und
dienen, die als »Small eye« in die Literatur eingegangen ist Boris Ephrussi (1937) bereits relativ frühzeitig in der Geschich-
und durch eine Mutation im Hauptkontrollgen der Augen- te der Drosophila-Genetik aufgeklärt wurde (für eine Übersicht
entwicklung, Pax6, verursacht wird. Selbst wenn wir nur siehe Lloyd et al. 1998). In . Abb. 11.15 ist der Stoffwechselweg
jeweils ein Allel betrachten, fällt auf, dass heterozygote für eine Farbstoffklasse dargestellt, die Ommochrome genannt
Tiere verschiedene Schweregrade zeigen (z. B. unterschied- wird. Diese Farbstoffe bilden die Hauptpigmente der Augen und
liche Augengröße, Hornhaut- und/oder Linsentrübung, einiger innerer Organe von Insekten. Sie kommen jedoch auch
Verbindung zwischen Hornhaut und Linse). Oftmals ist die in vielen anderen Arthropoden sowie in Mollusken vor, hier
beobachtete Variabilität noch größer, wenn die Mutation in hauptsächlich im Pigment des Integuments. In den Metamor-
verschiedene Laborstämme eingekreuzt wird (homozygote phosesekreten vieler Arthropoden sind sie möglicherweise als
Tiere sind nicht lebensfähig). biologische Endprodukte des Tryptophanstoffwechsels bei Tryp-
tophanüberschuss vorhanden. Das gilt insbesondere für Insekten,
Wir haben also gesehen, dass sich gleiche Allele unter be- die eine geringere Auswahl zwischen verschiedenen Tryptophan-
stimmten Bedingungen nicht immer in gleicher Form aus- stoffwechselwegen haben als andere Organismen.
wirken. Man hat dafür auch den Begriff der Reaktionsnorm Es gibt in den Komplexaugen der Insekten noch eine zweite
geprägt, der zum Ausdruck bringt, wie Umwelteinflüsse (z. B. Gruppe von Augenfarbstoffen, die Drosopterine (Pteridinfarb-
Licht, Temperatur, Nährstoffangebot, Standort) die Ausprägung stoffe). Sie verleihen den Augen einen roten Farbanteil, während
der Phänotypen bei einem gegebenen, konstanten Genotyp be- Ommochrome bräunliche Pigmenttöne verursachen. Der Aus-
einflussen. fall von Drosopterin führt bei normaler Ausbildung von Ommo-
Penetranz und Expressivität werden also sowohl von anderen chromen daher zu bräunlichen Augentönen. Beide Pigmentsor-
genetischen Faktoren als auch von der Umwelt beeinflusst und ten sind für die Augenfunktion wichtig, da sie die Abschirmung
bereiten einer genetischen Analyse daher oft große Probleme. des Lichteinfalls zwischen den Ommatidien herstellen. Die
Für genetische Experimente sind Merkmale mit wechselnder . Abb. 11.15 zeigt, dass die Ommochrome, ausgehend von der
Expressivität und unvollständiger Penetranz meist wenig ge- Aminosäure Tryptophan, durch mehrere enzymatisch kataly-
eignet. sierte Schritte gebildet werden.

> Allele können in allen oder nur in einzelnen Individuen C Aus der Drosophila-Genetik sind uns verschiedene Augenfar-
zur Ausprägung kommen, je nachdem, ob ihre Penetranz benmutanten bekannt, deren Untersuchung ergeben hat,
vollständig oder reduziert ist. Auch der Grad der Ausprä- dass sie auf Defekten im Stoffwechselprozess der Ommo-
gung eines Merkmals kann variieren. Dieser Grad der chrome beruhen. Der Ausfall eines Enzyms führt zu einem
Ausprägung wird als Grad der Expressivität eines Allels Block in diesem Stoffwechselweg. Werden überhaupt keine
bezeichnet. Ommochrome gebildet, kommen nur noch die durch die
480 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Abb. 11.15 Augenfarbstoffe (Xanthommatin) von


a
Drosophila melanogaster und die Augenfarbenmutan-
ten vermilion (v) und cinnabar (cn). a Stoffwechselweg
des Tryptophans mit den zugehörigen Enzymen,
ihren Genen und der phänotypischen Ausprägung
von Mutationen. b Umsetzung von L-Tryptophan in
Xanthommatin

11

Drosopterine verursachten Farben zur Geltung. Die Augen Der Phänotyp der Doppelmutante unterscheidet sich nicht
sind dann leuchtend rot, wie es bei der Mutation vermilion (v) von dem der Einfachmutante (Genotyp: cn+/cn+; v/v. Phäno-
der Fall ist, wenn sie homozygot (v/v) vorliegt. Hier ist das typ: vermilion). Hingegen ist aus dem Stoffwechselschema
Enzym Tryptophanpyrrolase (oder Tryptophanoxygenase) leicht zu verstehen, dass die alternative Einfachmutante (cn/
nicht mehr funktionell (. Abb. 11.15), und alle späteren cn; v+/v+) sehr wohl einen anderen Phänotyp (nämlich cinna-
Schritte des Stoffwechselweges sind damit blockiert. In der bar) aufweist (. Tab. 11.7). Entscheidend ist also, an welcher
Mutante cinnabar (cn), die homozygot hellrote Augen zeigt, Stelle in der Hierarchie des Stoffwechselweges die Mutation
ist das Enzym Kynurenin-3-Hydroxylase, das die Umsetzung liegt. Mutationen in frühen, übergeordneten Stufen überd-
von Kynurenin in 3-Hydroxykynurenin katalysiert, nicht funk- ecken solche auf späteren, nachgeordneten Stufen. Die Mu-
tionsfähig. Wie man leicht erkennen kann, wirkt sich eine tation vermilion ist also funktionell epistatisch über cinnabar.
Mutation in cinnabar (cn/cn) aber dann nicht mehr aus, wenn Die Erscheinung der Epistasie von Mutationen ist für alle
bereits eine homozygot mutante Konstitution in vermilion Stoffwechselwege zu erwarten, wenn nicht Teile davon auf
(v/v) vorliegt (Genotyp also: cn/cn; v/v. Phänotyp: vermilion). Nebenwegen umgangen werden können.
11.3 · Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
481 11

. Tab. 11.7 Augenfarbenmutanten von Drosophila

Genetische Konstitution Phänotyp (Augenfarbe)

white vermilion cinnabar scarlet

+/+ +/+ +/+ +/+ rot (Wildtyp)

w/w +/+ +/+ +/+ white

wa/wa +/+ +/+ +/+ white-apricot

we/we +/+ +/+ +/+ white-eosin

wch/wch +/+ +/+ +/+ white-cherry

wco/wco +/+ +/+ +/+ white-coral

w/+ +/+ +/+ +/+ rot (Wildtyp)

+/+ v/+ +/+ +/+ rot (Wildtyp)

+/+ +/+ cn/+ +/+ rot (Wildtyp)

+/+ +/+ +/+ st/+ rot (Wildtyp)

+/+ v/v +/+ +/+ vermilion

+/+ +/+ cn/cn +/+ cinnabar

+/+ +/+ +/+ st/st scarlet

+/+ v/v cn/cn +/+ vermilion

+/+ v/v cn/cn st/st vermilion

+/+ +/+ cn/cn st/st cinnabar

+/+ v/v +/+ st/st vermilion

Die Tabelle fasst verschiedene Augenfarbenmutanten von Drosophila zusammen, die in verschiedenen Kapiteln genannt werden. Die Mutanten des
white-Gens sind in der Reihenfolge der Intensität der Augenfärbung (ansteigend) angeordnet. Die Intensität ist durch die Menge an Pigment im
Auge bestimmt. Die Mutation wa beruht auf der Insertion eines Transposons (copia) in den white-Locus, der hierdurch nicht vollständig inaktiviert
wird. Die Gene vermilion, cinnabar und scarlet codieren für Enzyme des Ommochrom-Stoffwechselweges (. Abb. 11.15). Sie sind in der Reihenfolge
ihrer katalytischen Wirkung im Xanthommatin-Syntheseweg angegeben. Hieraus wird ihre jeweilige epistatische Funktion im Vergleich zu den
übrigen Enzymen des gleichen Stoffwechselweges deutlich. Die generelle epistatische Wirkung von white-Mutationen ist ebenfalls dargestellt.

Am Beispiel der Augenfarbe von Drosophila lässt sich noch ein > Unterdrückt ein Gen die Ausprägung anderer, nicht-alleler
weiterer Fall von Epistasie darstellen, der uns einen zusätzlichen Gene, so sprechen wir von Epistasie.
Einblick in das funktionelle Zusammenwirken von Genen ver-
schafft. Für die Augenfarbe ist es nicht allein erforderlich, dass
die Pigmente gebildet werden, sondern diese müssen auch an 11.3.4 Polygene Vererbung –
ihre zellulären Positionen gebracht und dort fixiert werden. Eine Genetik quantitativer Merkmale
Rolle in diesem Lokalisationsprozess der Augenfarbstoffe spielt
das uns bereits bekannte Gen white (w), das im X-Chromosom Wir sind bisher davon ausgegangen, dass Merkmale durch je-
von Drosophila liegt. Das Genprodukt ist für den Transport von weils ein Gen bestimmt werden, wie es aufgrund der Mendel’schen
Vorläufern von Augenpigmenten über Zellmembranen verant- Kreuzungsversuche zunächst als richtig erscheinen könnte. Aber
wortlich. Im Falle einer Mutation ist dieser Prozess gestört und Mendel selbst hatte bereits darauf hingewiesen, dass Merkmale
das Komplexauge bleibt ungefärbt, also weiß, wie der Name des auch durch mehrere Gene beeinflusst sein können (7 Abschn.
Gens anzeigt; wir kennen heute (April 2015) über 1000 klassische 11.3.1). Sehr bald nach der Wiederentdeckung der Mendel’schen
Allele dieses Gens (d. h. ohne transgene Fliegen; Datenbank »Fly- Regeln wurde deutlich, dass in sehr vielen Fällen Merkmale nicht
base«: http://flybase.org). Diese Expression des white-Gens selbst durch einzelne Gene, sondern durch das Zusammenwirken meh-
ist unabhängig davon, ob die Augenpigmente gebildet werden rerer Gene bestimmt werden. Man spricht in einem solchen Fall
oder nicht. Ein w/w-Genotyp führt also stets zu weißen Augen, von Polygenie oder multifaktorieller Vererbung. Dieses Zu-
unabhängig von der genetischen Konstitution der übrigen Au- sammenspiel mehrerer Gene bei der Merkmalsausprägung
genfarben-Gene. Das Gen white wirkt mithin epistatisch über die macht es oft sehr schwierig, die erblichen Komponenten eines
Gene, die zur Bildung der Ommochrome und Drosopterine bei- Phänotyps zu identifizieren und zu analysieren. In vielen Fällen
tragen. helfen hier nur quantitative Analysen weiter (engl. quantitative
482 Kapitel 11 · Formalgenetik

trait loci, QTL). Eine besondere Bedeutung gewinnt die quanti- 1/16 vertreten. Wenn wir das entsprechend einsetzen (1/4n = 1/16),
tative Analyse in der Praxis der Tier- und Pflanzenzüchtung, erhalten wir 1/42 = 1/16 und damit n = 2. Es muss aber an dieser
wenn es darum geht, günstige erbliche Eigenschaften wirt- Stelle betont werden, dass diese Abschätzungen der Zahl be-
schaftlich nutzbar zu machen. Hierzu ist oft zunächst die teiligter Gene Folgendes zur Voraussetzung hat: Alle relevan-
Kenntnis des Anteils der erblichen Komponenten am Phänotyp ten  Allele sind in gleicher Weise und additiv an der Ausprä-
eines Tieres oder einer Pflanze entscheidend für eine praktische gung des Phänotyps beteiligt, und Umweltfaktoren spielen keine
Nutzung. Rolle.
Leider trifft diese Vereinfachung selten zu. Die bespro-
C Ein gut untersuchtes Beispiel für die Wirkung mehrerer Gene chenen quantitativen Beispiele für Vererbungsgänge lassen er-
ist die Körnerfarbe von Weizen, die 1909 durch den Pflan- kennen, welche Schwierigkeiten sich bei einer genetischen
zengenetiker Hermann Nilsson-Ehle (1873–1949) unter- Analyse von Merkmalen ergeben müssen, die multifaktoriell
sucht wurde. Kreuzt man eine Weizensorte mit einheitlich beeinflusst werden und vielleicht in ihrer Ausprägung sogar
dunkelroter Körnerfarbe mit einer anderen Sorte, die eine noch starken Umwelteinflüssen unterworfen sind. Mithilfe
sehr helle Körnerfarbe hat, so findet man in der F1 eine ein- moderner Methoden aus der Genomforschung wird es jedoch
heitliche hellrote Körnerfarbe, die zwischen der der beiden immer mehr möglich, auch solche komplexen Phänotypen
Elternsorten liegt. Nach unseren bisherigen Kenntnissen wür- genetisch zu analysieren (vgl. dazu auch 7 Abschn. 11.4.5 und
den wir daraus schließen, dass es sich um eine unvollständi- 7 Abschn. 13.4).
ge Dominanz handelt. Kreuzen wir jedoch die F1 untereinan-
der weiter, so finden wir in der F2-Generation Ähren mit fünf > Wirken mehrere Gene auf ein Merkmal ein, so spricht
verschiedenen Körnerfarben (dunkelrot, rot, hellrot, man von Polygenie. Polygenie kann für viele Merkmale
schwach rot und weiß), die mit einer relativen Häufigkeit als Regelfall angesehen werden.
von 1:4:6:4:1 zu beobachten sind. Eine dihybride Kreuzung
scheint wegen der größeren Anzahl verschiedener Phänoty- Als Beispiel dafür kann die Fellfarbe der Maus dienen, die durch
pen (dihybrid: 4) und aufgrund der dafür charakteristischen viele Gene kontrolliert wird. Wir kennen über 120 Gene mit
Zahlenverhältnisse (dihybrid: 9:3:3:1) nicht in Betracht zu insgesamt über 800 Allelen, die bei der Maus für die verschiede-
11 kommen. Dies gilt aber nur, wenn man die Ergebnisse unter nen Fellfarben verantwortlich sind. Eine kleine Auswahl ist in
dem Gesichtspunkt einer voneinander unabhängigen Verer- . Abb. 11.16 zusammengestellt. Ursprünglich wurde jede Fellfar-
bung zweier verschiedener Merkmale betrachtet. be durch Kreuzungsexperimente mit einem spezifischen Genort
Nilsson-Ehle hat jedoch seine Ergebnisse auf einen dihybri- verknüpft, z. B. A für agouti (wildfarben), B für black (schwarz)
den Vererbungsgang zurückführen können, bei dem beide oder C für chromogen (farbig). Später wurden Wechselwirkungen
Gene auf dasselbe Merkmal – die Körnerfarbe – einwirken zwischen den verschiedenen Genen identifiziert: So haben rein
und zudem noch zwei verschiedene Allele eine Rolle spielen. braune Mäuse den Genotyp a/a b/b C/−, schwarze agouti-Mäuse
Dabei muss man in Betracht ziehen, dass die weißen Eltern haben den Genotyp A/− B/− C/− und albino-Mäuse (weiß) den
zum Farbpigment nichts beitragen (aabb: nicht-additive Genotyp −/− −/− c/c (dabei geben die Großbuchstaben ein domi-
Allele), wohingegen die roten Eltern nur solche Allele ent- nantes Allel und Kleinbuchstaben ein rezessives Allel an; das
halten, die zur Farbintensität einen Beitrag leisten (AABB: Minuszeichen bedeutet eine Deletion).
additive Allele). Noch komplexere Ergebnisse erhält man, Das graue Fell der Wildtyp-Mäuse (agouti) entsteht durch
wenn man die Einwirkung von drei Genen auf die Weizenfar- eine Mischung gelber und schwarzer Segmente in den einzelnen
be untersucht. Hierbei entstehen – bei jeweils zwei Allelen – Haaren. Schwarze Mutanten (aa) bilden kein gelbes Pigment
insgesamt sieben verschiedene Körnerfarben im Verhältnis mehr aus, albino-Mutanten (cc) haben die Fähigkeit zur Pig-
1:6:15:20:15:6:1. mentbildung insgesamt verloren. Die Kreuzung zwischen
schwarzen (CCaa) und albino-Tieren (ccAA) führt zu einer
Beide Beispiele verdeutlichen, dass eine quantitative Analyse agouti-F1 (CcAa) und in der F2 zu der für eine Modifikation
von Kreuzungsergebnissen entscheidend dafür sein kann, ob es charakteristischen Aufspaltung von (9 agouti):(3 schwarz):
gelingt, die Anzahl erblicher Komponenten zu ermitteln, die zur (4 albino):
Ausprägung eines Merkmals beitragen. Dabei stellt sich natürlich 4 Alle Mäuse, die mindestens ein C- und ein A-Allel haben,
die Frage, wie man die Zahl der beteiligten Gene abschätzen kann. sind agouti;
Für kleine Zahlen beteiligter Gene hat sich die (2n + 1)-Regel be- 4 Homozygotie für aa führt zu schwarzen Mäusen, wenn
währt: Wenn n die Zahl der additiven Gene darstellt, gibt 2n + 1 mindestens ein C-Allel vorhanden ist;
die Gesamtzahl der möglichen Phänotypen in der F2-Generation 4 Homozygotie für cc führt immer zu albino-Mäusen, unab-
an. Bei unserem obigen Beispiel mit zwei Genen erhalten wir da- hängig von der Allelkonfiguration am agouti-Locus.
mit die beobachteten fünf verschiedenen Phänotypen; bei drei
Genen entsprechend sieben verschiedene Phänotypen. Für große In der Maus wurde die Formalgenetik der Fellfarben-Mutationen
Zahlen beteiligter Gene hat sich dagegen die Regel bewährt, dass zunächst durch Clarence C. Little (1913) ausgiebig beschrieben,
der Anteil der Individuen mit einem der beiden extremen Phäno- ohne dass zu diesem Zeitpunkt die molekularen Zusammenhän-
typen jeweils 1/4n beträgt. In unserem obigen Beispiel waren die ge bekannt waren. Heute kennen wir viele der Wirkungsketten,
dunkelroten oder die weißen Ähren jeweils mit einem Anteil von die für Fellfarben verantwortlich sind. Ein zentraler Stoffwech-
11.3 · Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
483 11
. Abb. 11.16 Polygenie der Fellfarben
g der Maus. Es sind Beispiele verschie-
h dener Maus-Mutanten mit veränderter
Fellfarbe gezeigt. Mit Ausnahme von
(l) sind alle Mutationen im Stamm
e C57BL/6J; im Folgenden sind die Gen-
namen und Allelsymbole angegeben.
f a ashen (Rab27aash/Rab27aash); b cap-
puccino (cno/cno); c C57BL/6J, Wildtyp;
d underwhite (Matpuw/Matpuw);
e C57BL/6J, Wildtyp; f black-eyed white
d (Tyrc-bew/Tyrc-bew); g albino (Tyrosinase-
Null: Tyrc-2J/Tyrc-2J ); h acromelanic
(Tyrc-a/Tyrc-a); i Transgen-Insertion
i
(Mitfmi-vga9/Mitfmi-vga9); j dominant
spotting 2 (KitW-2J/KitW-2J ); k derselbe
c
Stamm wie in j, aber eine Unterlinie,
die für minimale Fleckenzahl selektio-
b niert wurde; l dieselbe Mutation wie
in j, ergibt aber in einem anderen
l Inzuchtstamm (JU/CtLm) einen stär-
j k keren Phänotyp; m belted (Adamts20bt/
Adamts20bt). (Nach Bennett und
Lamoreux 2003, mit freundlicher Ge-
nehmigung von Wiley)

a
m

selweg in diesem Zusammenhang ist die Synthese von Melanin gene. Ihre Aktivitäten wurden in vielen Organismen unter-
aus Tyrosin; das Gensymbol für das erste Enzym dieser Kette, die sucht, besonders aber bei Drosophila. So unterdrückt bei-
Tyrosinase, war früher C; das heutige Symbol ist Tyr (da früher spielsweise ein Gen mit der Bezeichnung su-Hw den Phäno-
die Allele mit dem alten Gensymbol C bezeichnet wurden, neh- typ, der durch das Mutanten-Allel Hairy-wing (behaarte
men die neuen Allelbezeichnungen vielfach noch darauf Bezug, Flügel; Gensymbol: Hw) verursacht wird.
z. B. Tyrc-bew; . Abb. 11.16). In . Abb. 11.17 sind die beiden Stoff-
wechselwege zu Eumelanin und Pheomelanin gezeigt, die beide In der Tier- und Pflanzenzüchtung ist die Kenntnis der genauen
zunächst die Tyrosinase-Aktivität voraussetzen. Auf dem Weg genetischen Einflüsse von großer Bedeutung für die Isolierung
zum Eumelanin werden noch weitere Enzyme benötigt, die optimaler genetischer Konstitutionen. Jedoch lassen sich diese
durch die Gene Tyrp1 und Tyrp2 codiert werden (engl. tyrosina- oft nicht eindeutig analysieren. Man ist daher vielfach auf rein
se-related protein). Hier müssen wir also auch wieder mit epista- empirische Verfahren zur Erzeugung von Rassen mit gewünsch-
tischen Effekten rechnen, wie wir das bereits bei den Augenfarb- ten Eigenschaften angewiesen. Man beginnt mit Kreuzungen
stoffen von Drosophila gesehen haben. zweier hinsichtlich eines Merkmals reiner Linien und isoliert
Neben diesen direkten genetischen Wechselwirkungen gibt aus der F1 phänotypisch besonders vorteilhafte Pflanzen. Diese
es aber auch modifizierende Wechselwirkungen. Wir spre- werden, soweit möglich, durch Selbstbefruchtung weitergezüch-
chen  von Modifikation, wenn das Produkt eines Gens durch tet, und in den folgenden Generationen werden wiederum die
ein nicht-alleles Gen verändert wird. Die Vielfältigkeit der geeignetsten Phänotypen zur weiteren Vermehrung ausgewählt.
Fellfarben der Maus eignet sich auch besonders gut zur Unter- Hierbei kann es entweder gelingen, neue reine Linien zu ge-
suchung dieser Effekte; in . Abb. 11.16j–l sind dafür Beispiele winnen oder man findet Phänotypen, die durch bestimmte,
gegeben. Besonders interessant sind dabei die Phänomene, genau definierte Kreuzungen reproduzierbar erzeugt werden
wenn dieselbe Mutation in unterschiedlichen Inzuchtstäm- können. Ein wichtiger Gesichtspunkt hierbei ist, dass sich
men zu verschieden starken Phänotypen führt. Hier verfügen Heterozygote häufig als besonders vorteilhaft hinsichtlich ihrer
dann die beiden Inzuchtstämme über unterschiedliche Modifi- Eigenschaften erweisen. Man bezeichnet diese Eigenschaft, der
katoren, die prinzipiell einer genetischen Analyse zugänglich wir bereits in Zusammenhang mit den Mendel’schen Experi-
sind. menten begegnet sind (Größe der Hybride, 7 Abschn. 11.1), als
Heterosis oder Überdominanz. Solche Heterosis-Effekte sind
C Wenn die Modifikation die phänotypische Ausprägung der auch populationsgenetisch besonders interessant, da sie eine
mutierten Gene unterdrückt, obwohl diese immer noch vor- Selektion auf Beibehaltung verschiedener Allele zur Folge haben
handen sind, bezeichnen wir solche Gene als Suppressor- (7 Abschn. 13.3.1).
484 Kapitel 11 · Formalgenetik

Eumelanin Pheomelanin

11 . Abb. 11.17 Die Biosynthesewege zu Eumelanin und Pheomelanin. Zur Herstellung von Eumelanin werden Aktivitäten von Tyrosinase, Tyrp1 und Tyrp2
benötigt, wohingegen zur Synthese von Pheomelanin nur Tyrosinase und Cystein notwendig sind. Die Enzyme sind grün hervorgehoben. (Nach Wakamatsu
und Ito 2002, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

*Ein
a
Beispiel für den Erfolg solcher züchterischen Praxis ist die
Tomate. Sie wurde von den Ur-Einwohnern Amerikas (wahr-
scheinlich in Mexiko) domestiziert; die Beere der ursprüngli-
chen Wildform (Lycopersicon esculentum) wiegt nur wenige
Gramm, wohingegen moderne Sorten bis zu 1 kg wiegen kön-
nen. Zusätzlich zum Gewicht variiert auch die Form erheblich.
Der quantitative Charakter der Veränderung der Fruchtgröße
hat lange Zeit die Anwendung klassischer Mendel’scher Tech-
niken verhindert. Zurzeit werden etwa 30 QTLs diskutiert, die
für die meisten Variationen bei Größe und Form der Tomaten
verantwortlich sind; Mutationen in sechs Genorten scheinen
essenziell dafür zu sein, kleine Beeren der Wild-Tomaten in
extrem große Tomaten zu verwandeln. Ein Gen, das bisher
charakterisiert werden konnte (fw2.2), codiert für ein Trans-
membranprotein, das offensichtlich als negativer Regulator
der Zellteilung wirkt. Neben den verschiedenen QTLs spielt
auch Heterosis eine wichtige Rolle, wenn es um die Steige-
rung von Ernteerträgen geht. . Abb. 11.18 zeigt ein Beispiel
für die Tomate. Durch Verwendung spezifischer Linien (engl.
b
introgression line) gelingt es, die genomischen Bereiche, die
für den Effekt der Überdominanz von Heterozygoten verant- . Abb. 11.18 Ertragssteigerung durch Heterosis bei Tomaten. In kultivier-
wortlich sind, immer weiter einzugrenzen. ten Tomaten (Solanum lycopersicum) kann die Ertragssteigerung durch Hete-
rosis durch die Verwendung spezifischer Linien zum Einkreuzen in indivi-
> Die Komplexität der Interaktionen erblicher Eigenschaften duelle Komponenten aufgeteilt werden. a Genotypen der beiden Linien; die
Linie P enthält ein unterschiedliches Fragment des Chromosoms 8. b Reprä-
setzt in der züchterischen Praxis der gezielten Erzeugung
sentative Pflanzen und Ernteerträge der verschiedenen Genotypen sind
neuer Zuchtrassen oft Grenzen. Neue Methoden der Ge- dargestellt. Das heterozygote Element auf dem Chromosom 8 erhöht den
nomforschung erlauben es aber heute, die einzelnen Ernteertrag um mehr als 50 % gegenüber den beiden homozygoten. (Nach
Komponenten gezielt zu charakterisieren. Lippman und Zamir 2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
11.3 · Mendel aus heutiger Sicht – Ergänzungen seiner Regeln
485 11
11.3.5 Pleiotropie überraschend, da wir davon ausgehen müssen, dass in ho-
mozygotem Zustand kein funktionsfähiges Hämoglobin ge-
Haben wir im vorangegangenen Abschnitt gelernt, dass in bildet werden kann. Lediglich noch vorhandene mütterliche
vielen Fällen ein Merkmal durch eine Vielzahl von Genen be- Erythrocyten, die die plazentale Blutbarriere durchschritten
einflusst werden kann, so muss unser Bild von der Komplexi- haben, sind neben fötalem Hämoglobin für kurze Zeit (eini-
tät  genetischer Mechanismen noch dadurch erweitert werden, ge Wochen) verfügbar und ermöglichen ein begrenztes
dass umgekehrt ein Gen auch auf mehrere Merkmale ein- Überleben. Die molekulare Ursache dieser Krankheit ist be-
wirken kann. Man bezeichnet solche genetischen Effekte als Plei- kannt (7 Abschn. 13.3.1).
otropie (Ludwig Plate 1910). Als Beispiele für pleiotrope Gen-
wirkungen wollen wir im Folgenden die Globin-Gene betrachten An dieser Stelle wollen wir nur die Folgen der Krankheit in
(7 Abschn. 7.2.1), deren Produkte in Form des Hämoglobins für Heterozygoten näher betrachten. Vergegenwärtigen wir uns die
den Sauerstofftransport im Organismus verantwortlich sind. biologische Bedeutung der Versorgung der Zellen mit Sauerstoff,
so lässt sich ein sehr komplexes Krankheitsbild erwarten. In
C Eine Erbkrankheit des Menschen ist die Sichelzellenanämie. . Tab. 11.8 finden wir eine Zusammenstellung der Symptome,
Diese Blutkrankheit ist in bestimmten Regionen der Erde
die an einem Patienten zu beobachten sind, der an Sichelzel-
sehr weit verbreitet und spielt daher medizinisch eine wich-
lenanämie leidet: Tatsächlich ist eine Vielzahl körperlicher Funk-
tige Rolle (7 Abschn. 11.5.3). Wie schon der Name Anämie
tionen betroffen, und es gelingt nicht einmal, dem genetischen
besagt, leiden Patienten an Blutarmut oder genauer gesagt
Defekt auch nur ein einziges Merkmal, abgesehen von dem der
an einem Mangel an funktionsfähigen Erythrocyten. Dieser
Sichelzellbildung, als besonders charakteristisch zuzuordnen.
Mangel wird durch ein verändertes β-Globinprotein verur-
Dieses Beispiel macht deutlich, in welchem unerwarteten Aus-
sacht. Durch veränderte physikochemische Eigenschaften
maß komplexe Phänotypen auf die Wirkung eines einzelnen in
des β-Globins kommt es in einem Teil der Erythrocyten zu
seiner Funktion gestörten Allels zurückführbar sein können.
einer Kristallisation von Hämoglobin, das dadurch seine
Wahrscheinlich muss man für sehr viele Gene solche pleiotropen
Funktion nicht mehr wahrnehmen kann. Hämoglobin ist für
Wirkungen annehmen.
die Bindung und den Transport von Sauerstoff sowie für den
Wir erkennen mit der fortschreitenden Erörterung von Gen-
Abtransport von CO2 im Blut verantwortlich. In der defekten
funktionen in zunehmendem Maße, dass es erst deren funktio-
Form sind seine Bindungsaffinitäten stark verändert, und in
nelle Verknüpfung ist, die die Organismen existenzfähig macht.
kristalliner Form kann das Hämoglobin überhaupt keinen
Bei näherer Betrachtung ist das aber auch nicht verwunderlich,
Sauerstoff mehr binden. Die Kristallisation des Hämoglobins
da die verschiedenen Bauteile eines Individuums letztlich keine
führt zu einer Formveränderung der Erythrocyten, da diese
voneinander getrennten Aufgaben haben, sondern nur im Zu-
durch die Hämoglobinkristalle eine sichelförmige Gestalt
sammenwirken ihre richtige Funktion finden. Das spiegelt sich
annehmen (. Abb. 13.16). Sichelzellenerythrocyten sind
bereits im Zusammenspiel der Gene wider.
nicht mehr funktionsfähig und werden dem Blut durch Pha-
gocytose entzogen. Das Krankheitsbild äußert sich für uns > Viele Gene beeinflussen verschiedene Merkmale zugleich.
sichtbar im Wesentlichen in Heterozygoten, da homozygote Diesen Einfluss eines Gens auf mehrere Merkmale bezeich-
Individuen meist kurz nach der Geburt sterben. Das ist nicht net man als Pleiotropie.

. Tab. 11.8 Krankheitssymptome bei Sichelzellenanämie

Ursache Effekt

Primäre Effekte im Blut

Bildung von Sichelzellen, deren Abbau Anämie, allgemeine schlechte physische Konstitution

Sekundäre Effekte im Blutkreislauf

Sauerstoffmangel Herzfehler, Schäden im Gehirn, Schäden an verschiedenen Organen,


Lungenentzündung, Nierenfehler

Weitere Effekte

Akkumulation von Sichelzellen Milzschäden


486 Kapitel 11 · Formalgenetik

11.4 Kopplung, Rekombination Diese Parallelität in der Merkmalsexpression geschlechtsgekop-


und Kartierung von Genen pelter Gene und der cytologisch sichtbaren meiotischen Vertei-
lung von Geschlechtschromosomen ließ auch die letzten Zweifel
Die Mendel’schen Regeln besagen, dass Merkmale unabhängig an der Richtigkeit der Chromosomentheorie der Vererbung, d. h.
voneinander vererbt werden. Dieses zentrale Dogma hat sich in der Annahme, dass die Chromosomen die Träger der erblichen
150 Jahren moderner Genetik im Wesentlichen bestätigt, wenn- Information sind, verstummen.
gleich wir in den letzten Abschnitten einige Modifikationen im
Detail anbringen mussten. Wir haben aber andererseits auch ge-
C Calvin Blackman Bridges (1889–1939) erzielte durch seine ge-
netischen Experimente mit geschlechtsgekoppelten Merk-
sehen, dass die Chromosomen Träger der genetischen Informa-
malen von Drosophila wichtige Einsichten (Bridges 1916). Er
tion sind. Es scheint nun ein offensichtlicher Widerspruch zwi-
beobachtete nämlich, dass in Kreuzungen von Weibchen, die
schen den Mendel’schen Regeln und den cytologischen Beobach-
für das X-chromosomale Gen white homozygot das Wildtyp-
tungen zu bestehen: Die Anzahl der Chromosomen erscheint zu
Allel besaßen (+/+), mit weißäugigen Männchen (w/Y) entge-
niedrig, um mit der Vorstellung vereinbar zu sein, dass jedes
gen der Erwartung gelegentlich weißäugige Männchen auf-
Chromosom einer Erbeigenschaft zuzuordnen ist. Obwohl die
traten, die steril waren. Umgekehrt fand er in der F1 einer
tatsächliche Anzahl der Protein-codierenden Gene verschiede-
Kreuzung homozygot weißäugiger Weibchen (w/w) mit rot-
ner Organismen noch immer nicht ganz genau bekannt ist
äugigen Männchen (+/Y) Weibchen mit weißen Augen, die
(Ensembl-Datenbank: Mensch: 20.300; Maus: 22.606; Ratte:
sich als fertil erwiesen. Die Ergebnisse seiner genetischen
22.777; April 2015), wurde doch sehr bald erkannt, dass jedes
Analyse dieser Ausnahmetiere sind in . Abb. 11.19e zusam-
Chromosom Hunderte oder sogar Tausende von Genen tragen
mengefasst. Sie führten zu der Erkenntnis, dass mit geringer
muss. Dieser Schluss widerspricht aber der Regel Mendels, wo-
Häufigkeit Fehler in der Verteilung der Geschlechtschromoso-
nach sich Merkmale unabhängig auf die Nachkommen verteilen,
men während der Meiose auftreten können (. Abb. 11.20),
da die in einem Chromosom gelegenen Gene gekoppelt bleiben,
und zwar sowohl in der ersten als auch in der zweiten Reife-
also nicht unabhängig voneinander verteilt werden. Dieser
teilung (. Abb. 11.20a, b). Im einen Fall werden die homolo-
scheinbare Widerspruch zu Mendels experimentellen Ergebnis-
gen Chromosomen (1. Reifeteilung) nicht voneinander ge-
sen konnte durch die Genetiker gelöst werden, als sie erkannten,
11 dass die in Mendels Untersuchungen beobachteten Merkmale
trennt, sondern wandern zusammen zum gleichen Spindel-
pol. In der zweiten meiotischen Teilung werden dann die
auf unterschiedlichen Chromosomen liegen oder in einigen
Chromatiden normal getrennt, sodass einerseits X/X- oder
Fällen im Chromosom so weit entfernt liegen, dass stets Rekom-
X/Y-Gameten entstehen, andererseits aber auch Gameten,
binationsereignisse (7 Abschn. 6.3.3) zwischen den gekoppelten
denen beide Geschlechtschromosomen fehlen. Man spricht
Genen stattfinden. Daher verteilen sie sich während der Meiose
dann von einer primären Nondisjunction, d. h. einer Nicht-
tatsächlich scheinbar unabhängig voneinander auf die Keim-
trennung der Homologen während der ersten Reifeteilung.
zellen.
Ein gleicher Fehler kann aber auch erst während der zweiten
> Gene, die so nahe beieinander auf einem Chromosom meiotischen Teilung auftreten. In diesem Fall werden in einer
liegen, dass Rekombinationsereignisse selten stattfinden, der sekundären Meiocyten die Chromatiden nicht getrennt
bezeichnet man als »gekoppelt«. und wandern zum gleichen Spindelpol. Es entstehen dann
ebenfalls X/X- oder Y/Y-Gameten und Gameten ohne Ge-
schlechtschromosom. Man nennt diesen Fall sekundäre Non-
disjunction, d. h. eine Nichttrennung der Chromatiden wäh-
11.4.1 Geschlechtsgebundene Vererbung rend der zweiten Reifeteilung. Bridges hat damit einen – rela-
tiv häufigen – Fehler bei der Chromosomenverteilung ent-
Ein besonderer Fall von Kopplung tritt auf, wenn Gene ge-
deckt, der generell bei allen Chromosomen auftreten kann,
meinsam auf dem Geschlechtschromosom liegen. Bereits ein
und der nicht nur während der Meiose auftritt, sondern auch
einfaches Schema des Erbgangs von Genen, die in den Ge-
während der Mitose beobachtet werden kann. Die Interpreta-
schlechtschromosomen von Drosophila liegen, zeigt, dass dieser
tion des Vererbungsgangs bei Nondisjunction-Ereignissen ist
sich in zwei Punkten deutlich von den Erwartungen nach den
in . Abb. 11.20c–e zusammengefasst.
Mendel’schen Regeln unterscheidet (. Abb. 11.19):
4 Die Nachkommen einer Kreuzung haben im Hinblick auf > Geschlechtsgekoppelte Vererbung äußert sich durch nicht
geschlechtsgekoppelt vererbte Allele nicht unbedingt alle identische Phänotypen in reziproken Kreuzungen: Rezes-
den gleichen Phänotyp. sive Allele werden im heterogametischen Geschlecht auf-
4 Die Ergebnisse reziproker Kreuzungen sind nicht iden- grund der Hemizygotie stets sichtbar.
tisch. Die Ursachen für diese scheinbare Unstimmigkeit
mit den Mendel’schen Regeln sind im Punnett-Viereck
leicht zu erkennen (. Abb. 11.19c, d). Der hemizygote 11.4.2 Kopplung von Merkmalen
(also haploide) Zustand des X-Chromosoms im Männ- auf autosomalen Chromosomen
chen lässt rezessive Allele sichtbar werden, die im hetero-
zygoten Weibchen durch ein dominantes Allel verborgen In den Grundzügen ist die Zuordnung von Genen zu einem be-
bleiben. stimmten Chromosom (Kopplung; engl. linkage) bei einem au-
11.4 · Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
487 11

. Abb. 11.19 Der Erbgang eines geschlechtsgekoppelten Merkmals bei Drosophila, dargestellt am Beispiel des white-Gens (w) im X-Chromosom. Ge-
schlechtsgekoppelte Merkmale sind daran zu erkennen, dass die Phänotypen der Nachkommen (F1) zweier für unterschiedliche Allele homozygoter Eltern
in Abweichung von der 1. Mendel’schen Regel in reziproken Kreuzungen nicht gleich sind. a In der dargestellten Kreuzung trägt das Männchen das rezes-
sive mutante Allel von white (weiße Augen). Die F1 zeigt durchweg das dominante Wildtyp-Allel w+ (also rote Augen). b In der dargestellten, reziproken
Kreuzung trägt das Weibchen das rezessive mutante Allel von white. In der F1 der reziproken Kreuzung wird bei 50 % der Tiere (d. h. alle Männchen) der
white-Phänotyp ausgeprägt. c, d Diese Ergebnisse werden bei der Betrachtung des Erbgangs X-chromosomaler Gene anhand der Punnett-Vierecke ver-
ständlich. Da das Y-Chromosom kein white-Allel trägt, kann das einzelne, hemizygote X-chromosomale Allel voll zur Ausprägung kommen. e Gelegentlich
findet man in Kreuzungen Nachkommen, deren Phänotyp von den nach dem normalen Erbgang zu erwartenden Phänotypen abweicht (ungefähr 1 in
1000; Ausnahmen in a bzw. b). Von diesen erweisen sich die Männchen als steril. Bridges vermutete, dass es sich bei den Ausnahmetieren um Individuen
handelt, die durch fehlerhafte Geschlechtschromosomenverteilung während der elterlichen Meiose entstehen. Er führte daher eine Testkreuzung durch, in
der er die weißäugigen Ausnahmeweibchen mit Wildtypmännchen auskreuzte. Die Phänotypen der Nachkommenschaft scheinen seine Annahme zu be-
stätigen: Alle Nachkommen dieser Kreuzung zeigen einen Wildtyp-Phänotyp (0Y-Zygoten sind letal)

tosomalen Erbgang gleich wie bei der geschlechtsgebundenen durch nachweisbar wird, dass bestimmte Merkmale in den Nach-
Vererbung. Allerdings entfällt natürlich der genetische Marker kommen stets zusammen bleiben (gekoppelt sind). Chromoso-
»Geschlecht«, sodass man zusätzliche genetische Informationen men werden daher in der genetischen Nomenklatur auch als
benötigt. Daher muss bei einer autosomalen Kopplungsanalyse Kopplungsgruppen (engl. linkage groups) bezeichnet. Morgan
die F2-Generation betrachtet werden (Rückkreuzung, engl. back- verwendete in seinem Experiment Merkmale für die Augenfarbe
cross); bei X-gekoppelten Erbgängen wird der Zusammenhang (pr = violett/purple und pr+ = rot) und die Flügelform (vg = stum-
schon in der F1 sichtbar. melflügelig/vestigial und vg+ = normal). Dabei ist das Wildtyp-
Die wichtigsten Erkenntnisse hierzu wurden von den Droso- Allel (rote Augen und normale Flügel) jeweils dominant über das
phila-Genetikern bereits in den Frühzeiten genetischer Studien Mutanten-Allel. Er kreuzte dabei als Elterntiere (Parentalgenera-
an diesem Modellorganismus der klassischen Genetik gewon- tion: P) Wildtyp-Fliegen mit solchen, die sowohl Stummelflügel
nen. Thomas Hunt Morgan (1866–1945) zeigte in einem klassi- als auch violette Augen hatten. Die erste Generation von Nach-
schen Experiment als Erster die Kopplung von Genen, die da- kommen (Filialgeneration 1: F1) ist heterozygot für beide Marker
488 Kapitel 11 · Formalgenetik

a b
primäre Meiocyten (2n)

Meiose I

sekundäre Meiocyten

Meiose II

Gameten (n)

c d
P: XY P: XX

Keimzellen: XY 0 X Y Keimzellen: XX 0 X X

Nondisjunction normal Nondisjunction normal

Testkreuzung mit white-Weibchen (w/w): Testkreuzung mit Wildtyp-Männchen (w+/Y):


11
w w w+ Y

w+ w+w w+w w ww+ wY

Y Yw Yw w ww+ wY

0 0w 0w 0 0w+ 0Y

w+Y ww+Y ww+Y ww www+ wwY

e
Phänotypen: ww+ wildtyp wwY white w+Y wildtyp
www+ wildtyp 0w+ white (steril) wY white
+
ww Y wildtyp 0w white (steril) wY (letal)

. Abb. 11.20 Ursache der in . Abb. 11.19 dargestellten Ausnahmen. a, b Während der ersten (primäre Nondisjunction, a) oder der zweiten Reifeteilung
(sekundäre Nondisjunction, b) kann eine Fehlverteilung von Chromosomen auftreten. Die jeweils entstehenden Gameten sind dargestellt. Während der
Meiose der P-Generation kommt es zu fehlerhafter Verteilung (Nondisjunction) der Geschlechtschromosomen. c, d Als Folge davon entstehen Keimzellen
mit zwei Geschlechtschromosomen (XX oder XY) oder ohne jedes Geschlechtschromosom (0). Daher findet man in der Nachkommenschaft Weibchen mit
drei X-Chromosomen (XXX) und Männchen ohne Y-Chromosom (X0) (vgl. . Abb. 11.19e). Diese Chromosomenkonstitutionen lassen sich genetisch durch
weitere Testkreuzungen bestätigen. e Phänotypen der verschiedenen aus Testkreuzungen resultierenden Nachkommen. X0-Männchen sind steril, 0Y-Zygo-
ten letal und Weibchen mit drei X-Chromosomen reduziert vital. XXY-Tiere sind fertile Weibchen

und zeigt damit den Phänotyp der Wildtyp-Tiere. Bei der Kreu- violetten Augen, 151 Tiere mit violetten Augen und normalen
zung dieser F1-Tiere untereinander hätte man nun entsprechend Flügeln sowie 154 Fliegen mit Stummelflügeln und normalen,
der Unabhängigkeitsregel für dihybride Kreuzungen eine roten Augen beobachtet. Man braucht in diesem Fall keinen
9:3:3:1-Aufspaltung der Phänotypen erwartet (. Abb. 11.6). χ2-Test, um zu erkennen, dass das beobachtete Ergebnis deutlich
Morgan hatte aber 1339 Wildtypen, 1195 Stummelflügler mit vom Erwartungswert abweicht. Die jeweiligen Allele von pr und
11.4 · Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
489 11
vg werden offensichtlich überwiegend gemeinsam (gekoppelt)
vererbt, und andere Kombinationen als die in den beiden Eltern-
stämmen sind eher die Ausnahme. Morgan (1911) erklärte dies
damit, dass die Gene in einer linearen Anordnung vorliegen.
Ein Austausch kann offensichtlich nur in seltenen Fällen
durch Rekombinationen zwischen den homologen Chromoso-
men väterlicher und mütterlicher Allele erfolgen (. Abb. 11.21).
Die entsprechenden Merkmale werden damit in der Nachkom-
menschaft voneinander getrennt. Morgan schlug vor, dass die
bereits früher beobachteten Chiasmata während der meiotischen
Prophase eine Folge von Rekombinationsereignissen sind. Wei-
tere detaillierte Untersuchungen ließen bald erkennen, dass die
Rekombinationshäufigkeiten proportional zum Abstand zweier
Merkmale auf dem Chromosom zunehmen: Die Wahrschein-
lichkeit, dass eine Rekombination zwischen zwei Markergenen
innerhalb eines Chromosoms stattfindet, ist umso größer, je
weiter sie voneinander entfernt liegen. Morgans Schüler Alfred
Harry Sturtevant (1891–1970) erkannte, dass man hierdurch
genetische Chromosomenkarten erstellen kann, in denen alle
zugänglichen Merkmale eingetragen sind (Sturtevant 1913). Für
die relativen Abstände der Merkmale wurden deren relative Re-
kombinationshäufigkeiten zugrunde gelegt. Der Abstand zweier
Merkmale in einer solchen Karte gibt die relative Anzahl von
Rekombinationsereignissen zwischen diesen Merkmalen wäh-
rend einer Meiose an. Für diese relativen Abstände führte John
B. S. Haldane (1892–1964) als Maß die Morgan-Einheit (1919)
ein. Eine Morgan-Einheit (cM, Centi-Morgan) ist als 1 % Rekom-
bination definiert. In unserem Beispiel sind die 151 Fliegen mit
violetten Augen und normalen Flügeln und die 154 Tiere mit
Stummelflügeln und normalen Augen Folgen von Rekombina-
tionsereignissen. Da die Gesamtzahl der untersuchten Tiere
2839 beträgt, errechnet sich die Rekombinationsfrequenz R
zu 0,107 (Verhältnis der beobachteten Rekombinanten zu der
Gesamtzahl der F2-Tiere = 305:2839). Anders formuliert, die
Rekombinanten haben einen Anteil von 10,7 % an den F2-Nach-
kommen, d. h. der genetische Abstand beträgt 10,7 cM. . Abb. 11.21 Schematische Darstellung der Experimente Morgans zum
Solche Chromosomenkarten wurden natürlich in der Ver- Nachweis von Kopplung von Genen in Drosophila melanogaster. Im oberen
Teil der Abbildung wird der Erbgang der zwei Merkmale purple (pr) und ves-
gangenheit für viele Organismen erstellt. In . Abb. 11.22 ist eine
tigial (vg) dargestellt, wie er ohne Rekombination erfolgt. Im unteren Teil ist
Karte des Chromosoms 24 des Rindes aus einer früheren Phase eine einfache Rekombination gezeigt. Während der meiotischen Prophase
des Sequenzierprojektes des Rindergenoms dargestellt. Die Ab- werden Stücke homologer Chromatiden ausgetauscht. Die Folge ist eine
bildung gibt auch einen Eindruck von den Grenzen der geneti- Neuverteilung der elterlichen Allele. Im Mittel erfolgt eine Rekombination
schen Kartierung, da nicht in allen Fällen die Reihenfolge der in jedem Chromosom in jeder meiotischen Prophase
Gene und Marker aufgelöst werden kann. Inzwischen ist auch
das Rindergenom vollständig sequenziert und kann unter http://
www.ensembl.org/Bos_taurus/Info/Index eingesehen werden. zweier Gene, insofern er in einem Experiment bestimmt wurde,
Es enthält knapp 2,7 Mio. Nukleotide und codiert für 19.994 Pro- auch in der Regel mit einer Standardabweichung (SD) für eine
teine (Stand: April 2015). Wahrscheinlichkeit von 95 % angegeben. Wie bei Wahrschein-
Es muss an dieser Stelle allerdings betont werden, dass die lichkeitsbetrachtungen üblich, wird die Standardabweichung
genetischen Abstände, die in cM angegeben werden, keine phy- umso kleiner, je größer die Zahl der beobachteten Tiere oder
sikalisch exakten Abstände sind, wie sie in den modernen Se- Pflanzen (n) ist. Es gilt daher für die Berechnung der Standard-
quenz-Datenbanken zu finden sind und in Mb (Megabasen) abweichung SD die Formel:
angegeben werden. Sie sind vielmehr das rechnerische Ergebnis
eines Zufallsereignisses (der Rekombination), dessen Häufigkeit SD = 100 (1 − R )R / n
vor allem auch von der Sequenzumgebung abhängt. Rekombina-
tionen sind während der Meiose in Weibchen meist häufiger als Wir können nun an Morgans Beispiel weiterrechnen und erhal-
in Männchen und an den Telomeren in der Regel häufiger als in ten als SD des Abstands von pr und vg 0,6 cM. Mit einer Wahr-
der Nähe der Centromere. Daher wird der genetische Abstand scheinlichkeit von 95 % beträgt also der Abstand von pr und vg
490 Kapitel 11 · Formalgenetik

durch die Rekombinationshäufigkeit bestimmt wird, kann man


den physikalischen Abstand heute nach Abschluss der großen
Sequenzierprojekte messen und in bp (bzw. Mb) ausdrücken. Er
beträgt in unserem Beispiel 15,8 Mb (http://www.ensembl.org/
Drosophila_melanogaster/Info/Index; Stand: April 2015).
Eine Komplikation in solchen Kartierungen ist das Auftreten
von mehreren Rekombinationsereignissen zwischen zwei Merk-
malen. Für kurze Abstände ist die Wahrscheinlichkeit von Dop-
pel-Rekombinationen gering und kann daher vernachlässigt
werden. Mehrfache Rekombinationen sind jedoch desto häufiger
zu erwarten, je weiter entfernt zwei Merkmale auf dem Chromo-
som liegen. Bei der Erstellung von Chromosomenkarten müs-
sen hierfür geeignete Korrekturen eingeführt werden. Bei der
experimentellen Durchführung solcher Kartierungsversuche
mithilfe zweier Merkmale stellt sich das Problem, dass Doppel-
Rekombinationen in den Nachkommen nicht sichtbar werden
und dass dreifache Rekombinationen nicht von einfachen Re-
kombinationen zu unterscheiden sind. Dreifach-Rekombinatio-
nen können jedoch meist wegen ihrer geringen Wahrscheinlich-
keit vernachlässigt werden und sollen daher nicht weiter betrach-
tet werden.
In der Praxis umgeht man diese Kartierungsprobleme da-
durch, dass man aus dem Vergleich aller Rekombinationsfre-
quenzen, die man zwischen mehr als zwei Merkmalen experi-
mentell ermittelt, die Häufigkeit von Mehrfach-Rekombinatio-
11 nen errechnet. Das ist rechnerisch leicht möglich, da sie sich aus
dem Produkt der beobachteten Rekombinationshäufigkeiten der
verschiedenen Markergene ergibt.

11.4.3 Klassische Dreipunkt-Kreuzung

In . Tab. 11.9 sind die Kreuzungsergebnisse zusammengestellt,


die man bei einer Kreuzung von Mais zwischen drei gekoppelten
rezessiven Markergenen erhält: virescent (v), glossy (gl) und vari-
able sterile (va). Ausgangsmaterial der Kreuzung waren zwei rei-
. Abb. 11.22 Ausschnitt aus der genetischen Karte des Rindes. Im Chro-
mosom 24 werden die genetischen Abstände (in cM) mit ihrer cytogene-
ne Linien, die eine homozygot mutant für alle drei Markergene,
tischen Lage verglichen (die schwarz-weißen Blöcke links zeigen schema- die andere Wildtyp für alle drei Markergene. Die heterozygote
tisch das Ergebnis einer Giemsa-Färbung des Chromosoms). Auf der rechten Nachkommenschaft ist nach der 1. Mendel’schen Regel erwar-
Seite sind einige Marker und Gene in ihrer relativen Anordnung zueinander tungsgemäß phänotypisch reiner Wildtyp. Kreuzt man diese
dargestellt; Genorte in den Boxen sind durch Rekombination noch nicht
Pflanzen in einer Testkreuzung mit dem rezessiv homozygoten
aufgelöst, sodass deren Reihenfolge willkürlich ist. Die Lokalisation einiger
Gene ist nur näherungsweise angegeben, da die Genauigkeit der gene-
Elter zurück (siehe auch . Abb. 11.27b), so können wir die gene-
tischen Kartierung begrenzt ist (kursiv). (Nach Kurar et al. 2002, mit freund- tische Konstitution der Gameten in den Nachkommen dieser
licher Genehmigung von Wiley) Kreuzung direkt erkennen (letzte Spalte in . Tab. 11.9). Wir er-
kennen, dass in den Gameten erwartungsgemäß die ursprüngli-
chen genetischen Konstitutionen (also + + + und gl va v) wieder
10,7 ± 0,6 cM. In einer historischen Chromosomenkarte von auftreten, dass zusätzlich aber auch Zusammensetzungen auftre-
Drosophila (Strickberger 1988) finden wir einen Abstand dieser ten, die nur durch Rekombination zu verstehen sind (gl va +,
beiden Gene von 12,5 cM – es besteht also kein großer Unter- + va +, + va v, gl + +, gl + v und + + v). Zugleich sehen wir, dass die
schied zwischen den beiden Werten. In die Berechnung von Häufigkeiten dieser Konstitutionen sehr unterschiedlich sind.
Chromosomenkarten gehen jedoch viele Kartierungsdaten ein. Man kann zunächst einmal davon ausgehen, dass Doppel-Re-
Haldane hat dafür die Kartierungsfunktion eingeführt: kombinationen durch die Phänotypen mit der geringsten Häu-
figkeit repräsentiert werden (obwohl das dann nicht unbedingt
Ȧ OQ ±5 der Fall zu sein braucht, wenn zwei Marker einen sehr großen
Abstand haben, zwei andere aber einen sehr geringen). Wir stel-
Dabei ist ω der Abstand auf der Genkarte und R die Rekombina- len daher zunächst eine hypothetische Folge der drei Markergene
tionsfrequenz. Im Unterschied zum genetischen Abstand, der auf. Die niedrigste Austauschfrequenz besteht für die beiden
11.4 · Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
491 11

. Tab. 11.9 Dreipunkt-Kreuzung beim Mais

Phänotypen der Anzahl der Genotyp der Gameten


Nachkommen aus Individuen des hybriden Elters
der Testkreuzung

Wildtyp 235 + + +

variable sterile, glossy 62 + gl va

variable sterile 40 + + va

virescent, variable sterile 4 v + va

virescent, variable sterile, 270 v gl va


glossy

glossy 7 + gl +

virescent, glossy 48 v gl +

virescent 60 v + +

Aus Srb et al. (1965)

(komplementären) Konstitutionen + va v und gl + +. Um solche


Strukturen durch Doppel-Rekombination zu erhalten, muss gl
zwischen den beiden anderen Markergenen liegen: v gl va. Ein-
zelaustausche können also zwischen v und gl (wobei va mit gl
gekoppelt bleibt) oder zwischen gl und va (wobei v mit gl gekop-
pelt bleibt) erfolgen (. Abb. 11.23).
Die Errechnung der Genabstände ergibt für v und gl einen
Abstand von (62 + 4 + 7 + 60)/726 = 133/726 = 18,3 cM und für gl
und va einen Abstand von (40 + 4 + 7 + 48)/726 = 99/726 = 13,6 cM.
(Hierbei müssen natürlich die Doppel-Rekombinationen mitge-
zählt werden, da sie jeweils eine Rekombination zwischen den
Markern durchlaufen haben!)

C Die Folgen der Doppel-Rekombination für die Ermittlung


von Abständen werden deutlich, indem wir aus . Tab. 11.9
errechnen, welchen Abstand wir zwischen den äußeren
Markern erhalten, wenn wir diesen direkt aus einer Zweifakto-
ren-Kreuzung ermitteln. In . Tab. 11.9 ist die Gesamthäufig-
keit der Austausche zwischen v und va (62 + 40 + 48 + 60)/726 =
210/726 = 0,289 oder 28,9 %. Aus unserer Kartierung mithilfe
der Dreifaktoren-Kreuzung errechnet sich der Gesamtabstand
zwischen v und va auf 18,3 cM + 13,6 cM = 31,9 cM. Wir sehen,
dass der Abstand zu klein wird, wenn wir zu große Abstände . Abb. 11.23 Folgen einer doppelten Rekombination in einem Chromo-
som zwischen drei Markergenen (vgl. . Tab. 11.9). In den Keimzellen einer
für die Kartierung wählen, da die Doppel-Rekombinationen
heterozygoten F1-Nachkommenschaft der Kreuzung zweier verschiedener
nicht zu erkennen sind. homozygoter Linien des Mais können aufgrund von Rekombination und
Durch umfangreiche Kartierungsexperimente hat man, vor al- Doppel-Rekombination neben den Wildtyp-Chromosomen sechs weitere
Kombinationen von Allelen der heterozygoten Markergene (virescent [v],
lem bei Drosophila, dennoch sehr genaue Chromosomenkarten variable sterile [va], glossy [gl]) auftreten. Die ursprünglichen Chromosomen-
erstellen können. Ihre Auflösung wurde in den bestuntersuchten bereiche der beiden elterlichen Chromosomen sind rot bzw. schwarz ge-
Chromosomenabschnitten am rosy-Locus von D. melanogaster kennzeichnet, sodass der rekombinante Charakter der Chromosomen leicht
bis nahezu zum Nukleotidniveau vorangetrieben. erkennbar ist. Die Häufigkeit, mit der die verschiedenen Kombinationen
auftreten, ergibt sich aus den Abständen der Markergene (. Tab. 11.9)

> Jedes Chromosom enthält Hunderte von Genen, die linear


angeordnet sind. Man bezeichnet ein Chromosom daher Eine zusätzliche Schwierigkeit für die genaue Genlokalisation
auch als Kopplungsgruppe. Die Lage von Genen relativ im Chromosom hatte die Beobachtung von Hermann Joseph
zueinander und ihr Abstand im Chromosom lassen sich Muller (1890–1967) aufgeworfen, dass eine Rekombination die
durch die Ermittlung der Rekombinationshäufigkeiten Wahrscheinlichkeit einer zweiten Rekombination in seiner un-
zwischen ihnen festlegen. mittelbaren Nachbarschaft entweder erhöhen oder erniedrigen
492 Kapitel 11 · Formalgenetik

kann. Man hat demgemäß von negativer oder positiver Interfe- a Crossing-over-Gleichgewicht
renz gesprochen. Auch in unserem Beispiel in . Tab. 11.9 kön- Viele Doppelstrangbrüche
nen wir diese Erscheinung wiederfinden. Nach einer allgemei-
nen Regel ergibt sich die Häufigkeit, mit der zwei voneinander
unabhängige Ereignisse gleichzeitig eintreffen, aus dem Produkt
der Häufigkeiten, mit dem jedes der beiden Ereignisse allein auf-
tritt. Damit kann man in erweiterten Kartierungsfunktionen
Interferenzen berücksichtigen. Wenig Doppelstrangbrüche
Für die Doppel-Rekombination zwischen v und va erwarten
wir eine Häufigkeit von 0,183 × 0,136 = 0,025 oder 2,5 %. In
. Tab. 11.9 finden wir jedoch nur 11/726 = 0,0149 oder 1,49 %
Doppel-Rekombinationen. Die Frequenz ist demnach niedriger
als für zwei voneinander unabhängige Ereignisse zu erwarten ist.
Es muss also eine gegenseitige Beeinflussung zweier Rekombina-
b Crossing-over-Unveränderlichkeit
tionsereignisse bestehen. Diese Erscheinung wird als intrachro-
mosomale Interferenz bezeichnet. . Abb. 11.24a veranschau-
DSB-hotspot
licht diesen Mechanismus.
Interferenz beobachtet man nicht nur auf dem Niveau der
generellen intrachromosomalen Rekombination, sondern auch
auf der Ebene der Chromatiden. Generell ist zu erwarten, dass
die Häufigkeit, mit der die vier verschiedenen Chromatiden ei-
nes Chromosomenpaares an der Rekombination teilnehmen, für
alle Chromatiden im Mittel gleich ist. Es können jedoch Abwei-
chungen von den erwarteten Zufallshäufigkeiten auftreten, die . Abb. 11.24 Zwei Beispiele zur Crossing-over-Verteilung über ein Chro-
mosom. a Crossing-over-Gleichgewicht bei Saccharomyces cerevisiae. Ein
als Chromatiden-Interferenz bezeichnet werden. Liegt Chroma-
11 tiden-Interferenz vor, sind bestimmte Chromatiden eines Biva-
Crossing-over (CO), das an einem Doppelstrangbruch (DSB; grüne Zickzack-
Linie) während der Meiose erzeugt wurde, verhindert, dass in der unmittel-
lentes häufiger oder zu selten an Rekombinationsereignissen baren Nähe ein weiterer Doppelstrangbruch zu einem Crossing-over führt
beteiligt. . Abb. 11.24b zeigt dazu ein formales Beispiel. (Crossing-over-Interferenz). Dieses Phänomen ist durch gelbe Wolken darge-
Diese Beobachtungen, die zunächst rein formaler Natur wa- stellt; die intensivere Farbe deutet eine stärkere Interferenz an. Diese Dop-
pelstrangbrüche werden dann auf anderem Wege repariert (Nicht-Cros-
ren, gaben natürlich Anlass, nach den molekularen Mechanis-
sing-over: NCO). Die Zahl der Doppelstrangbrüche in der Meiose kann von
men zu fragen, die derartigen Abweichungen vom Erwartungs- Zelle zu Zelle variieren, aber die Gesamtzahl der Crossing-over bleibt kon-
wert zugrunde liegen. Wir erinnern uns, dass Rekombinationen stant. Dieses Crossing-over-Gleichgewicht ist auch in anderen Spezies be-
in der Meiose auftreten (7 Abschn. 6.3.3) und dass dazu die Aus- kannt. b Crossing-over-Unveränderlichkeit wird bei Schizosaccharomyces
bildung des synaptonemalen Komplexes, d. h. die Aneinanderla- pombe beobachtet. Hier gibt es viele hotspots von Doppelstrangbrüchen,
die in weitem Abstand über das Genom verteilt sind; die Zahl der Crossing-
gerung homologer Chromosomen in der meiotischen Propha-
over pro Kilobase ist jedoch konstant. Ein genetischer Abschnitt mit einem
se I, eine wichtige Voraussetzung ist. Die Ausbildung meiotischer DSB-hotspot in der Meiose hat also annähernd die gleiche Crossing-over-
Crossing-over setzt als Nächstes die Ausbildung eines Doppel- Zahl wie ein Abschnitt ohne solche hotspots. An diesen hotspots ist die Re-
strangbruchs voraus – und dieser erfolgt aber nicht zufällig, son- paratur über die Schwesterchromatiden (engl. intersister, IS) häufiger als
dern enzymatisch kontrolliert, und zwar durch die Endonuklea- über die homologen Chromatiden (engl. interhomolog, IH) – abseits der
hotspots ist dagegen die Reparatur über die homologen Chromatiden eher
se SPO11 (in Zusammenarbeit mit einigen anderen Proteinen).
der Regelfall. Da die Reparatur über die Schwesterchromatiden nicht zu
Dieses Protein wurde ursprünglich in Sporulationsmutanten in einem genetisch beobachtbaren Crossing-over führt, ist deren Zahl an hot-
Hefe identifiziert, die keine meiotische Rekombination ausfüh- spots nahezu gleich der Crossing-over-Zahl an den anderen Stellen im Ge-
ren können (daher das Gensymbol Spo). Weitere Arbeiten haben nom, was dann zu der beobachteten Unveränderlichkeit der Crossing-over-
schließlich gezeigt, dass die Einführung des Doppelstrangbruchs Zahl führt. (Nach Phadnis et al. 2011, mit freundlicher Genehmigung von
Elsevier)
sequenzabhängig erfolgt (bei Menschen ist es ein 13-bp-Element:
5’-CCNCCNTNNCCNC-3’) und zusätzlich durch epigenetische
Markierungen gesteuert wird (erhöhte Acetylierung des Lys-
5-Restes im Histon H2A). Neben Proteinen wie SPO11, die die > Besonderheiten der molekularen Mechanismen bei der
Bildung von Crossing-over und damit von Rekombinationen Rekombination führen zu Veränderungen in den bei Zu-
fördern, gibt es aber auch solche, die sie verhindern. Dazu gehört fallsverteilung erwarteten Häufigkeiten bei benachbarten
u. a. RTEL-1 (engl. regulator of telomer length-1), das zunächst in Genen. Es kann hierbei zu einer Erhöhung oder Erniedri-
C. elegans als »Anti-Rekombinase« charakterisiert wurde und gung der Rekombinationsfrequenz kommen.
eine Reparatur des SPO11-induzierten Doppelstrangbruchs
ohne Crossing-over fördert. In rtel1-Mutanten ist entsprechend Die Beobachtung von Chiasmata während der meiotischen Pro-
die Zahl der Crossing-over (und damit der Rekombinationen) phase hatte Morgan zu der Annahme veranlasst, dass Rekombina-
erhöht; weitere Details findet der interessierte Leser bei Youds tion in direktem Zusammenhang mit der meiotischen Paarung der
und Boulton (2011). Chromosomen während der frühen Prophase steht. Rekombina-
11.4 · Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
493 11

a b

. Abb. 11.25 Rosetten von Asci bei Neurospora. a Kreuzung aus einer N. sitophila-Mutante und des Wildtyps mit der erwarteten 4:4-Aufspaltung. Jeder
reife Ascus enthält vier große, schwarze, lebensfähige Ascosporen und vier kleine, weiße, nicht lebensfähige (helle Asci sind noch nicht reif ). b Kreuzung
aus einem N. crassa-Wildtyp mit einer Mutante, die zur Ausbildung eines Hybridproteins aus dem Histon H1 und dem grün fluoreszierenden Protein (GFP)
führt; vier Ascosporen zeigen jeweils die Fluoreszenz, und vier andere bleiben ungefärbt. (Nach Raju 2007, mit freundlicher Genehmigung der Indischen
Akademie der Wissenschaften)

tion wäre in diesem Fall eindeutig dem 4-Strang-Stadium (4C) stimmt wurden (z. B. Flügelform und Augenfarbe bei Drosophila;
zuzuordnen. Man kann sich aber die Frage stellen, ob Rekombina- Blatt- und Samenfarbe beim Mais); ähnlich war die Situation
tion nicht bereits vor der S-Phase, also im 2-Strang-Stadium (2C) lange Zeit in der Mausgenetik (Augen- und Fellfarben). Daher
erfolgen kann. Diese Frage erscheint zunächst als rein formalis- war es zunächst notwendig, für die Untersuchung von Kopp-
tisch. Wie wir aber sehen werden, hat ihre Beantwortung Konse- lungsgruppen (d. h. zur Analyse, auf welchem Chromosom eine
quenzen für die quantitative Verteilung der Rekombinanten in der neue Mutation lokalisiert ist) jeweils eine eigene Kreuzung mit
Nachkommenschaft. Die Frage des Zeitpunktes meiotischer Re- Trägern von Markergenen durchzuführen. Besondere Teststäm-
kombination lässt sich am einfachsten an Untersuchungsmaterial me erlaubten später die Möglichkeit, die Kopplung mit mehreren
beantworten, bei dem wir die Produkte einer Meiose vollständig Genen in einer Kreuzung zu erfassen. Diese Situation blieb im
analysieren können. Hierzu hat sich in der klassischen Genetik der Prinzip unverändert bis in die 1980er-Jahre.
Ascomycet Neurospora crassa als besonders geeignet erwiesen. In Mit dem Beginn des internationalen Humangenomprojekts
diesem Organismus sind die Meioseprodukte (Ascosporen) in wurden dann allerdings zunehmend molekulare Marker entwi-
einem Fruchtkörper (Ascus) in der gleichen räumlichen Anord- ckelt, die sich leicht durch PCR-Methoden (7 Technikbox 4) ana-
nung zu finden, wie sie aus den beiden meiotischen Teilungen lysieren lassen. Besonders geeignet sind dafür Mikrosatelliten, die
hervorgehen. Man nennt diese haploiden Meioseprodukte Tetra- kurze repetitive Elemente enthalten, die von spezifischen Sequen-
den. Der Schimmelpilz Neurospora unterscheidet sich von vielen zen flankiert sind und dadurch eindeutige chromosomale Zuord-
anderen Organismen außerdem dadurch, dass sich der Meiose nungen erlauben. Für viele genetische Modellsysteme (z. B. Dro-
noch eine mitotische Teilung anschließt, sodass ein Ascus insge- sophila, Zebrafisch, Maus, Ratte) und für den Menschen gibt es
samt acht haploide Ascosporen in genau der räumlichen Orientie- inzwischen mehrere Tausend solcher Mikrosatelliten-Marker,
rung enthält, in der sie entstanden sind (siehe auch 7 Abschn. 5.3.2 sodass eine sehr hohe Markerdichte auf den einzelnen Chromo-
und 7 Abschn. 6.3.4). Die Ascosporen lassen sich manuell leicht somen vorhanden ist. Charakteristisch für diese Marker ist neben
voneinander trennen und daher auch getrennt auf ihre genetische ihrer Lage auf dem Chromosom die Länge ihres jeweiligen repe-
Konstitution untersuchen. Im einfachsten Fall kann jedoch bereits titiven Elementes, die sich zwischen verschiedenen Stämmen ei-
die Farbe der Ascosporen dazu dienen, Rekombinationsereignisse ner Art unterscheiden kann. In . Abb. 11.26 ist als Beispiel der
zu erkennen. Einen Eindruck der Möglichkeiten der Tetradenana- Marker D11Mit36 gezeigt (dabei bezeichnet »D11« das Chromo-
lyse bei Neurospora vermittelt . Abb. 11.25. som 11 der Maus, »Mit« den Hersteller – hier das Massachusetts
Institute of Technology, und »36« ist die laufende Nummer des
Herstellers).
11.4.4 Moderne genomweite Kartierung Für eine genomweite Kopplungsanalyse einer unbekannten
mit Mikrosatelliten- und SNP-Markern Mutation ist es notwendig, die Aufspaltung in der F2-Generation
zu betrachten (7 Abschn. 11.4.2); eine geschlechtsgebundene Ver-
Wir haben gesehen, dass in der Frühphase der Genetik Abstände erbung wird in der Regel schon bei der Zucht einer Mutante of-
zwischen den Genen aufgrund äußerlich sichtbarer Marker be- fensichtlich. Wir wollen uns das Vorgehen am Beispiel einer
494 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Tab. 11.10 Genomweite Kopplungsanalyse für eine unbekannte


Beispiel für einen Mikrosatelliten-Marker: D11Mit36 Mutation (Progressive Linsentrübung; Gensymbol: Po)

Sequenz: Marker Zahl der % Kopplunga


getesteten Tiere Homozygote
CCAGAACTTTTGCTGCTTCCCCCAGTGTGTGTGTGTGTGTGTGTGTGTGT 50

GTGTGTGTGTGTGTGTGCATGGGGTGCATGTGTGTGTAAGTGCTTATGTG 100 D1Mit211 46 37 Nein

TGTACACATGCATACATGTGTGTACATGTGTGTGTGCAGGTGCACTTCCC 150 D1Mit216 46 50 Nein

TGTGTGTGCATGTGAAGGAGCAGACAGGGATTTTTTAAATTTTATTTTTT 200 D2Mit148 46 57 Nein

GAAATGGAACCTCTCACTGGACCTAGGGCTCAC 233 D2Mit206 43 63 Nein

D3Mit307 46 50 Nein
Polymorphismus zwischen verschiedenen Mausstämmen: D3Mit44 46 41 Nein
Mus castaneus 302 bp D3Mit77 46 39 Nein
Mus spretus 326 bp
C57BL/6J 234 bp D4Mit203 46 47 Nein
C3H/HeJ 240 bp
DBA/2J 220 bp D5Mit138 46 39 Nein
BALB/cJ 236 bp
AKR/J 234 bp D6Mit102 46 48 Nein

. Abb. 11.26 Beispiel für einen Mikrosatelliten-Marker: D11Mit36. Es ist D7Mit31 46 57 Nein
die Sequenz eines typischen Mikrosatelliten-Markers der Maus dargestellt.
D8Mit121 45 53 Nein
Mit den grünen Primern wird in der PCR ein Fragment amplifiziert, dessen
Größe in den unterschiedlichen Mausstämmen verschieden ist (zwischen D8Mit242 46 83 Nein
220 bp und 326 bp). Ursache sind unterschiedliche Längen der Wiederho-
lungssequenzen (rot). Dieser Marker ist auf dem Chromosom 11 lokalisiert, D9Mit12 45 58 Nein
und zwar in einer Entfernung von 51 cM vom Centromer an der Position
11 83.842.594 bp. Die Stämme C57BL/6J, C3H/HeJ, DBA/2J, BALB/cJ und AKR/J
D9Mit95 45 60 Nein

gehören zu Mus musculus und repräsentieren gängige Laborstämme. D10Mit42 46 63 Nein


(Quelle: http://www.informatics.jax.org/)
D10Mit86 41 66 Nein

D11Mit36 46 2 Ja
fortschreitenden Trübung der Augenlinse bei der Maus betrach-
ten, die dominant vererbt wird (dieser Phänotyp der Maus ist ein D11Mit224 39 21 Ja
gutes Modell für den »Grauen Star« des Menschen). Die Mutati- D11Mit242 45 11 Ja
on ist im Mausstamm C3H (braune Fellfarbe) aufgetreten; für die
D11Mit263 46 9 Ja
Kopplungsanalyse hat es sich bewährt, eine Auskreuzung nach
dem Stamm C57BL/6 (schwarzes Fell) durchzuführen. Für die D11Mit271 44 20 Ja
Auswahl der Mikrosatelliten-Marker bedeutet das, dass sich die D12Mit221 46 57 Nein
Länge ihrer Wiederholungselemente zwischen den Stämmen
D12Mit259 46 52 Nein
C3H und C57BL/6 so unterscheiden müssen, dass diese Unter-
schiede in Agarosegelen nach der PCR eindeutig und leicht iden- D13Mit14 46 54 Nein
tifizierbar sind – andernfalls sind diese Marker nicht informativ. D13Mit53 45 47 Nein
. Abb. 11.27a gibt nun das Kreuzungsschema einer solchen
D13Mit64 46 54 Nein
Analyse wieder. Da es sich um ein dominantes Merkmal han-
delt, bleibt der Phänotyp in allen Generationen erhalten. Bei Ver- D13Mit67 46 57 Nein
wendung von homozygoten Mutanten ist die F1-Generation uni- D15Mit171 44 50 Nein
form heterozygot. Die Rückkreuzung zu dem Wildtyp-Stamm
D15Mit85 46 57 Nein
ergibt dann in der F2-Generation eine 1:1-Aufspaltung der Phä-
notypen; die Analyse der F2-Generation erlaubt damit die Be- D16Mit146 45 44 Nein
stimmung der Kopplung mit einem Chromosom mithilfe der D16Mit189 44 41 Nein
Mikrosatelliten-Marker. . Tab. 11.10 zeigt das Ergebnis; dabei
D17Mit185 46 54 Nein
wurden nur Merkmalsträger verwendet. Obwohl in die Analyse
nur wenige Tiere der F2-Generation einbezogen wurden, ist das D18Mit60 42 62 Nein
Ergebnis eindeutig: Die Mutation liegt auf dem Chromosom 11. D19Mit10 46 52 Nein
Eine genauere Analyse des Chromosoms, das die Mutation trägt
(Haplotyp-Analyse; . Abb. 11.27c) erlaubt die Bestimmung der a Kopplung wird angenommen, wenn die Zahl der homozygoten
Reihenfolge der verwendeten fünf Marker und ihrer relativen Tiere für den jeweiligen C57BL/6-Marker kleiner als 25 % ist. Die
Marker, bei denen Kopplung festgestellt wurde, sind dunkel hinter-
Abstände; die Genkarte für diese fünf Marker zeigt . Abb. 11.27d.
legt. (Nach Graw et al. 1999)
Aufgrund der Lage auf dem Chromosom können in den vorhan-
11.4 · Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
495 11

. Abb. 11.27 Kartierung einer unbekannten Mutation bei der Maus. a Kartierungsschema für Kopplungsanalyse. Eine dominante Mutation (fortschreitende
Linsentrübung, engl. progressive opacity, Po) liegt homozygot vor (Merkmalsträger schwarze Symbole, auf dem Hintergrund des Laborstamms C3H) und
wird mit einer Wildtyp-Maus (leere Symbole) des Stamms C57BL/6 gekreuzt. Die Nachkommen in der F1-Generation sind in allen Genen heterozygot. Ein Tier
dieser F1-Generation wird mit einem Wildtyp der Parentalgeneration zurückgekreuzt. Die Nachkommen in der F2-Generation spalten entsprechend den
Mendel’schen Regeln auf und können auf Kopplung des Phänotyps mit verschiedenen Markern untersucht werden. (Wenn keine homozygoten Mutanten
zur Verfügung stehen, kann man den Ansatz mit heterozygoten Eltern durchführen: Man erhält in der F1-Generation 50 % Träger und muss für die Aufspal-
tung in der F2-Generation einen Träger mit einem Wildtyp zurückkreuzen.) b Eine rezessive Mutation (ohne Augenlinse, engl. aphakia, ak) liegt auf dem
Hintergrund des Stamms C57BL/6 vor und wird mit Wildtypen des Laborstamms AKR gekreuzt. In der F1-Generation zeigt kein Tier das Merkmal; alle Nach-
kommen sind heterozygot. Ein Tier dieser F1-Generation wird mit einer homozygoten Mutante der Parentalgeneration zurückgekreuzt. Die Nachkommen
in der F2-Generation spalten entsprechend den Mendel’schen Regeln auf und können jetzt auf Kopplung des Phänotyps mit verschiedenen Markern unter-
sucht werden. c Haplotyp-Analyse der unbekannten Mutation Po. 43 Merkmalsträger einer F2-Rückkreuzungsgeneration werden auf Kopplung mit verschie-
denen Markern des Chromosoms 11 untersucht. Dabei sind 30 Tiere heterozygot für alle Marker und damit nicht informativ. Die schwarzen Kästchen deuten
an, in welchen Tieren offensichtlich Rekombinationen stattgefunden haben, da die Kataraktträger homozygot für die jeweiligen Marker sind. Die Mutation
befindet sich also zwischen den Markern D11Mit242 (5 Rekombinationen zwischen diesem Marker und der unbekannten Mutation) und D11Mit36 (1 Rekom-
bination). Der genetische Abstand berechnet sich zu 11,6 bzw. 2,3 cM; mithilfe der Formel aus 7 Abschn. 11.4.2 kann auch die 95-%-Vertrauensgrenze ange-
geben werden. d Die Daten der Haplotyp-Analyse werden in eine Karte des Maus-Chromosoms 11 eingetragen; rechts sind die Abstände aus der Haplotyp-
Analyse angegeben. Das Kandidatengen Cryba1 (grün; 45 cM vom Centromer entfernt) codiert für ein Strukturprotein der Augenlinse (βA1/A3-Kristallin); die
für die Linsentrübung (Po; rot) kausale Mutation wurde tatsächlich in diesem Gen identifiziert. (c, d nach Graw et al. 1999, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)

denen Datenbanken nun diejenigen Gene herausgesucht wer- wichtiges Zusatzkriterium ist natürlich, dass das Kandidatengen
den, die innerhalb des kritischen Intervalls zwischen den flankie- auch in den entsprechenden Geweben (hier: Augenlinse) expri-
renden Markern liegen und damit als Kandidaten für diesen miert wird. In diesem Fall wurde eine Punktmutation im Cryba1-
Phänotyp (hier: Grauer Star) infrage kommen. Dieser Ansatz Gen als Ursache identifiziert; das Cryba1-Gen codiert für ein
wird als positionelle Kandidatengenanalyse bezeichnet. Ein Strukturprotein (βA1/A3-Kristallin) der Augenlinse.
496 Kapitel 11 · Formalgenetik

C Wir verstehen dabei unter einem Haplotyp (Abkürzung aus man vor Problemen, da eine Kartierung in der Regel ungenaue
»haploider Genotyp«) eine Kombination von gekoppelten Ergebnisse bringt und im besten Fall Kopplung mit verschiedenen
Allelen eines Chromosoms, die gemeinsam vererbt werden. Chromosomen deutlich wird. Verschärft wird das Problem mög-
In . Abb. 11.27d können wir in dem untersuchten Bereich licherweise durch Phänomene, die wir als Epistasie, Codominanz
sechs verschiedene Haplotypen unterscheiden, die jeweils etc. bereits kennengelernt haben. Es ist daher sinnvoll, von vorn-
durch eine unterschiedliche Zahl von Tieren repräsentiert herein eine möglichst große Zahl von Individuen zu sammeln,
werden (zur Anwendung von Haplotyp-Analysen unter um die Population möglichst vollständig abzubilden. Außerdem
populations- und evolutionsgenetischen Gesichtspunkten ist es sinnvoll, einen komplexen Phänotyp in einfachere Merkma-
siehe 7 Abschn. 11.6.1). le zu unterteilen (z. B. Beschränkung bei der »Größe« auf nur 10 %
aller Werte an den jeweiligen Enden der Skala).
Bei der Kartierung rezessiver Merkmale wird im Prinzip ähn- Der erste Schritt in einer QTL-Kartierung besteht üblicher-
lich verfahren (. Abb. 11.27b). Dabei muss in der Elterngenera- weise darin, solche Populationen zu gewinnen, die von homozy-
tion der Mutantenphänotyp homozygot vorliegen, da rezessive goten Inzuchtlinien abstammen. Die daraus hervorgehenden
Merkmale nur in der homozygoten Situation ausgeprägt werden. F1-Populationen werden in der Regel heterozygot für alle Marker
Nach der Auskreuzung zu einem homozygoten Wildtyp-Stamm und auch die QTLs sein. Ausgehend von der F1-Population wer-
entspricht die F1-Generation phänotypisch dem Wildtyp, ist aber den Kreuzungen angesetzt (z. B. Rückkreuzungen, F2-»inter-se«-
genotypisch heterozygot. Die Rückkreuzung wird nun immer Kreuzung und Kreuzungen, um reine Inzuchtlinien zu erhalten),
zum homozygoten Mutanten-Stamm erfolgen, da nur so in der und die Aufspaltungen der Marker und QTLs werden statistisch
F2-Generation der Mutantenphänotyp erscheint (50 % der Nach- modelliert. Im Allgemeinen nimmt man natürlich an, dass die
kommen sind homozygot für das rezessive Merkmal; die anderen Marker unabhängig aufspalten, aber häufig ist das Ergebnis ver-
50 % sind heterozygot und zeigen daher den Phänotyp des Wild- zerrt. Wenn die einzelnen Daten vorhanden sind, werden statis-
typs). Genauso wie für einen dominanten Erbgang kann damit tische Beziehungen zwischen den Markern und den quantitati-
die Kopplung mit entsprechenden Markern untersucht und eine ven Merkmalen hergestellt; dabei können einfache Techniken
positionelle Kandidatengenanalyse durchgeführt werden. (Varianz-Analyse, engl. analysis of variance, ANOVA) oder kom-
Neben den oben erwähnten Mikrosatelliten-Markern plexere Verfahren herangezogen werden. Die Lokalisation des
11 (. Abb. 11.26) wurden in den letzten Jahren – vor allem im Zu- QTLs benötigt aber auf alle Fälle wenigstens eine grobe geneti-
sammenhang mit den großen Sequenzierprojekten – sehr viele sche Karte mit bekannten Abständen der Marker und Berech-
Einzelbasen-Polymorphismen identifiziert (engl. single nucleoti- nungen einer maximierten Wahrscheinlichkeitsfunktion.
de polymorphisms, SNPs). Beim Menschen rechnet man damit, Im einfachen Fall wird man zunächst Einzelmarker-Tests
dass ca. alle 1000 bp ein SNP zu finden ist – die Markerdichte ist durchführen und dabei die entsprechenden statistischen Testver-
also extrem hoch. Verbunden mit einem schnellen Nachweis er- fahren anwenden (t-Test, Varianz-Analyse, einfache Regres-
laubt es diese hohe Markerdichte, Mutationen zügig zu kartieren. sionsanalyse); ein allgemeines Beispiel dafür ist in . Abb. 11.28
angegeben. Die Intervall-Kartierung wurde von Eric Lander und
> Durch die hohe Dichte verschiedener Marker in vielen Mo-
David Botstein 1989 in die Literatur eingeführt und benutzt die
dellorganismen ist es möglich, Mutationen sehr präzise
vorhandenen genetischen Karten als Rahmen für die Kartierung
und schnell zu kartieren. Dadurch können positionelle
von QTLs. Die Intervalle, die durch eine geordnete Serie von
Kandidatengene für eine Mutation erkannt werden; in der
Markerpaaren vorgegeben sind, werden schrittweise abgesucht
Regel erlaubt dies auch eine zügige molekulare Charakte-
(z. B. in 2-cM-Schritten), und mithilfe statistischer Verfahren
risierung der Mutation.
wird überprüft, ob ein QTL innerhalb eines Intervalls vor-

*sequencing;
Durch die neuen Sequenziertechniken (next generation
7 Technikbox 7) hat sich das Sequenzieren von
handen ist oder nicht. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die
Intervall-Kartierung statistisch die Kopplung mit einem einzigen
Gen innerhalb jedes Intervalls überprüft. Das Ergebnis wird
Säugetiergenomen so stark beschleunigt (und verbilligt),
üblicherweise als »LOD-Score« angegeben (engl. logarithm of the
dass das ganze Genom von Mausmutanten innerhalb weni-
odds; siehe dazu aber auch die Kartierung in der Humangenetik,
ger Wochen durchsequenziert werden kann. Wenn geeig-
7 Abschn. 13.1.3). Dabei wird die Wahrscheinlichkeitsfunktion
nete Kontrollen vorliegen, kann auch auf eine vorherige
unter der Nullhypothese (kein QTL) mit der alternativen Hypo-
Kartierung verzichtet werden, sodass die Mutation direkt
these (QTL an der Testposition) verglichen, um so wahrschein-
identifiziert werden kann.
liche Orte für einen QTL zu ermitteln.
Wir haben oben gesehen, dass die Intervall-Kartierung die
geordneten genetischen Marker in einer systematischen und line-
11.4.5 Kartierung von quantitativen Merkmalen aren Form durchsucht. Es wird bei jedem Schritt immer dieselbe
und Modifikator-Genen Nullhypothese überprüft und dieselbe Wahrscheinlichkeit ange-
nommen. Wenn schließlich alle LOD-Scores zusammengenom-
Wie wir bereits oben gesehen haben (7 Abschn. 11.3.4), werden men werden, erhält man ein Profil über die genetische Karte
quantitative (d. h. stetige) Merkmale (z. B. Körpergröße, -gewicht) (. Abb. 11.29). Überprüft man, welches der verschiedenen Maxi-
durch mehrere Gene vererbt. Wenn man nun die einzelnen Gene ma einem einzigen QTL entspricht, muss man fragen, wann Er-
dazu (engl. quantitative trait locus, QTL) kartieren möchte, steht gebnisse als statistisch signifikant zu bezeichnen sind. Es ist nicht
11.4 · Kopplung, Rekombination und Kartierung von Genen
497 11
. Abb. 11.28 Experimentelles Design einer Kartierung
quantitativer Merkmale. Es ist eine Standard-Rückkreu-
zung gezeigt für die Marker M (mit den Allelen M1 und
M2) und R (mit den Allelen R1 und R2) und dem quanti-
tativen Merkmal Q und dessen Allelen Q1 und Q2. Die
Haplotypen sind durch einen Schrägstrich getrennt. Für
den Merkmals-Wert (Y) wird eine Normalverteilung
angenommen (N) mit einem Mittelwert μ und einer
Varianz σ2 in den elterlichen Populationen P1 und P2.
B1 und B2 stellen die Nachkommen der reziproken Rück-
kreuzung dar. Der Merkmals-Wert in den Nachkommen
der Rückkreuzung hat eine Verteilung, die das Gemisch
der F1-Wert-Verteilung und der jeweiligen Elternpopu-
lation repräsentiert. Mithilfe statistischer Verfahren
kann nun entschieden werden, ob es eine Beziehung
zwischen den genotypischen Daten (Markern) und
den Informationen aus der Rückkreuzung gibt. (Nach
Doerge 2002, mit freundlicher Genehmigung der
Nature Publishing Group)

einfach, einen QTL sicher zu definieren: einmal, weil die Wahr-


scheinlichkeit üblicherweise eine Funktion von Mischungen von
Normalverteilungen ist, und zum anderen, weil die Teststatistik
nicht mehr einer Standardverteilung der Statistik folgt, wenn vor-
her die Daten unter der Null- und der Alternativhypothese maxi-
miert wurden. Es sind daher die Ergebnisse von entsprechenden
Computerprogrammen mit einer gewissen Vorsicht zu interpre-
tieren; eine Übersicht über gängige Kartierungsprogramme ent-
hält die Webseite http://www.jurgott.org/linkage/home.html.
> Die Kartierung quantitativer Merkmale (QTLs) ist von
besonderer Bedeutung zum Verständnis komplexer
Erkrankungen beim Menschen und zur Optimierung
der Erträge in der Tier- und Pflanzenzucht. Erforderlich
. Abb. 11.29 Analyse einer Kartierung quantitativer Merkmale. Die darge- sind allerdings in der Regel komplexe Zuchtschemata
stellten Daten stammen ursprünglich aus einer Untersuchung am Chromo- und entsprechende Auswertungsprogramme.
som 11 der Maus zur Kartierung des Schweregrades einer experimentellen,
allergischen Encephalomyelitis (Entzündungen im Gehirn und Rücken- C In den letzten Jahren wurden neue Mauslinien etabliert, die
mark). Diese Erkrankung der Maus wird als Modell für Multiple Sklerose unter dem Stichwort »Collaborative Cross« diskutiert werden.
beim Menschen verwendet. Verschiedene Mikrosatelliten-Marker wurden in Wir können uns darunter ein groß angelegtes internationales
633 F2-Mäusen genotypisiert; die Schwere der Erkrankung wurde über
Kreuzungsexperiment bei der Maus vorstellen, in dem ver-
mehrere Messungen des Hängenlassens ihrer Schwänze bestimmt. Die
Analyse wurde mithilfe des Programms »QTL-Cartographer« (http://statgen. schiedene Inzuchtstämme der Maus nach einem detailliert
ncsu.edu/qtlcart/WQTLCart.htm) und verschiedener Ansätze durchgeführt; geplanten Zuchtschema untereinander verpaart wurden, um
die rote Linie repräsentiert das 95-%-Signifikanz-Niveau: so die genetische Heterogenität menschlicher Populationen
5 Die Einzelmarker-Analyse mithilfe des t-Tests (schwarze Punkte) erkennt nachzubilden und dennoch die Vorteile der Maus als geneti-
einen signifikanten Marker (D11Mit36; . Abb. 11.26).
sches Modellsystem auch für komplexe menschliche Erkran-
5 Die Intervall-Kartierung (blaue Linie) identifiziert vier Maxima und damit
mögliche Lokalisationen für die QTLs. kungen (7 Abschn. 13.4) nutzen zu können. Dabei ist es
5 Die zusammengesetzte Intervall-Kartierung (grüne Linie) findet zwei möglich, Wechselwirkungen von Allelkombinationen zu un-
signifikante QTLs. tersuchen, was bei der Verwendung von reinen Inzuchtlinien
nicht möglich wäre. Durch moderne Analysemethoden ist es
Der wesentliche Unterschied zwischen den verwendeten Verfahren liegt
selbstverständlich möglich, die Ursprungsallele an jeder Stel-
darin, dass die zusammengesetzte Intervall-Kartierung »Fenster« definiert
und damit mögliche Assoziationen mit Merkmalen ausschließt, die außer- le des Genoms zu identifizieren. Eine gute Darstellung dieser
halb dieses Fensters liegen. (Nach Doerge 2002, mit freundlicher Genehmi- neuen Methode der Mausgenetik findet der interessierte Le-
gung der Nature Publishing Group) ser bei Threadgill et al. (2011).
498 Kapitel 11 · Formalgenetik

11.5 Populationsgenetik (1877–1947) und Wilhelm Robert Weinberg (1862–1937), unab-


hängig voneinander erkannt, dass bestimmte Regeln für die
Die Beobachtung phänotypischer Variabilität innerhalb von Po- quantitative und qualitative Verteilung von Allelen unter den
pulationen hat zu der Erkenntnis geführt, dass auch für die Ver- Individuen einer Population zwischen aufeinanderfolgenden
erbung von Genen innerhalb von Populationen Regeln bestehen. Generationen von Organismen bestehen, sofern bestimmte
So entstand eine besondere Teilwissenschaft der Genetik – die Randbedingungen über die Generationen hinweg unveränder-
Populationsgenetik. Zu den Aufgaben der Populationsgenetik lich bleiben. Zu diesen Randbedingungen gehört,
gehört das Studium der Variabilität der Organismen in Raum 4 dass alle Organismen diploid sind und
und Zeit und die Aufklärung der hierauf einwirkenden Faktoren. 4 sich sexuell fortpflanzen,
Ziel der Populationsgenetik ist es, auf diese Weise die Wege und 4 dass keine Beschränkungen in der Fortpflanzungsfähigkeit
Parameter evolutionärer Prozesse zu verstehen. Neben der klas- zwischen den verschiedenen Individuen der Population –
sischen Populationsgenetik entwickelt sich heute die genetische ausgenommen das Geschlecht – bestehen (Panmixie),
Epidemiologie als eine Disziplin, die vor allem versucht, die Bei- 4 dass die Mendel’schen Regeln gelten und
träge bestimmter Allele zur Entstehung weit verbreiteter Krank- 4 dass es sich um eine genügend große Population handelt
heiten zu ermitteln. (idealerweise um eine unendlich große Population), um zu-
fällige Verteilungsabweichungen auszuschließen.
Definition des Populationsbegriffs
Die Bezeichnung Populationsgenetik besagt, dass sich dieses Diese Randbedingungen definieren eine solche Population als
Wissensgebiet mit Populationen von Organismen beschäftigt. Mendel-Population. Zu den Randbedingungen kommt die For-
Was aber verstehen wir unter einer Population? Wäre es nicht derung hinzu, dass auf die Zusammensetzung der Population
angemessener, von Arten (engl. species) zu sprechen, da diese oft keine Einflüsse von außen (z. B. Selektion oder Zuwanderung
als Grundelemente der Evolution angesehen werden? von Individuen aus anderen Populationen) ausgeübt werden.
Die genauere Betrachtung des Begriffs Art lässt uns erken- Wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, sprechen wir da-
nen, dass unter diesem Begriff eine Vielzahl von Individuen- von, dass sich die Population in einem Gleichgewicht befindet.
gruppen zusammengefasst ist, die sich in manchen Fällen über Die Verteilung der Allele lässt sich nach Hardy und Weinberg
11 die gesamte Erde verteilen können. Jede dieser Gruppen wird als durch eine einfache Beziehung darstellen, die sich direkt aus den
Population bezeichnet. Obwohl der Artbegriff so definiert ist, Mendel’schen Regeln ableiten lässt: Beschreibt man die Häufig-
dass alle Organismen, die sich untereinander fortpflanzen kön- keiten zweier Allele A und B in einer Population mit p und q,
nen, zu einer gemeinsamen Art zu zählen sind, hat eine solche wobei deren Summe natürlich 100 % ergeben muss (also p + q = 1),
Definition bei weltweit verstreuten Populationen wenig prakti- so lässt sich die Verteilung dieser Allele in einer Population im
sche Bedeutung. Tatsächlich erfolgt die Vermehrung von Orga- Gleichgewicht wie folgt beschreiben:
nismen – und damit auch ihre Evolution – innerhalb meist recht
kleiner Gruppen oder Fortpflanzungsgemeinschaften, die pA2 SAqB TB2 
weitgehend oder vollständig voneinander getrennt existieren. Da
die Eigenschaften eines Biotops im Allgemeinen selbst in kleinen Diese mathematische Formulierung lässt sich unmittelbar aus
Arealen schnell wechseln, genügen solche Biotopunterschiede einem Punnett-Viereck verstehen, wenn wir diesem die Häufig-
häufig zur Abtrennung einer Organismengruppe von der nächs- keiten der Allele hinzufügen (. Abb. 11.30). Dieses Kreuzungs-
ten Population der gleichen Art. Beispielsweise kann ein Berg schema veranschaulicht, dass die Allelfrequenzen und Allelver-
oder ein Fluss zur Trennung einzelner Populationen voneinan- teilung in aufeinanderfolgenden Generationen unverändert blei-
der führen. ben müssen.
In der Genetik sind es diese Fortpflanzungsgemeinschaften,
die im Mittelpunkt des Interesses stehen und denen wir den Be- > Die Hardy-Weinberg-Regel besagt, dass in einer Mendel-
griff Population zuweisen (Johannsen 1903). Wenn künftig von Population Allelfrequenzen und Allelverteilungen in auf-
Population gesprochen wird, ist daher eine geschlossene Fort- einanderfolgenden Generationen gleich bleiben.
pflanzungsgemeinschaft gemeint, die meist nur einen kleinen
Teil der Organismen umfasst, die einer Art zugehören. Alle Al- Ein solcher Schluss erscheint uns bei genauerer Betrachtung als
lele, die die Mitglieder einer Population besitzen, werden als wenig überraschend. Er verbirgt jedoch verschiedene interessan-
Genpool bezeichnet. te Einzelheiten über den Aufbau von Populationen. Unabhängig
davon leistet die Hardy-Weinberg-Regel wertvolle Dienste bei
> Grundelemente der Evolution sind Fortpflanzungs-
der Analyse von Populationen, da sie beispielsweise Hinweise zu
gemeinschaften oder Populationen.
geben vermag, ob bestimmte Allele möglicherweise unter Selek-
tionsdruck stehen, und sie gibt uns die Möglichkeit, Veränderun-
gen in den Allelfrequenzen unter Selektionsdruck zu errechnen.
11.5.1 Hardy-Weinberg-Regel Die Anwendungsmöglichkeiten für die Hardy-Weinberg-
Regel sollen zunächst an einem Beispiel dargestellt werden
Bereits kurz nach der Wiederentdeckung der Mendel’schen Re- (. Tab. 11.11). Die Blutgruppenallele M und N des Menschen
geln hatten 1908 zwei Wissenschaftler, Godfrey Harold Hardy sind codominant und werden immunologisch aufgrund ihrer
11.5 · Populationsgenetik
499 11
berg-Formel beschreiben. Das spricht zunächst einmal dafür,
dass sich die betreffenden Allele in der Population in einem
Gleichgewichtszustand befinden. Diese Annahme könnte dann
falsch sein, wenn sich die Population in einem Zustand schneller
Veränderungen befindet und sich die Allelverteilung, obwohl sie
unter Selektionsdruck steht, zufällig annähernd in einem Zu-
stand befindet, der einem Gleichgewichtszustand entspricht.
Hierüber müssten Untersuchungen in folgenden Generationen
Aufschluss geben, bei denen man Veränderungen erkennen wür-
de. Natürlich sind solche Analysen bei menschlichen Populatio-
nen durch die lange Generationsdauer starken Einschränkungen
unterworfen.
Die Verteilung der M- und N-Blutgruppenallele lehrt uns,
dass unterschiedliche Gleichgewichtszustände innerhalb ver-
schiedener Populationen bestehen können (. Abb. 11.31). Die
Beziehungen zwischen der Verteilung zweier Allele in Homo-
und Heterozygoten im Gleichgewichtszustand lassen sich am
. Abb. 11.30 Die Ermittlung von Allelfrequenzen innerhalb einer Populati- besten durch Grafiken veranschaulichen (. Abb. 11.32). Diese
on ist leicht möglich, wenn man alle möglichen Gametenkombinationen
mit ihren jeweiligen Frequenzen in einem Punnett-Viereck analysiert. Die
Grafiken zeigen uns, dass in vielen Fällen ein relativ großer An-
Produkte aus den jeweiligen Allelfrequenzen zeigen ihre Frequenz in den teil eines Allels in den Heterozygoten vorliegt. Handelt es sich
verschiedenen Genotypen bei den Nachkommen an. Es ergibt sich für Ho- um ein rezessives Allel, tritt es in dieser Form nicht in Erschei-
mozygote der Konstitution AA die Häufigkeit 0,42 = 0,16, für Heterozygote nung. Als Folge davon erscheint uns die Population phänoty-
(Aa) die Häufigkeit 2 × 0,4 × 0,6 = 0,48 und für Homozygote der Konstitution pisch relativ gleichförmig, obwohl sie genotypisch aus Individuen
aa die Häufigkeit 0,62 = 0,36. Diese Verteilung bleibt in den folgenden Ge-
nerationen erhalten, sofern nicht die freie Kombinierbarkeit der Gameten
dreier verschiedener Konstitutionen besteht (. Abb. 11.31).
gestört oder die Häufigkeit einzelner Genotypen durch Selektion, Migration Dieser Gesichtspunkt wird uns im Zusammenhang mit hu-
oder andere Eingriffe verändert werden mangenetischen Aspekten der Populationsgenetik noch näher
beschäftigen. An dieser Stelle soll zur Verdeutlichung der An-
wendungsweise der Hardy-Weinberg-Regel diesen Betrachtun-
Antigene auf den Erythrocytenmembranen ermittelt. Die Tabel- gen bereits etwas vorgegriffen und ein weiteres Beispiel aus der
le zeigt uns, dass beide Blutgruppenallele in allen untersuchten Humangenetik besprochen werden, die Phenylketonurie (PKU;
menschlichen Populationen vertreten, aber in ihren Häufigkei- . Abb. 13.17 und . Abb. 13.19). Diese wichtige autosomal-rezes-
ten sehr unterschiedlich verteilt sind. Dennoch lässt sich ihre sive Erbkrankheit beruht auf einem Enzymdefekt im Phenylala-
Verteilung in allen Fällen recht genau durch die Hardy-Wein- ninstoffwechsel und tritt in europäischen Populationen mit einer

. Tab. 11.11 Prüfung eines Populationsgleichgewichts für die Blutgruppenallele M und N

Population Genetische Konstitution (M und N) und Allelfrequenzen (p und q)

Beobachtet Errechnet Erwartet nach Hardy-Weinberg

M/M M/N N/N p(M) q(N) 2pq(MN) p2(NN)

Eskimos 0,835 0,150 0,009 0,914 0,086 0,157 0,0074

Australische Aborigines 0,024 0,304 0,672 0,176 0,824 0,290 0,679

Ägypter 0,278 0,489 0,233 0,523 0,477 0,499 0,228

Deutsche 0,297 0,507 0,196 0,545 0,455 0,496 0,207

Chinesen 0,332 0,486 0,182 0,575 0,425 0,489 0,181

Nigerianer 0,301 0,495 0,204 0,549 0,451 0,495 0,245

Die beobachteten Häufigkeiten der verschiedenen genetischen Konstitutionen sind in den betreffenden Spalten (M/M, M/N und N/N) angegeben.
Die beobachteten Werte sind normal gesetzt, der zunächst errechnete Wert für p(M) ist halbfett hervorgehoben und dient zur rechnerischen Ermitt-
lung der übrigen Werte (kursiv). Aus der Häufigkeit von homozygoten M-Individuen (Spalte: M/M) wurde die Allelfrequenz von M zunächst nach
Hardy-Weinberg errechnet (Spalte: p(M)). Die Allelfrequenz von N (Spalte: q(N)) wurde dann nach der Formel q = 1 − p errechnet. Die erwarteten
Häufigkeiten der Heterozygoten (Spalte: erwartet 2pq(MN)) und der Individuen, die homozygot für N sind, (Spalte: erwartet p2(NN)) wurden aus den
errechneten Allelfrequenzen von M und N ermittelt. Die verschiedenen Populationen zeigen eine gute Übereinstimmung der Frequenzen der ver-
schiedenen Genotypen mit der Erwartung aufgrund der Hardy-Weinberg-Regel. Es ist anzunehmen, dass in diesen Populationen ein Gleichgewicht
hinsichtlich der Blutgruppenallele M und N besteht. Die Tabelle veranschaulicht, dass ein Gleichgewicht für sehr unterschiedliche Allelfrequenzen
eingestellt werden kann. Verändert nach Boyd (1950)
500 Kapitel 11 · Formalgenetik

. Abb. 11.31 Verteilung von homo- und heterozygoten Individuen in einer


Population. Als Beispiel ist die Häufigkeit der Allelfrequenz M (blau) und N
(rot) aus . Tab. 11.11 für die Verteilung der Blutgruppenallele bei Deutschen
gewählt. Ein großer Anteil der Allele befindet sich in Heterozygoten (dunkel-
blau und dunkelrot). Im Falle rezessiver und dominanter Allele sind die Hetero-
zygoten im Phänotyp nicht direkt sichtbar, sodass die Population einheit-
licher erscheint als sie ist
. Abb. 11.32 Beziehungen der Häufigkeit der verschiedenen Genotypen
zueinander. Das Feld ist in Rasterflächen von 20 % unterteilt. Jeweils senk-
recht untereinander liegende Kurvenpunkte gehören zusammen
Häufigkeit von etwa 1 Homozygoten in 10.000 Individuen auf.
Die Häufigkeit des PKU-Allels in Homozygoten ist mithin

qPKU2  (. Abb. 11.33). Ein Beispiel für ein Merkmal des Menschen, das
X-chromosomal vererbt wird, ist die Rot-Grün-Farbenblind-
11 oder heit. Die Häufigkeit des Allels für Protanopie (Rotblindheit)
bei europäischen Männern beträgt 2 %, die des Allels für Deu-
q PKU = 10−4 .
teranopie (Grünblindheit) 6 %. Demgemäß sind die Häufigkei-
ten homozygoter Ausprägung von Protanopie bei Frauen 0,04 %,
Die Allelfrequenzen sind also die von Deuteranopie 0,36 %. Diese Zahlen veranschaulichen
uns die großen Unterschiede in der Gefährdung beider Ge-
qPKU  schlechter bezüglich der Ausprägung X-chromosomaler Erb-
krankheiten.
und
> Die Frequenz geschlechtsgekoppelter Allele lässt sich im
S 
hemizygoten Geschlecht direkt erkennen.

Die Häufigkeit des PKU-Allels in Heterozygoten ist damit Die Betrachtung von zwei Allelen an einem Locus ist nur ein
2 x 0,01 x 0,99 = 0,0198. Das veranschaulicht uns die Bedeutung Beispiel. Für Gene, von denen es mehr als zwei Allele gibt (und
der in . Abb. 11.32 dargestellten Allelverteilung. Bei einer gerin- das ist im Allgemeinen der Fall!), kann man verschiedene An-
gen Allelfrequenz befindet sich der größere Anteil dieses Allels sätze wählen (nach Strickberger 1988):
in Heterozygoten (in unserem Beispiel: 2 % Heterozygote gegen- Wenn wir uns für die genotypischen Häufigkeiten interessie-
über 0,01 % Homozygote!). ren, die nur durch eines der Allele (z. B. A) bestimmt werden,
dann können wir die Häufigkeit von A1 als p bezeichnen und die
> Bei geringer Allelfrequenz befindet sich der größere
Häufigkeiten aller anderen Allele an diesem Locus (A2, A3, ..., An)
Anteil des Allels in Heterozygoten.
zur Häufigkeit q zusammenfassen. Die Gleichgewichtshäufigkeit
In unseren bisher besprochenen Beispielen haben wir uns mit wird dann wie für zwei Allele berechnet:
der Frequenzverteilung unterschiedlicher Allele autosomaler
Gene befasst, d. h. von Genen, die stets mit zwei Allelen im Ge- p2 $A S $ T $2...AQ T2 $2...AQ  
nom vertreten sind.
Die quantitativen Verhältnisse ändern sich jedoch, wenn Das letzte Glied besteht aus zahlreichen Heterozygoten. Da uns
wir die Allelverteilung geschlechtsgekoppelter Gene betrach- aber nur die Genotypen von A1 im Verhältnis zu allen anderen
ten. Es ist offensichtlich, dass in einem solchen Fall die gene- interessieren, ist die genaue Zusammensetzung dieses Gliedes für
tische Konstitution des Individuums des hemizygoten Ge- unsere Betrachtung nicht wichtig.
schlechts stets direkt im Phänotyp zum Ausdruck kommt. Das Wenn es unser Ziel ist, Gleichgewichtswerte für die Geno-
hat zur Folge, dass wir die Frequenzen beider Allele eines ge- typen von drei oder mehr Allelen zu finden, müssen wir jede
schlechtsgekoppelten Gens direkt aus den relativen Häufig- Allelhäufigkeit als ein Element in einer polynomischen Ent-
keiten beider Allele im hemizygoten Geschlecht ablesen können wicklung betrachten. Wenn es beispielsweise nur drei mögliche
11.5 · Populationsgenetik
501 11
Wenn wir jedoch die Produkte von zwei unabhängig aufspal-
tenden Genpaaren gleichzeitig betrachten (z. B. Aa und Bb),
dann steigt die Zahl möglicher Genotypen auf 32 (d. h. AABB,
AABb, AaBB, AaBb usw.). Es nehmen nun noch mehr Glieder an
der polynomischen Entwicklung teil: Wenn wir die Genhäufig-
keiten von A, a, B und b mit p, q, r und s bezeichnen, dann wer-
den die Gleichgewichtsverhältnisse ausgedrückt als

SUSVTUTV 2 

oder

p2r2 $$%% S2UV $$%E S2V2 $$EE 


. Abb. 11.33 Häufigkeit von Allelen bei geschlechtsgekoppelter Vererbung + 2pqr2 $D%% T2V2 DDEE  
im hemizygoten Geschlecht. Die Häufigkeiten der Phänotypen reflektieren
hier direkt die Häufigkeit der Allele in der Population Wir können nun kurz überlegen, wie lange es wohl dauert, bis in
einer Population diese Gleichgewichtsbedingung erfüllt ist.
Allele (A1, A2, A3) eines Gens gibt, die die jeweiligen Häufigkei- Wenn wir nur von den Heterozygoten ausgehen (AaBb × AaBb),
ten p, q und r aufweisen, gilt im Gleichgewicht zunächst die bei denen die Häufigkeit aller Gene gleich sind (z. B. p = q =
Hardy-Weinberg-Formel analog: r = s = 0,5), dann werden alle vier Gametentypen (AB, Ab, aB und
ab) sofort mit den Gleichgewichtshäufigkeiten (0,25) gebildet
STU  und das genotypische Gleichgewicht wird in einer Generation
erreicht. Dies ist aber die einzige Situation, in der das Gleichge-
Die genotypischen Gleichgewichtshäufigkeiten werden durch
wicht so schnell erreicht wird.
die trinomische Entwicklung (p + q + r)2 bestimmt. Die Werte für
Wenn wir uns die andere Extremsituation vorstellen, näm-
die Genotypen sind dann:
lich eine Population, die mit den beiden homozygoten Geno-
p2 $A ST $A2 SU $A3 T2 $2A2  typen beginnt (AABB × aabb), dann werden nur zwei Gameten-
TU $2A3 U2 $3A3   typen (AB und ab) gebildet und das Gleichgewicht kann in
der F1-Generation noch nicht erreicht werden, da noch zahl-
Dass das Gleichgewicht in einer Generation erreicht wird, gilt so reiche Genotypen fehlen (z. B. AAbb, aaBB usw.). Erst über die
lange, wie wir unsere Betrachtung auf ein einziges Gen beschrän- doppelt Heterozygoten (AaBb) können Gameten des Typs ab
ken, ohne uns darum zu kümmern, was bei anderen Genen ge- und AB gebildet werden. Bei völliger Unabhängigkeit der
schieht. Ein Beispiel ist in . Tab. 11.12 dargestellt: Dabei wird an Gene erfolgt diese Umkombination mit der Wahrscheinlich-
der Schnecke Cepaea nemoralis die Häufigkeit der Farbe der Ge- keit  von 0,5; sie ist aber seltener, wenn die beiden Gene ge-
häusebänderung untersucht. Daran sind drei Allele eines Gens koppelt sind. Die Annäherung an das Gleichgewicht ist in
beteiligt (Dominanzreihe: B > b’ > b). diesem Fall von der Rekombinationsfrequenz abhängig und ist

. Tab. 11.12 Häufigkeit dreier Phänotypen in einer natürlichen Population der Schnecke Cepaea nemoralis

Phänotypen Genotypen Erwartungswerte bei Panmixie

Farbe Anzahl Anteil

braun 88 0,413 BB, Bb’, Bb p2 + 2pq + 2pr

rosa 83 0,390 b’b’, b’b q2 + 2qr

gelb 42 0,197 bb r2

Summe 213 1,0 1,0

In der Population sind drei multiple Allele vorhanden (B, b’ und b); die zugehörigen Allelfrequenzen sind p, q und r.

Auswertung:
1. Schritt: r = r 2 = 0 ,197 = 0,444
2. Schritt: rosa + gelb: q2 + 2qr + r2 = (q + r)2 = 0,587
(Wurzel ziehen) q + r = 0,766
(Ergebnis für r einsetzen) q + 0,444 = 0,766 ൺ q = 0,322
3. Schritt: Gleichgewichtsansatz: p+q+r=1ൺq+r=1−p
(Einsetzen und Auflösen nach p) p = 0,234

Nach Cain et al. (1960)


502 Kapitel 11 · Formalgenetik

umso langsamer, je geringer die Rekombinationshäufigkeit


(d. h. je enger die Kopplung) ist. Im Gegensatz zu diesen theo- 50
retischen Überlegungen erreichen nicht alle Gameten mit ge-
koppelten Genen in natürlichen Populationen die Gleichge-

Heterozygotie (%)
40
wichtshäufigkeiten. Eine mögliche Erklärung ist, dass gewisse
Kombinationen gekoppelter Allele vorteilhafter sind. Dieses
Phänomen wird als Kopplungsungleichgewicht bezeichnet 30
und spielt bei der Kartierung in der Humangenetik eine wichtige
Rolle.
20

11.5.2 Genetische Zufallsveränderungen 1 3 5 7 9 11 13 15 17 19


(random drift) Generation
. Abb. 11.34 Experiment zur Demonstration der Folgen von Zufallsver-
Die Kriterien für die Gültigkeit der Hardy-Weinberg-Regel änderungen der Allelzusammenstellung bei kleinen Populationen bei
schließen einen Parameter ein, den wir im Folgenden näher be- Drosophila melanogaster. In Populationskäfigen werden in 19 aufeinander-
trachten wollen: Die Hardy-Weinberg-Regel ist streng genom- folgenden Generationen jeweils 16 Individuen nach zufälliger Auswahl
weitergekreuzt. Die ursprüngliche Häufigkeit des Allels bw (brown) von
men nur für Populationen unendlicher Größe gültig. Natürlich
50 % nimmt ab und verschiebt sich mit gleicher Wahrscheinlichkeit zu den
gibt es derartige Populationen gar nicht. Im Allgemeinen kann Extremen (Wildtyp bzw. homozygot bw). (Nach Buri 1956, mit freundlicher
man davon ausgehen, dass Individuenzahlen über 1000 einer Genehmigung von Wiley)
solchen Forderung nach unendlicher Größe weitgehend genügen
können. Immerhin sollte dabei nicht übersehen werden, dass
solche Individuenanzahlen in vielen Populationen gar nicht vor-
handen sind. Vielmehr sind lokale Populationen häufig durch Dieses Beispiel lässt sich auf die Gametenverteilung bei der
viel geringere Individuenzahlen gekennzeichnet, insbesondere, Fortpflanzung anwenden. Bei einer großen Population ist die
11 wenn ihre Areale sehr eng begrenzt sind. Bei vielen größeren Wahrscheinlichkeit, dass zwei verschiedene Allele mit der ihrer
Tieren sind hohe Individuenzahlen eher die Ausnahme. Oft hat Häufigkeit in der Population entsprechenden Frequenz zur Fort-
man es gerade bei großen Tieren mit extrem kleinen Populatio- pflanzung beitragen, viel größer als in einer kleinen Population.
nen zu tun, da einzelne Individuen häufig große Gebiete bean- In kleinen Populationen sind daher große Schwankungen in der
spruchen. Ein eindringliches Beispiel dieser Art ist der Große Allelverteilung unter den Nachkommen zu erwarten.
Panda (Airulopoda melanoleuca), bei dem jedes einzelne Indivi- Die Konsequenzen von kleinen Populationsgrößen auf die
duum einen Lebensraum von 2–4 km2 beansprucht. In solchen Allelverteilung lassen sich in populationsgenetischen Experi-
Fällen ist die Anwendung der Hardy-Weinberg-Regel wegen der menten veranschaulichen (. Abb. 11.34). In solchen Experi-
geringen Individuenanzahlen nicht mehr zulässig. menten macht man Gebrauch von Populationskäfigen, in denen
Welche Folgen hat eine geringe Populationsgröße auf die bestimmte Anzahlen von Individuen mit anfangs genau festge-
Allelverteilung? Betrachten wir die . Abb. 11.30, so ist nicht legter genetischer Konstitution, in unserem Beispiel Hetero-
ersichtlich, warum die Hardy-Weinberg-Regel nicht auch für zygotie für das Gen brown (bw) von Drosophila, gehalten wer-
solche kleinen Populationen gelten sollte. Ein wichtiger Grund den. Entnimmt man jeder neuen Generation eine kleine Anzahl
für die Ungültigkeit dieser Regel liegt jedoch darin, dass in allen von Individuen zur Ermittlung ihrer genetischen Konstitution,
Populationen zufällige Fluktuationen in der Allelverteilung so kann man den Verlauf zufälliger Veränderungen in der Allel-
vorkommen. Solche Fluktuationen verlaufen in kleinen Popula- zusammenstellung verfolgen. Das Experiment zeigt, dass nach
tionen besonders auffallend, und sie können bei kleinen Indivi- anfänglicher Heterozygotie aller Tiere der Grad der Hetero-
duenzahlen leicht zum Verschwinden eines Allels aus der Popu- zygotie rasch abnimmt. Bereits nach relativ wenigen Generatio-
lation führen. Die Ursache lässt sich leicht veranschaulichen, nen (im Bild in der 7. Generation) gibt es einzelne Populationen,
wenn wir uns vorstellen, dass wir eine Münze werfen und nach in denen nur noch eines der ursprünglichen zwei Allele vorhan-
der Häufigkeitsverteilung von »Zahl« oder »Bild« sehen. Wirft den ist. Die Anzahl solcher homozygoter Populationen nimmt
man die Münzen sehr häufig, etwa 10.000-mal, so würde man sehr schnell zu. Hierbei werden beide möglichen homozygoten
erwarten, dass man im Mittel in 50 % der Fälle das Bild und in Konstitutionen mit gleicher Wahrscheinlichkeit erreicht. Würde
den übrigen 50 % die Zahl findet. Allerdings würde man dieses der Verlauf der Veränderungen in unserem Beispiel über weite-
Mittel normalerweise nicht genau erzielen, sondern die Häufig- re Generationen verfolgt, so würden wir beobachten, dass
keiten würden sich nach Maßgabe einer Gauß-Kurve um diesen schließlich alle Populationen für das eine oder das andere Allel
Mittelwert verteilen. Letztlich wäre es, mit allerdings außeror- homozygot sind. Man nennt diesen Vorgang Fixierung (engl.
dentlich geringer Wahrscheinlichkeit, sogar möglich, dass alle fixation) eines Allels. Verantwortlich hierfür ist allein die zu-
Würfe dieselbe Seite der Münze zeigen. Werfen wir die Münze fällige Veränderung der Allelzusammenstellung, die man ins-
hingegen nur wenige Male, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass besondere in kleinen Populationen leicht verfolgen kann. Der
wir stets nur die Zahl oder nur das Bild erhalten, wesentlich Prozess wird als genetische Zufallsdrift (engl. random drift)
größer. bezeichnet.
11.5 · Populationsgenetik
503 11
4,0
> Zufällige Veränderungen (Zufallsdrift) in den Allelfrequen-
zen haben insbesondere in kleinen Populationen einen
großen Einfluss. Zufallsdrift führt zu unvorhersehbaren 3,5
Veränderungen im Genpool, die zur Fixierung des einen
oder anderen Allels führen können.
3,0

Es muss nochmals betont werden, dass sich derartige genetische


Zufallsdriftphänomene in allen Populationen ereignen. Wie 2,5
schnell sie allerdings die Allelzusammensetzung in einer Popu-
lation beeinflussen, hängt von der Größe der Population, also der
λ 2,0
Anzahl der Individuen ab. Die klassische Populationsgenetik hat
dazu mit idealisierten Populationen gearbeitet (»Wright-Fischer-
Population«), die aus diploiden, hermaphroditischen Individuen 1,5
bestehen und durch zufällige Paarung charakterisiert sind. Die
Population reproduziert sich in diskreten Generationen, wobei
1,0
jede Generation bei der Geburt gezählt wird. Die neuen Indivi-
duen entstehen aus den Gameten der Eltern, die unmittelbar
nach der Reproduktion sterben. Damit hat jedes Elternteil eine 0,5
gleich große Wahrscheinlichkeit, eine Keimzelle zu einem Indi-
viduum beizutragen, das überlebt und in der nächsten Genera-
0
tion erneut Nachkommen hervorbringt. Wenn diese idealisierte
–4 –3 –2 –1 0 1 2 3 4
Population groß genug ist, ist die Zahl der Nachkommen von
Individuen in einer Population normal verteilt (. Abb. 11.7). 2Nes
Dieser idealisierten Population kommen übrigens hermaphrodi- . Abb. 11.35 Die Wahrscheinlichkeit der Fixierung einer Mutation. In einer
tische marine Organismen ziemlich nahe, die eine große Zahl begrenzten Population können auch schädliche Mutationen durch gene-
tische Drift fixiert werden und günstige Mutationen können verloren ge-
von Eiern und Samen ablegen, aus denen sich dann zufällig neue
hen, wie das Ergebnis von Modellrechnungen zeigt. λ ist die Wahrschein-
Zygoten bilden. Das Ausmaß, mit dem genetische Drift einen lichkeit, mit der eine semidominante Mutation in einer Population fixiert
Anstieg in der Unterscheidbarkeit bei neutralen Allelen (also wird. Sie steigt mit zunehmendem Produkt aus effektiver Populationsgröße
ohne Selektion) zwischen isolierten Populationen oder die Vari- (Ne) und Selektionskoeffizient s. Der Vorzeichenwechsel deutet den Über-
abilität innerhalb einer Population bewirkt, beträgt in diesem gang von einer schädlichen (negativer s) zu einer günstigen Mutation an
(positiver s). (Nach Charlesworth 2009, mit freundlicher Genehmigung der
Modell 1/(2N), wobei N die Zahl der diploiden hermaphroditi-
Nature Publishing Group)
schen Individuen darstellt; der Faktor 2 kommt wegen der Di-
ploidie hinzu. Es leuchtet allerdings unmittelbar ein, dass sich
dieses idealisierte Modell nur mit starken Einschränkungen eig-
net, die Realität abzubilden. Diese Auswirkungen auf die Fitness spiegeln sich dann in den
Die moderne Populationsgenetik hat deshalb den Begriff Auswirkungen der Selektion wider, was wir im 7 Abschn. 11.5.3
der effektiven Populationsgröße eingeführt; diese ist dabei ausführlich besprechen werden. Wenn wir allerdings die Frage
von mehreren Faktoren abhängig. Sie kann reduziert werden, beantworten wollen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass
wenn sich eine Mutation durchsetzt (fixiert wird), dürfen wir diesen
4 von zwei Geschlechtern eines nur in geringer Zahl von In- Faktor aber nicht vergessen. Für die mathematische Darstellung
dividuen vorkommt; hat man deshalb den Selektionskoeffizienten eingeführt, der
4 die Zahl der Nachkommen deutlicher schwankt als durch die Auswirkungen der Mutation in Bezug auf die Fitness der
Zufall zu erwarten wäre; Wildtypen angibt (bei diploiden Organismen wird er an homo-
4 die Population altersmäßig stark strukturiert ist. zygoten Mutanten gemessen). Den Zusammenhang zwischen
der Wahrscheinlichkeit einer Fixierung der Mutation, der effek-
Es gibt natürlich noch weitere Einflussfaktoren auf die effektive tiven Populationsgröße und des Selektionskoeffizienten zeigt
Populationsgröße, wie das Vorkommen von Inzucht oder der . Abb. 11.35: Je größer das Produkt aus effektiver Populations-
Erbgang (autosomal, X-gekoppelt, Y-gekoppelt oder über Orga- größe und Selektionskoeffizient ist, desto höher ist die Wahr-
nellen). Außerdem spielen regionale Verteilungen und Wande- scheinlichkeit, dass sich eine Mutation in der Population durch-
rungsbewegungen eine Rolle. Dabei ist insbesondere zu beach- setzt.
ten, dass Wanderungsbewegungen in gewissem Umfang die ef-
fektive Populationsgröße erhöhen können (7 Abschn. 11.5.4). In
besonderem Maße ist zu beachten, welche Auswirkung eine 11.5.3 Natürliche Selektion
Mutation auf die betroffenen Organismen hat – führt sie eher
dazu, dass die Organismen mehr Nachkommen haben, oder Mit der genetischen Zufallsveränderung haben wir einen Me-
führt sie umgekehrt dazu, dass die betroffenen Organismen chanismus kennengelernt, der die genetische Zusammenstel-
krank sind und somit weniger Nachkommen haben werden? lung von Populationen verändert. Hinsichtlich der von Charles
504 Kapitel 11 · Formalgenetik

etwa die vielerlei Rassen von Hunden, denen wir täglich begeg-
. Tab. 11.13 Züchtungserfolge an Hühnern und Mais
nen können und deren nahe genetische Verwandtschaft nicht
a Erhöhung der Eierproduktion bei Hühnern der Rasse White immer direkt einsichtig ist. Gerade dieses Beispiel vermittelt uns
Leghorn flock unter Selektionsdruck einen guten Eindruck von den Möglichkeiten, Organismen
durch Selektion auf bestimmte Eigentümlichkeiten gezielt zu
Jahr Zahl Eier/Jahr verändern. Wir wollen nun die Erfolge von Züchtungsprozessen
anhand einiger quantitativer Beispiele noch etwas genauer dar-
1933 125,6
stellen.
1965 249,6 In . Tab. 11.13 sind die Ergebnisse von gezielten Züchtungs-
Nach Lerner (1958, 1968)
versuchen an Tieren und Pflanzen dargestellt, die den Ertrag an
bestimmten Produkten, die aus den betreffenden Organismen
b Öl- und Proteingehalt von Mais als Selektionskriterien gewonnen werden, steigern sollen. Die in dieser Tabelle zusam-
mengestellten Daten lassen deutlich erkennen, dass die Eigen-
Generation Ölgehalt (%) Proteingehalt (%)
schaften der Versuchsorganismen unter selektivem Druck in die
Selektion auf hohen Öl- bzw. Proteingehalt: gewünschte Richtung verändert werden können. Es ist hierbei
wichtig herauszustellen, dass diese Selektionseffekte nicht auf der
1 4,7 10,9
Selektion einzelner Gene aufgrund ihrer besonderen Wirkungen
50 15,4 19,4 beruhen, sondern dass sie den Genotyp aufgrund meist kom-
Selektion auf niedrigen Öl- bzw. Proteingehalt: plexer genetischer Interaktionen in eine bestimmte Richtung
treiben.
1 4,7 10,9
Die Art der in unserem Beispiel vorgenommenen Selektion
50 1,0 4,9 lässt sich auch grafisch veranschaulichen (. Abb. 11.36). Gehen
wir von einer Verteilung einer bestimmten Eigenschaft eines Or-
Nach Woodworth et al. (1952)
ganismus, im Beispiel also der Hitzetoleranz, innerhalb einer
Population aus, so ist natürlich nicht zu erwarten, dass alle Indi-
11 viduen dieser Population eine genau identische Hitzetoleranz
Darwin (1859) erkannten Evolutionsprozesse erscheint aber aufweisen, sondern es herrscht eine gewisse Variabilität. Diese
dieser Prozess in seiner rein zufallsorientierten Wirkung wenig lässt sich gewöhnlich in einer Verteilungskurve darstellen, die
geeignet, die Entwicklung von Organismen in Richtung auf eine der einer Gauß-Verteilung gleicht. Der Prozess der Selektion
zunehmende Komplexität zu unterstützen, wie sie im Verlauf der lässt sich nun dadurch veranschaulichen, dass sich aus dieser
Evolution entstanden ist. Das kann nur heißen, dass andere, Verteilung bevorzugt (oder ausschließlich) die Individuen fort-
wirksamere Evolutionsmechanismen die Weiterentwicklung des pflanzen (bzw. weitergezüchtet werden), deren Eigenschaften
genetischen Materials beeinflussen müssen. besonders ausgeprägt in der gewünschten Richtung liegen. Man
Von Darwin selbst wurde hierfür der Prozess der natürlichen hat also eine gerichtete Selektion vorliegen. Die Folge solcher
Selektion als wesentliches Hilfsmittel der Evolution erkannt. Da gerichteter Selektion ist eine allmähliche Weiterentwicklung.
über die Begriffe der Evolution und der natürlichen Selektion oft Wenn sich dabei der Mittelwert des Merkmals verschiebt, kann
Missverständnisse herrschen, ist es wichtig, die Vorstellung der dies auch zu einer Verringerung der genetischen Variabilität füh-
Evolution der Organismen durch Abstammung voneinander, ren; wir sprechen dann von einer stabilisierenden Selektion.
also nach der Deszendenztheorie, und die Vorstellungen über die Diese Selektion resultiert in einer Verringerung der Breite phä-
dabei wirksamen evolutionären Mechanismen auseinanderzu- notypischer Unterschiede, also in einer Vereinheitlichung des
halten. Phänotyps. Das Ausmaß der Verringerung der genetischen Vari-
abilität ist natürlich abhängig von der Neumutationsrate in der
> Natürliche Selektion ist ein wichtiger Evolutions-
Population; in . Abb. 11.36 ist eine Verringerung der genetischen
mechanismus.
Variabilität nicht berücksichtigt.
Im Gegensatz zur allgemeinen Akzeptanz der Deszendenztheo- Die Tatsache, dass Selektion in der Tier- und Pflanzenzüch-
rie durch die Biologen herrschen über die dafür verantwortlichen tung erfolgreich angewandt werden kann, beweist natürlich noch
Mechanismen und ihre relative Bedeutung für die Evolution nicht, dass Selektion auch in der Natur eine wesentliche Rolle
durchaus unterschiedliche Auffassungen. In der Geschichte des spielt. Beweise hierfür haben jedoch populationsgenetische
20. Jahrhunderts hat die Selektionstheorie Darwins als Erklärung Beobachtungen geliefert. Das wohl bekannteste Beispiel dieser
für evolutionäre Prozesse vielerlei Kontroversen ausgelöst. Den- Art sind Populationsstudien mit dem Birkenspanner (Biston be-
noch kann es keinen Zweifel darüber geben, dass natürliche Se- tularia), die in den 1950er-Jahren in Großbritannien durchge-
lektion einen der wesentlichen Evolutionsmechanismen dar- führt wurden. Der Birkenspanner kommt in der Natur in zwei
stellt. Formen vor, einer schwarz-weißen Form (bezeichnet als »typi-
Selektion wird als Hilfsmittel für die Erzeugung aus der ca«) und einer dunklen Form (bezeichnet als »carbonaria«)
Sicht des Menschen besonders vorteilhafter Individuen (Kultur- (. Abb. 11.37a). Die dunkle carbonaria-Form wurde in dieser
pflanzen oder Haustiere) verwendet. Unsere wichtigsten Nah- Zeit überwiegend in den Industriegebieten Großbritanniens ge-
rungspflanzen sind auf diese Weise ebenso entstanden, wie funden, während die gefleckte, hellere Form in den Wäldern
11.5 · Populationsgenetik
505 11

a b

. Abb. 11.36 Hypothetisches Beispiel der Wirkung einer positiven gerichteten Selektion auf den Mittelwert eines bestimmten Merkmals. Dabei werden
Individuen bevorzugt, die für eine bestimmte Eigenschaft einen höheren Wert haben. a Die Erwartung für die Wirkung einer positiven gerichteten Selekti-
on auf die Verteilung eines bestimmten Merkmals (z. B. Hitzetoleranz). In der ersten Generation tötet ein selektives Ereignis (z. B. Hitze über mehrere Tage)
die Mehrzahl der Individuen einer Population (G1) vor der Paarungsfähigkeit. Die Überlebenden (S1) verpaaren sich, und der Mittelwert der Hitzetoleranz
der Nachkommen (G2) ist etwas größer als der ihrer Eltern. Der Unterschied im Mittelwert der Populationen zwischen G1 und G2 deutet an, dass eine Evolu-
tion stattgefunden hat. Dieser Prozess wiederholt sich für mehrere Generationen, sodass sich in der 5. Generation (G5) der Mittelwert des Merkmals deut-
lich von dem der ersten Generation (G1) unterscheidet. b Eine Hypothese zur korrelierten Evolution der Plastizität der Hitzetoleranz oder eines zweitran-
gigen Merkmals, das die Hitzetoleranz verstärkt (z. B. die Expression von Hitzeschockproteinen). In der Originalpopulation führt die Exposition gegenüber
Hitze für ein paar Stunden oder Tage zum Anstieg der Hitzetoleranz in einigen Individuen, was zu einer guten Anpassung führen würde, wenn die Hitze an-
hält. Allerdings zeigt eine gleich große Anzahl von anderen Individuen eine Abnahme der Hitzetoleranz, was offensichtlich zu einer schlechten Anpassung
führen würde, wenn die hohe Temperatur anhält. Für die Population als Ganzes ist die durchschnittliche plastische Antwort null. Wenn sich allerdings nach
einem solchen selektiven Ereignis die Überlebenden (S1) verpaaren und eine neue Generation (G2) entsteht, tendiert die plastische Antwort dieser neuen
Generation zu einem Anstieg der Hitzetoleranz. So kann natürliche Selektion einen evolutionären Anstieg sowohl in Bezug auf die »angeborene« (oder
»konstitutive« bzw. »intrinsische«) Hitzetoleranz (a) bewirken als auch eine Verschiebung in der durchschnittlichen Plastizität von Individuen (b), sodass sie
– im Durchschnitt – toleranter gegenüber Hitze werden, wenn sie erhöhten Temperaturen ausgesetzt sind (adaptive Plastizität). (Nach Garland und Kelly
2006, mit freundlicher Genehmigung der Company of Biologists)

ländlicher Regionen vorkam (. Abb. 11.37b). Der Verdacht, dass deckt wurde). Diese Anpassung bezeichnet man als Industrie-
die Verbreitung der dunkleren Variante von B. betularia eine melanismus. Allerdings zeigen neuere Arbeiten, dass mit dem
Folge der Industrialisierung war, begründete sich darauf, dass in Verschwinden des Rußes aus den Industrieschloten aufgrund
älteren Sammlungen ausschließlich die hellere, gefleckte Varian- verstärkter Umweltschutzmaßnahmen bzw. aufgrund veränder-
te vorkommt, die den Farbschutzanforderungen ihres ursprüng- ter wirtschaftlicher Strukturen auch die dunkle Form des Birken-
lichen Lebensraumes (Name!), der durch den Flechtenbewuchs spanners wieder verschwindet (Saccheri et al. 2008).
der Birken gekennzeichnet ist, viel mehr entspricht. Die eigent-
> Ein bekanntes Beispiel für natürliche Selektion ist der
lich helle Rinde der Birke war dort durch den Rauch aus den
Industriemelanismus, d. h. eine Anpassung an durch
Industrieschloten (Ruß) dunkler gefärbt, und die empfindlichen
Industrieverschmutzungen veränderte Umweltgegeben-
Flechten sind abgestorben, sodass die helle, gefleckte Form leich-
heiten.
ter zu entdecken war als eine gleichmäßig dunkle Form und da-
mit einen Selektionsnachteil hatte (entsprechend hatte die Es muss noch betont werden, dass nicht alle populationsspezifi-
dunkle Form einen Selektionsvorteil, da sie nicht so leicht ent- schen Unterschiede notwendigerweise auf Selektionsprozessen
506 Kapitel 11 · Formalgenetik

pflanzen als andere Individuen derselben Population. Man kann


diesen Unterschied in der Fortpflanzungsfähigkeit quantitativ
erfassen, indem man die relativen Beiträge der verschiedenen
Genotypen der Individuen zur Nachkommenschaft zueinander
in Beziehung setzt. Man erhält dann ein relatives Maß für den
Fortpflanzungserfolg der verschiedenen Genotypen innerhalb
einer Population, das als Fitness (W) des betreffenden Genotyps
bezeichnet wird. Individuen mit der relativ höchsten Fortpflan-
zungsrate erhalten dabei definitionsgemäß die Fitness W = 1
(also 100 %), während alle übrigen Genotypen eine dazu in Be-
zug gesetzte niedrigere Fitness besitzen. Hieraus wird deutlich,
dass es sich bei der Fitness um einen Relativwert handelt, der nur
innerhalb einer Population von Bedeutung ist. Die Fitness von
Individuen in unterschiedlichen Populationen ist daher nicht
vergleichbar.
> Fitness ist ein Maß für den relativen Fortpflanzungserfolg
eines bestimmten Genotyps in einer bestimmten Umwelt.

Es ist möglich, die relative Fitness auf ein einziges Allelpaar


zu beziehen und einen Vergleich der verschiedenen mögli-
chen  Genotypen (also A/A, A/a und a/a) hinsichtlich ihrer
Fitness durchzuführen. Im Allgemeinen wird man jedoch die
Gesamtheit der Eigenschaften im Hinblick auf die Fortpflan-
zungsfähigkeit vergleichen, da Fortpflanzungsfähigkeit durch
eine Vielzahl komplexer Parameter bestimmt wird. So kommt es
11 nicht nur auf die Lebensfähigkeit und physische Vitalität eines
Individuums an, sondern auch auf die Fertilität, die niedrig sein
oder sogar fehlen kann (in diesem Fall ist die Fitness W = 0),
oder auf das Paarungsverhalten und andere individuelle Eigen-
schaften.
Wir wollen im Folgenden dieses Konzept der Fitness an
einem Beispiel darstellen, das wir bereits in anderen Zusam-
menhängen aus unterschiedlichen Gesichtspunkten betrach-
tet  haben, dem der erblichen Krankheit Sichelzellenanämie
(7 Abschn. 13.3.1). Diese Krankheit nimmt in der Medizin inso-
fern eine Sonderstellung ein, als sie trotz ihrer schwerwiegenden
Folgen unter bestimmten Lebensumständen, zumindest für He-
. Abb. 11.37 Der Birkenspanner (Biston betularia) in Aussehen und terozygote, von Vorteil sein kann. Solche Heterozygoten sind in
Ver teilung. a Biston betularia; links: Form typica, rechts: Form carbonaria. diesem Fall sogar besser fortpflanzungsfähig als homozygote In-
b Verteilung von Biston betularia in natürlichen Populationen in Groß- dividuen, d. h. die genetische Konstitution HbS/HbA führt zu
britannien. Die dunklen Formen (carbonaria und insularia) herrschten in
einer relativ höheren Fitness als beide homozygote Konstitutio-
den 1950er-Jahren in Industriegebieten vor, während die helle Form
(typica) in eher ländlichen Gebieten überwogen. (a nach Hopkin 2004;
nen (also HbA/HbA und HbS/HbS). Man kennzeichnet eine sol-
b nach Kettlewell 1958, jeweils mit freundlicher Genehmigung der Nature che Situation auch mit dem Begriff Heterozygotenvorteil (oder
Publishing Group) Heterosis, 7 Abschn. 11.1). Wie lässt sich der Heterozygotenvor-
teil erklären? Zum Verständnis des Vorteils der Heterozygoten
müssen wir zunächst untersuchen, an welche äußeren Bedingun-
beruhen müssen. Beispielsweise sind die bereits mehrfach er- gen dieser Vorteil geknüpft ist.
örterten Blutgruppenunterschiede menschlicher Populationen Bei der Betrachtung der Verbreitung von Sichelzellenanämie
(. Tab. 11.11) höchstwahrscheinlich auf natürliche Zufallsdrift, fällt auf, dass die Verbreitung eine recht gute Übereinstimmung
nicht aber auf Selektion zurückzuführen. Menschliche Populati- mit Regionen aufweist, in denen Malaria herrscht (. Abb. 11.38).
onen haben sich im Allgemeinen aus sehr kleinen Gruppen von Malaria ist eine Blutkrankheit, die durch Parasiten verursacht
Individuen entwickelt, sodass unterschiedliche Allelfrequenzen wird, die Erythrocyten als Nahrungsquelle gebrauchen und
in erster Linie als Folge von Gründereffekten (7 Abschn. 11.5.4) dadurch Anämie und andere Krankheitserscheinungen verur-
anzusehen sind, wenn nicht direkte Hinweise auf Selektionspro- sachen. Die Krankheit kann, je nach dem Erregertyp, tödlich
zesse bestehen. verlaufen. Sie wird durch Mückenstiche (Gattung Anopheles)
Wir haben gesehen, dass sich aufgrund von Selektionsme- übertragen. Die Analyse der Übereinstimmung zwischen der
chanismen bestimmte Individuen einer Population besser fort- Verbreitung von Malaria und einer erhöhten Frequenz von
11.5 · Populationsgenetik
507 11
. Abb. 11.38 Vergleich der
Verbreitung von Sichelzellen-
hämoglobin (HbS) und Mala-
ria (Plasmodium falciparum)
in Afrika. Die teilweise Über-
lagerung beider Verbreitungs-
gebiete wurde zuerst von
Haldane erkannt und in ihrer
genetischen Grundlage inter-
pretiert. (Nach Wellems und
Fairhurst 2005, mit freund-
licher Genehmigung der
Nature Publishing Group)
HbS-Allel-
frequenz
endemische Malaria >0,15
Randzonen der 0,10–0,15
Malaria 0,05–0,10
<0,05

HbS-Allelen in der Population der betreffenden Gebiete hat ge- Dieser Wert gibt mithin den selektiven Nachteil eines Genotyps
zeigt, dass Heterozygote für HbS eine erhöhte Resistenz gegen die an: Ist die Fitness W = 1, so ist s = 0, d. h. der betreffende Genotyp
Infektion aufweisen. Offenbar werden die Parasiten bevorzugt hat in der betreffenden Population keinen selektiven Nachteil.
zusammen mit den Sichelzellen, die auch bei Heterozygoten auf- Wir sehen an diesem Beispiel deutlich, dass Fitness eine rela-
treten, phagocytiert. tive Größe ist: Während heterozygote (HbS/HbA) Individuen in
Wenden wir auf dieses Beispiel die Hardy-Weinberg-Regel malariaverseuchten Gebieten einen Fitnessvorteil gegenüber al-
an, so sehen wir in . Tab. 11.14, dass die Heterozygoten über- len anderen Konstitutionen haben, ist ihre Fitness in anderen
repräsentiert sind. Wir können hieraus die relative Fitness der Regionen, die nicht durch Malariainfektionen belastet sind,
verschiedenen Genotypen errechnen. Ein zur Fitness in Bezug deutlich niedriger als die der Homozygoten HbA/HbA-Individu-
stehender Parameter der Populationsgenetik ist der Selektions- en. Fitnesswerte aus verschiedenen Populationen sind nicht ver-
koeffizient (s). Er ergibt sich aus der Fitness W nach der Glei- gleichbar.
chung Ein Vergleich der Fitness der verschiedenen Hb-Genotypen ist
geeignet, uns den Begriff des Heterozygotenvorteils zu verdeut-
V í: lichen. Hierzu können wir die Fitness einfach als ein Merkmal

. Tab. 11.14 Verteilung von HbA-, HbS-Allelen und Fitness-Werte der verschiedenen Genotypen

Population Genetische Konstitution (A und S) und Allelfrequenzen (p und q)

Beobachtet Errechnet Erwartet nach


Hardy-Weinberg

A/A A/S S/S p(A) q(S) 2pq(AS) p2(SS)

Kinder 0,6585 0,3101 0,0314 0,8114 0,1886 0,3060 0,0356

Erwachsene 0,6116 0,3807 0,0076 0,7820 0,2180 0,3410 0,0475

Relative Fitnessa 0,9288 1,2277 0,2420

Fitnessb 0,7570 1 0,1971

Selektionskoeffizient sAA = 0,2430 sSS = 0,8029

a Die relative Fitness ergibt sich aus dem Verhältnis der Häufigkeit eines Genotyps bei Kindern und der Häufigkeit des betreffenden Genotyps bei
Erwachsenen. Hierbei wird angenommen, dass bei Kindern eine Selektion noch nicht stattgefunden hat.
b Die höchste Fitness ist definitionsgemäß 1.

Die hervorgehobenen Daten in der Tabelle zeigen, dass bei Erwachsenen die relative Anzahl von S/S-Individuen stark abgenommen hat, während
der Anteil von Heterozygoten (A/S) an der Gesamtpopulation der untersuchten Individuen (654 Erwachsene) deutlich gestiegen ist. Der selektive
Nachteil der S/S-Individuen kommt in einer geringen Fitness bzw. einem hohen Selektionskoeffizienten zum Ausdruck. Individuen, die homozygot
für A sind, haben hingegen eine relativ hohe Fitness und demgemäß einen niedrigen Selektionskoeffizienten. Daten nach Allison (1956)
508 Kapitel 11 · Formalgenetik

betrachten, auch wenn es polygen bedingt ist. Der »Phänotyp Fit- Genetisch lässt sich diese Situation wie folgt erklären: Der
ness« unterscheidet sich demnach für alle drei möglichen geneti- Rhesusfaktor wird vom Rh−-Allel nicht gebildet. Das Rh+-Kind
schen Konstitutionen, HbA/HbA, HbA/HbS und HbS/HbS. Zu- eines Rh+-Vaters induziert daher in einer homozygoten Rh−-
gleich können wir die Situation dieser Genotypen hinsichtlich Mutter die Immunabwehr, da sich der Rhesusfaktor aufgrund
ihrer Fitness in malariagefährdeten Regionen der Erde und in seiner heterozygoten Konstitution dem mütterlichen Immunsys-
malariafreien Gebieten vergleichen. Während in Malariagebieten tem gegenüber als körperfremdes Antigen verhält. Wir haben es
die Heterozygoten die höchste Fitness besitzen, also einen Hetero- also hier mit einem bedingten Heterozygotennachteil zu tun. In
zygotenvorteil aufweisen oder überdominant sind, nehmen sie in vereinfachter Form wollen wir hier davon ausgehen, dass er
Nichtmalariagebieten die für unvollständige Dominanz charakte- durch ein Allelpaar D und d bestimmt wird, dessen rezessive
ristische Position ein: Die Fitness liegt zwischen der der beiden Form (d) kein Antigen produziert. Man erhält dann die in . Tab.
Homozygoten. Das würde zugleich bedeuten, dass eine Popula- 11.15 dargestellten Möglichkeiten der genetischen Konstitutio-
tion, die aus einem malariagefährdeten Gebiet in eine nicht ge- nen von Eltern und Kindern. Der Selektionskoeffizient von D/d-
fährdete Region versetzt wird, einen Wechsel ihrer Allelzusam- Kindern homozygot Rhesus-negativer Frauen ist relativ gering
menstellung durch Selektion zugunsten des HbA-Allels durchlau- (kleiner als 0,05), sodass die Selektion gegen das d-Allel sehr
fen muss. In der Tat hat man bei Gruppen amerikanischer Farbi- langsam verläuft.
ger, die vor Jahrhunderten als Sklaven aus Afrika geholt wurden,
festgestellt, dass sich die Häufigkeit des HbS-Allels der der übrigen > Heterozygote können unter bestimmten Bedingungen
amerikanischen Bevölkerungsgruppen weitgehend angeglichen gegenüber den Homozygoten auch benachteiligt sein.
hat. Man spricht dann von Heterozygotennachteil.

> Unter bestimmten Umweltbedingungen haben Hetero-


Wir haben bisher im Wesentlichen Aspekte einer negativen Se-
zygote die höchste Fitness. Man spricht dann von Hetero-
lektion erörtert. Es gibt aber auch die Sichtweise, dass ein signi-
zygotenvorteil, Überdominanz oder Heterosis.
fikanter Anteil der Variationen die Fähigkeit eines Organismus
Der zuvor besprochene Vergleich wirft die Frage auf, ob es auch zum Überleben und zur Reproduktion verstärkt. Diese positive
einen Heterozygotennachteil gibt. Tatsächlich findet man auch Selektion stört die Muster der genetischen Variation im Verhält-
11 solche Situationen. Ein Beispiel ist die Inkompatibilität des nis zu dem, was unter einem üblichen neutralen Modell zu er-
Rhesusfaktors beim Menschen. Der Rhesusfaktor ist ein Blut- warten wäre. Anzeichen einer positiven Selektion sind beispiels-
gruppenantigen, vergleichbar denen des AB0- oder MN-Blut- weise eine Asymmetrie in der Verteilung der Allelhäufigkeiten,
gruppensystems (7 Abschn. 11.3.1 und 7 Abschn. 11.5.1). Erkannt verminderte genetische Variationen und verstärkte Kopplungs-
wurde er durch Karl Landsteiner und Alexander S. Wiener ungleichgewichte im Verhältnis zu den Erwartungen unter neu-
im Jahr 1940. Seine wichtigste Bedeutung in der Human- tralen Bedingungen. Eine einfache Möglichkeit, positive Selekti-
medizin lässt sich vereinfacht dadurch veranschaulichen, dass on zu erkennen, ist der dn/ds-Test: Dabei wird das Verhältnis
Rh−-Mütter nach der Geburt eines Rh+-Kindes Antikörper nicht-synonymer Substitutionen (dn) zu synonymen Substituti-
gegen den Rhesusfaktor entwickelt haben. Während einer wei- onen (ds) in Protein-codierenden Sequenzen verglichen (bei ei-
teren Schwangerschaft mit einem Rh+-Kind kommt es zu Ab- ner synonymen Substitution führt der Austausch einer Base zu
wehrreaktionen und infolgedessen zu schweren Hämolyse- keiner Änderung der Aminosäure; 7 Abschn. 3.2). Das dn/ds-
erscheinungen, die oft noch vor der Geburt zum Tode des Kin- Verhältnis vermittelt Informationen über die evolutionären
des führen. Kräfte, die auf ein bestimmtes Gen einwirken. Unter neutralen
Bedingungen ist dn/ds = 1 und bei negativer Selektion ist das Ver-
hältnis < 1. Ein dn/ds-Verhältnis > 1 gibt einen deutlichen Hin-
. Tab. 11.15 Genetische Konstitution des Rhesusfaktors weis auf positive Selektion.
Für detailliertere Darstellungen sei der interessierte Leser auf
Konstitution der Konstitution des Vaters: weiterführende Fachartikel hingewiesen (z. B. Biswas und Akey
Mutter:
2006); positive Selektion spielt auch in der Evolution des Men-
D/D D/d d/d
schen eine besondere Rolle (7 Kap. 15).
D/D D/D D/D D/d

D/d
11.5.4 Migration und Isolation
D/d D/D D/D D/d

D/d D/d d/d Bei der Definition des Begriffs einer Mendel-Population hatten
d/d wir als eines der Kriterien erwähnt, dass keine äußeren Einflüsse
auf eine solche Population einwirken dürfen, um der Hardy-
d/d d/D d/D d/d
Weinberg-Regel Gültigkeit zu verleihen. Ein solcher unzulässiger
d/d Einfluss ist, wie wir bereits gesehen haben, die natürliche Selek-
tion. Es gibt aber noch weitere Gründe, warum sich der Genpool
Gefährdete Eltern/Kind-Konstitutionen sind hervorgehoben.
Nach Vogel und Motulsky (1996)
einer Population verändern kann. Eines der einfachsten Ereig-
nisse, das zu Genpoolveränderungen führen muss, ist der Zu-
11.5 · Populationsgenetik
509 11
strom von Individuen aus anderen Populationen mit einem an- a 0,20
deren Genpool. Man kennzeichnet diese Art von Veränderungen 70
einer Population mit dem Begriff Migration. Durch Migration 0,15
60
kann es nicht nur zu Verschiebungen in den Allelfrequenzen in
der Population kommen, sondern, wie auch bei Mutationen, zum 0,10

N/S
50
Erwerb gänzlich neuer Allele. Der Zeitraum, der erforderlich ist,
bis sich wesentliche Veränderungen im Genpool einer Popula- 40 0,05
tion durch Zuwanderung von Individuen ergeben, ist von der
Anzahl hinzugewanderter Individuen und von deren genetischer 30 0
Konstitution abhängig. Relativ schnelle Veränderungen sind 0 20 40 60 80

durchaus möglich, wenn eine regelmäßige Zuwanderung erfolgt. b 0,20


Anderenfalls sind neue Allele natürlich den gleichen Selektions- 70
mechanismen aufgrund ihrer Fitness in der neuen Population 0,15
60
unterworfen, die wir bereits besprochen haben. Strömen hin-
0,10

N/S
gegen regelmäßig Individuen ein, so kann es, insbesondere bei 50
kleinen Populationen, zu relativ schnellen Veränderungen des
Genpools kommen. 40 0,05

C Migrationseffekte können im Übrigen nicht allein auf 30 0


0 20 40 60 80
dem Zustrom von Individuen beruhen, sondern auch auf
deren Auswanderung, denn einwandernde Individuen . Abb. 11.39 Häufigkeitsgradient in der Verteilung der CCR5-Δ32-
gehen naturgemäß einer anderen Population verloren. Mutation in Europa. Die Deletionsmutation Δ32 im Gen des Chemokin-Re-
zeptors CCR5 verleiht eine Resistenz gegenüber einer HIV-Infektion. Die Al-
Solche Wanderungsbewegungen, die zwischen benachbar-
lelfrequenz beträgt im Durchschnitt in Europa 10 %, was eine Häufigkeit für
ten Populationen eine erhebliche Rolle spielen können, homozygote Träger von etwa 1 % ergibt. a Diese Mutation entstand wahr-
führen zur Ausbildung von Gradienten in der Häufigkeit be- scheinlich vor etwa 700 Jahren in Skandinavien und hat sich von dort über
stimmter Allele zwischen benachbarten Populationen. Ein Europa ausgebreitet. Die schwarzen Pfeile deuten entsprechende Wande-
aktuelles Beispiel hierfür ist die Verteilung des CCR5-Δ32- rungsbewegungen der Wikinger an. Die Farbskala deutet die Allelfrequenz
in einem mittleren Stadium der Wanderungsbewegung an. b Die heutigen
Allels des Gens, das für den Chemokin-Rezeptor CCR5 co-
Allelfrequenzen zeigen eine weite Verbreitung in Europa. Die Quadrate ge-
diert. Chemokine und ihre Rezeptoren spielen eine zentrale ben Regionen an, in denen die Allelfrequenzen experimentell bestimmt
Rolle bei der Immunabwehr. Der CCR5-Rezeptor wird von wurden; der Farbgradient dazwischen ist extrapoliert. N/S: Breitengrad; die
den meisten HIV-Stämmen benutzt, um in CD4+-T-Zellen x-Achse gibt den Längengrad an. Die Allelfrequenzen sind farbcodiert;
und in Makrophagen einzudringen. Das CCR5-Δ32-Allel ent- 1 = 100 %. (Nach Galvani und Novembre 2005, mit freundlicher Genehmi-
gung von Elsevier)
hält eine 32-bp-Deletion, die zu einem vorzeitigen Stopp-
codon führt und den Rezeptor ausschaltet. Dieses Allel hat
in Europa eine durchschnittliche Häufigkeit von etwa 10 %;
das bedeutet, dass etwa 1 % der Europäer für diese Mutation Gründereffekte (engl. founder effects) durch geographische Iso-
homozygot sind und damit weitgehend resistent gegen lation von Organismengruppen eine Bedeutung haben. Solche
eine HIV-Infektion; Heterozygote haben im Vergleich mit Gründereffekte führen praktisch stets zur Entstehung neuer
Wildtypen eine erhöhte Resistenz gegenüber HIV. Die Muta- Populationen  mit einem charakteristischen eigenen Genpool.
tion entstand vermutlich vor etwa 700 Jahren, und ihre Das ist einfach zu verstehen, da ja eine geringe Anzahl von Indi-
weite Verbreitung deutet auf eine starke positive Selektion viduen, die gewöhnlich den Anstoß zur Entstehung einer solchen
hin. Das CCR5-Δ32-Allel kommt in nennenswerter Häufigkeit neuen Population geben, genetisch kaum jemals repräsentativ
nur in Europa vor; innerhalb von Europa ist die Häufigkeit für den Genpool ihrer Ursprungspopulation sein dürften. Zu-
im Norden am höchsten und nimmt nach Süden hin ab dem spielt in solchen neuen, zunächst meist sehr kleinen Popu-
(. Abb. 11.39). Zwischen diesen Regionen großer und ge- lationen die Zufallsveränderung des Genpools (Zufallsdrift oder
ringer Häufigkeit ist ein Gradient in der Allelfrequenz zu random drift) eine erhebliche Rolle. Daher kann es auch nach
finden, der sicher eine Konsequenz von Migrationsprozes- der Gründung einer neuen Population in einer geographischen
sen der letzten 700 Jahre ist. Isolation noch zu erheblichen Verschiebungen im Genpool
kommen.
> Migration, d. h. der Zustrom oder die Auswanderung Der Neugründung von geographisch isolierten Populationen
von Individuen, kann zu Änderungen im Genpool einer sehr ähnlich sind übrigens Situationen, in denen lokale Popula-
Population führen. tionen plötzlich zusammenbrechen und danach aus wenigen
Individuen neu aufgebaut werden. Solche zeitlichen Einschrän-
Eine wichtige Frage ist, wie es überhaupt zur Entstehung völlig kungen in der Individuenzahl einer Population, wie sie z. B. bei
getrennter Populationen kommen kann, wie wir sie z. B. oben Kleinsäugern (z. B. Mäusen) häufig auftreten können, bezeichnet
für die Entstehung der unterschiedlichen CCR5-Allele ken- man in ihrer Auswirkung auf die Populationsstruktur auch als
nengelernt haben. Man vermutet, dass hierfür vornehmlich Flaschenhalseffekt. Ein Flaschenhalseffekt kann durch die star-
510 Kapitel 11 · Formalgenetik

ke Auswirkung von Zufallsdrift, Mutation und der nicht reprä-


sentativen Auswahl weniger überlebender Individuen kurzfristig
zu drastischen Veränderungen in der Zusammensetzung des
Genpools einzelner Populationen führen.
Viele populationsgenetische Hinweise sprechen dafür, dass
die Entwicklung des Menschen auf der Erde sehr stark durch
Gründereffekte bestimmt wurde. Der Art Homo sapiens werden
drei ethnische Gruppen zugeordnet, die Afrikanische, die Kau-
kasische und die Orientalische. Obwohl sich die genetischen
Eigenheiten dieser ethnischen Gruppen noch unterscheiden las-
sen, sind sie heute über alle Kontinente verteilt und unterliegen
in zunehmendem Maße der Vermischung. Genetische Studien
haben gezeigt, dass der Grundbestand an Genen und Allelen in
allen ethnischen Gruppen praktisch identisch ist, dass aber die
Allelfrequenzen zwischen den ethnischen Gruppen deutliche
Unterschiede zeigen. Das lässt sich aus der getrennten Evolution
der ethnischen Gruppen verstehen.
Ursprünglich bestanden nur kleine menschliche Populatio-
. Abb. 11.40 Hände einer typischen Patientin mit Porphyria variegata.
nen, deren Individuenzahl durch die natürlichen Lebensbedin-
Die Abbildung zeigt verschiedene Formen dieser Hauterkrankung von licht-
gungen beschränkt wurde. Hierdurch konnten sich sehr unter- empfindlichen Verletzungen bis zu pigmentierten Narben. (Nach Meissner
schiedliche Genpools entwickeln, wie sie sich noch heute in der et al. 1996, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
Allelfrequenz mancher menschlicher Populationen reflektieren.
Wir haben beispielsweise gesehen, dass Eskimos in ihren MN-
Blutgruppenallelen eine von anderen Populationen stark abwei-
chende Allelfrequenz zeigen (. Tab. 11.11), obwohl sie eigentlich (Stine und Smith 1990). Ihren Ausgang nahm diese Krank-
11 den Orientalen zuzuordnen sind, also in der MN-Allelfrequenz heit von dem Ehepaar Ariaantje und Gerrit Janz in Kapstadt.
den asiatischen Populationen vergleichbar sein sollten. Die ur- Das Ehepaar ließ sich 1688 zur Zeit der holländischen Kolo-
sprünglichen Eskimopopulationen sind jedoch als kleine Grup- nisierung Südafrikas durch die Niederländische Ostasien-
pen von Asien nach Nordamerika eingewandert und zeigen so- Kompanie in Kapstadt auf neu erworbenem Farmland nie-
mit alle Kennzeichen einer durch einen Gründereffekt entstan- der. Die Frau war ein Waisenkind, das man mit sieben ande-
denen Population. ren Waisenmädchen aus Holland nach Südafrika gesandt
Eine ähnliche Situation können wir in der kanadischen Pro- hatte, um den Frauenmangel im neu besiedelten Gebiet zu
vinz Quebec beobachten: In dieser Region siedelten zwischen beheben. Das Ehepaar Janz hatte nach 300 Jahren etwa
1608 und 1759 ca. 8500 französische Siedler, die heute zu einer 8000 lebende Nachkommen, die durch das Merkmal der
Population von ungefähr 6 Mio. Einwohnern angewachsen sind. »van Rooyen-Hände« leicht identifizierbar waren. Die Mög-
Die räumliche und kulturelle Isolation (Sprache und Religion) lichkeit zur Ausbreitung in unbesiedeltem Land bei im
führte zu einer Reihe von Gründereffekten, die sich in geogra- Übrigen günstigen Lebensbedingungen gestattete also die
phischen Häufungen bestimmter Erkrankungen manifestieren. Entstehung einer so großen neuen Population mit spezifi-
So wurde z. B. eine bestimmte Form der Ataxie (Störungen der schen genetischen Eigenschaften; der geschätzte Selektions-
Bewegungskoordination) zuerst in der Region Quebec charakte- koeffizient liegt zwischen 0,02 und 0,07. Die ursächliche
risiert: die autosomal-rezessive spastische Ataxie von Charle- Mutation ist ein ArgൺTrp-Austausch im Codon 59 (R59W) des
voix-Saguenay (Gensymbol SACS); ein weiteres Beispiel ist der Gens, das für die Protoporphyrinogen-Oxidase codiert
französisch-kanadische Typ des Leigh-Syndroms (eine fort- (Gensymbol: PPOX); die Mutation führt zu einem Verlust der
schreitende mitochondriale Erkrankung mit spezifischen Schä- enzymatischen Aktivität aufgrund der verminderten Bin-
digungen des Hirnstamms und der Basalganglien). Eine interes- dung des essenziellen Cofaktors Flavin-Adenin-Dinukleotid
sante Übersicht einschließlich der historischen Zusammenhänge (FAD).
findet sich bei Laberge et al. (2005).
> Durch die Isolation einiger Individuen einer Population
C Die quantitativen Folgen eines Gründereffektes lassen kann es zur Neugründung von Populationen mit verän-
sich an einem Beispiel vor Augen führen, an dem man die dertem Genpool kommen. Man bezeichnet die geneti-
Ausbreitung einer dominanten Form der Porphyrie (Por- schen Konsequenzen der durch Isolation neu entstande-
phyria variegata) in Afrika untersuchen konnte. Diese Stoff- nen Populationen als Gründereffekte. Bei der Evolution
wechselkrankheit ist neben anderen Symptomen durch des Menschen haben Gründereffekte an vielen Stellen
eine bestimmte Art der Hautentzündung, die besonders an eine wichtige Rolle gespielt.
Fleckungen der Hände sichtbar wird (. Abb. 11.40), ge-
kennzeichnet. Sie erhielt nach dem Namen der zuerst unter-
suchten Familie die Bezeichnung »van Rooyen-Hände«
11.6 · Evolutionsgenetik
511 11
11.6 Evolutionsgenetik nosäureaustausche, Spleißen, Genregulation) oder einfach »nur«
als neutrale Mutationen vorkommen.
Wir haben uns in den letzten beiden Abschnitten immer wieder In . Abb. 11.41a ist ein vereinfachtes Schema gezeigt, bei dem
mit genetischen Aspekten der Evolution beschäftigt und wollen drei von 20 Genkopien betrachtet werden. Dabei wird ihr
das jetzt noch etwas vertiefen. Im 7 Abschn. 11.6.1 wollen wir uns Stammbaum bis zurück zum letzten gemeinsamen Vorfahren
der Frage widmen, wie genetische Veränderungen über die Zeit rekonstruiert, also bis zu dem Punkt, an dem die drei Entwick-
fixiert werden, wie wir diese Mechanismen erkennen und was sie lungslinien zusammenfließen (Koaleszenz). Man sieht in diesem
uns über die Vergangenheit sagen können. Im 7 Abschn. 11.6.2 Schema auch, dass verschiedene Entwicklungslinien den letzten
wollen wir uns dann den Mechanismen widmen, die eine unter- Zeitpunkt nicht erreicht haben – sie sind zu unterschiedlichen,
schiedliche Entwicklung so weit vorantreiben, bis aus einer Art früheren Zeitpunkten ausgestorben. Wenn man also DNA-Se-
zwei neue werden. quenzen aus Knochenfunden mit in die Analyse heute existieren-
der Populationen einbezieht, kann man daraus einen wesentlich
informativeren Stammbaum entwickeln. Ein wichtiger Punkt in
11.6.1 Der letzte gemeinsame Vorfahre der Analyse ist dabei die Kalibrierung der molekularen Uhr, also
die Frage nach der Zeit von einer Generation bis zur nächsten,
In der Evolution begegnen wir immer wieder der Frage nach dem aber auch die möglichst genaue Datierung historischer Funde.
letzten gemeinsamen Vorfahren, bevor sich die Entwicklungs- Die ursprünglichen Computerprogramme zur Berechnung des
linien unwiederbringlich getrennt haben. Über lange Zeit wur- letzten gemeinsamen Vorfahren (engl. most recent common
den dazu aufgrund von Knochenfunden vor allem morpholo- ancestor, MRCA) setzten eine konstante Populationsgröße vor-
gische Parameter analysiert; im Kontext der Populations- und aus; heutige Programme berücksichtigen dagegen auch Wachs-
Evolutionsgenetik wollen wir uns hier auf den Aspekt beschrän- tum und Unterteilungen von Populationen, genetische Rekom-
ken, der sich mit DNA-Sequenzen beschäftigt. Diese Methode bination sowie natürliche Selektion. In . Abb. 11.41b ist gezeigt,
wurde in den letzten Jahren auf verschiedene Organismen ange- wie Stammbäume wachsender oder schrumpfender Populatio-
wendet, vom Menschen bis zu Viren. nen sich von denen mit konstanter Größe unterscheiden.
Diese Form der Analyse sucht in den jetzt lebenden Popula- Bei einer anderen Form der Analyse interessieren nicht nur
tionen nach den Spuren der Vergangenheit. Dabei stehen vor die einzelnen Basenaustausche selbst, sondern vor allem auch die
allem SNPs im Mittelpunkt der Analyse. SNPs sind Austausche noch erhaltenen flankierenden Bereiche – und inwieweit sie sich
einzelner Nukleotide (engl. single nucleotide polymorphisms); sie bei den heute lebenden Individuen der jeweiligen Population
erlauben die Untersuchung von genetischen Unterschieden in- unterscheiden. . Abb. 11.42 macht diesen Ansatz deutlich: SNPs
nerhalb einer Spezies – im menschlichen Genom kennen wir sind – wie andere genetische Polymorphismen auch – nicht un-
inzwischen etwa 10 Mio. solcher SNPs. Sie kommen sowohl in abhängig, sondern unterliegen komplexen gegenseitigen Abhän-
codierenden Regionen als auch in nicht-codierenden Bereichen gigkeiten. In den meisten Fällen führt ein einziges Mutations-
vor und können somit funktionelle Auswirkungen haben (Ami- ereignis in der Vergangenheit zu den zwei Allelen, die heute

Zeit
. Abb. 11.41 Populationsstrukturen. a Koaleszenz. Eine Population von
20 Genkopien zeigt den letzten gemeinsamen Vorfahren (Koaleszenz) in
einem 12-Generationen-Stammbaum von drei untersuchten Genkopien.
b Wachstums-Charakteristika von Populationen: Links ist der Stammbaum
einer Population konstanter Größe dargestellt, in der Mitte eine exponen-
tiell schrumpfende und rechts eine exponentiell wachsende Population.
(Nach Kuhner 2009, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
512 Kapitel 11 · Formalgenetik

ungleichgewichten. Daher besitzen in diesen Populationen meh-


rere betroffene Individuen sehr große (bis zu mehrere Megaba-
sen) gemeinsame Haplotypen, die das Krankheitsallel umfassen.
Beispiele haben wir in 7 Abschn. 11.5.4 für die französische Po-
pulation in der Provinz Quebec kennengelernt; ein weiteres lie-
fern die in 7 Abschn. 11.5.2 bereits erwähnten Hutterer.
Ein besonders ehrgeiziges Projekt in diesem Zusammenhang
war die Erstellung einer Haplotyp-Karte (engl. haplotype map)
nach n Generationen des menschlichen Genoms durch das Internationale HapMap-
Konsortium (2010; http://www.hapmap.org/). Dazu wurden zu-
nächst (HapMap2) 270 Proben von vier Populationen mit unter-
schiedlicher geographischer Herkunft genotypisiert. Diese Pro-
ben enthielten 30 Trios (Vater, Mutter, Kind) von den Yoruba
(Ibadan, Nigeria), 30 Trios von Einwohnern aus Utah (USA), die
ursprünglich aus Nord- und Westeuropa stammen, 45 Proben
von nicht-verwandten Han-Chinesen (Peking) und ebenso viele
von nicht-verwandten Japanern (Tokio). Später wurde das Pro-
jekt ausgeweitet, und es wurden in 1184 DNA-Proben von elf
. Abb. 11.42 Schematische Darstellung des Ursprungs eines Kopplungs- Populationen 1,6 Mio. SNPs untersucht (HapMap3). Zusammen
ungleichgewichts. Die meisten SNPs entstanden als Mutation (M) in einem mit anderen Studien sind damit über 10 Mio. allgemein verbrei-
Ur-Chromosom; hier flankiert von einer Mutation, die zu einer Krankheit
tete DNA-Variationen bekannt, davon sind die meisten SNPs.
führt (D). Dieses hypothetische Ur-Chromosom ist als grauer Balken darge-
stellt; andere mögliche Formen der entsprechenden chromosomalen Re-
Diese Untersuchungen stellen eine wichtige Grundlage für ge-
gion sind in unterschiedlichen Schraffuren dargestellt. Die heutigen Träger nomweite Assoziationsstudien dar (GWAS), bei denen SNPs mit
des mutierten Krankheitsallels tragen noch einen kurzen Abschnitt des bestimmten Krankheiten assoziiert werden (7 Abschn. 13.1.4 und
Ur-Chromosoms, und der Marker (M) ist nicht zufällig assoziiert, sondern 7 Abschn. 13.4; . Abb. 13.54).
11 erscheint häufig in derselben Anordnung wie auf dem Ur-Chromosom
Einen Eindruck von den Möglichkeiten vermittelt . Abb. 11.43:
(»Kopplungsungleichgewicht«). Die genaue Länge des konservierten Be-
reiches hängt von den verschiedenen Rekombinationsraten, Genkonver-
Hier werden SNPs im Bereich des CYP7A1-Gens verglichen, das
sionen und weiteren Mutationen ab – und alle diese Prozesse vermindern für die Cholesterin-7α-Hydroxylase codiert; dieses Enzym kon-
das ursprüngliche Signal. (Nach Collins 2009, mit freundlicher Genehmi- trolliert den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt in der Um-
gung von Humana Press/Springer) wandlung von Cholesterin in Gallensäuren. Dementsprechend
werden Mutationen in diesem Gen mit verschiedenen Erkran-
kungen in Verbindung gebracht, wie z. B. Hypercholesterinämie,
vorkommen. Das mutierte Allel war Bestandteil eines spezifi- Arteriosklerose und Gallensteinen. Die Analyse zeigt zunächst,
schen Haplotyps, der zu einem bestimmten Individuum einer dass sich die vier untersuchten Populationen hinsichtlich der
bestimmten Population gehörte (zum Begriff »Haplotyp« siehe identifizierbaren Haplotypen unterscheiden; für die kaukasische
. Abb. 11.27d und die Erläuterungen im Text). und afrikanische Population lässt sich eine identische Rekombi-
Im Verlauf der Zeit hat sich das mutierte Allel aber in andere nationsstelle identifizieren (die Rekombinationsfrequenz ist da-
Haplotypen ausgebreitet – durch Rekombination, Genkonversi- bei auch ähnlich und liegt bei etwas über 80 %). Von besonderem
on oder wiederholte Mutationen in der Nachbarschaft. Es kann Interesse für die Klinik ist ein SNP im Promotor, der für die un-
sich auch in andere Populationen ausgebreitet haben, weil sein terschiedliche Expression von CYP7A1 diskutiert wird.
Träger ausgewandert ist; es kann aufgrund natürlicher Selektion Wie wir bereits gesehen haben (7 Abschn. 11.5.3), kann bei
seine Häufigkeit verändert haben – kurzum: Diese Prozesse füh- SNPs, die in codierenden Regionen vorkommen, das Verhältnis
ren zu einem bestimmten Muster des Kopplungsungleichge- von nicht-synonymen zu synonymen Basenaustauschen (dn/ds)
wichts (engl. linkage disequilibrium) und zu einer bestimmten in einem Gen als Kriterium für positive bzw. negative Regulation
Populationsstruktur in den jetzt lebenden Populationen. (Wir verwendet werden. Dabei geht man davon aus, dass nicht-syno-
erinnern uns: Liegen zwei Gene dicht beieinander auf einem nyme Basenaustausche zu einer Aminosäure-Veränderung füh-
Chromosom, bezeichnen wir das als Kopplung, d. h. sie werden ren, synonyme Austausche dagegen nicht. Das Überwiegen
nicht mehr zufällig gemeinsam erscheinen, sondern öfter als er- nicht-synonymer Basenaustausche wird dabei als »positive Se-
wartet. Es besteht also kein ausgewogenes Verhältnis mehr, son- lektion« interpretiert, weil es zum Fixieren einer möglicherweise
dern das Gleichgewicht ist auf eine Seite verschoben; siehe auch positiven neuen Funktion gekommen ist (wäre die Funktion ne-
7 Abschn. 11.4.2) gativ bzw. schädlich, so wären die entsprechenden Individuen
Eine der wichtigsten Anwendungen des Kopplungsungleich- bald ausgestorben). Dabei bleibt unberücksichtigt, dass Basen-
gewichts (in der Humangenetik) besteht in der Untersuchung austausche in codierenden Regionen auch das Spleißen beein-
seltener Erkrankungen in isolierten Populationen. Zusätzlich zu flussen können. Außerdem kommen tRNAs, die zwar für die
größerer phänotypischer Homogenität (und entsprechend ver- gleiche Aminosäure codieren, aber über verschiedene Antico-
minderter genetischer Vielfältigkeit) zeigen solche Populationen dons verfügen, in unterschiedlicher Menge in der Zelle vor. So-
aufgrund der genetischen Drift oft ein hohes Maß an Kopplungs- mit können Basenaustausche auch aufgrund der vorhandenen
11.6 · Evolutionsgenetik
513 11

rs11786580
rs10504255

rs10957057

rs10504255

rs10957057

rs11786580
rs8192879

rs1457043

rs2162459

rs3808607

rs3824260

rs7833904

rs3903445

rs1125226

rs1023649

rs1457043

rs2162459

rs3808607

rs3824260

rs7833904

rs3903445

rs1125226

rs1023649

rs1023650
rs8192879
Block 1 (14 kb) Block 2 (2 kb) Block 1 (9 kb) Block 2 (2 kb)
1 2 3 4 6 7 8 9 10 11 12 13 1 2 3 4 6 7 8 9 10 11 12 13 14
rs11786580
rs10504255

rs10957057

rs10504255

rs10957057

rs11786580
rs8192879

rs3747809

rs1457043

rs2162459

rs3808607

rs3824260

rs7833904

rs3903445

rs1125226

rs1023649

rs1457043

rs2162459

rs3808607

rs3824260

rs7833904

rs3903445

rs1125226

rs1023649

rs1023650
rs1023650

rs8192879

rs3747809

Block 1 (16 kb) Block 1 (10 kb)


1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

. Abb. 11.43 Haplotyp-Struktur in verschie-


denen menschlichen Populationen am Bei-
spiel des CYP7A1-Gens. a Kopplungsungleich-
gewicht der SNP-Marker (identifizierbar über
die jeweiligen rs-Nummern) im CYP7A1-Gen in
den HapMap-Populationen der Kaukasier
(CEU), Afrikaner (YRI), Japaner (JPT) und Chi-
nesen (CHB). Ein Farbschema zeigt das Kopp-
lungsungleichgewicht: Dunkelrot deutet ein
starkes Kopplungsungleichgewicht an, wohin-
gegen die weiße Farbe ein Gleichgewicht an-
deutet (»kein Kopplungsungleichgewicht«).
Die hellroten und blassvioletten Farben symbo-
lisieren ein schwaches Kopplungsungleich-
gewicht. b In jedem Haplotyp repräsentieren
die blauen Balken das Allel 1 und die roten das
Allel 2; schwarze Balken deuten an, dass das
entsprechende Allel in der Population nicht
vorhanden ist. Die Zahlen neben den Haplo-
typen sind die entsprechenden Haplotyp-
Häufigkeiten. Die roten Dreiecke symbolisieren
die entsprechenden SNPs. In den Regionen,
in denen Rekombination stattfindet, ist die
Rekombinationshäufigkeit zwischen den bei-
den Blöcken angegeben. (Nach Nakamoto
et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung der
b Autoren)
514 Kapitel 11 · Formalgenetik

tRNAs die Menge der entsprechenden Proteine regulieren (vgl. Darwin selbst hatte nur vage Vorstellungen davon, welche Me-
7 Abschn. 3.3.5 und 7 Abschn. 3.5.3). chanismen bei der Artbildung wirksam sind – etwa ein Kontinu-
um, ausgehend von adaptiven Unterschieden innerhalb der
*HapMap-Daten
Die Gruppe um Lawrence Grossman (Bordeaux) hat nun die
codierender SNPs des Menschen in bestimm-
Arten. Der russische Genetiker Theodosius Dobzhansky und
der deutsche Systematiker Ernst Mayr entwickelten Mitte des
ten Genfamilien auf positive bzw. negative Evolution unter- 20. Jahrhunderts drei konzeptionelle Anstöße:
sucht. Dabei wurde schnell klar, dass in allen Populationen 4 Dobzhansky und Mayr stellten Listen von Merkmalen auf,
für fast alle SNPs mit entsprechenden Computerprogram- die einen Genfluss zwischen Arten verhindern, wie z. B. un-
men eher schädliche Konsequenzen vorhergesagt werden – terschiedliche Lebensräume und Sterilität von Hybriden
mit zwei Ausnahmen: In Genen, die für die Geruchswahrneh- (»Barrieren«). Sie beobachteten dabei, dass einige dieser
mung verantwortlich sind, haben SNPs keine besonderen Barrieren die Nachkommen von Hybriden verhindern, an-
Auswirkungen. Und das stimmt mit früheren Beobachtungen dere den Erfolg und die Weiterverbreitung von Hybriden
überein, dass die Zahl der Geruchsrezeptoren beim Menschen verhindern, wenn sie gebildet werden.
im Vergleich zu anderen Primaten deutlich abgenommen 4 Arten können im Hinblick auf diese Merkmale definiert
hat. Überraschender ist dagegen ein ähnlicher Befund in werden. Dadurch werden auch Ansatzpunkte für genetische
Testes-spezifischen Genen (auf Autosomen). Die Autoren Untersuchungen der Artbildung deutlich.
schließen daraus auf anhaltende Veränderungen im männ- 4 Und schließlich untersuchten sie diese Barrieren direkt: So
lichen Reproduktionssystem (Pierron et al. 2013, 2014). korrelierte Dobzhansky die Testisgröße in Hybriden ver-
schiedener Arten von Drosophila pseudoobscura mit sieben
> Aus den verschiedenen Polymorphismen in den heute verschiedenen genetischen Markern (das ist im Prinzip
lebenden menschlichen Populationen lassen sich Rück- ähnlich wie die modernen Methoden der QTL-Analyse,
schlüsse auf die evolutionäre Entwicklung ziehen und . Abb. 11.28).
Szenarien entwickeln, die zur Beschreibung des letzten
gemeinsamen Vorfahren führen. Diese Szenarien können In der Zwischenzeit konnten einige dieser »Barrieren-Gene« iso-
von Gen zu Gen leicht voneinander abweichen. liert werden, die meisten davon in Drosophila. Diese Gene sind
11 oft mit der Unfähigkeit verbunden, Nachkommen zu produzie-
ren (für eine Übersicht siehe Noor und Feder 2006).
11.6.2 Genetische Aspekte der Artbildung
C Wir wollen uns ein Beispiel dazu etwas im Detail ansehen,
nämlich die Sterilität von Hybriden der beiden Drosophila-
Wir haben gesehen, wie es durch Verschiebungen des Hardy-
Arten Drosophila melanogaster und Drosophila simulans.
Weinberg-Gleichgewichts aufgrund unterschiedlicher Mecha-
Diese Untersuchungen gehen ursprünglich auf Arbeiten von
nismen (genetische Drift, Selektion, Migration) zum Aufbau
Dobzhansky zurück und zeigen, dass die Sterilität der Hybri-
neuer Populationen kommen kann. Eine fundamentale Frage ist
den-Männchen aus D. melanogaster und D. simulans im Ver-
allerdings, ob diese Mechanismen auch geeignet sind, weiter ge-
lust eines Gens begründet ist, das für die männliche Fertili-
hende evolutionäre Prozesse zu erklären. Die Bildung neuer Ar-
tät essenziell ist (JYĮ). Das Gen ist bei D. melanogaster auf
ten ist eine dieser fundamentalen Fragen. Dabei wird bei Orga-
dem Chromosom 4 lokalisiert, bei D. simulans aber auf dem
nismen, die sich sexuell fortpflanzen, Artbildung so verstanden,
Chromosom 3. Die genetische und molekulare Analyse zeigt,
dass durch die Evolution Variationen innerhalb einer Population
dass JYĮ während der Evolution von D. simulans auf das
so in taxonomische Unterschiede überführt werden, dass inhä-
Chromosom 3 übertragen wurde. Aufgrund dieser Transpo-
rente Schranken gegenüber einem Genfluss errichtet werden.
sition fehlt das JYĮ-Gen bei einem Teil der Hybriden voll-
Damit können sich schließlich Mitglieder nur noch innerhalb,
ständig, sodass es zur Sterilität kommt. Das JYĮ-Protein hat
aber nicht mehr zwischen Populationen fortpflanzen. Man un-
eine Na+/K+-ATPase-Aktivität (Kationenaustauscher). Diese
terscheidet in der Evolutionsbiologie allgemein zwischen allopa-
Veränderung der chromosomalen Struktur ist ein schönes
trischer Artbildung (d. h. Populationen entwickeln sich in geo-
Beispiel für die Entstehung einer reproduktiven Isolation
graphischer Isolierung), parapatrischer Artbildung (d. h. Popu-
von Arten, ohne dass eine Sequenzveränderung der DNA in-
lationen grenzen aneinander) und sympatrischer Artbildung
nerhalb eines Gens die Ursache ist (Masly et al. 2006).
(d. h. Populationen überlappen sich).
Als Isolationsmechanismen kommen z. B. in Betracht: Weitere wichtige Fragen zur Inkompatibilität von Hybriden be-
4 Inkompatibilität von Gameten, auch durch Neumuta- treffen vor allem die Rolle der geschlechtsbestimmenden Chro-
tionen, mosomen. Dabei geht es darum, dass die Sterilität überwiegend
4 ungewöhnliche Chromosomenverteilung in Gameten durch Hybridformen im heterogametischen Geschlecht hervor-
(engl. meiotic drive), gerufen wird, also durch Sterilität der heterogametischen Männ-
4 sexuelle Isolation, die auf Unterschieden im Paarungsver- chen (XY, wie bei Säugern und Drosophila) oder der heterogame-
halten beruht, tischen Weibchen (ZW, wie bei Vögeln und Schmetterlingen).
4 die Besetzung unterschiedlicher ökologischer Nischen Dieser Effekt wird dadurch erklärt, dass die Allele, die die Unver-
oder Isolation durch Rhythmusverschiebungen sexueller träglichkeit der Hybriden verursachen, im Durchschnitt in Be-
Vorgänge (Blütezeit, Paarungsfähigkeit). zug auf die reproduktive Fitness rezessiv sind und sich somit nur
11.6 · Evolutionsgenetik
515 11

. Abb. 11.44 Verteilung der Einkreuzungen von Drosophila mauritiana in das D. sechellia-Genom. In einem experimentellen Ansatz wurden Chromosomen-
abschnitte von D. mauritiana (mit einem Marker für die Augenfarbe) in D. sechellia eingekreuzt und für 15 Generationen nach D. sechellia zurückgekreuzt.
Die umgekehrten Dreiecke über jedem Chromosom (X, 2 und 3) zeigen die Insertionsstellen: schwarz: lebensunfähige Hybride; rot: sterile Hybridenmännchen;
weiß: fertile Hybride (oder nicht getestete). Die horizontalen Linien unter jedem Chromosom geben die ungefähre Größe von 108 der 142 Einkreuzungen an.
Pfeile deuten darauf hin, dass das D. mauritiana-Material über die Markerauflösung an dieser Stelle hinausreicht; schwarz: Einkreuzungen, die zu lebensun-
fähigen Hybriden führen; rot: Einkreuzungen, die zu sterilen hybriden Männchen führen; grau: Einkreuzungen, die zu fertilen Hybriden führen. Am Chromo-
somenarm 3R ist die Inversion, die D. melanogaster von den Arten des D. simulans-Stamms unterscheidet (D. simulans, D. mauritiana und D. sechellia), einge-
klammert. (Nach Masly und Presgraves 2007)

im heterogametischen Geschlecht auswirken können. Zum an- der quantitativen Genetik, verbunden mit modernen ge-
deren ist die Spermatogenese selbst ein Prozess mit einer wesent- nomweiten Technologien, verspricht einen baldigen Fort-
lich höheren Wahrscheinlichkeit zu Mutationen als die Oogene- schritt im Verständnis der komplexen genetischen Grundla-
se (wegen der höheren Zahl an notwendigen Zellteilungen). Eine ge der Partnerwahl und der damit verbundenen evolutions-
weitere Erkenntnis in diesem Zusammenhang ist die Beobach- genetischen Prozesse.
tung, dass bei Kreuzungsexperimenten Einkreuzungen auf ei-
nem Geschlechtschromosom einen wesentlich höheren Einfluss Eine besondere Herausforderung für die molekulare Evolutions-
auf die reproduktive Fitness haben als auf Autosomen. Ein der- forschung ist der Artenreichtum der Cichliden (Buntbarsche).
artiges Experiment zwischen den Drosophila-Arten D. mauritia- Mit mehr als 3000 Spezies ist dieser Fisch eine der umfangreichs-
na und D. sechellia ist in . Abb. 11.44 dargestellt. Hierbei zeigte ten Familien der Vertebraten. Cichliden kommen in Süd- und
es sich, dass Einkreuzungen auf dem X-Chromosom in 60 % der Zentralamerika, Afrika, Madagaskar und Indien vor; diese Ver-
Fälle zu Sterilität der (männlichen) Hybriden führen, wohinge- teilung beruht auf dem erdgeschichtlich alten Zusammenhang
gen Einkreuzungen, die die Autosomen betreffen, nur in 18 % des Südkontinents (Gondwanaland) in der frühen Jurazeit (vor
zur Sterilität der männlichen Hybriden führen. ca. 200 Mio. Jahren). Die größte Artenvielfalt finden wir in den
großen Seen Ostafrikas (. Abb. 11.46), wo sich anpassungsfähige
*Tierreich
Neben der erwähnten Sterilität von Hybriden finden wir im
auch viele Beispiele für sexuelle Isolation, die auf
Radiationen gebildet haben, die aus Hunderten von endemi-
schen Arten bestehen (d. h. Arten, die nur hier vorkommen).
unterschiedlichem Paarungsverhalten beruht. Dabei gibt es Merkwürdigerweise zeigen aber nur die Cichliden diesen Arten-
unterschiedliche Signale, die die Partner aussenden, und reichtum – andere Fischarten in diesen Seen zeigen dieses Phä-
entsprechend unterschiedliche Kriterien der Empfänger bei nomen nicht. Eine zweite offene Frage ist, warum die verschie-
der Partnerwahl. Solche Signale können akustischer, opti- denen Cichlidenarten nicht miteinander konkurrieren, sondern
scher oder chemischer Natur sein; eine kleine Auswahl zeigt vielmehr nebeneinander existieren können. Es gibt verschiedene
. Abb. 11.45. Die Kombination von klassischen Ansätzen Erklärungsmöglichkeiten; drei sollen hier skizziert werden:
516 Kapitel 11 · Formalgenetik

11

. Abb. 11.45 Signale zur Partnerwahl. Die Komplexität der Partnerwahl


entsteht nicht nur als Folge einer Vielzahl unterschiedlicher Signalmecha-
nismen und/oder Verhaltensmöglichkeiten, die zur Attraktivität beitragen,
sondern auch daraus, dass jeder Mechanismus selbst aus vielen Einzelkom-
ponenten besteht. Drei Beispiele sind herausgegriffen, die zeigen, wie sexu-
elle Auswahl in einer Kombination von Komponenten eines einzigen Me-
chanismus wirkt. a Das akustische Signal eines Grillen-Männchens (Teleo-
gryllus commodus). Hier sind vier individuelle Merkmale herausgestellt: der
Abstand zwischen den einzelnen Lauten bzw. den einzelnen Rufen, die Län- . Abb. 11.46 Die Evolution der Cichliden. a Das Verteilungsmuster der Ci-
ge des Zirpens und die Zahl der Triller-Einheiten. b Visuelle Signale im Gup- chliden ist gezeigt, mit Vertretern aus Indien, Sri Lanka und Madagaskar, die
py-Männchen (Poecilia reticulata). Vier individuelle Färbemerkmale sind die ältesten Linien bilden, und dazu die monophyletischen Linien der afri-
hervorgehoben: orange, schwarz, schillernd und verschwommen-schwarz. kanischen und amerikanischen Linien als Geschwistergruppen. Diese Dar-
Die Körpergröße und die Größe des Schwanzes werden auch oft als Merk- stellung stimmt mit der ursprünglichen Verteilung auf dem Urkontinent
male betrachtet, die einer sexuellen Auswahl unterliegen. c Chemische Si- Gondwanaland überein. b Der Urkontinent Gondwanaland in seiner Form
gnale in Fliegenmännchen (Drosophila serrata). Hier sind neun individuelle vor ca. 200 Mio. Jahren. c Das Zentrum der Cichliden-Artenvielfalt liegt in
Kohlenwasserstoffe gezeigt, die unter verschiedenen Aspekten bei der Part- Ostafrika, wo sie die Flüsse und Seen bewohnen. Mehr als 2000 Cichliden-
nerwahl eine Rolle spielen und die im Gaschromatogramm identifiziert arten sind dort bekannt. Die meisten Arten befinden sich in den großen
wurden. (Nach Chenoweth und Blows 2006, mit freundlicher Genehmigung Seen Ostafrikas, dem Tanganjika-, Malawi- und Victoria-See (die geschätz-
der Nature Publishing Group) ten Zahlen der Arten sind in eckigen Klammern angegeben); mehr als 200
Arten leben in den Flüssen. (Nach Salzburger und Meyer 2004, mit freund-
licher Genehmigung von Springer)
11.6 · Evolutionsgenetik
517 11
4 Die Buntbarsche verfügen über zwei Kiefer: ein »normales«
Maul zum Saugen, Schaben, Beißen und ein anderes »inne-
res«, das aus dem 5. Kiemenbogen gebildet wurde und sich
im Pharynx befindet; es dient dazu, die Bissen zu zerquet-
schen, aufzuweichen und zu zerteilen, bevor sie aufgenom-
men werden. Die Mäuler sind äußerst vielseitig und anpas-
sungsfähig; sie können ihre Form auch im Laufe des Lebens
eines einzelnen Individuums ändern. Genetische Analysen
deuten darauf hin, dass eines der beteiligten Gene bmp4
sein könnte (engl. bone morphogenetic protein, bmp).
4 Ein zweiter Punkt ist das ausgeklügelte Zuchtverhalten und
vor allem die verschiedenen Formen der Brutpflege: Die
meisten der ostafrikanischen Buntbarsche sind Maulbrüter,
d. h. die Weibchen picken die Eier auf und inkubieren sie in
ihrem Maul für mehrere Wochen.
4 Neue Befunde zeigen auch, dass die sexuelle Auswahl der
Männchen durch die Weibchen zur Paarung aufgrund un-
terschiedlicher Färbungen eine wichtige Rolle spielt. Offen- . Abb. 11.47 Artbildung durch genetischen Konflikt. Genetische Konflikte
sichtlich hängen die reproduktiven Barrieren, die dieses zwischen maternalen und zygotischen Genen in Bezug auf das Geschlechts-
verhältnis der Nachkommen können zur Artbildung beitragen. Die Evolution
Auswahlverfahren bildet, von den Lichtverhältnissen in den
der Geschlechtschromosomen erfolgt dabei in verschiedenen Schritten: Zu-
Seen ab. nächst bevölkert eine kleine Gruppe von Fischen ein neues Habitat. In dieser
kleinen Population konkurrieren Brüder um Partnerinnen, sodass die Selekti-
Für die Wirkung unterschiedlicher Färbungsmuster spielt natür- on Mütter bevorzugt, die eine große Zahl weiblicher Nachkommen haben.
lich einmal die Bildung des Musters eine Rolle, aber auch die Dadurch ist die Population offen für einen dominanten Repressor des männ-
lichen Geschlechts (W; nicht notwendigerweise übereinstimmend mit dem
Entwicklung der Sehfähigkeit. Ein besonders rätselhaftes Muster,
schon existierenden XY-System), weil dadurch die relative Anzahl der Weib-
orange-blotch, wird in zahlreichen Arten des Malawi- und Vikto- chen erhöht wird. Andererseits entsteht eine neue Farbmutation (z. B. orange-
ria-Sees gefunden. Auf der Basis vieler Kreuzungsversuche wird blotch) in enger Kopplung mit dem Weibchen-determinierenden Gen W.
vermutet, dass das Gen X-chromosomal lokalisiert ist, aber Männchen, die diese Weibchen als Partnerinnen erkennen, erlangen einen
durch ein autosomales Gen modifiziert wird. Allerdings ist der selektiven Vorteil, der eine Korrelation zwischen dem weiblichen Merkmal
und der männlichen Bevorzugung herstellt und zur Fixierung der neuen
X-gekoppelte Farben-Polymorphismus die Grundlage der sexu-
Farbvariante in der Population beiträgt. Das Ergebnis ist ein neues System der
ellen Selektion und der Gattenwahl innerhalb der neu gebildeten Festlegung des Geschlechts über heterogametische Weibchen (WZ). Wenn
Spezies. Eine treibende Kraft der Speziesbildung ist die zyklische die Population wächst, nimmt die Wahrscheinlichkeit der Inzucht ab, und das
Wiederholung des genetischen Konflikts zwischen maternalen optimale Geschlechtsverhältnis kehrt zum Wert 0,5 zurück. Unter diesen Be-
und paternalen Genen über das Geschlechtsverhältnis der Nach- dingungen kann ein neues Männlichkeit-bestimmendes Gen (Y‘, nicht not-
wendigerweise eines der früheren XY- oder WZ-Systeme) in die Population
kommen (. Abb. 11.47).
eindringen, da es die relative Zahl der Männchen erhöht. Eine neue Farbmu-
Auf der anderen Seite ist die Empfindlichkeit der Augen (und tation (z. B. eine rote Rückenflosse) entsteht in enger Kopplung mit dem
insbesondere der Retina) ein wichtiges Charakteristikum. Varia- Männlichkeit-bestimmenden Gen auf dem Y-Chromosom. Weibchen, die die-
tionen in den Sehpigmenten können die Sehfähigkeit verändern se neuen Männchen bevorzugen, erhalten einen selektiven Vorteil, da da-
und damit schließlich auch die Paarungspräferenzen. So verfügen durch ihre Nachkommen zu einem optimalen Geschlechtsverhältnis kom-
men. Das Ergebnis ist die Fixierung des neuen Gens zur Festlegung der
einige der Cichliden im Malawi-See über Sehpigmente in den
Männlichkeit und die Evolution eines Systems der Festlegung des Geschlechts
Zapfen der Retina, die UV-sensitiv sind und damit die UV-Refle- über heterogametische Männchen (X‘Y‘). Dieser Zyklus ist besonders wahr-
xionen erkennen können, wie es bei vielen blauen Cichliden scheinlich bei der Gründung neuer Populationen. Die Vorhersagen dieses
üblich ist. Die Unterschiede in der visuellen Empfindlichkeit zwi- Modells beinhalten Unterschiede in den Geschlechts-bestimmenden Mecha-
schen den Buntbarschen des Malawi-Sees sind zum großen Teil nismen nahe verwandter Arten und die Kopplung von Farbpolymorphismen
mit Geschlechts-bestimmenden Genen. Beide Vorhersagen wurden bei den
durch unterschiedliche Expression der Opsin-Gene verursacht.
ostafrikanischen Cichliden bestätigt. (Nach Kocher 2004, mit freundlicher
Eine positive Selektion (7 Abschn. 11.5.3) wurde außerdem in der Genehmigung der Nature Publishing Group)
Evolution des Rhodopsin-Gens sowie der Opsin-Gene gefunden,
die für lange Wellenlängen empfindlich sind (. Abb. 11.48).

*
Population hatte sich erholt. Genetische Untersuchungen
Eine Art »Turbo-Evolution« konnte bei Schmetterlingen in zeigten, dass die Wolbachia-Bakterien weiterhin vorhanden
der Südsee beobachtet werden und hat die Art Hypolimnas und auch durchaus infektiös sind – aber nur noch in anderen
bolina vor dem Aussterben gerettet. Der Schmetterling ist Stämmen. Vielmehr hatte dieser Stamm einen Suppressor
durch ein maternal vererbtes Wolbachia-Bakterium infiziert. gegen die Wolbachia-Bakterien eingekreuzt, der dazu führte,
Dieses Bakterium tötet spezifisch männliche Embryonen – im dass sich die Population innerhalb von nur zehn Generatio-
Jahr 2001 gab es daher nur noch ca. 1 % männliche Schmet- nen wieder erholen konnte. Die Autoren (Charlat et al. 2007)
terlings-Individuen. Bei der nächsten Zählung im Jahr 2006 vermuten, dass sich ähnliche Flaschenhals-Prozesse häufiger
zeigte sich ein ausgeglichenes 1:1-Geschlechtsverhältnis; die in der Evolution ereignet haben.
518 Kapitel 11 · Formalgenetik

Wir haben gesehen, dass es innerhalb von Populationen ein


großes Maß an Unterschiedlichkeit geben kann und dass Popu-
lationen sich unter dem Einfluss selektiver Kräfte verändern kön-
nen. Nun wirken aber selektive Kräfte nicht auf alle Allele in
gleicher Weise: Manche sind davon vollkommen unbeeinflusst
– wir sprechen dann von neutralen Allelen. Andere wirken sich
eher schädlich aus (negative Allele), wohingegen andere sich
unter den gegebenen Umständen durchsetzen (positive Allele);
wir können hier auch von positiver Selektion sprechen. Als ein
Maß für diese Selektionswirkung haben wir bereits den Selek-
tionskoeffizienten s kennengelernt (7 Abschn. 11.5.2). Wir haben
auch gesehen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der eine (posi-
tive) Mutation in einer Population fixiert wird, mit dem Produkt
aus effektiver Populationsgröße (Ne) und Selektionskoeffizient
steigt (. Abb. 11.35). Dabei berücksichtigt die effektive Popula-
tionsgröße nur die Individuen einer Population, die tatsächlich
fortpflanzungsfähig sind (die tatsächliche Populationsgröße ist
also immer größer als die effektive Populationsgröße).
Eine der wichtigsten Messgrößen für die genetische Differen-
zierung einer Population ist der Fixierungsindex FST; in der Tier-
. Abb. 11.48 Evolution der visuellen Empfindlichkeit. Die spektrale Ant-
und Pflanzenzucht wird er in abgeleiteter Form auch als Inzucht-
wort der Stäbchen- und Zapfenzellen der Retina wird durch die Aminosäure-
sequenz des Opsins bestimmt, das die Proteinkomponente des Sehpig-
wert bezeichnet. Er wird in vereinfachter Form aus der Varianz
ments darstellt. Menschen verfügen über drei Opsine in den Zapfen (rot, (σ) der Allelfrequenzen einer Teilpopulation S im Verhältnis zur
grün und blau); jedes Opsin wird durch ein eigenes Gen codiert. Im Gegen- Gesamtpopulation T berechnet; in einer mathematischen Form
satz dazu verfügen die Cichliden über fünf Opsin-Gene, deren Genprodukte erscheint die Definition von FST so:
11 für langwelliges (LWS), grünes (RH2), blaugrünes (S2b), blaues (S2a) und
ultraviolettes Licht (S1) empfindlich sind. Ein einzelner Fisch exprimiert aller-
FST = σ s 2 /p (1 − p).
dings nur drei Gene in den Zapfenzellen, die in einem »Volkstanz-Muster«
(engl. square-dance mosaic) in der Retina angeordnet sind. Eine einzelne
Zapfenzelle, die für kurzwelliges Licht empfindlich ist (und entweder S1 oder wobei p die durchschnittliche Frequenz eines Allels in der Ge-
S2a exprimiert), ist umgeben von vier Paaren von Zapfenzellen, die Opsine samtpopulation darstellt. Diese Formulierung ist gleichwertig
exprimieren, die für längerwelliges Licht empfindlich sind. Die spektrale mit dem entsprechenden Quotienten des Anteils an Heterozygo-
Feinabstimmung der Zapfen erfolgt bei den Cichliden im Wesentlichen ten (H = 2pq) bei zufälligen Paarungen in der Gesamtpopulation
durch zwei Mechanismen: Kleine Verschiebungen in der Wellenlänge (um
5–10 nm) der maximalen Absorption werden durch wenige Aminosäureaus-
T und der Subpopulation S:
tausche im entsprechenden Opsin verursacht. Stärkere Unterschiede in der
visuellen Empfindlichkeit werden durch die Expression unterschiedlicher FST  +Tí+S +T
Opsin-Gene hervorgerufen: Einige Arten exprimieren die Gene für das rot-
empfindliche, für das grün-empfindliche und das blau-empfindliche Opsin Damit ist FST ein Maß für die Abnahme der Heterozygotie der
(z. B. Dimidiochromis compressiceps; unten), wohingegen andere die Gene für Subpopulation (HS) bezogen auf die Heterozygotie der Gesamt-
das grün-empfindliche, für das blau-grün-empfindliche und das ultraviolett- population (HT). Im Fall idealer Populationen (Gültigkeit
empfindliche Opsin exprimieren (z. B. Metriadima zebra; oben). Verände-
des Hardy-Weinberg-Gleichgewichts) ist H = 2pq und damit
rungen in der visuellen Empfindlichkeit sind von besonderem Interesse, da
sie wahrscheinlich direkt die Partnerwahl beeinflussen. Die Evolution der HT = HS, sodass sich in diesem Fall (gleicher Grad an Hetero-
weiblichen Vorlieben bei der Partnerwahl ist wahrscheinlich für die spekta- zygotie in beiden Subpopulationen) F = 0 ergibt. Umgekehrt
kulären Variationen im männlichen Färbungsmuster verantwortlich, das für gibt es bei vollständiger Inzucht in der Subpopulation S gar keine
die Cichliden so charakteristisch ist. (Nach Kocher 2004, mit freundlicher Heterozygotie (HS = 0), sodass FST = 1 wird – in diesem Fall
Genehmigung der Nature Publishing Group)
unterscheidet sich die Subpopulation S von der Gesamtpopu-
lation T deutlich. Wir ersehen daraus, dass FST entsprechend
Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann.
> Durch evolutionäre Prozesse entstehen aus Variationen
Durch Umformungen kann man den F-Wert auch dazu be-
innerhalb von Populationen inhärente Barrieren, sodass
nutzen, die Abnahme der Heterozygotie pro Generation zu be-
keine Fortpflanzung zwischen den isolierten Populationen
rechnen. Dafür vergleicht man die Heterozygotie der Genera-
möglich ist – eine neue Art ist entstanden.
tion 0 (H0) mit der Heterozygotie der Generation 1 (H1):
Zum Abschluss dieser Betrachtungen über die Entstehung von )  +í+ +
neuen Arten wollen wir uns noch einmal den eher formalen As-
pekten evolutionsgenetischer Prozesse zuwenden. Diese haben Man kann diese Gleichung natürlich auch für t Generationen
natürlich eher allgemeinen Charakter; im Zusammenhang dieses rechnen und nach Ht auflösen:
Buches werden sie aber für das letzte Kapitel über die Evolution
des Menschen wichtig (7 Kap. 15). +t + í)
11.6 · Evolutionsgenetik
519 11
Man ersieht daraus unmittelbar, dass sich dieser Ansatz der 5 Merkmale sind oft durch die Existenz mehrerer verschiedener
F-Statistik prinzipiell auch dazu verwenden lässt, die Zahl der Allele in einer Gruppe von Organismen gekennzeichnet.
Generationen bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren zurück- Man spricht dann von multipler Allelie.
zurechnen. Streng genommen gelten alle diese Betrachtungen 5 Ein Merkmal kann durch mehrere Gene beeinflusst werden.
nur für bi-allelische Marker an einem Genort; die Berechnungen Man bezeichnet das als Polygenie.
werden komplexer, wenn die Daten stark polymorph sind. Bei- 5 Ein Gen kann Einflüsse auf mehrere phänotypische Merkmale
spiele dafür sind die Ergebnisse aus SNP-Untersuchungen ausüben. Man bezeichnet eine solche Genwirkung als Pleio-
(7 Abschn. 15.1.4). Die Darstellung dieser komplexen statisti- tropie.
schen Verfahren würde allerdings den Rahmen dieser allgemei- 5 Merkmale können in unterschiedlichem Maße oder gar nicht
nen Einführung sprengen; interessierte Leser seien daher auf zur Ausprägung kommen. Man spricht dann von unterschiedli-
entsprechende Spezialliteratur verwiesen (Holsinger und Weir cher Expressivität und Penetranz eines Merkmals.
2009, Kalinowski 2002, Weir und Hill 2002). 5 Manche Gene können in mutanter Form die Ausprägung an-
derer Gene unterdrücken. Man spricht dann von Epistasie.
> Mithilfe der F-Statistik lassen sich Unterschiede in 5 Populationen sind der Angriffspunkt für evolutionäre Prozesse.
der Struktur zwischen verschiedenen Populationen der 5 Die Hardy-Weinberg-Regel besagt, dass in idealen Populatio-
gleichen Art erkennen. nen Allelfrequenzen und Allelverteilungen in aufeinanderfol-
genden Generationen gleich bleiben.
Kernaussagen 5 Die Allelzusammenstellung einer Population wird durch Zu-
5 Die 1. Mendel’sche Regel (Uniformitäts- oder Reziprozitätsre- fallsveränderungen beeinflusst (engl. random drift).
gel) besagt, dass reziproke Kreuzungen reiner Linien stets 5 Selektion ist ein wichtiger Mechanismus der Evolution. Es gibt
Nachkommen mit gleichen Merkmalen ergeben. verschiedene Arten der Selektion (gerichtete, stabilisierende
5 Die 2. Mendel’sche Regel (Spaltungsregel) besagt, dass Kreu- und disruptive).
zungen der zuvor beschriebenen F1-Generation untereinander 5 Neben der Selektion und Zufallsveränderungen gibt es noch
zur Aufspaltung in verschiedene Phänotypen mit genau fest- eine Vielzahl weiterer Evolutionsmechanismen wie Migration,
gelegter Häufigkeitsverteilung führen. Isolation und Gründereffekte, die Auswirkungen auf den Gen-
5 Die 3. Mendel’sche Regel (Prinzip der unabhängigen Segrega- pool von Populationen haben.
tion von Merkmalen) besagt, dass Merkmale im Prinzip unab- 5 Zur Charakterisierung des relativen Fortpflanzungserfolgs
hängig voneinander auf die Nachkommen übertragen werden. bestimmter Genotypen innerhalb einer Population und unter
5 Das genetische Verhalten von Merkmalen ist, vor allem bei bestimmten Umweltbedingungen dient der Begriff Fitness.
komplexen Kombinationen, oft nur durch statistische Analysen Die Häufigkeiten der verschiedenen Genotypen stellen sich
von Kreuzungsergebnissen interpretierbar. so ein, dass die Population die größtmögliche Gesamtfitness
5 Aus den Mendel’schen Beobachtungen ist zu schließen, dass erzielt.
die Vererbung durch die Weitergabe von Genen erfolgt. Diese 5 Fitnesswerte gelten nur innerhalb einer Population und kön-
sind bei höheren Organismen in jeder somatischen Zelle in nen zwischen verschiedenen Populationen nicht verglichen
zwei Kopien (Allele) vorhanden (Diploidie), die bei der Bildung werden.
der Geschlechtszellen verteilt und somit einzeln (Haploidie) an 5 Aus den verschiedenen Polymorphismen in den heute leben-
die Nachkommen weitergegeben werden. Für alle Gene gibt den menschlichen Populationen lassen sich Rückschlüsse auf
es unterschiedliche Formen der Ausprägung (verschiedene die evolutionäre Entwicklung ziehen und Szenarien entwi-
Allele), die dominant oder rezessiv sein können. ckeln, die zur Beschreibung des letzten gemeinsamen Vorfah-
5 Die Erscheinung der unvollständigen Dominanz lässt sich so ren führen. Diese Szenarien können von Gen zu Gen voneinan-
verstehen, dass keines von zwei Allelen imstande ist, sich im der abweichen.
Phänotyp voll gegen das andere durchzusetzen. Hierdurch 5 Durch evolutionäre Prozesse entstehen aus Variationen inner-
entsteht ein neuer Phänotyp, der sich vom Phänotyp der halb von Populationen inhärente Barrieren, sodass keine
homozygoten genetischen Konstitutionen unterscheidet. Fortpflanzung zwischen den isolierten Populationen möglich
5 Die Erscheinung der Codominanz beruht darauf, dass zwei ist.
Allele sich unabhängig voneinander voll manifestieren und 5 Mithilfe der F-Statistik lassen sich Strukturunterschiede zwi-
sich an ihrer jeweils spezifischen Ausprägung erkennen lassen. schen verschiedenen Populationen der gleichen Art erkennen.

Übungsfragen
1. Wo liegt der Unterschied zwischen der ge- 3. Erläutern Sie das Prinzip einer Haplotyp- 5. Erläutern Sie, warum Mutationen in kleinen
netischen Fitness und der Fitness aus dem Analyse. Populationen oft eine größere Wirkung
Fitnessstudio? 4. Nennen Sie verschiedene Mechanismen, entfalten als in großen Populationen.
2. Warum ist die effektive Populationsgröße die zu sympatrischer Artbildung beitragen
kleiner als die tatsächliche Größe einer können.
Population?
520 Kapitel 11 · Formalgenetik

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522 Kapitel 11 · Formalgenetik

Technikbox 28

Kartierung genetischer Merkmale


Anwendung: Methode zur Lokalisation geneti- . Abb. 11.26) und mehr als 15 Mio. SNPs die das Merkmal trägt (sonst wird in der F2-Ge-
scher Merkmale auf einem Chromosom. (http://www.informatics.jax.org/strains_SNPs. neration das zu untersuchende Merkmal nicht
Voraussetzungen: Einfache Erkennung des shtml). sichtbar); bei dominanten Mutationen wird
genetischen Merkmals; Vielzahl von Polymor- Verschiedene Paarungsschemata für die dagegen zu dem parentalen Wildtyp-Stamm
phismen zwischen verwandten Stämmen des unterschiedlichen Erbgänge sind in . Abb. zurückgekreuzt, da im anderen Fall die F2-Tiere
jeweiligen Modellorganismus. 11.27 dargestellt: Zunächst werden Tiere der keine phänotypischen Unterschiede aufweisen
Methode: Die klassische Kartierung durch beiden ausgewählten Eltern-Linien (P: paren- (hetero- bzw. homozygot für die Mutation).
Rückkreuzung ist die wichtigste Methode zur tal) gekreuzt, danach werden die erhaltenen Der Abstand R der Mutation von den unter-
Lokalisierung genetischer Merkmale (in der Re- Tiere der F1-Nachkommen (F: filial) mit einem suchten Markern (in cM) hängt ab von der Zahl
gel Mutationen) bei höheren Organismen der Elternstämme zurückgekreuzt. Die Analyse der beobachteten Rekombinanten (a) bezo-
(Pflanzen und Tiere). Voraussetzung dafür ist, der Rekombinationshäufigkeit kann dann in gen auf die Zahl (n) der untersuchten F2-Nach-
dass zwei Stämme nicht nur für das zu lokali- den Nachkommen dieser Kreuzung durchge- kommen:
sierende Gen bzw. Merkmal polymorph sind, führt werden (F2). Waren die Elternstämme in
R [cM] = (a/n) 100
sondern sich auch noch in einer Vielzahl von Bezug auf das zu untersuchende Merkmal bei-
genetischen Markern (in der Regel Mikrosatelli- de homozygot (homozygot für die Mutation Die Standardabweichung ist abhängig von der
ten oder Polymorphismen einzelner Basen – bzw. homozygot Wildtyp), sind alle Tiere der Zahl der untersuchten F2-Nachkommen:
engl. single nucleotide polymorphism, SNP) un- F1-Generation heterozygot. Waren die mutan-
SD [cM] = 100 [(1− R)R] / n
terscheiden. Die Markerdichte entscheidet über ten Elterntiere heterozygot, ist auch nur die
die Genauigkeit der Kartierung. Bei der Maus Hälfte der F1-Tiere heterozygot. Bei einem Ein Beispiel für die Kartierung einer Mutation,
gibt es derzeit knapp 10.000 Mikrosatelliten rezessiven Merkmal erfolgt die Rückkreuzung die zu einer Linsentrübung der Maus führt, ist
(http://www.shigen.nig.ac.jp/mouse/mmdbj/; der heterozygoten F1-Tiere immer zu der Linie, in der . Tab. 11.10 angegeben.

11
Technikbox
523 11

Technikbox 29

Immunologische Nachweismethoden
Anwendung: Nachweis und Lokalisation von Antigenen (Proteine,
andere Makromoleküle, auch DNA oder DNA/RNA-Hybride usw.)
in Chromosomen, Zellen oder Geweben oder an elektrophoretisch
fraktionierten und auf Membranfilter übertragenen Proteinen.
Voraussetzungen Materialien: Der Nachweis beruht auf Antigen-
Antikörper-Reaktionen mit Antiseren, die durch Immunfluoreszenz,
Färbung oder Autoradiographie sichtbar gemacht werden.
Methode: Zunächst wird durch Immunisierung eines geeigneten
Tieres (Kaninchen, Maus, Ratte, Ziege, Huhn) mit dem zu untersu-
chenden Antigen ein Antiserum erzeugt, das dieses Antigen spezi-
fisch erkennt (zum theoretischen Hintergrund: 7 Abschn. 9.4).
Dieses Antiserum lässt man dann mit dem Untersuchungsmaterial
reagieren. Da die Antikörper dieses Antiserums im Allgemeinen
nicht markiert sind, also auch nicht sichtbar werden, verwendet
man zu ihrer Erkennung ein sekundäres Antiserum, das gegen die
konstante Region der primären Antikörper gerichtet ist. Die sekun-
dären Antikörper binden daher an die primären Antikörper. Sie sind
in geeigneter Weise markiert, d. h. sie werden mit Fluoreszenzfarb-
stoffen (FITC, Rhodamin usw.), mit Enzymen (Peroxidase, alkalische
Phosphatase), die eine Erkennung durch die Produktion von Farb-
stoffen bei Reaktion mit geeigneten Substraten gestatten, oder – für
die Verwendung in der Elektronenmikroskopie – mit Goldpartikeln
gekoppelt. Die Fluoreszenzfarbstoffe sind direkt sichtbar. Enzyme
lassen sich durch eine Substratreaktion, die zur Färbung führt, nach-
weisen. Die Verwendung markierter sekundärer Antikörper hat den
großen Vorteil, dass man diese Kopplung mit geeigneten Marker-
molekülen nur einmal durchzuführen braucht, den gleichen Antikör-
per dann aber zur Erkennung vieler unterschiedlicher primärer Anti-
körper einsetzen kann. So erkennt z. B. ein in einer Ziege gegen die
konstante Region einer IgG-Kette des Kaninchens erzeugter Anti-
körper (bezeichnet als Ziege-anti-Kaninchen-IgG, engl. goat-anti-
rabbit-IgG) alle IgG-Antikörper des Kaninchens. Er kann daher zum
Nachweis sehr vieler unterschiedlicher primärer Antikörper ein-
gesetzt werden, ohne dass es jedes Mal erforderlich ist, eine neue
Kopplungsreaktion mit einem Markermolekül auszuführen.
Immunreaktionen sind nicht nur auf dem histologischen bzw.
cytologischen und ultrastrukturellen Niveau möglich, sondern kön-
nen auch mit Proteinen durchgeführt werden, die an Membranfilter
gebunden sind. In solchen Versuchen werden Proteingemische zu-
nächst durch geeignete elektrophoretische Methoden in Polyacryl-
amidgelen nach Ladung oder Größe aufgetrennt und anschließend
auf eine Membran (Nitrocellulose o. a.) übertragen, an der sie irre-
versibel fixiert bleiben. Auf dieser Membran ist der immunologische
Nachweis möglich, sodass man ein bestimmtes Protein identifizieren
und damit seine elektrophoretischen Eigenschaften erkennen kann.
Diese Methode wird als Western-Blotting bezeichnet.
Verwandte Techniken: Northern-Blotting (7 Technikbox 14),
Southern-Blotting (7 Technikbox 13), Autoradiographie
(7 Technikbox 15).

Zur zellulären Lokalisation eines Antigens (Proteins) bindet man zu-


nächst primäre Antikörper, die gegen dieses Protein gerichtet sind, an
das Antigen. In einem zweiten Schritt werden dann sekundäre Antikör-
per, die gegen den konstanten Teil der primären Antikörper gerichtet
und damit universell verwendbar sind, gebunden. Diese sind mit fluores-
zierenden Gruppen oder Enzymen gekoppelt, die den Nachweis dieser
sekundären Antikörper gestatten
525 12

Entwicklungsgenetik

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Blütenstandes von Antirrhinum majus. Das Foto zeigt das apikale
Meristem während der ersten Blütenentwicklung. Es ist erkennbar, wie sich die verschiedenen Organe in konzen-
trischer Weise entwickeln. (Foto: P. Huijser, Köln)

12.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

12.2 Entwicklungsgenetik der Pflanze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527


12.2.1 Musterbildung in der frühen Embryogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528
12.2.2 Wurzel-, Spross- und Blattentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
12.2.3 Blütenentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534

12.3 Entwicklungsgenetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans 542


12.3.1 Embryonalentwicklung von C. elegans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
12.3.2 Organentwicklung bei C. elegans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544

12.4 Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster . . . . . . . . . 545


12.4.1 Keimbahnentwicklung bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545
12.4.2 Der frühe Embryo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547
12.4.3 Ausbildung der anterior-posterioren Körperachse . . . . . . . . . . . . . . 549
12.4.4 Ausbildung der dorso-ventralen Körperachse . . . . . . . . . . . . . . . . . 552
12.4.5 Segmentierung bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
12.4.6 Imaginalscheiben, Metamorphose und Organentwicklung
bei Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
12.5 Entwicklungsgenetik bei Fischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566
12.5.1 Allgemeine Embryonalentwicklung des Zebrafisches . . . . . . . . . . . . 566
12.5.2 Frühe Embryonalentwicklung des Zebrafisches . . . . . . . . . . . . . . . . 567
12.5.3 Organentwicklung bei Zebrafischen: Herz und Auge . . . . . . . . . . . . . 569

12.6 Entwicklungsgenetik bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570


12.6.1 Embryonalentwicklung von Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570
12.6.2 Entwicklung von Zwillingen beim Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573
12.6.3 Teratogene Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574
12.6.4 Organentwicklung bei Säugern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
12.6.5 Keimzellentwicklung und Geschlechtsdeterminierung bei Säugern . . . 581

12.7 Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585


12.7.1 Totipotenz von Zellkernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
12.7.2 Embryonale Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
12.7.3 Somatische Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
527 12

Überblick

Die Genetik hat in den letzten Jahren zu gro- nen. Diese Information besteht aus mRNA, tionen in der Zelldifferenzierung und Zellfunk-
ßen Fortschritten im Verständnis der moleku- die nach der Befruchtung im frühen Embryo tion evolutionär über alle höheren Organismen
laren Grundlagen von Entwicklungsprozessen translatiert wird, wobei Proteine entstehen, hinweg erhalten geblieben ist.
beigetragen. So ist es bei Arabidopsis, Caeno- die durch ihre asymmetrische Lokalisation und Die verschiedenen Zelltypen eines multi-
rhabditis, Drosophila, dem Zebrafisch, der Maus durch Diffusion Gradienten ausbilden. Durch zellulären Organismus besitzen im Prinzip
und anderen Organismen gelungen, durch die unterschiedliche Konzentrationen der Proteine alle die gleichen genetischen Fähigkeiten. Aus
Untersuchung von Mutanten den Mechanis- kommt es zur unterschiedlichen Regulation embryologischen Experimenten (Gewebe-,
mus der Embryonalentwicklung zumindest in der Aktivität funktionell nachgeordneter Pro- Zell- und Kerntransplantationen) wurde die
seiner allgemeinen Grundlage zu verstehen: teine. Wir können also sagen, dass lokal auf- Möglichkeit abgeleitet, dass Zellen unter be-
Die Embryonalentwicklung wird durch ein tretende Transkriptionsfaktoren eine differen- stimmten Bedingungen in die Lage versetzt
hierarchisches System von Genen gesteuert. zielle Genaktivität in unterschiedlichen Berei- werden können, einen vollständigen Organis-
An den frühen Differenzierungsschritten des chen des Embryos induzieren, die zu weiterer mus neu entstehen zu lassen. Das Klonschaf
Drosophila-Embryos sind DNA-bindende zellulärer Differenzierung führt. »Dolly« war dafür das bekannteste Beispiel,
Transkriptionsfaktoren und RNA-bindende Re- Die Untersuchungen von Entwicklungs- bevor es unerwartet jung starb.
gulationsproteine beteiligt, die die Aktivität prozessen an Tieren und Pflanzen deuten da- Über die Klonierung von Organismen
nachgeordneter Gene regulieren. Nuklein- rauf hin, dass die molekularen Grundprinzipien aus Körperzellen wird ebenso diskutiert wie
säure-bindende Proteine spielen als moleku- von Determinations- und Differenzierungs- über den Nutzen von Stammzellen. Seien es
lare Signale (Morphogene) für die Determina- prozessen evolutionär sehr alt sind. Es zeich- embryonale Stammzellen aus der Blastocyste,
tion der Achsen des Embryos eine wichtige net sich ab, dass zelluläre Differenzierung bei adulte Stammzellen aus dem Knochenmark
Rolle. So wird die Grundlage für die beiden allen lebenden Organismen auf ähnlichen oder induzierte pluripotente Stammzellen – in
embryonalen Achsen (anterior – posterior und molekularen Grundlagen erfolgt. Es gehört zu Kultur können sie zu Zellen unterschiedlicher
dorsal – ventral) bereits während der Ooge- den überraschenden Befunden der molekula- Gewebe heranwachsen. Viele erhoffen sich
nese gelegt. Das sich entwickelnde Ei enthält ren Genetik, dass eine ganz unerwartet große hiervon ein präzise steuerbares Ersatzteillager
in seinem Cytoplasma positionelle Informatio- Anzahl von Genen mit grundlegenden Funk- für Patienten.

12.1 Einführung Weise ihre dreidimensionale Form; die erste Phase wird im
Tierreich als Gastrulation bezeichnet. Hier zeichnet sich
Die Entwicklung zu einem vielzelligen Organismus ist der kom- schon der Bauplan in seinen Grundzügen ab.
plizierteste Vorgang, den eine Zelle erfahren kann. Darauf beruht 4 Der vierte Schritt ist die Zelldifferenzierung. Dabei kommt
auch die Faszination und Herausforderung der Entwicklungs- es zu gerichteten Zellteilungen, räumlich verschiedenen
biologie im Allgemeinen. Eine Vielzahl genetischer Netzwerke Mitoseraten oder gerichteten Zellstreckungen.
steuert diese komplexen Prozesse. Mithilfe von Mutanten kön- 4 Der letzte Schritt ist das Wachstum, das auf verschiedenen
nen wir entwicklungsbiologische Vorgänge bei Pflanzen und Wegen erfolgen kann (Zellvermehrung, Zunahme der Zell-
Tieren viel besser verstehen. In der Entwicklungsbiologie werden größe, Ablagerung extrazellulären Materials wie Knochen
im Wesentlichen fünf Entwicklungsprozesse unterschieden, die oder Schale). Das Wachstum kann auch gestaltbildend
sich natürlich in der Realität teilweise überlagern und wechsel- wirken.
seitig beeinflussen. Die Kenntnis dieser Systematik erleichtert
das Verständnis der komplexeren Prozesse, die wir später bespre- In diesem Kapitel wollen wir uns aber im Wesentlichen auf die
chen werden; wir finden sie sowohl im Pflanzen- als auch im ersten drei Punkte konzentrieren und kennenlernen, welche
Tierreich: Gene hier steuernd eingreifen. Wir können dabei natürlich nicht
4 Die Furchungsteilungen folgen als Periode schneller Zell- alle Details der Morphologie ansprechen; interessierte Leser
teilungen unmittelbar auf die Befruchtung. Dabei kommt es mögen an dieser Stelle auf grundlegende Werke der Entwick-
zu keinem Zellwachstum; es gibt nur die Phasen der DNA- lungsbiologie und Embryologie zurückgreifen. Es werden im
Replikation und Mitose mit Zellteilung. Zusammenhang mit der Entwicklungsgenetik vor allem die
4 Bei der Musterbildung wird innerhalb des Embryos ein Prozesse besprochen, die durch die Analyse von Mutanten funk-
räumliches und zeitliches Muster von Zellaktivitäten aufge- tionell charakterisiert werden konnten.
baut, sodass eine erste wohlgeordnete Struktur entsteht.
Dabei werden zunächst die Achsen des Embryos definiert.
Die anterior-posteriore Achse entspricht bei Tieren der 12.2 Entwicklungsgenetik der Pflanze
Kopf-Schwanz-Orientierung und bei Pflanzen der von der
Wachstumsspitze zu den Wurzeln (auch als apikal-basale Im 7 Abschn. 5.3.3 haben wir bereits die Pflanzen als genetische
Achse bezeichnet). Die dorso-ventrale Achse beschreibt bei Modellsysteme kennengelernt. Im Allgemeinen lässt sich der Le-
Tieren die Achse, die zur Bildung einer Rück- bzw. Vorder- benszyklus einer Blütenpflanze grob in drei große Abschnitte
seite führt. Auch die daran anschließende Ausbildung der gliedern: Embryogenese, postembryonale (vegetative) Entwick-
unterschiedlichen Keimblätter (Ektoderm, Mesoderm, lung und generative Entwicklung. Der Embryo entwickelt sich
Entoderm) gehört noch zur Phase der Musterbildung. in der Samenanlage nach der Befruchtung der Eizelle durch ein
4 Der dritte wichtige Schritt ist die Morphogenese (Form- Pollenkorn; der entstandene Embryo reift und geht in einen
entstehung). Embryonen ändern dabei in charakteristischer Ruhezustand über, in dem der trockene Samen mit dem voll ent-
528 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

a b c d e f

a b c d e f

. Abb. 12.1 Entwicklung des apikal-basalen Musters während der Embryonalentwicklung von Arabidopsis thaliana. Die obere Reihe zeigt eine schematische
Darstellung der Embryonalentwicklung von Arabidopsis, die untere Reihe zeigt die entsprechenden mikroskopischen Darstellungen im Interferenz-Kontrast.
a 2-Zell-Stadium: Die Zygote hat sich asymmetrisch in eine apikale (ac) und basale (bc) Tochterzelle geteilt. b Oktantstadium: Der Pro-Embryo, der sich aus
der apikalen Zelle entwickelt hat, besteht aus zwei Lagen von je vier Zellen (ut: obere Lage, grau; lt: untere Lage, hellgrau). Die basale Zelle hat eine Reihe von
Zellen produziert, darunter die Hypophyse (hy, schwarz) und den Suspensor (su, weiß). c Dermatogenstadium: Perikline Teilungen haben acht epidermale
Zellen und acht innere Zellen hervorgebracht. d Kugelstadium: Die inneren Zellen der unteren Lage haben sich periklin geteilt und werden zu Vorläufern des
Grundgewebes und des Leitgewebes. Die Hypophyse teilt sich asymmetrisch in eine obere linsenförmige Zelle (das spätere Ruhezentrum, engl. quiescent
center, QC) und eine untere trapezförmige Zelle (die spätere zentrale Wurzelhaube, engl. central root cap, crc). e Herzstadium: Die Körpergrundgestalt des
Keimlings ist angelegt: apikales Sprossmeristem (SAM); Vorläufer der Kotyledonen (cot); die zentrale Region aus der unteren Lage des Oktantstadiums hat
sich noch einmal in eine obere (ult) und untere (llt) Lage unterteilt. f Keimling: apikales Sprossmeristem (SAM); Vorläufer der Kotyledonen (cot); Hypokotyl
(hc); Wurzel (engl. root, rt); Ruhezentrum (QC); zentrale Wurzelhaube (crc). (Nach Vroemen und de Vries 1999, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
12
wickelten Embryo ungünstigen Bedingungen widersteht und Form aus sieben Zellen besteht. Von diesen Zellen werden zwei
zugleich verbreitet werden kann. Mit der Keimung des Samens befruchtet: die haploide Eizelle und die diploide Zentralzelle. Da-
wird der Embryo zum Keimling, der an den Enden der apikal- durch entstehen die Zygote und eine triploide Zelle, aus der das
basalen Körperachse primäre Meristeme (Bildungsgewebe) Endosperm hervorgeht. Blütenpflanzen unterscheiden sich da-
trägt, aus denen Spross und Wurzel hervorgehen. Das Spross- nach bei der Bildung der Keimlinge: Die Keimlinge von Mono-
meristem bildet während der vegetativen Entwicklungsphase vor kotylen entwickeln eine Keimblattanlage, die das Sprossmeris-
allem Blätter. Physiologische Veränderungen, als Blühinduktion tem überwächst und in eine seitliche Lage drängt. Dikotyle (wie
bezeichnet, leiten die generative Phase ein. Das Sprossmeristem Arabidopsis) entwickeln dagegen zwei Keimblattanlagen, die das
bringt nun Blüten hervor, in denen männliche und weibliche Sprossmeristem symmetrisch flankieren.
Organe durch Meiose haploide Sporen bilden. Die Sporen ent- Bei Arabidopsis dauert die Entwicklung von der Befruchtung
wickeln sich zu Gametophyten, die die Gameten enthalten. zum fertigen Embryo etwa 9 Tage, die anschließende Reifung
Einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung hat die Orga- noch einmal einige Tage. In dieser Zeit wächst der Embryo auf
nisation der Pflanzenzelle. Die Zellwand sorgt dafür, dass die fast 20.000 Zellen und etwa 500 μm Größe heran. Die Embryo-
Zellen ihre Nachbarschaft nicht verlassen können. Gestaltverän- genese von Arabidopsis (. Abb. 12.1) wird anhand morphologi-
derungen (Morphogenesen) in der Entwicklung einer Pflanze scher Kriterien in 20 Stadien eingeteilt; die frühen Stadien wer-
werden daher durch lokale Aktivitäten von Zellen ausgeführt. den nach der Zellzahl des Pro-Embryos (Quadrant, Oktant) be-
Zur Koordination von Entwicklungsvorgängen sind andererseits zeichnet. Die darauf folgenden verschiedenen Stadien der Mor-
langreichende Signale (z. B. Phytohormone) notwendig. Für die phogenese sind entsprechend ihrer charakteristischen Formen
Kommunikation zwischen den Zellen einer Pflanze können die benannt: Kugel, Herz und Torpedo. Die frühembryonale Phase
Plasmodesmen eine zusätzliche Rolle spielen, da sie Zellen mit- der Musterbildung, bei der die Körpergrundgestalt entsteht,
einander verbinden. endet mit dem Herzstadium.
Die apikal-basale Polaritätsachse ist die Hauptachse der
Pflanze. Sie wird bereits nach der Befruchtung etabliert, wenn
12.2.1 Musterbildung in der frühen sich die Zygote auf die etwa dreifache Länge streckt und dann
Embryogenese asymmetrisch in eine kleine apikale und eine große basale Zelle
teilt (. Abb. 12.1). Die basale Zelle teilt sich wiederholt horizon-
Der Embryo entwickelt sich an der Mutterpflanze in einer Sa- tal, wodurch ein Zellstrang aus sieben bis neun Zellen entsteht.
menanlage, die zum Zeitpunkt der Befruchtung einen weiblichen Von diesen Zellen bilden alle bis auf die oberste den embryona-
Gametophyten (den Embryosack) enthält, der in seiner reifen len Suspensor, der den Embryo mit der Samenanlage verbindet;
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
529 12
. Abb. 12.2 Entwicklung des radialen
Musters. Die obere Reihe und das Bild
unten links zeigen schematische Längs-
schnitte; die Bilder unten rechts zeigen
Querschnitte durch eine Wurzel. Die unte-
ren und oberen dicken Linien markieren
vp klonale Grenzen zwischen den Abkömm-
lingen der apikalen und der basalen
pc Tochterzelle der Zygote und zwischen der
hy gt Isc apikalen und der zentralen embryonalen
Domäne. Der Farbcode der einzelnen
Zelltypen ist angegeben, die Stammzellen
sind jeweils dunkler gefärbt; gt: Grund-
gewebe; hy: Hypophyse; lsc: linsenför-
16-Zell-Stadium frühes Kugelstadium Kugelstadium spätes Kugelstadium
mige Zelle; pc: Perizykel; vp: vaskuläres
Primordium. (Nach Laux et al. 2004, mit
freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Epidermis/Stammzelle der
seitlichen Wurzelhaube Postition der H-Zellen
Epidermis Postition der N-Zellen
seitliche Wurzelhaube
Cortex/Stammzelle der Endodermis
Cortex
Endodermis
vaskuläre Stammzellen
Stammzellen des Perizykel
Ruhezentrum
Columella
spätes Herzstadium

die oberste Zelle nimmt sekundär ein embryonales Schicksal an Embryos beschränkt. Das Ergebnis der radialen Musterbildung
und trägt zur Bildung des Wurzelmeristems bei. Die apikale Zel- ist eine konzentrische Anordnung von Gewebeschichten.
le dagegen durchläuft zwei Runden vertikaler Zellteilungen und Die bedeutendsten Mutationen, die die stabile Festlegung
dann eine Runde horizontaler Zellteilungen und erreicht damit der apikal-basalen Achse des Embryos beeinflussen, betreffen
das Oktantstadium. In diesem Stadium besteht der Pro-Embryo das Gen GNOM (GN). Die mutanten Keimlinge sind klein und
aus zwei Lagen von je vier Zellen und kann insgesamt in drei verdickt; es fehlt die Wurzel, und sie zeigen verdickte, fusionierte
Regionen unterteilt werden: Die apikale Region besteht aus der Keimblätter. Der früheste Defekt ist eine variable Teilung der
oberen Lage und entwickelt sich später zum Sprossmeristem und Zygote. Das GN-Gen codiert für einen Guaninnukleotid-Aus-
den Keimblättern. Die untere Lage repräsentiert die zentrale Re- tauschfaktor für kleine G-Proteine der Familie Auxin-sensitiver
gion und wird zu den Schulterregionen der Keimblätter, dem Gene, die eine wichtige Rolle beim intrazellulären Membran-
Hypokotyl, der Wurzel und den Stammzellen des Wurzelmeris- fluss  spielen (Transport von Membranproteinen zur Plasma-
tems. Die basale Region entspricht der obersten Zelle des sieben- membran). Das Gnom-Protein wird für die koordinierte polare
bis neunzelligen Zellstrangs und geht somit auf die basale Toch- Lokalisierung des Auxinefflux-Carriers PINFORMED1 (PIN1)
terzelle der Zygote zurück. Sie wird zur Hypophyse, die das Ru- in der basalen Plasmamembran benötigt.
hezentrum und die untere Lage der Stammzellen des Wurzelme- Weitere Mutationen in der apikal-basalen Musterbildung be-
ristems hervorbringt. treffen die Gene MONOPTEROS (MP) und BODENLOS (BDL).
Neben dem apikal-basalen Muster wird auch ein radiales Sie verändern die Zellteilungsebene der apikalen Tochterzelle der
Muster aufgebaut (. Abb. 12.2). Die acht Zellen des Oktant-Pro- Zygote und verhindern später die Entstehung der Hypophyse.
Embryos teilen sich parallel zur Oberfläche (perikline Zellteilun- MP ist ein Transkriptionsfaktor und bindet an Auxin-Bindestel-
gen), sodass außen liegende Epidermiszellen und innen liegende len im Promotorbereich solcher Gene, die durch Auxin aktiviert
subepidermale Zellen entstehen. Die weitere Entwicklung der werden. BDL ist ein Protein, das als negativer Regulator der
Epidermis erfolgt durch Zellteilungen, deren Teilungsebene Auxin-Antwort wirkt. Auxin, das wichtigste Phytohormon der
senkrecht zur Oberfläche liegt (antikline Teilungen); die perikli- Pflanze, hat also auch schon in der frühesten Phase der Pflanzen-
nen Zellteilungen bleiben auf die zentrale Region des jungen entwicklung eine zentrale Rolle.
530 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

> Bei der frühen Embryonalentwicklung von Arabidopsis Muster werden die hauptsächlichen Gewebetypen (von außen
wird zunächst die apikal-basale Polaritätsachse und nach innen Epidermis, Grundgewebe und Leitgefäße) aufgebaut.
danach ein radiales Muster aufgebaut. Mutationen in Das nun aktive primäre Wurzelmeristem bildet den größten Teil
den beteiligten Genen führen zu massiven Störungen der embryonalen Wurzel. Es setzt sich aus zwei Teilen zusam-
in der frühen Musterbildung. Das Pflanzenhormon Auxin men, die von verschiedenen Regionen des jungen Embryos
ist bereits an vielen frühen Entwicklungsprozessen be- abstammen: Das Ruhezentrum des Wurzelmeristems und die
teiligt. Initialen (Stammzellen) für die zentrale Wurzelhaube sind Ab-
kömmlinge der Hypophyse und gehen somit auf die basale Toch-
*Die Auxin-Verteilung verändert sich dynamisch an den ent-
scheidenden Punkten der pflanzlichen Embryonalentwick-
terzelle der Zygote zurück. Die Initialen des Wurzelmeristems,
die Zellstränge nach oben abgeben und so zur embryonalen
lung: Nach der Befruchtung ist die Auxin-Aktivität in der api- Wurzel beitragen, sind dagegen von der unteren Lage des Oktant-
kalen Zelle (und ihren Tochterzellen) höher als in der basa- Pro-Embryos abgeleitet und damit Nachkommen der apikalen
len (was bis zum 32-Zell-Stadium so bleibt). Danach ist ein Tochterzelle der Zygote (. Abb. 12.2).
inverses Muster der Auxin-Maxima zu beobachten, wobei Das Wurzelmeristem wird im Herzstadium aktiv; es weist
die höchste Auxin-Aktivität in den obersten Suspensorzellen eine charakteristische radiale Organisation auf, die sich in der
gefunden wird – einschließlich der Hypophyse, dem Vorläu- konzentrischen Anordnung der Wurzelgewebe widerspiegelt. Je
fer des Wurzelmeristems. Später wiederum wird Auxin-Akti- acht Zellstränge sind in den Schichten von Cortex und Endoder-
vität in den Apizes der Kotyledonen (Keimblätter) und in mis zu finden; in der Epidermis gibt es etwa 16 Zellstränge und
den provaskulären Zellen gefunden. Dabei spielt der polare doppelt so viele in der lateralen Wurzelhaube. Um das Ruhezen-
Auxin-Transport eine zentrale Rolle, wobei Auxin in spezifi- trum, das aus vier teilungsinaktiven Zellen besteht, gruppieren
sche Zellen oder Gewebe der Pflanze geleitet wird, um be- sich die Initialen. Nach unten hin bildet eine Lage von Initialen
stimmte Entwicklungsprozesse anzustoßen oder aufrechtzu- immer wieder Zellen für den zentralen Teil der Wurzelhaube, die
erhalten. Lesenswerte detaillierte Übersichtsartikel dazu sich beim Eindringen in den Boden abnutzt und von den neu
sind die Arbeiten von Abbas et al. (2013) und Friml (2010). gebildeten Zellschichten ersetzt wird. Nach oben hin bildet eine
Lage von Initialen Zellen, die sich zu Strängen anordnen und so
die bestehende Wurzel verlängern.
12.2.2 Wurzel-, Spross- und Blattentwicklung Die Primärwurzel wächst vor allem durch Teilung der
12 Stammzellen in der meristematischen Zone. Die neu entstande-
Vom Herzstadium bis zum reifen Embryo werden die früh- nen Zellen verlängern die embryonal gebildete Wurzel. Wenn die
embryonal angelegten Regionen und Gewebe weiter unterglie- Zellen das Meristem verlassen, kommen sie in die Streckungs-
dert. Aus dem apikal-basalen Muster bilden sich Meristeme mit zone, wo sie sich in der Längsachse der Wurzel strecken; auch
den dazwischenliegenden Keimlingsstrukturen (Keimblätter, diese Zellstreckung trägt zum Wurzelwachstum bei. Schließlich
Hypokotyl und embryonale Wurzel). Aus dem zweiten, radialen gelangen die Zellen in die Differenzierungszone, in der sie ihre

a b . Abb. 12.3 Schematische Darstellung von Wildtyp und


Wurzelmutanten bei Arabidopsis. a Wildtyp-Wurzel: Die ver-
schiedenen Zelltypen sind durch einen Farbcode erläutert.
b Das Ruhezentrum wirkt durch die Hemmung der Differen-
zierung der umliegenden Initialzellen als Organisations-
zentrum des Wurzelmeristems. c Unvollständige radiale
Muster der drei Arabidopsis-Mutanten scr, shr und wol. (Nach
Nakajima und Benfey 2002, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)

c
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
531 12
. Abb. 12.4 Bildung des apikalen Sprossmeristems.
a zentral medial a Expressionsmuster von CUC2 und STM während
peripher lateral der Embryonalentwicklung von Arabidopsis. Die sche-
matische Darstellung einer frontalen Ansicht eines
schrittweise sich ändernden Embryos (vgl. oben als
Stadium: Kugel späte Kugel Übergang Herz Torpedo gekrümmte Referenz). Die Striche durch den Embryo zeigen die
Wurzel Schnittebene an; die Expressionsmuster von CUC2
bzw. STM sind schematisch dargestellt. b Arabidopsis-
frontale
Ansicht Embryonen im Übergangsstadium bzw. frühen Herz-
stadium, wobei sich der Embryo in die Domänen
der Kotyledonen (hell- bzw. dunkelgrün) und des Me-
ristems (orange) teilt. Die Pfeile deuten die Richtung
CUC2 des Auxin-Transports an. c Querschnitt durch den
apikalen Bereich eines Wildtyp-Embryos; die Domä-
nen zukünftiger Gewebe sind angedeutet: apikales
STM Sprossmeristem (orange), der Bereich zwischen den
Kotyledonen (gelb), die adaxiale Domäne der Kotyle-
donen (Spitze; dunkelgrün) und die abaxiale Domäne
der Kotyledonen (unten, hellgrün). Das Meristem hat
einen geringen Gehalt an Auxin, aber eine hohe
Expression von CUC – umgekehrt ist die Situation
b an den Vorläufern der Kotyledonen. d Querschnitt
durch eine tassenförmige Doppelmutante (cuc1 cuc2):
Es findet keine Trennung der Keimblätter statt, und
es wird kein apikales Sprossmeristem gebildet.
e Querschnitt durch die apikale Domäne eines
pin1 pid-Embryos: Diese Embryonen bilden keinen
PIN1-Auxin-Transporter (und auch keine PID-Kinase,
c d e die PIN1 an die apikale Seite der Zelle positioniert).
Ohne hohe Auxin-Konzentrationen in den Vorläufern
der Keimblätter würde sich CUC überall in der api-
kalen Domäne anreichern und das Auswachsen der
Kotyledonen verhindern. (a nach Paquette und Ben-
fey 2001, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier;
b–e nach Jenik und Barton 2005, mit freundlicher
Genehmigung der Company of Biologists)

Wildtyp cuc1 cuc2 pin1 pid

charakteristischen Merkmale ausbilden (z. B. Wurzelhaare, die shr-Mutanten nur Cortex-Eigenschaften aufweisen. Mutati-
Caspari’sche Streifen, Seitenwurzel, Leitgewebe Phloem und onen im Gen WOODEN-LEG (WOL) führen zu einer verringer-
Xylem). ten Zahl an Zellen im Leitgewebe der Wurzel, und alle Zellen des
Arabidopsis-Mutanten, die die Wurzelbildung betreffen Leitgewebes differenzieren in Xylemgewebe. WOL kontrolliert
(. Abb. 12.3), zeigen im Wesentlichen einen Einfluss auf das ra- Zellteilungen, aber nicht die Differenzierung. Die molekulare
diale Muster und deuten damit darauf hin, dass es während der Analyse hat gezeigt, dass das Gen für eine Histidinkinase codiert,
Wurzelbildung vor allem auf den radialen Informationsfluss an- die auch als Cytokin-Rezeptor bekannt ist (CRE1) und offensicht-
kommt. Besonders zwei Mutanten (scarecrow, scr und short-root, lich für die Übertragung des Cytokin-Signals von der Oberfläche
shr) haben dieses Bild geprägt. Beide sind Funktionsverlustmu- der Zellen des Leitgewebes zu deren Zellkern verantwortlich ist.
tationen in Genen, die für Transkriptionsfaktoren codieren. Die
initialen Tochterzellen in der Epidemis bzw. des Cortex teilen
sich nicht in der üblichen asymmetrischen Weise, sodass nur eine
*Imradiale
Herzstadium ist sowohl die apikal-basale als auch die
Organisation des Embryos definiert. Aber es gibt noch
einzige Schicht des Grundgewebes gebildet wird, wo sonst die eine andere Form der Musterbildung, die zwischen epider-
zwei Schichten von Cortex und Endodermis entstehen. Die bei- malen Zellschicksalen in der Wurzel und im Hypokotyl in Be-
den Mutanten unterscheiden sich allerdings in einem wichtigen zug auf ihre Umgebung entscheidet: Zellen, die mit dem in-
Detail: So hat die eine Grundgewebeschicht in scr-Mutanten dif- terzellulären Raum von zwei darunterliegenden Cortexzellen
ferenzierte Anteile des Cortex und der Endodermis, wohingegen in Kontakt sind (H-Zellen), werden sich zu Haarzellen in der
532 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Wurzel und zu Spaltöffnungen (Stomata) im Hypokotyl ent-

il1
x
wickeln, wohingegen die Zellen, die nur in Kontakt mit einer

3o

/e
-1

a
-0

lla

nt
n3
r1

N
ol
cortikalen Zelle sind (N-Zellen), sich weder zu Haar- noch zu

de

pe
EI
ct

ei
C
Stomatazellen entwickeln (. Abb. 12.2). Möglicherweise er-
reichen die entsprechenden Signalmoleküle ihre Zielzellen
über den interzellulären Raum (Laux et al. 2004).

Die oberirdischen Teile der vegetativen Pflanze, Spross und


Blätter, entwickeln sich aus dem primären Sprossmeristem des
Keimlings (. Abb. 12.1), das im reifen Embryo aus annähernd
100 Zellen besteht und im Durchmesser etwa 50 μm groß ist. Das
a
Sprossmeristem ist charakteristisch in Schichten und Zonen
organisiert: Die äußere der drei Schichten ist aus der Epidermis
des Embryos hervorgegangen; sie bildet später die epidermalen GA Ethylen
Abschlussgewebe von Spross, Blättern und Blütenorganen. Die
Zellen der inneren Schichten sind aus subepidermalen Zellen des
Embryos hervorgegangen und bringen unter anderem die sporo-
genen Gewebe der Blüten hervor, die die Keimzellen bilden.
DELLA EIN2
Das Sprossmeristem ist außerdem in Zonen gegliedert, die
verschiedene Funktionen erfüllen. Eine zentrale Zone an der
Spitze ist für die Integrität des Sprossmeristems wichtig und ent-
EIN3/EIL1
hält teilungsaktive Zellen, die das Meristem laufend erneuern,
aber auch Tochterzellen zur Seite und nach unten abgeben. Die
zentrale Zone wird flankiert von der peripheren Zone, in der Blät- HOOKLESS1
ter mit den dazugehörigen Achselmeristemen angelegt werden.
Die Blattanlagen werden durch neue Zellen, die aus der zentralen asymmetrische Verteilung
Zone stammen, verdrängt und verlassen das Meristem. Durch von Auxin
12 perikline Teilungen der subepidermalen Zellen werden die An-
lagen dann in Blattprimordien umgewandelt. Die darin enthal-
tenen Achselmeristeme bleiben inaktiv, solange die zentrale Zone
des primären Sprossmeristems inhibierend wirkt (apikale Domi-
nanz). Unterhalb der zentralen Zone ist die Rippenzone angesie- b
delt, deren Zellen zum Wachstum des Sprosses beitragen.
Wie wir oben gesehen haben, gibt es im Pflanzenembryo ne- . Abb. 12.5 Bildung des Hypokotylhakens bei der Keimung. a Verschiedene
ben dem apikal-basalen Muster aber auch ein radiales Muster. In Phänotypen des Hypokotylhakens bei 3 Tage alten etiolierten Keimlingen
von Arabidopsis-Mutanten. Die jeweils mutierten Gene sind angegeben und
Arabidopsis und anderen Dikotyledonen durchläuft aber der api-
werden mit dem Wildtyp verglichen (links, Col-0: Ökotyp Columbia; ctr1-1:
kale Teil ein bilaterales Symmetriestadium; dabei stehen die bei- constitutive triple response; EIN3ox: Überexpression von EIN3; della und penta:
den embryonalen Blätter (die Kotyledonen) einander direkt ge- verschiedene Kombinationen von Mutationen in fünf Genen der DELLA-Fa-
genüber. Missbildungen oder offensichtliche Fusionen der Koty- milie). b Modell zur Erklärung der gemeinsamen Wirkung von Gibberellinen (GA)
ledonen in frühen Keimlingen können Defekte bei diesem Über- und Ethylen zur Ausbildung der Krümmung des Hypokotylhakens. Dabei wirkt
EIN3/EIL1 als Integrationsknoten und verknüpft die Signalwege der beiden
gangsprozess anzeigen. Eine Reihe von Arabidopsis-Mutanten
Hormone so, dass schließlich die Expression von HOOKLESS1 (HLS1) induziert
zeigt genau derartige Phänotypen, darunter pin-formed, mono- wird. Gibberelline vermindern dabei die Hemmung der DELLA-Proteine auf
pteros und pinoid (die den Auxin-Transport und/oder dessen EIN3/EIL1. Außerdem initiieren Gibberelline und Ethylen HLS1-unabhängige
Signalweg beeinflussen) oder shoot meristemless (stm) und cup- Signalwege, um über eine asymmetrische Verteilung von Auxin die Krüm-
shaped cotyledon 1 und 2 (cuc1 und cuc2), die zusätzliche Defek- mung des Hypokotylhakens zu regulieren. Die durchgezogenen Linien stehen
für experimentell belegte Regulationen, wohingegen die gestrichelten Linien
te bei der Bildung des apikalen Sprossmeristems zeigen. Das
vermutete Regulationswege andeuten. Die Behandlung eines etiolierten
Expressionsmuster von CUC2 und STM ist in . Abb. 12.4a ge- Wildtyp-Keimlings von Arabidopsis mit Gibberellinsäure, Aminocyclopropan-
zeigt; . Abb. 12.4b zeigt beispielhaft und schematisch zwei Dop- carbonsäure (Vorstufe der Ethylen-Biosynthese) und Paclobutrazol führt nach
pelmutanten (cuc1 cuc2 und pin1 pid) und deren Wirkung auf 6 Tagen zu der Form, die unten dargestellt ist. (Nach An et al. 2012, mit
den Auxin-Fluss. freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
Ein entscheidender Schritt bei der Keimung des Pflanzenem-
bryos ist die Phase, wenn er aus dem Boden durch die Erdober- schützt, die sich an der Spitze des Hypokotylhakens befinden
fläche herauswächst. Die Keimlinge der Mono- und Dikotyledo- (. Abb. 12.5a). Dieser Prozess wird durch mehrere Hormone
nen haben dazu unterschiedliche Schutzstrategien entwickelt: reguliert, vor allem durch Gibberelline (besonders Gibberellin-
Während die Monokotyledonen ein Koleoptil als »Schutzschild« säure) und Ethylen. Durch die Verwendung charakteristischer
entwickelt haben, ist bei den meisten Dikotyledonen das apikale Mutanten bei Arabidopsis, verbunden mit deren Behandlung
Sprossmeristem durch zwei kleine, gefaltete Kotyledonen ge- durch verschiedene Phytohormone bzw. deren Vorläufermole-
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
533 12
külen in unterschiedlichen Kombinationen, entsteht derzeit ein Blätter entstehen aus Gruppen von Gründerzellen, die die peri-
erstes Bild eines komplexen regulatorischen Netzwerks. Eine phere Zone des Sprossmeristems verlassen. Die Blattanlage umfasst
stark vereinfachte Darstellung findet sich in . Abb. 12.5b. Dabei Zellen aus allen drei Schichten des Meristems. Erkennbar wird die
wirken Gibberelline (vor allem die Gibberellinsäure) und Ethylen Blattanlage als seitlicher Höcker; offensichtlich ändert sich mit der
zusammen, um so die Bildung des Hypokotylhakens zu erreichen. Ausgliederung der Blattanlage die Orientierung der Zellen. Das
Gibberellinsäure hemmt dabei zunächst die DELLA-Pro- neu gebildete Blattprimordium besteht aus etwa 100 Zellen, wäh-
teine, eine Familie von fünf Proteinen, die in der Signalkette der rend die Zellzahl in einem fertig ausgebildeten Primärblatt von
Gibberelline eine große Bedeutung haben. Diesen Proteinen ist Arabidopsis auf annähernd 130.000 Zellen geschätzt wurde.
die DELLA-Domäne gemein, deren erste fünf Aminosäuren (im Das Blatt wird in drei Regionen gegliedert: die Spreite, die
Ein-Buchstaben-Code) der Proteinfamilie den Namen gegeben Mittelrippe und den Stiel (Petiole). In der Spreite können wir wei-
haben. Die DELLA-Proteine interagieren dabei mit der DNA- terhin die Epidermis, das Palisadenparenchym, das Schwamm-
Bindungsdomäne von EIN3 (ETHYLENE INSENSITIVE 3) und parenchym und die Leitbündel unterscheiden. Die Abfolge die-
EIL1 (ETHYLENE INSENSITIVE 3-LIKE 1) und hemmen da- ser Gewebe in der Spreite spiegelt die dorso-ventrale Achse des
durch deren Bindung an den Promotor des HOOKLESS-1-Gens Blattes wider. Als dorsal wird die Oberfläche zum Spross hin
(HLS1). Durch die Wirkung der Gibberelline ergibt sich im Er- (adaxial), als ventral die vom Spross wegzeigende (abaxiale) Un-
gebnis eine Aktivierung von EIN3/EIL1, die durch die Ethylen- terseite bezeichnet. Die von der Basis zur Spitze des Blattes ver-
Wirkung über EIN2 (ETHYLENE INSENSITIVE 2) verstärkt laufende Längsachse wird proximo-distal genannt.
wird. Dadurch wird das HLS1-Gen aktiviert und der Hypokotyl- Die Entwicklung der Blatthaare (Trichome) ist als geneti-
haken ausgebildet. HLS1 codiert für eine N-Acetyltransferase sches System ideal, da aufgrund ihrer charakteristischen Ver-
und ist nicht nur notwendig, sondern auch ausreichend für die zweigungen und ihrer regelmäßigen Verteilung auf der Blatt-
Bildung des Hypokotylhakens. Das Ausschalten des HLS1-Gens fläche mutante Phänotypen leicht erkannt werden können. Tri-
führt zu einem Verlust der Hakenbildung und zur Unterdrü- chome entwickeln sich aus einzelnen Epidermiszellen junger
ckung der übersteigerten Krümmung, die bei Behandlung von Blattprimordien mit einem Abstand von etwa vier Zellen. Die
etiolierten Arabidopsis-Keimlingen durch Ethylen beobachtet Verzweigung der Trichome orientiert sich an der Längsachse des
wird. Blattprimordiums: Der zuerst gebildete Ast zeigt zur Blattbasis,
Die Folge der HOOKLESS-1-Aktivität ist die Ausbildung der sich erneut verzweigende Hauptast zur Spitze. Die Auswahl
einer asymmetrischen Verteilung von Auxin – diese fehlt in den einer Trichomzelle erfolgt durch laterale Inhibition. Mutationen
hls1-Mutanten in der apikalen Zone, wo später der Hypokotyl- in zwei Genen, GLABRA1 (GL1) und TRANSPARENT TESTA
haken gebildet wird; das war der erste Hinweis auf die besondere GLABRA (TTG), führen zu einem Ausfall der Trichomentwick-
Bedeutung dieses Gens. Inhibitoren des Auxin-Transports zei- lung. GL1 codiert für einen Transkriptionsfaktor mit Myb-Do-
gen außerdem denselben Phänotyp wie hls1-Mutanten (Phäno- mäne, TTG für ein Protein mit WD40-Wiederholungseinheiten
kopie), sodass daraus auf einen Zusammenhang zwischen Au- (konservierter Bestandteil von G-Proteinen: 40 Aminosäuren
xin-Transport und der Wirkung des HLS1-Gens geschlossen mit einem zentralen Trp-Asp-Motiv; diese beiden Aminosäuren
werden kann. Die Wirkung von HLS1 kann außerdem durch werden im Ein-Buchstaben-Code mit W bzw. D abgekürzt). Die
Mutationen im ARF2-Gen unterdrückt werden (AUXIN RES- Prozesse bei der Trichomentwicklung sind ähnlich der bei der
PONSE FACTOR 2), womit ein weiterer Zusammenhang zwi- Bildung von Wurzelhaarzellen. Mehr als 40 Mutationen sind be-
schen Auxin-Verteilung und HLS1 hergestellt wird. schrieben, die die Morphogenese der Trichome betreffen.
Die Analyse von Mutanten hat auch viel zum Verständnis der
*Ein weiterer wichtiger Faktor nach dem Durchstoßen des
Bodens für den Keimling ist natürlich Licht – es wird auch
Sprossentwicklung beigetragen. Im Zentrum steht dabei die Be-
schränkung der Zellzahl im Sprossmeristem durch ein einfaches
benötigt, um die Krümmung des Hypokotylhakens wieder Rückkopplungssystem und damit die Aufrechterhaltung dieser
zu beseitigen und ein aufrechtes Wachstum der Pflanze Stammzellnische im zentralen Bereich. Verlustmutationen in die-
zu ermöglichen. Um die entsprechende photomorphogene- sem Rückkopplungssignalweg haben entsprechend unterschied-
tische Antwort auszulösen, ist infrarotes Licht besonders liche Auswirkungen: Mutationen in einem der drei CLAVATA-
wirksam. Das deutet darauf hin, dass an der Beseitigung des (CLV)-Gene führen zu einem 1000-fachen Anstieg der Zellzahlen
Auxin-Gradienten Phytochrome und Phytochrom-induzierte im apikalen Sprossmeristem, wohingegen Mutationen in dem
Transkriptionsfaktoren beteiligt sind. Auch dabei spielt HLS1 Homöoboxgen WUSCHEL (WUS) dazu führen, dass das apikale
offensichtlich eine zentrale Rolle: Das Protein verschwindet Sprossmeristem nicht erhalten bleibt. CLV-Proteine schränken
relativ schnell, wenn etiolierte Keimlinge mit Licht bestrahlt die Aktivität von WUS ein, wohingegen WUS die Aktivität von
werden (wenn HLS1 unter einem konstitutiven Promotor CLV3 erhöht – damit wird ein Rückkopplungsmechanismus auf-
exprimiert wird, bleibt es auch bei Belichtung erhalten). gebaut, der die Größe des Meristems erhält. Allerdings ist darüber
Gleichzeitig mit dem Verschwinden von HLS1 wird ein Kon- hinaus noch die Aktivität des Transkriptionsfaktors KNOX wich-
zentrationsanstieg von ARF2 beobachtet. Licht ist also tig. Die entsprechende Mutation knotted-1 (kn1) wurde zuerst in
offensichtlich ein Gegenspieler des Gibberellin-Ethylen- Mais entdeckt und verursacht dort Knoten in den Blättern, die
Signals, das zur Bildung des Hypokotylhakens führt. Eine durch undeterminiertes Gewebe gebildet werden. In Arabidopsis
sehr ausführliche Darstellung dieser Prozesse insgesamt eng verwandt damit ist das Gen STM (SHOOTMERISTEMLESS),
findet sich bei Abbas et al. (2013). dessen Funktionsverlust dazu führt, dass das Sprossmeristem
534 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

a b . Abb. 12.6 Signale zwischen Meristem und Blättern.


a Es ist ein Keimling dargestellt, der für die starke
Funktionsverlust-Mutation stm-1 homozygot ist. Es
wird kein apikales Sprossmeristem gebildert, und die
Keimblätter sind fusioniert (Pfeil). b Es ist das Blatt
einer Pflanze gezeigt, die ektopisch STM exprimiert.
An der adaxialen Blattoberfläche werden ektopische
Sprossmeristeme gebildet (Pfeil). c Das Modell zeigt
eine mögliche Wechselwirkung zwischen STM, AS1 und
KNAT1/2: SHOOTMERISTEMLESS (STM) codiert für einen
KNOX-Homöodomänen-Transkriptionsfaktor, der im
ganzen apikalen Sprossmeristem exprimiert wird,
ASYMMETRIC LEAVES1 (AS1) codiert für einen MYB-
Transkriptionsfaktor, und KNAT1 (und KNAT2; KN1-like
in Arabidopsis thaliana, auch als BREVIPEDICELLUS be-
zeichnet, Gensymbol: BP) für einen KNOX-Homöo-
c d domänen-Transkriptionsfaktor. Genetische Analysen
deuten darauf hin, dass STM im apikalen Sprossmeri-
stem AS1 negativ reguliert, das seinerseits die Expres-
sion von KNAT1 bzw. KNAT2 hemmt. d Als Alternative
wird diskutiert, dass AS1 und STM antagonistisch
auf die Expression von KNAT1 (bzw. KNAT2) einwirken.
(Nach Scofield und Murray 2006, mit freundlicher
Genehmigung von Springer)

nicht erhalten bleiben kann. Zu dieser Genfamilie gehören insge- sionsdomänen zu schärfen, indem sie bei Expressions-
samt vier Gene: STM, KNAT1, KNAT2 und KNAT6 (engl. KN1- gradienten die Aktivität der mRNA in den Bereichen niedri-
like in Arabidopsis thaliana). . Abb. 12.6 zeigt die massiven Aus- ger Konzentration ganz verhindern. In diesem Zusammen-
wirkungen einer Funktionsverlust-Mutation im Gen stm-1. hang wurde auch eine neue Klasse von siRNAs beschrieben:
Auch die Blattformen werden durch das Zusammenspiel ver- trans-aktive siRNA (Abk. ta-siRNA). Dies ist in der Entwick-
schiedener Gene erzeugt, wobei Gene, die wir bisher schon ken- lungsbiologie bisher einmalig, und man wird beobachten
12 nengelernt haben, wichtige Rollen spielen (z. B. CUC, KNAT1, müssen, ob sich hier ein neues entwicklungsbiologisches
KNOX, PIN1, STM); allerdings sind hier noch die Gene AS1 und Paradigma herausbildet oder ob es auf (einige) Pflanzen-
AS2 (ASYMMETRIC LEAVES) beteiligt. Ein Modell dieser Inter- arten beschränkt bleibt. Eine aktuelle Übersicht über dieses
aktionen für verschiedene Blattformen ist in . Abb. 12.7 gezeigt. Phänomen bietet Pulido und Laufs (2010).

> Das Wurzelmeristem wird im Herzstadium aktiv und


weist eine radiale Organisation auf. Mutationen, die die
Wurzelbildung betreffen, beeinflussen im Wesentlichen
12.2.3 Blütenentwicklung
das radiale Muster. Das Sprossmeristem ist dagegen in
Blüten entsprechen einem modifizierten Spross, in dem das Län-
Schichten und Zonen gegliedert. Diese Gliederung wird
genwachstum in den Internodien unterbleibt und dadurch meh-
durch eine Rückkopplung aufrechterhalten, an der die
rere Blattrosetten dicht übereinander zu liegen kommen. Diese
Genprodukte von CLV und WUS beteiligt sind. An der
Blattrosetten (Wirtel, engl. whorl) formen bei Arabidopsis und
Krümmung des Hypokotylhakens des Keimlings sind die
Antirrhinum die unterschiedlichen Bestandteile der Blüte, die
Hormone Gibberellinsäure und Ethylen beteiligt und
Blütenhülle (Perianth) aus den Kelchblättern (Sepalen, engl. se-
führen zur Aktivierung von HLS1. Die Form der Blätter
pals) und den Blütenblättern (Petalen, engl. petals) sowie den
wird durch verschiedene aktivierende und reprimierende
reproduktiven Organen, d. h. den Staubblättern (Stamina, engl.
Prozesse unter wesentlicher Beteiligung des Transkrip-
engl. stamens) und den Fruchtblättern (Karpelle, engl. carpels).
tionsfaktors KNOX gesteuert.
Die jeweils charakteristische Morphologie der verschiedenen
*Verschiedene Experimente in den letzten Jahren deuten
darauf hin, dass »kleine« RNA-Moleküle (7 Abschn. 8.2) eine
Blütenbestandteile bietet die Möglichkeit, nach Mutationen die-
ser verschiedenen Strukturen zu suchen und ihre funktionelle
bedeutende Rolle bei der Ausbildung der Asymmetrie der Hierarchie zu bestimmen. Mutationen, die Blütenbildung be-
Blätter spielen: Die Oberseite (adaxial) entwickelt sich in treffen, lassen sich in zwei Hauptgruppen einordnen:
größerer Nähe zum apikalen Sprossmeristem als die Unter- 4 Mutationen in der Blühinduktion (engl. floral evocation)
seite (abaxial). An der Aufrechterhaltung dieser Polarität und
sind eine ganze Reihe verschiedener Transkriptionsfaktoren 4 Entwicklungsveränderungen der Blüten.
beteiligt. Einige dieser Transkriptionsfaktoren werden aber
nicht nur über ein hierarchisches Netz von anderen Tran- Die Induktion der Blütenbildung erfolgt durch ein internes und
skriptionsfaktoren reguliert, sondern sind darüber hinaus umweltbedingtes Signal im apikalen Meristem der Sprossachse,
auch Zielgene verschiedener miRNAs. Offensichtlich sind das zur Entstehung eines Blütenmeristems führt und die Ausbil-
diese miRNAs wichtig, um Grenzen verschiedener Expres- dung der blütenspezifischen Strukturen zur Folge hat. Zu den
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
535 12
. Abb. 12.7 KNOX-Genexpression und Blattformen. Der
Rand eines einfachen Blattes kann glatt (a, links), buchtig
(b, links) oder gefiedert (c, links) sein. Es ist ein hypothetisches
Modell gezeigt, wie die Rekrutierung der KNOX-Funktion in
Blättern zur unterteilten Form führt. a In Arabidopsis sind die
Gene SHOOTMERISTEMLESS (STM), KNAT1 und UNUSUAL
FLORAL ORGANS (UFO) im apikalen Sprossmeristem exprimiert
(violett), wohingegen ASYMMETRIC LEAVES1 (AS1), AS2 und das
Giberellin-Biosynthese-Gen GA20ox1 in den Blättern expri-
miert wird (grün). STM hemmt AS1, AS2 und GA20ox1 und sti-
muliert UFO, wohingegen AS1 und AS2 KNAT1 hemmen. Diese
a Wechselwirkungen begrenzen die nicht determinierenden
Faktoren auf das apikale Sprossmeristem und umgekehrt die
determinierenden Faktoren auf das Blatt, was zu einer ein-
fachen Blattform führt. b Die ektopische Expression von KNAT1
oder STM in Arabidopsis durch einen CAMV-35S-Promotor
hemmt die Expression von GA20ox1 in den Blättern, was zur
buchtigen Blattform beiträgt. Ebenso führt die ektopische
Expression von UFO zu buchtigen Blättern. c Dieses Modell
postuliert, dass an der Bildung der gefiederten Blattform, wie
wir sie von der Tomate (Mitte) kennen, die Überexpression
von KNOX-Genen in den Blättern beteiligt ist und so einerseits
zur Hemmung mancher Gene (z. B. GA20ox1) und anderer-
seits auch zur Aktivierung von KNOX-Zielgenen in den Blättern
b
führt (z. B. UFO). Allerdings führen in anderen Spezies (z. B.
Erbse, rechts) KNOX-unabhängige Signalwege zu gefiederten
Blättern. (Nach Tsiantis und Hay 2003, mit freundlicher Ge-
nehmigung der Nature Publishing Group

umweltbedingten Signalen gehören in erster Linie Temperatur 4 Eine dritte Gruppe von Mutationen bewirkt die Verän-
und Licht. In der . Abb. 12.8a sind Beispiele für Arabidopsis-Mu- derungen der Identität der Wirtel innerhalb der Blüte
tanten gezeigt, deren Blütenentwicklung verändert wird: In der (homöotische Mutationen).
agamous-Mutante werden die Staubblätter durch Blütenblätter
C Eine intensive Analyse von Mutanten bei Antirrhinum und Ara-
ersetzt, und statt der Fruchtblätter beobachten wir eine Wieder- bidopsis in der Gruppe um Heinz Saedler führte zunächst zur
holung der Abfolge Kelchblätter-Blütenblätter-Blütenblätter. Die- Identifizierung verschiedener rezessiver Mutanten, die eine
se Veränderung entspricht einer homöotischen Transformation, unmittelbare Blütenbildung zeigen. Das gab Anlass zu der Hy-
wie sie ursprünglich bei Drosophila entdeckt und beschrieben pothese, dass die »Grundeinstellung« der Pflanze das Blühen
wurde (7 Abschn. 12.4.5). Bei einer Überexpression von APETA- ist und ein Repressor notwendig ist, um vegetatives Wachstum
LA3 (AP3) und PISTILLATA (PI) bilden sich Blütenblätter, wo sicherzustellen. Ein Beispiel für ein solches Gen von Antirrhi-
sich normalerweise Kelchblätter befinden, und Staubblätter an num ist deficiens (def), dessen Mutation bei Antirrhinum zur
der Stelle von Fruchtblättern (. Abb. 12.8b). Unter diesen Bedin- Veränderung der beiden mittleren Wirtel 2 und 3 führt und
gungen werden keine Blätter in Blütenorgane umgeformt, son- statt Staubblättern Fruchtblätter und statt Petalen Sepalen
dern erst dann, wenn auch SEPALLATA zusätzlich konstitutiv entstehen lässt. Dieses Gen codiert für das DEF-A-Protein, das
exprimiert wird. Mutationen, die die strukturelle Differenzierung eine Domäne mit DNA-bindenden Eigenschaften enthält. Es
der Blüte betreffen, lassen sich verschiedenen Klassen zuordnen: gleicht strukturell Transkriptionsregulationsfaktoren von He-
4 Eine erste Gruppe von Mutationen betrifft die frühen Er- fen (Gen MCM1) und Säugern (Gen SRF). Ein sequenzverwand-
eignisse nach der Blüteninduktion: Sie verhindern die Aus- tes Protein (AG) hat man auch als Produkt des Gens agamous
bildung der eigentlichen Blüten (des Blütenprimordiums). (ag) von Arabidopsis gefunden (. Abb. 12.8). Alle diese Protei-
So werden bei manchen Mutanten nur Hochblätter gebildet, ne gehören zu einer Gruppe von Transkriptionsfaktoren, die
bei anderen unterbleibt die normale Differenzierung der eine DNA-bindende Region besitzen und Dimere bilden. Die
Blüte völlig, und es werden stattdessen nur sprossartige Ge- DNA-bindende Domäne dieser Gruppe von Proteinen wird
bilde anstelle der Blüte geformt. als MADS-Box bezeichnet (abgeleitet von den jeweils ersten
4 Eine zweite Gruppe von Mutationen führt zu Symmetrie- Buchstaben der Proteinbezeichnungen MCM1, AG, DEF-A, SRF;
veränderungen der Blüte. Schwarz-Sommer et al. 1990).
536 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

. Abb. 12.8 Blüten bei Arabidopsis. a. Die agamous(ag)-Mutante im Ver-


gleich zum Wildtyp. In der ag-Mutante entwickeln sich Blütenblätter an den
Positionen, die üblicherweise von Staubblättern eingenommen werden,
und ein anderes Blütenmeristem ersetzt die Fruchtblätter. b Die Herstellung
von Funktionsgewinn-Mutanten durch konstitutive Überexpression der
Gene APELATA3 (AP3) und PISTILLATA (PI) führt zu Blüten mit Blütenblättern
an Stellen, wo sich sonst Kelchblätter befinden, und mit Staubblättern,
wo sich üblicherweise Fruchtblätter entwickeln (oben). Wenn auch noch
SEPALLATA (SEP) ektopisch exprimiert wird, werden alle Blätter (außer den
Keimblättern) in Blütenblätter umgewandelt (unten). Werden alle der-
artigen Gene ausgeschaltet (Mitte: ap2 pi ag spt), führt das zu Blüten, die
nur aus Blättern bestehen. (Nach Pruitt et al. 2003, mit freundlicher
Genehmigung der Nature Publishing Group)

hingegen B- und C-Funktionen für Stamina benötigt werden


und die C-Funktion alleine die Karpellenbildung determiniert.
Allerdings ist dieses Modell (. Abb. 12.9b) stark vereinfacht und
bildet die Wirklichkeit nicht vollständig ab – so gibt es in Antir-
rhinum keine rezessive Mutante der A-Klasse (und der A-Phäno-
typ wird durch eine dominante C-Klasse-Mutation hervorge-
rufen).
Auf der Grundlage weiterer Arbeiten an Petunien wurde das
ursprüngliche ABC-Model um eine weitere Kategorie (D) erwei-
tert; die D-Funktionsgene führen bei Überexpression in transge-
nen Petunien zur ektopischen Bildung von Samenanlagen im
Perianth und wurden deshalb auch als Hauptgen (engl. master
control gene) der Samenanlagen (engl. ovule) bezeichnet. Das
klassische Beispiel eines D-Klasse-Gens ist SEEDSTICK, das aber
12 mit AGAMOUS aus der C-Klasse eng verwandt ist. Die Gene der
D-Klasse sind außerdem nicht immer ortholog. Von besonderer
Bedeutung für die Bildung der gesamten Blütenorgane bei Ara-
bidopsis sind Gene, die in der E-Klasse zusammengefasst werden;
sie sind mit dem ABC-System eng verbunden. Als aktuelles Mo-
dell für Blütenbildung bei Angiospermen ist daher das ABCE-
Die dritte Gruppe, die homöotischen Mutationen, zeigt einige Modell dargestellt (. Abb. 12.9c). Neuere Arbeiten zeigen, dass
formale Ähnlichkeiten mit bestimmten Aspekten (Ausbildung an der Feinregulation dieses Systems auch miRNA-Gene beteiligt
der Organidentität) der Embryogenese von Drosophila (7 Abschn. sind (der interessierte Leser sei beispielsweise auf die Arbeit von
12.4.6) und soll deshalb hier besprochen werden. Die Blüten- Luo et al. 2013 verwiesen).
organe der meisten Dikotyledonen sind in Wirteln angeord- Die Untersuchungen zur Sequenz der Gene des ABCE-Sys-
net;  die vier Blütenwirtel enthalten von außen nach innen die tems haben auch gezeigt, dass die Herausbildung der Identitäten
Sepalen (Kelchblätter, w1), Petalen (Blütenblätter, w2), Stamina der reproduktiven Organe vor etwa 300 Mio. Jahren erfolgte; ein
(Staubblätter, w3) und zum Fruchtknoten verwachsene Kar- Stammbaum innerhalb der zweikeimblättrigen Pflanzen ist in
pelle (Fruchtblätter, w4). Die Zahl der Organe, ihre Typen und . Abb. 12.10 dargestellt. Man nimmt an, dass es eine ursprüngli-
ihre Anordnung charakterisieren den »Bauplan« einer Blüte che Funktion der C-Gene ist, zwischen reproduktiven (C-Ex-
(. Abb. 12.9a). pression »an«) und nicht-reproduktiven Organen (C-Expression
Schließlich führten weitere Untersuchungen zur Unterschei- »aus«) zu unterscheiden. Überlagert wird dies durch die unter-
dung von drei Mutantengruppen: schiedliche Expression der B-Gene, um zwischen männlichen
4 A-Mutanten ersetzen die Organe in w1 und w2: Statt Sepa- und weiblichen reproduktiven Organen zu unterscheiden.
len und Petalen werden Stamina- bzw. Karpellen-ähnliche Das ABC-Modell erlaubt auch, einige »Sprünge« in der Evo-
Strukturen gebildet; lution der Pflanzen zu erklären: Eine Verschiebung im Expressi-
4 B-Mutanten haben veränderte Organe in w2 und w3, wo onsmuster der A-, B-, C-Genfunktionen führt zu einem völlig
Sepalen und Karpelle gebildet werden; diese sind steril; anderen Muster der Blütenorgane (wie in . Abb. 12.9c gezeigt
4 C-Mutanten zeigen keinerlei Geschlechtsorgane; Petalen ist). Solche homöotischen Mutanten können durchaus kritische
und Sepalen ersetzen Stamina und Karpelle in w3 bzw. w4. Schritte in den makro-evolutionären Übergangsperioden dar-
stellen, wenn sich die wenigen einzelnen Individuen in großen
Die drei Funktionen scheinen die Organidentität in einer kom- Wildtyp-Populationen zunächst halten und dann durchsetzen
binatorischen Weise zu spezifizieren: Die A-Funktion spezifiziert können. Eine solche Mutante ist die Spe-Mutante (engl. stameno-
Sepalen und – zusammen mit der B-Funktion – die Petalen, wo- id petals) in Capsella bursa-pastoris (Hirtentäschelkraut). Diese
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
537 12
. Abb. 12.9 Das ABC-Modell. a Bauplan von Anthirrhinum majus. Von
außen nach innen enthalten die Blütenwirtel fünf Sepalen (w1); w2 ist hier
sichtbar als Ring (Petalen); w3 bildet die Stamina und w4 den Fruchtknoten
(Karpelle). b Das vereinfachte ABC-Modell der Identitätsgene für die Blüten-
organe. Das Schema gibt einen Längsschnitt durch eine Blütenhälfte wie-
der, der alle vier Typen von Blütenorganen repräsentiert. Im Wildtyp sind
die genetischen A-, B- und C-Funktionen räumlich so verteilt, dass A in Wir-
tel 1 und 2, B in Wirtel 2 und 3 und C in Wirtel 3 und 4 aktiv sind. c Modell
der genetischen Kontrolle der Identität von Blütenorganen. Oben (1) ist das
erweiterte ABCE-Modell für Wildtypen gezeigt; die Identitäten sind unten
a angegeben. Das Modell der »gleitenden Grenzen« (Mitte, 2; engl. sliding
boundary) erklärt die Anwesenheit morphologisch identischer petaloider
innerer und äußerer Wirtel (wie bei Lilien und Tulpen). Das Modell der »ver-
blassenden Grenzen« (unten, 3; engl. fading borders) versucht die gradu-
ellen Übergänge zwischen Blütenteilen in einigen basalen Angiospermen
zu erklären. (a, b nach Saedler et al. 2001, mit freundlicher Genehmigung
von Panstwowe Wydawnictwo Naukowe; c nach Soltis et al. 2007, mit
freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Mutante wurde schon vor knapp 200 Jahren beschrieben (Opiz


1821) und ist in der Natur verbreitet. Sie zeichnet sich durch
eine staminale Pseudopetalie aus und wurde auch schon als
eigene Art bezeichnet (C. apetala). Die molekulare Erklärung ist
B eine Verschiebung der Expressionsmuster der A- und C-Funk-
tionsgene im 2. Wirtel: Verlust der A-Aktivität auf Kosten der
A C
C-Aktivität.
> Homöotische Gene, die bei Pflanzen im Rahmen des ABC-
Systems identifiziert wurden, codieren für Transkriptions-
faktoren. Die DNA-bindende Domäne wird als MADS-Box
b bezeichnet.

Wir haben oben schon angedeutet, dass Licht und Temperatur


wichtige Umweltfaktoren für die Blühinduktion sind, und wir
wollen diese Aspekte jetzt ein wenig vertiefen. Wir wollen uns
hier auf einige Aspekte der Modellpflanze Arabidopsis (7 Abschn.
5.3.3) beschränken; für weitere Details sei auf die entsprechenden
Lehrbücher der Botanik verwiesen. Im Falle des Umweltfaktors
»Licht« ist dabei vor allem die Tageslänge entscheidend, wobei
lange Tage im Allgemeinen die Ausbildung von Blüten begünsti-
gen. Die Tageslänge (engl. photoperiod) wird dabei in den Blät-
tern »gemessen«; das Messergebnis wird als »Florigen« (lat. für
»was die Blüte macht«) über weite Entfernungen bis zur Spitze
des Pflanzensprosses überragen, um dort die Zeit der Blüte zu
steuern. Die Photorezeptoren der Blätter erkennen dabei blaues
Licht (Phototropine und Cryptochrome) sowie rotes bzw. infra-
rotes Licht (Phytochrome). Eine der ersten Arabidopsis-Mutan-
ten, die unabhängig von Veränderungen der Tageslänge zur
Blüte kommt, wurde von György Pál Rédei schon 1962 gefunden
und als constans-Mutante bezeichnet. Das CONSTANS-Gen
(CO) codiert für einen Zinkfinger-Transkriptionsfaktor, dessen
räumliches und zeitliches Expressionsmuster eine Schlüsselstel-
lung für die Regulation der Tageslängen-abhängigen Blühinduk-
tion darstellt. Die Expression des CO-Gens wird durch die »zir-
kadiane Uhr« reguliert (7 Abschn. 14.1.3), sodass die Expression
von CO eine Grundschwingung mit einer Phase von 24 h auf-
weist; das Maximum wird etwa 20 h nach der Morgendämme-
rung erreicht. An der Feinsteuerung der CO-Expression ist na-
türlich noch eine Vielzahl weiterer Faktoren beteiligt – dazu ge-
c hören nicht nur andere Transkriptionsfaktoren, sondern auch
538 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

12

. Abb. 12.10 Evolution des Expressionsmusters von MADS-Box-Genen in Blüten von Angiospermen. Der Stammbaum der Blütenpflanzen zeigt für die
verschiedenen Regulationsmodelle (. Abb. 12.9c) die dazugehörigen Modellorganismen: (i) das klassische ABC-Modell, wie es für die Kern-Eudikotylen
und einige Monokotylen entwickelt wurde. (ii) Das Modell der »gleitenden Grenzen« ist auf einige basale Eudikotylen sowie Monokotylen anwendbar.
(iii) Das Modell der »verblassenden Grenzen« kann die Erscheinungsformen bei basalen Angiospermen erklären. Der gestrichelte Pfeil weist darauf hin, dass
mindestens bei einem Angiosperm (Asimina, Flaschenbaum bzw. Elefantenfuß) ein Schema existiert, das dem klassischen ABC-Schema entspricht. Der
Stamm der Eudikotylen ist grau unterlegt; die Kern-Eudikotylen sind dunkler grau. C: Karpelle; P: Petalen; Se: Sepalen; Sm: Staminodien; ST: Stamina;
T: Tepalen (Nach Soltis et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
539 12

a b

Tag Nacht Tag Nacht


0 6 12 18 24 0 6 12 18 24

. Abb. 12.11 Regulation von CONSTANS (CO) auf der Ebene der Transkription und des Proteins. a An kurzen Tagen erreichen die Proteine FKF1 und GI zu
unterschiedlichen Zeiten ihr Expressionsmaximum und können daher CDF1 nicht effzient reprimieren, sodass dieser die CO-Expression deutlich hemmt.
Am Beginn der kurzen Tage (nach Mitternacht) wird der CO-Spiegel auch durch PhyB niedrig gehalten; später (zwischen 4 und 7 Uhr) wird diese Rolle
durch DNF übernommen. Durch das Tageslicht werden aber CRYs aktiviert, sodass COP1, eine Ubiquitin-Ligase, seine Wirkung nicht entfalten kann. Das än-
dert sich in der Nacht, wenn die Cryptochrome wieder inaktiviert werden, sodass CO durch COP1 zum Abbau markiert werden kann. b An langen Tagen er-
reichen FKF1 und GI ihr Expressionsmaximum ca. 13 h nach Sonnenaufgang und führen dadurch zu einer Hemmung von CDF1, sodass CO transkribiert
werden kann. In den frühen Morgenstunden werden die Proteinspiegel durch PhyB reguliert; während des Tages wird aber PhyB durch aktive Crypto-
chrome und PhyA gehemmt. Aktive CRY-Proteine binden an COP1-Proteine und verhindern dadurch deren Transport in den Zellkern und die Ubiquitinie-
rung von CO. Gene sind grün dargestellt, Proteine orange. Matte Farben repräsentieren inaktive Gene bzw. Proteine, wohingegen aktive Gene bzw. Proteine
fett gedruckt sind. Gestrichelte Linien markieren schwache Komplexbildungen; graue Kästchen stellen aktive Komplexe dar. Die Kurve stellt die CO-Expressi-
on während eines Tages dar, die Tageslänge ist an der x-Achse angegeben. CDF1: CYCLING DOF FACTOR 1; CO: CONSTANS; COP1: CONSTITUTIVELY PHOTO-
MORPHOGENIC 1; CRY: CRYPTOCHROME; FKF1: FLAVIN-BINDING, KELCH-REPEAT, F-BOX 1; GI: GIGANTEA; PhyA, PhyB: PHYTOCHROME A bzw. B. (Nach Sri-
kanth und Schmid 2011, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

Proteine, die die Stabilität von CO beeinflussen, so beispielsweise meristem an einen basischen Leucin-Zipper-Transkriptions-
COP1 (engl. CONSTITUTIVELY PHOTOMORPHOGENIC 1), faktor bindet und so das Meristem vom Entwicklungsweg
eine E3-Ubiquitin-Ligase; einen Überblick vermittelt . Abb. eines Blattes zu dem der Blütenbildung umprogrammiert.
12.11. Das Zielgen des Transkriptionsfaktors CO ist FT (engl. Das Zielgen des Komplexes aus FT und dem Leucin-Zipper-
FLOWERING LOCUS T) – das lange gesuchte »Florigen«, das das Transkriptionsfaktor ist das homöotische Gen APETALA1
Signal von den Blättern über das Phloem an die Sprossspitze (AP1), das die Identität des Blütenmeristems spezifiziert und
weiterleitet. Die lichtabhängige Regulation des Transkriptions- für die Entwicklung der Sepalen und Petalen verantwortlich
faktors CO ist damit das Kernelement des photoperiodischen ist (Wigge 2011).
Signalweges zur Regulation der Blütezeit.
Der zweite wichtige Umweltfaktor, der zur Blütenentwicklung
* Wie oben schon kurz angedeutet, wirkt das FT-Protein als
Signal zwischen den Blättern und dem Sprossmeristem. Das
beiträgt, ist die Temperatur. Neben der Umgebungstemperatur
ist für viele Pflanzen eine längere Kälteperiode im Winter (in der
FT-Gen codiert dabei für ein Protein mit Ähnlichkeiten zu Regel zwischen 1 und 7 °C für eine Zeitdauer von 1–3 Monaten)
einem inhibitorischen Protein der Raf-Kinase (engl. Raf kinase Voraussetzung für eine Blüte im Frühjahr – dieser Effekt wird
inhibitory protein, RKIP; es wird auch als phosphatidylethanol- auch als Vernalisation bezeichnet (lat. vernalis = »frühlings-
amine binding protein bezeichnet, PEBP). Allerdings fehlen haft«). Meistens vergeht allerdings eine längere Zeitspanne
dem FT-Protein einige hochkonservierte Schlüsselaminosäu- zwischen dem auslösenden Temperaturereignis und dem tat-
ren, sodass die Funktion dieses Proteins lange unklar blieb. sächlichen Beginn der Blüte – die Pflanze muss sich also »daran
Neue Untersuchungen deuten darauf hin, dass FT im Spross- erinnern, dass Winter war«.
540 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

COOLAIR
(FLC antisense)

. Abb. 12.12 Die Regulation der FLC-Expression. In Pflanzen mit Vernalisation liegt das FLC-Gen zunächst in einem aktiven Zustand vor. Bei Einsetzen von
Kälte wird FLC durch die Expression seiner antisense-RNA (COOLAIR) inaktiviert, die etwas später durch die Wirkung der nicht-codierenden RNA COLDAIR
unterstützt wird; die Transkription von COLDAIR beginnt im 1. Exon des FLC-Gens. Nach dem Beginn der Vernalisation (später in der Kälteperiode) methy-
liert VIN3 Lysin-Reste des Histons H3 (H3K27me3, H3K9me, H3K4me2). Dieser vernalisierte Zustand wird später durch VRN1 und VRN2 aufrechterhalten,
auch wenn die Temperaturen wieder ansteigen. Die Regulatoren des autonomen Signalweges, FLD und FVE, kontrollieren ebenfalls die Methylierung von
Lysin-Resten des Histons H3. Zusätzliche Faktoren wie die RNA-bindenden Elemente Cst64 und Cst77 sowie die Regulatoren des autonomen Signalweges
FPA, FCA und FY sind an der Regulation der Konzentration der FLC-Transkripte beteiligt. Die relative Expression des FLC-Gens (schwarz) ist bei den verschie-
denen Kältezuständen dargestellt; im Vergleich dazu die Expressionsstärke der COOLAIR-RNA (rot), der COLDAIR-RNA (grün) und des VIN3-Proteins (orange).
FCA: FLOWERING CONTROL ARABIDOPSIS; FLD: FLOWERING LOCUS D; FVE: Gen für späte Blüte; HDAC: Histon-Deacetylase; VIN3: VERNALIZATION INSENSITI-
12 VE 3; VRN: VERNALIZATION; FPA, FY sind »Blüh«-Gene (engl. flowering) aus den systematischen Untersuchungen von Koornneef et al. (1991). (Nach Srikanth
und Schmid 2011, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

C Das Verständnis der genetischen Kontrolle des Blühens bei weg zur Regulation des Gens FLOWERING LOCUS C (FLC); wir
Pflanzen verdanken wir im Wesentlichen Botanikern, die kennen heute mehrere Mitglieder des autonomen Signalweges:
ab den 1950er-Jahren in verschiedenen Laboren zunächst an die Kontrollgene für die Blütenzeit FCA, FY, FPA, FVE, LUMINIDE-
den natürlichen Variationen von Arabidopsis arbeiteten. Später PENDENS (LD), FLOWERING LATE KH MOTIF (FLK) und FLOWERING
wurden diese Untersuchungen im Labor von Maarten Koorn- LOCUS D (FLD). Unter historischen Gesichtspunkten ist dabei
neef und seinen Kollegen in Wageningen durch die systemati- die Arbeit von Maarten Koornneef et al. (1991) besonders inte-
sche Hochdurchsatz-Erzeugung von Mutanten durch Rönt- ressant, da hier viele der Mutanten zuerst beschrieben sind,
genstrahlen und Chemikalien deutlich beschleunigt. Die Ent- die für das heutige Gesamtverständnis wichtig sind.
wicklung positionsabhängiger Klonierungen der mutierten
Gene, von neuen Techniken zur Insertionsmutagenese, er- Eine Reihe neuerer Arbeiten zeigt nun, dass Vernalisation zu
leichterte Transformationen, die Vielzahl gut charakterisierter einem epigenetischen Wechsel im klassischen Sinn des Wortes
natürlicher Varianten und umfangreicher Mutanten-Sammlun- führen kann: einer Veränderung, die auch in Abwesenheit des
gen sowie schließlich die vollständige Sequenzierung des Signals stabil bleibt. Ein wichtiges Gen in diesem Zusammenhang
Arabidopsis-Genoms haben die detaillierte Analyse der Blüten- ist FLC, das wir bereits kennengelernt haben: Es codiert für einen
kontrolle bei Arabidopsis entscheidend beschleunigt. Wir ha- MADS-Box-Transkriptionsfaktor und ist ein starker Repressor
ben daher heute eine Vorstellung von den Rahmenbedingun- der Blütenentwicklung (u. a. durch Repression der FT-Expres-
gen der genetischen Hierarchie, die in Arabidopsis das Blühen sion). In der ersten Wachstumsperiode verhindert eine hohe FLC-
kontrolliert, und wir haben Ideen, wie sich die Regulation zwi- Konzentration die Blüte – bis zur Vernalisation. Die FLC-Expres-
schen den verschiedenen Varietäten und Arten unterscheidet. sion wird durch ausgedehnte Kälteeinwirkung reprimiert, und
Das gilt natürlich auch für den Einfluss der Temperatur. So diese Repression von FLC wird für den Rest des Pflanzenlebens
definierten Mutanten, die sowohl mit langen als auch kurzen aufrechterhalten, auch wenn die Kälteperiode endet: Die »Erin-
Lichtperioden sehr spät blühen, den autonomen Signalweg, nerung an den Winter« manifestiert sich also als stabile Repressi-
der schließlich zur Regulation von FLC führt. Der spät blühen- on von FLC, und Vernalisation ist ein epigenetischer Wechsel in
de Signalweg wird jedoch durch Vernalisation überwunden, der FLC-Expression. Der »Winter-Code« für die Abschaltung von
sodass wir heute den autonomen Signalweg und den durch FLC liegt offensichtlich in einer Methylierung des Chromatins
Vernalisation induzierten Signalweg als Parallelwege betrach- im Bereich des FLC-Gens (Methylierung von Histon H3 an den
ten. In vielen Fällen ist der autonome Signalweg der Haupt- Positionen K9 und K27: H3K9 und H3K27; 7 Abschn. 8.1.3). Zu-
12.2 · Entwicklungsgenetik der Pflanze
541 12
. Abb. 12.13 Integration der verschiedenen Signalwege zur
Meristem Regulation des Blütezeitpunktes. In den Blättern wird Licht von
Photorezeptoren wie PhyA, PhyB, CRY1 und CRY2 aufgenommen
Altern und reguliert dadurch die Expression von Genen wie GI, FKF1
und CDF1, die alle direkt oder indirekt die CO-Expression beein-
flussen. Das CO-Protein ist ein Aktivator der FT-Transkription.
miR172 wird sowohl durch die zirkadiane Uhr als auch durch SPLs
reguliert, die wiederum durch miR156 beeinflusst werden. Ziel-
gene von miR172 sind Gene, die für Transkriptionsfaktoren der
AP2-Familie codieren und die für die Hemmung der FT-Transkrip-
tion in Blättern wichtig sind. Die verschiedenen Gene des auto-
Autonomer Weg, Tem-
nomen Signalweges regulieren FLC, einen Suppressor von FT und
Gibberellin-Weg peratur, Vernalisation
SOC1. Temperatur ist ein weiterer Umweltfaktor, der FLC beein-
flusst. FRI aktiviert FLC, während FLC durch die Histon-modifizie-
Photoperiodischer Signalweg renden Proteine VIN3 und VRN1/2 gehemmt wird, wodurch
schließlich das Blühen gefördert wird. Die Umgebungstemperatur
beeinflusst einen anderen Repressor von FT, nämlich SVP. Wenn
sich das Florigen FT von den Blättern zum Apex bewegt hat, akti-
viert es dort (mithilfe des bZIP-Transkriptionsfaktors FD) AP1
und SOC1. Im Gibberellin-Signalweg regulieren Gibberelline die
Expressionsniveaus der DELLA-Proteine, die umgekehrt miR159
reprimieren, einen Repressor von MYB. Die MYBs kontrollieren
positiv den LFY-Spiegel im Meristem. Die verschiedenen Signal-
wege werden also auf der Ebene von LFY, FT und/oder SOC1 inte-
griert. SOC1 und AGL24 regulieren sich wechselseitig und wirken
zusammen, um die LFY-Transkription zu aktivieren. TFL1 und LFY
hemmen sich gegenseitig; SOC1 aktiviert FUL, das auch ein Ziel-
gen der SPL-Proteine ist. Die Hemmung der SPLs durch miR156
Autonomer Weg stellt einen neuen Signalweg dar, der im Zusammenhang mit dem
Altern steht. SPL-Proteine aktivieren LFY, API, FUL und SOC1. Da-
mit aktivieren die verschiedenen Integratoren direkt oder indirekt
AP1 und markieren damit den Beginn der Bildung der Blüte. Alle
Gene sind grün, miRNAs rot und Proteine orange. Die aktivierende
oder hemmende Wirkung der Proteine ist durch Pfeile bzw. Quer-
Temperatur Vernalisation striche angedeutet. Gensymbole: CO: CONSTANS; FLC: FLOWERING
Blatt LOCUS C; FT: FLOWERING LOCUS T. Beteiligte Proteine: AP: APETALA;
CDF: CYCLING DOF FACTOR; COP: CONSTITUTIVE PHOTOMORPHOGENIC;
CRY: Cryptochrom; FKF1: FLAVIN-BINDING, KELCH REPEAT, F-BOX 1; FD: Interaktionspartner von FT; FUL: FRUITFULL; GI: GIGANTEA; LFY: LEAFY; PhyA/B: Phyto-
chrome A/B; SMZ: SCHLAFMÜTZE; SNZ: SCHNARCHZAPFEN; SOC: SUPPRESSOR OF OVEREXPRESSION OF CONSTANS; SPL: SQUAMOSA PROMOTER BINDING
PROTEIN-LIKE; SVP: SHORT VEGETATIVE PHASE; TEM: TEMPRANILLO; TFL: TERMINAL FLOWER; TOE: TARGET OF EAT; VIN: VERNALIZATION INSENSITIVE; VRN: VER-
NALIZATION. (Nach Srikanth und Schmid 2011, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

sätzlich zur Abschaltung durch Methylierung des Chromatins im Ein wichtiges Gen in diesem Kontext ist SHORT VEGETATIVE
Bereich des FLC-Gens spielen aber auch lange, nicht-codierende PHASE (SVP); es codiert für ein MADS-Box-Protein, das an die
RNAs eine wesentliche Rolle: COOLAIR und COLDAIR. COOL- Promotoren der Gene FT und SOC1 bindet und dadurch als ein
AIR ist eine »klassische« antisense-RNA, wohingegen COLDAIR Repressor der Blütenentwicklung wirkt. Es gibt außerdem Hin-
ein sense-Transkript ist, das vorübergehend zu Beginn der Verna- weise auf epigenetische Prozesse im Zusammenhang mit der
lisation exprimiert wird; der Startpunkt dieser RNA befindet sich Regulation des Blühzeitpunktes: arp6-Mutanten zeigen eine kon-
im ersten Intron. COLDAIR bewirkt, dass ein Bestandteil des stitutive Antwort auf warme Temperaturen. Das betroffene AC-
Polycomb-Komplexes an das FLC-Gen herangeführt wird und TIN RELATED PROTEIN 6 ist ein Kernprotein, das die Ent-
damit die Abschaltung des Gens besiegelt. Es sei an dieser Stelle wicklung einer Blüte verhindert, ohne die Expression von FLC zu
darauf hingewiesen, dass bei der Inaktivierung des X-Chromo- verändern. ARP6 ist Teil des Chromatin-Umformungskomple-
soms in weiblichen Säugern ähnliche Mechanismen wirksam xes und bewirkt, dass anstelle des Histons H2A das Histon H2A.Z
werden (lange, nicht-codierende RNAs und Einbeziehung von in die Nukleosomen eingebaut wird; H2A.Z bewirkt eine dichte-
Polycomb-Komplexen; 7 Abschn. 8.3.2). Einen Überblick über re Packung der Nukleosomen, die dadurch eine höhere Umge-
diesen Aspekt der Blütenentwicklung gibt . Abb. 12.12. bungstemperatur benötigen, um wieder entpackt zu werden – ein
Zu diesem »Winter-Code« kommen aber auch noch die Um- möglicher Mechanismus einer Temperatur-abhängigen Regula-
gebungstemperatur und die Gibberelline als Impulsgeber für das tion der Genexpression (Srikanth und Schmid 2011).
Blühen von Pflanzen. Es ist eine Alltagserfahrung, dass viele Die Gibberelline und die DELLA-Proteine sind uns bereits
Pflanzen bei wärmerer Umgebungstemperatur (z. B. 23–27 °C) bei der Bildung des Hypokotylhakens im Keimling begegnet –
eher blühen als in der Kälte (12–16 °C). Auch hier zeigen Mutan- und sie spielen auch bei der Blühinduktion eine wichtige Rolle.
ten, die in Bezug auf ihren Blühzeitpunkt nicht mehr auf Tempe- Sie aktivieren den Transkriptionsfaktor MYB, der wiederum das
raturunterschiede reagieren, den Weg zu den zentralen Faktoren. Gen LEAFY (LFY) aktiviert. Wie in . Abb. 12.13 gezeigt ist, ist
542 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

LFY ein zentrales Gen bei der Integration der verschiedenen 12.3 Entwicklungsgenetik des Fadenwurms
Signalkaskaden. Caenorhabditis elegans

*Blühen (und die darauffolgende Fruchtentwicklung) setzt


natürlich nicht nur Licht und angenehme Umgebungstem-
12.3.1 Embryonalentwicklung von C. elegans

peraturen voraus, sondern auch die Verfügbarkeit von Koh- Den Fadenwurm Caenorhabditis elegans haben wir bereits im
lenhydraten als Energielieferant. In den letzten Jahren hat 7 Abschn. 5.3.4 als einen wichtigen Modellorganismus der mo-
sich dafür Trehalose-6-phosphat (T6P) als wichtiger Indika- dernen Genetik kennengelernt. Die Embryonalentwicklung von
tor herausgestellt, das durch die TREHALOSE-6-PHOSPHAT C. elegans (. Abb. 12.14) verläuft sehr schnell – die Larve schlüpft
SYNTHASE 1 (TPS1) aus Glucose-6-phosphat und Uridindi- bei einer Inkubationstemperatur von 20 °C nach ca. 15 h. Aller-
phosphat-Glucose hergestellt wird. In den meisten Pflanzen dings erfordert die Reifung der verschiedenen Larvenstadien bis
findet man T6P nur in Spuren, sodass man heute vermutet, zum erwachsenen Tier dann noch einmal etwa 50 h.
dass T6P als Signalmolekül für die Pflanze dient und dabei Die Eizelle von C. elegans hat einen Durchmesser von 50 μm;
Informationen über die Verfügbarkeit von Kohlenhydraten die Polkörper bilden sich nach der Befruchtung. Bevor der
weitergibt. TPS1-Null-Mutanten sind letal; konditionale Mu- männliche und weibliche Zellkern verschmelzen, kommt es
tanten sind zwar lebensfähig, blühen aber sehr spät mit ste- schon zu einer unvollständigen Furchung; sie wird aber erst nach
rilen Blüten. Weitere Experimente deuten darauf hin, dass der Fusion vollendet. Diese erste Furchung verläuft asymmet-
TPS1 in den Blättern gemeinsam mit Licht für die Aktivie-
risch; dabei entstehen eine größere anteriore AB-Zelle und eine
rung von FT verantwortlich ist. Im apikalen Sprossmeristem
kleinere posteriore P1-Zelle (. Abb. 12.15). Bei der zweiten Tei-
ist TPS1 ebenfalls aktiv, und man vermutet dort eine Aktivie-
lung entsteht aus der AB-Zelle die anteriore ABa- und die poste-
rung des Blühsignals nur bei ausreichender Versorgung mit
riore ABp-Zelle, während aus der P1-Zelle die P2- und die EMS-
Kohlenhydraten (Wahl et al. 2013).
Zelle entsteht. Die EMS-Zelle entwickelt sich zu Epidermis, Mus-
> Verschiedene Umweltreize (Vernalisierung, Licht, Wärme) kel- und sensorischen Zellen weiter (Name!). In diesem Stadium
zusammen mit autonomen Signalwegen führen in den kann man bereits die Hauptachsen erkennen, da P2 posterior
Blättern zur Aktivierung des Florigens (FT), das als »Fern- und ABp dorsal liegt. Durch weitere Furchungen der AB-Zellen
transporter« dieses Signal in das Meristem weitergibt, wo entstehen vor allem Hypodermis (die Außenschichten des
sich dann unter dem Einfluss von Gibberellinen und ande- Wurms) und zu einem geringeren Anteil auch Muskulatur. EMS
12 ren Faktoren die Blüte entwickeln kann. teilt sich in E (entwickelt sich später zum Darm) und MS (ent-

. Abb. 12.14 Übersicht über die Embryonalentwicklung


von C. elegans. Es sind die wichtigsten morphogenetischen
Veränderungen in der Embryonalentwicklung von C. elegans
dargestellt; links in differenziellem Interferenzkontrast
(»Nomarski-Optik«), rechts schematisch. Die Ansicht auf den
Embryo ist von lateral oder ventral; die anteriore Seite ist
a immer links. Der Startpunkt ist die erste Furchungsteilung;
die Zeitangaben beziehen sich auf eine Kultur bei 20 °C.
a Gastrulation: Die ersten Zellen, die von der Bauchseite
nach innen wandern, sind Vorläufer der Eingeweidezellen,
b gefolgt von Vorläuferzellen des Mesoderms und der Keimbahn.
b Der Verschluss der ventralen Spalte erfolgt durch kleinräu-
mige Bewegungen der ventralen ektodermalen Zellen.
c Bildung der Epidermis und der dorsalen Interkalation: Die
c zwei Reihen der dorsalen epidermalen Zellen verschieben
sich zu einer einzigen dorsalen Zellreihe, was zu einer Verlän-
gerung der dorsalen Epidermis im Verhältnis zur ventralen
führt. d Ventraler epidermaler Einschluss durch Ausbreitung
d der epidermalen Zellschichten. e Vierfaches Längenwachstum
des Embryos; die Bildung der Cuticula beginnt ca. 650 min
nach der ersten Furchungsteilung. Das Längenwachstum
ändert die Form des Embryos nicht mehr wesentlich. (Nach
Chin-Sang und Chisholm 2000, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)

e
12.3 · Entwicklungsgenetik des Fadenwurms Caenorhabditis elegans
543 12
Zwitters sterben 131 in reproduzierbarer Art und Weise während
der Entwicklung zum erwachsenen Wurm ab (»programmierter
Zelltod«). Davon sterben 113 während der Embryonalentwick-
lung, und 98 Zellen von diesen 113 sind Nachfahren der ur-
sprünglichen AB-Zelllinie, die hauptsächlich die neuronale Zell-
population bilden. Eine Gesamtübersicht über die Zellgenealogie
des Fadenwurms gibt . Abb. 12.16b.
Wenn wir uns nun die molekularen Spieler in diesen Prozes-
sen ansehen wollen, so können wir bei C. elegans auf eine Reihe
von Mutanten mit charakteristischen Phänotypen zurückgreifen
(siehe Übersicht bei Rose und Kemphues 1998). Die erste Grup-
pe umfasst Mutationen, die für den Embryo letal sind und die
Gene betreffen, die in der Eizelle bereits exprimiert werden (ma-
ternale Gene). Eine Gruppe davon wird als Par-Gene bezeichnet
(partitions defective) und beeinflusst die Polarität der ersten Fur-
chungsteilung. Mutationen in einem der sechs Par-Gene führen
zu Änderungen in den frühen Teilungsmustern und zu einem
Stopp der Embryonalentwicklung, ohne dass sich die Gesamt-
zellzahl ändert. Durch die PAR-Proteine wird offensichtlich die
Verteilung von solchen Faktoren reguliert, die für die Etablie-
rung der Zellstammbäume notwendig sind (z. B. SKN-1 (skin in
exzess), GLP-1 (germline proliferation defective), PIE-1 (pharynx
and intestine in excess) und MEX-3 (muscle in excess)). Die PAR-
Proteine enthalten wichtige Motive für die intrazelluläre Signal-
gebung (z. B. Kinase-Aktivitäten, ATP-Bindungsstellen, PDZ-
Domänen), sie sind außerdem meistens an der Peripherie solcher
Zellen asymmetrisch verteilt, die sich asymmetrisch teilen. Sie
definieren damit nicht-überlappende anterior-posteriore Domä-
. Abb. 12.15 Die ersten beiden mitotischen Teilungen des C. elegans-Em- nen in der Zygote und in der P1-Zelle sowie dorso-ventrale Do-
bryos. Die maternalen (o) und paternalen (s) Vorkerne erscheinen üblicher- mänen in den P2- und P3-Zellen.
weise an den entgegengesetzten Polen der befruchteten Eizelle und wan-
Ein zweiter wichtiger Schritt ist der Aufbau der Zelllinien, die
dern dann so, dass sie sich am posterioren Pol treffen. Danach drehen sie
sich und bewegen sich in die Mitte, wobei die ersten mitotischen Spindelfa-
aus der EMS-Zelle hervorgehen. In genetischen Screens wurden
sern entlang der anterior-posterioren Achse gebildet werden. Die kleinere, unter anderem Gene identifiziert, die zu verstärkter Mesoderm-
posteriore Zelle teilt sich nach der größeren, anterior gelegenen Tochterzel- bildung führen (more mesoderm, Gensymbol: mom). Drei mom-
le. Die Spindel der AB-Zelle bleibt transversal, während sich die P1-Spindel Gene codieren für Mitglieder des Wnt-Signalweges: mom-2 ist
dreht, um mit der anterior-posterioren Achse übereinzustimmen. Die Bla-
homolog zu Wnt-2, mom-5 entspricht Mitgliedern der frizzled-
stomeren des 4-Zell-Stadiums definieren damit die dorso-ventrale Achse
(dorsal: ABp, ventral: EMS; anterior: links, ventral: unten). (Nach Lyczak et al.
Rezeptor-Genfamilie und mom-1 entspricht porcupine, das in
2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier) anderen Systemen eine Rolle bei der Wnt-Sekretion spielt. In
mom-Mutanten hat die E-Zelle dieselben hohen Konzentratio-
nen des Proteins POP-1 (posterior pharynx defective) wie die MS-
wickelt sich zu Muskeln, Drüsen und zu einem geringen Anteil Zelle. Das POP-1-Protein zeigt Homologie zu den LEF-1/TCF-
auch zu Neuronen). Aus P2 gehen P3 und C hervor: C bildet 1-Transkriptionsfaktoren, die im Wnt-Signalweg wichtig sind.
Muskeln, Hypodermis und Neuronen, und P3 teilt sich in P4 und Eine weitere Auswirkung der mom-Mutationen betrifft die Ori-
D. Während sich die D-Zelle ebenfalls zu Muskulatur weiterent- entierung der Spindelapparate und hat damit ebenfalls Konse-
wickelt, entstehen aus P4 die Keimzellen. quenzen für die Orientierung der Tochterzellen.
Auch im Weiteren ist das Geschick einer Zelle genau vorher- Ein dritter Signalweg, der uns auch später noch (Vulva-Ent-
bestimmt. Im 28-Zell-Stadium setzt die Gastrulation ein, sobald wicklung) und in anderen Organismen immer wieder begegnen
die Nachkommen der E-Zelle, die den Darm bilden, nach innen wird, ist der Delta/Notch-Signalweg. In apx-1-Mutanten (ante-
wandern. Die Embryonalentwicklung gilt mit dem Erreichen des rior pharynx in excess) bilden die Nachkommen der ABp-Zellen
»Brezelstadiums« und des daran anschließenden Schlüpfens der nicht ihren üblichen Phänotyp aus und produzieren stattdessen
Larve als beendet. Die frisch geschlüpfte Larve hat jetzt 558 Zell- Pharynxzellen mit anderen ABa-ähnlichen Zellen. Die moleku-
kerne. Eine Übersicht über die Zellgenealogie in der frühen Pha- lare Analyse dieses Gens hat gezeigt, dass es für ein Protein co-
se von C. elegans gibt . Abb. 12.16a. diert, das dem Delta-Protein bei Drosophila ähnlich ist. Delta ist
Eine Besonderheit, die wir schon an anderer Stelle (7 Abschn. ein Ligand des Notch-Rezeptors, und das homologe Gen für
5.3.4) und insbesondere im Zusammenhang mit Apoptose Notch ist Glp-1; das GLP-1-Protein ist an der Oberfläche beider
(7 Abschn. 5.2.2) kennengelernt haben, ist die definierte Zellzahl AB-Zellen lokalisiert. Daher arbeiten die beiden Proteine APX-1
des erwachsenen Wurms. Von den 1090 somatischen Zellen des und GLP-1 vermutlich als Signal und Rezeptor bei der Wechsel-
544 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

a . Abb. 12.16 Zellgenealogie von C. elegans. a Die frühe Abstammungs-


linie von C. elegans zeigt den Ursprung der sechs Gründerzellen und die
wichtigsten daraus entstehenden Organe, wie anteriorer und posteriorer
Pharynx, Darm und Rectum. Aus Gründen einer besseren Übersicht sind
weitere Organe, die von einigen wenigen Nachkommen der AB-, MS- und
C-Zellen gebildet werden, nicht dargestellt. b Die Abstammungslinien eines
Zwitters von C. elegans während der Embryonalphase und den vier Larven-
stadien. Die Gewebe, die während der Larvenstadien angelegt werden,
sind jeweils unten angegeben. Die Linien, die während der Larvenstadien
den Darm bilden, sind nicht dargestellt, da diese keine neuen Zellen pro-
duzieren. (a nach Maduro 2006, mit freundlicher Genehmigung von Wiley;
b nach Kipreos 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)

12
b

wirkung der P2- mit der ABp-Zelle, und die Spezifität der Wech- 12.3.2 Organentwicklung bei C. elegans
selwirkung wird durch die Lokalisation von APX-1 kontrolliert.
Die frisch geschlüpfte Larve ähnelt in ihrem Aufbau dem er-
> Die frühe Embryonalentwicklung von C. elegans läuft nach
wachsenen Tier; sie ist jedoch noch nicht geschlechtsreif. Die
einem genau festgelegten Teilungsschema seiner Zellen
postembryonale Entwicklung vollzieht sich im Laufe von vier
ab. Faktoren der Wnt- und Delta/Notch-Signalwege spie-
aufeinanderfolgenden Häutungen. Die Zellen, die jetzt beim rei-
len dabei eine wichtige Rolle.
fenden Tier dazukommen, stammen im Wesentlichen von der
posterioren P-Zelle ab. Diese Nachkommen sind als Vorläufer-
zellen entlang der Körperachse verteilt. Jede dieser Vorläuferzel-
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
545 12
hervor, die zu einer mehrkernigen hypodermalen Zelle ver-
a
schmelzen, die als hyp7 bezeichnet wird. Obwohl üblicherweise
die Entwicklungswege dieser sechs Vorläuferzellen P3p bis P8p
nicht verändert werden, hat eine Reihe genetischer und zellbio-
logischer Experimente (vor allem gezieltes Abtöten einzelner
Vorläuferzellen) gezeigt, dass alle sechs Zellen prinzipiell jeden
der drei Wege einschlagen können. Diese Zellen haben also das
b gleiche entwicklungsbiologische Potenzial.
Das initiierende und auch über das weitere Zellschicksal
entscheidende Signal zur Vulva-Entwicklung geht von einer
Zelle aus, die als Ankerzelle bezeichnet wird und über der Zelle
P6p liegt. Sie aktiviert durch den epidermalen Wachstumsfaktor
(engl. epidermal growth factor, EGF) in der P6p-Zelle eine Ras-
MAP-Kinase-Signalkette, sodass diese Zelle den primären Ent-
wicklungsweg einschlägt. Im nächsten Schritt zwingt die P6p-
Zelle die benachbarten Zellen P5p und P7p über die Aktivie-
rung eines Notch-ähnlichen Rezeptors in den sekundären Ent-
c
wicklungsweg und verhindert damit die Ausbildung mehrerer
Initiationszentren (laterale Inhibition). Störungen in diesem
Wildtyp Signalweg führen zur Ausbildung von Phänotypen, die ent-
weder keine Vulva besitzen (Vulvaless; Verlust des aktivieren-
den Signals der Ankerzelle) oder zusätzliche Vulvae ausbilden
(Multivulva; Verlust der lateralen Inhibition).
Multivulva
> Die Vulva entsteht durch schrittweise Differenzierung
von Vorläuferzellen, die zunächst das gleiche entwick-
lungsbiologische Potenzial haben. Dieser Prozess wird
Vulvaless durch den epidermalen Wachstumsfaktor (EGF) und eine
Ras-MAP-Kinase-Signalkette einerseits und laterale
. Abb. 12.17 Die Vulva-Entwicklung bei C. elegans. a In der seitlichen An-
sicht ist ein Hermaphrodit im 3. Larvenstadium gezeigt (anterior ist links
Inhibition andererseits gesteuert.
und ventral unten). Die Ankerzelle (engl. anchor cell, AC) befindet sich als
Teil der Gonaden oberhalb von P6.p. b Die Stammbäume der Zellen P3.p
bis P8.p wurden aus direkten Beobachtungen der Zellteilungen in lebenden
Würmern ermittelt. Die primären, sekundären und tertiären Zellen sind mit 12.4 Entwicklungsgenetik von
den entsprechenden Ziffern gekennzeichnet und wurden aufgrund der Ei- Drosophila melanogaster
genschaften ihrer Abkömmlinge charakterisiert. S: Fusion zur Bildung des
hypodermalen Syncytiums hyp7; L: Längsteilung und Anheftung an die Die Taufliege Drosophila melanogaster (7 Abschn. 5.3.5) ist einer
ventrale Cuticula; T: Transversalteilung und Ablösung von der ventralen Cu-
ticula; N: keine Teilung. Die gestrichelte Linie bei P3p deutet an, dass diese
der wichtigsten Modellorganismen der Genetik allgemein, aber
Teilung nur selten stattfindet. c Seitliche Ansichten ausgewachsener Her- auch der Entwicklungsgenetik. Die Forschung der letzten Jahre
maphroditen des Wildtyps sowie der Mutanten Multivulva und Vulvaless. hat uns gezeigt, dass viele grundlegende morphologische Prozes-
Die Stammbäume der einzelnen Zelllinien sind unter b angegeben. (Nach se bei der Ausbildung von Körperachsen, der Musterbildung und
Kornfeld 1997, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier) der Organentwicklung bei Drosophila von Genen gesteuert wer-
den, die auch in höheren Tieren und dem Menschen von ent-
len gründet eine eigene Zelllinie, die bis zu acht Zellteilungen scheidender Bedeutung sind. Von daher kommt Drosophila in der
durchläuft. modernen Entwicklungsgenetik eine zentrale Rolle zu. Im Fol-
Als Beispiel für diese weitere Differenzierung wird hier die genden sollen einige der wichtigsten Aspekte kurz und exempla-
Entwicklung der Vulva vorgestellt, die für die Reproduktion er- risch dargestellt werden; für weiterführende Darstellungen sei der
forderlich ist. Sie entsteht aus den Vorläuferzellen P5p, P6p und interessierte Leser auf die angegebenen Übersichtsartikel ver-
P7p (. Abb. 12.17). Diese drei Zellen gehören zu einer Gruppe wiesen.
von sechs hypodermalen Vorläuferzellen, aus denen primär P6p
ausgewählt wird, den Entwicklungsweg zu einer Vulva einzu-
schlagen. Aus dieser Zelle gehen acht Tochterzellen hervor, die 12.4.1 Keimbahnentwicklung bei Drosophila
zum Vulvagewebe beitragen. Die flankierenden Zellen P5p und
P7p schlagen den sekundären Entwicklungsweg ein und bringen Die wichtigsten grundlegenden morphologischen Eigenschaf-
nur sieben Tochterzellen hervor. Aus diesen insgesamt 22 Ab- ten eines Embryos werden bei Drosophila bereits während der
kömmlingen wird schließlich die Vulva gebildet. Oogenese festgelegt. Hierbei handelt es sich nicht nur um die
Die weiter außen liegenden Zellen P3p, P4p und P8p schla- Hauptachsen des bilateralsymmetrischen Körpers des Embryos
gen einen dritten Weg ein: Aus ihnen gehen je zwei Tochterzellen (also die anterior-posteriore und die dorso-ventrale Achse), son-
546 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Die Frage nach den Mechanismen, die solchen Induktions-


vorgängen zugrunde liegen, richtet sich im Wesentlichen auf
zwei Aspekte:
4 Wie wird eine differenzielle räumliche Verteilung von
Molekülen während der Oogenese erreicht?
4 Um was für Moleküle handelt es sich, und wie sind diese
Moleküle in der Lage, unterschiedliche Entwicklungswege
von Zellen zu induzieren?

Die Entwicklung der weiblichen Gameten von Drosophila, wie


die einiger anderer Insekten, weist einige Besonderheiten auf.
Die Oogonien (Urkeimzellen) entwickeln sich nämlich nicht
ausschließlich zu Oocyten, sondern ein Teil von ihnen bildet
Nährzellen (engl. nurse cells), die das Wachstum der Oocyten
unterstützen, wie ihr Name andeutet. Außerdem tragen zur Ent-
wicklung der Oocyten noch die somatischen Follikelzellen bei,
die ihren Ursprung in den somatischen mesodermalen Zellen
der Gonadenanlagen haben. Die Ovarien bestehen somit aus un-
terschiedlichen Zelltypen und werden auch als meroistische
Ovarien bezeichnet. Sie unterscheiden sich damit von den holis-
tischen Ovarien anderer Insekten, in denen sich alle Oogonien
zu Oocyten weiterentwickeln und das Ovarium somit überwie-
gend aus wachsenden Keimzellen besteht.
Ein Drosophila-Ovarium ist in ein Bündel von Ovariolen ge-
gliedert. In jeder Ovariole finden wir eine Reihe von Oocyten in
unterschiedlichen Entwicklungsstadien, die sich in jeweils ge-
trennten Eikammern befinden (. Abb. 12.18). Distal in jeder
12 Ovariole findet sich zunächst ein nicht weiter untergliederter
Bereich, der als Germarium bezeichnet wird. Am distalen Ende
des Germariums liegen die Stammzellen, die durch eine mitoti-
sche Zellteilung eine primäre Oogonie und eine neue Stammzel-
le bilden. Jede dieser Oogonien teilt sich weitere vier Mal. Damit
ist das Ende der mitotischen Aktivität der weiblichen Keimzellen
erreicht. Zu diesem Zeitpunkt beginnen sich einzelne Eikam-
mern auszubilden. Jede dieser Eikammern enthält alle 16 Zellen,
die sich von einer gemeinsamen primären Oogonie herleiten,
also klonalen Ursprungs sind. Eine dieser Zellen entwickelt sich
als Oocyte weiter, während die übrigen 15 Nährzellen bilden.
Innerhalb jeder Eikammer entwickelt sich mithin nur eine ein-
zige Oocyte zum Ei.
Da die Nährzellen sich von Oogonien ableiten, sind sie (im
. Abb. 12.18 Oogenese in einem Ovarialschlauch bei Drosophila. Die
weibliche Urkeimzelle (Oogonie) teilt sich in vier Mitosen in 16 Zellen, die
Gegensatz zu den Follikelzellen) ihrer Herkunft nach als Keimzel-
durch cytoplasmatische Schläuche miteinander verbunden sind. Eine dieser len anzusehen. Dieser ontogenetische Ursprung ist deshalb von
Zellen wird zur Oocyte und die 15 anderen zu Nährzellen. Während die Bedeutung, weil von diesen Zellen der überwiegende Teil der ge-
Oocyte zunächst diploid bleibt und erst später durch eine meiotische Tei- netischen Information für die Entwicklung der Oocyte geliefert
lung haploid wird, werden die Nährzellen polytän. Follikelzellen umgeben
wird. Das Oocytengenom selbst vollbringt nur eine geringfügige
die Nährzellen und die Oocyte. Die so entstandene Struktur schnürt sich
vom Keimstock ab und bildet eine Eikammer. Die nacheinander erzeugten
eigene RNA-Syntheseleistung. Die 15 Nährzellen sind untereinan-
Eikammern sind noch an ihren Polen miteinander verbunden. Die Oocyte der und mit der Oocyte durch cytoplasmatische Brücken verbun-
wächst, während ihr die Nährzellen über die cytoplasmatischen Brücken den. Die Lage der Oocyte in Bezug zu den Nährzellen wird durch
Material zuführen (z. B. Vitellogenine und Phosphovitine). (Nach Müller und ihre Entstehung während der Zellteilungen festgelegt und bleibt
Hassel 2012, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
im Laufe der Entwicklung erhalten. Sie liegt im proximalen Teil der
Eikammer (. Abb. 12.18), dehnt sich jedoch im Laufe der Entwick-
dern es werden gleichzeitig mit den Achsen auch die Hauptab- lung immer mehr in distaler Richtung aus und füllt am Ende ihrer
schnitte der Längsgliederung der Embryonen (Kopf, Thorax, Ab- Entwicklung die gesamte Eikammer, während die Nährzellen de-
domen) in ihrer relativen Position im Embryo vorprogrammiert. generieren. Die insgesamt etwa 1000 Follikelzellen umschließen
Erreicht wird dies durch eine lokalisierte Positionierung von anfänglich die gesamte Eikammer. Ab Stadium 8/9 der Oogenese
Molekülen im Cytoplasma des (unbefruchteten) Eis. beschränken sie sich jedoch darauf, die wachsende Oocyte zu um-
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
547 12
Stadien 2–6 Stadium 7 Stadium 8 Stadium 9

. Abb. 12.19 Die Wechselwirkung zwischen Keimbahn und Körperzellen etabliert die anterior-posteriore Achse bei Drosophila. In den Stadien 2–6 der
Oocyten-Entwicklung sind die Mikrotubuli der Keimbahn (rot) mit ihren Minus-Enden am posterioren Pol der Oocyte organisiert und ihre Plus-Enden ragen
bis in die Nährzellen hinein. Während dieser Stadien exprimiert die Oocyte das gurken-Gen (grün). Das GURKEN-Protein aktiviert den Rezeptor des epiderma-
len Wachstumsfaktors (EGFR) in den posterioren Follikelzellen (violett) und setzt damit eine Phosphorylierungskaskade in Gang (violetter Pfeil). Die Mikrotu-
buli in den Nährzellen werden abgebaut (gestrichelte rote Linien) und in der Oocyte neu aufgebaut (durchgezogene rote Linien). Der Zellkern wandert in die
anterior-dorsale Ecke. Im Stadium 8 werden die posterioren Mikrotubuli in der Eizelle abgebaut (gestrichelte rote Linien). Im Stadium 9 dirigieren die Mikrotu-
buli die mRNA von bicoid (blau) und von oskar (gelb) an den anterioren bzw. posterioren Pol der Eizelle und organisieren damit die spätere anterior-posteri-
ore Achse des Embryos. Der Zellkern in der anterior-dorsalen Ecke exprimiert erneut gurken (grün) und definiert damit die dorso-ventrale Achse. (Nach Stein-
hauer und Kalderon 2006, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

geben, um am Ende der Oogenese ebenfalls zu degenerieren. Einer Wichtige maternale Gene, die für die frühe Einrichtung der
der wichtigen Beiträge der Follikelzellen zur Entwicklung des Eis Körperachsen benötigt werden, sind bicoid, oskar und gurken
ist die Sekretion des Chorions, die mit einer Amplifikation der (7 Abschn. 12.4.3). Wir wollen uns die Festlegung in der Eizelle
Chorion-Gene in diesen Zellen verbunden ist, wie bereits früher während ihrer Reifung daher etwas genauer betrachten. Sie er-
dargestellt wurde (7 Abschn. 9.3.3, . Abb. 9.32). Außerdem liefern folgt während des mittleren Abschnitts der Oogenese (Stadium
sie wichtige Informationen für die Polarität des Embryos. 7–9; . Abb. 12.19) und benötigt dabei die Hilfe von Mikrotubuli.
In den Nährzellen werden aber nicht nur solche Gene expri- Mikrotubuli sind polare Cytoskelett-Proteine, die unter Ver-
miert, die für die Entwicklung der Oocyte wichtig sind, sondern brauch von ATP den Transport von Molekülen und Organellen
auch solche, die für die ersten Entwicklungsschritte der Eizelle über eine größere Distanz unterstützen. Der Auf- und Umbau des
nach der Befruchtung von Bedeutung sind. Entscheidend für ihre gerichteten Mikrotubuli-Gerüsts in den Nährzellen, die die Eizelle
Funktion ist es, dass sie zwar während der Oogenese transkribiert umgeben, ist in . Abb. 12.19 gezeigt. Mikrotubuli ermöglichen
werden, ihre eigentliche Wirkung aber erst im Embryo, also in den Transport von bicoid-mRNA an den anterioren Bereich und
den Nachkommen, ausüben. Für diese Wirkung ist daher aus- von oskar-mRNA (und später auch nanos) an den posterioren
schließlich die mütterliche genetische Konstitution entschei- Bereich der sich entwickelnden Oocyte. Außerdem erlaubt die
dend, während die genetische Konstitution dieser Gene im Em- Mikrotobuli-Umorganisation die Wanderung des Zellkerns der
bryo für dessen eigene Entwicklung ohne Bedeutung bleibt. Wir Oocyte vom posterioren Ende der Eizelle an ihren anterior-dor-
bezeichnen diese Gene als maternale Gene; im Gegensatz dazu salen Cortex. Dort wird gurken-mRNA exprimiert (und in diesem
werden die zygotischen Gene vom Embryo selbst exprimiert. Fall auch das Protein gebildet!); die entsprechende gurken-Kappe
Der Transport der mRNA aus den Nährzellen in die Oocyte über dem Zellkern definiert die dorsale Seite der Eikammer. Die
erfolgt offenbar mithilfe des Cytoskeletts der Nährzellen unter verschiedenen RNA-Moleküle bleiben auch nach dem weiteren
der Beteiligung von Myofibrillen und anderen Mikrofibrillen des Umbau der Mikrotubuli mit dem Cortex der Eizelle verankert,
Nährzellcytoplasmas. Dieser Transport bedarf der Mitwirkung um so eine Störung der Lokalisation zu vermeiden.
bestimmter Gene, zu denen unter anderem das Gen chickadee
gehört. L. Cooley und Mitarbeiter zeigten 1992, dass bei dem
Ausfall der Genfunktion von chickadee die Ausbildung des cyto- 12.4.2 Der frühe Embryo
plasmatischen Aktinnetzwerks unterbleibt, das unter anderem
die Nährzellkerne in einer festen Position verankert (Cooley et Nach der Befruchtung beginnt der Zygotenkern sich in schneller
al. 1992). Das Gen chickadee codiert für Profilin, ein Protein, das Folge in Abständen von etwa 8 min zu teilen und durchläuft zu-
für die Polymerisation von Aktin erforderlich ist. Durch die Stö- nächst sieben synchrone Kernteilungszyklen, ohne in diesem
rungen im Cytoskelett der Nährzellen wird der Materialtransport Entwicklungsabschnitt jedoch Zellen zu formen (Syncytium;
in die Oocyte weitgehend verhindert. . Abb. 12.20). Die hierdurch entstandenen 128 Zellkerne (auch
Energiden genannt) liegen, von einer dünnen Lage Cytoplasma
> Die Nährzellen stehen über cytoplasmatische Brücken unter- umgeben, im Dotter im Inneren des Eis. Sie teilen sich ein weite-
einander und mit der Oocyte in Verbindung. Sie liefern den res Mal (Teilung 8), und anschließend beginnen zwei bis sechs
überwiegenden Teil der genetischen Information, die zur der Tochterkerne dieser Teilung ins posteriore Cytoplasma des
Entwicklung der Oocyte benötigt wird. Bei den Genen, die Eis (auch Polplasma genannt) einzuwandern. Sie bilden dort die
für die Entwicklung des Embryos erforderlich sind, unter- Polzellen als Vorläufer der künftigen Keimzellen. Das Polplasma
scheidet man zwischen maternalen und zygotischen Genen. ist durch granuläre Partikel (engl. polar granules) vom übrigen
548 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Micropyle Kerne Zellmembran


Chorion syncytiales Blastoderm

a c
a b
Vitellophage
Wanderung der Kerne in die Eirinde Polzellen
zelluläres Blastoderm

cb dd

. Abb. 12.20 Frühe Embryonalentwicklung (Furchung) von Drosophila. a Nach der Verschmelzung der Zellkerne von Ei- und Samenzelle finden rasche
Kernteilungen statt, wobei sich keine Zellwände bilden. Dadurch entsteht ein Syncytium mit vielen Zellkernen in einem gemeinsamen Cytoplasma. b Nach
der 9. Teilung wandern die Zellkerne an die Peripherie und bilden das syncytiale Blastoderm (c). Einige Kerne bleiben im Dotter zurück; auch diese werden
später mit Zellmembranen umhüllt (Vitellophagen). d Nach etwa 3 h entstehen Zellwände (zelluläres Blastoderm). Etwa 15 Polzellen bilden eine abge-
trennte Gruppe am posterioren Ende des Embryos; daraus entwickeln sich später die Keimzellen (anterior: links; posterior: rechts). (Nach Müller und Hassel
2012, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

Cytoplasma unterschieden. Diese Granula enthalten die für gabe, jeweils spezifische zygotische Gene in ihrer embryonalen
die Keimzellinduktion verantwortlichen Moleküle (Keimbahn- Expression zu steuern. In der klassischen Embryologie hat man
determinanten). solche Genprodukte auch als morphogene Substanzen (oder
Alle übrigen, noch im Dotter liegenden Energiden entwi- einfach Morphogene) bezeichnet, da sie die Entwicklung be-
ckeln sich zu somatischen Zellen. Sie durchlaufen zunächst zwei stimmter morphologischer Muster regulieren. Wir haben oben
weitere Kernteilungen (Teilungen 9 und 10) und wandern dann schon bicoid, oskar, nanos und gurken kennengelernt, deren
– ausgenommen etwa 25 Kerne, die die Dotterzellen bilden – ins Genprodukte in der noch unbefruchteten Eizelle an bestimm-
12 periphere Cytoplasma. Hier bilden sie das aus einer Lage von ten  Stellen vorkommen und die Achsen vorherbestimmen. In
Kernen bestehende syncytiale Blastoderm ohne diffusionshem- . Tab. 12.1 ist eine Übersicht mit weiteren maternalen Genen und
mende Zellmembranen, innerhalb dessen sie durch Aktin-halti- einigen der ihnen zugeordneten Genfunktionen zusammenge-
ge Mikrofilamente und Tubulin-haltige Mikrotubuli gegeneinan- stellt. Die Tabelle lässt erkennen, dass für die strukturelle Längs-
der abgegrenzte Bereiche des Periplasmas besetzen. Es bilden gliederung des Embryos drei verschiedene Gruppen von Genen
sich jedoch noch immer keine Zellen, sondern es werden in die- erforderlich sind, zu denen jeweils ein Morphogen gehört. Diese
sem syncytialen Zustand zunächst drei weitere nahezu synchro- drei Gruppen von Genen bestimmen
ne Kernteilungen (Teilungen 11–13) durchlaufen, die an den 4 die anteriore Region,
Polen des Embryos einsetzen und von hier aus wellenförmig zur 4 die posteriore Region und
Mitte hin fortschreiten. Sie ergeben schließlich eine einschichtige 4 die Enden des Embryos (Akron- bzw. Telsonbereich).
Lage von 5000 bis 6000 Zellkernen in der Peripherie des Eis. Erst
zu diesem Zeitpunkt beginnt die Zellularisierung des Blasto- Eine weitere, vierte Gruppe von Genen ist für die Ausbildung der
derms durch die Ausbildung von Kernmembranen von der Peri- dorso-ventralen Achse des Embryos verantwortlich.
pherie des Eis her. Obwohl die Zellen zunächst noch zum Dotter Die Anzahl der beteiligten Gene in jeder dieser vier Gruppen
hin offen bleiben, spricht man nun vom zellulären Blastoderm. ist offensichtlich unterschiedlich. Bemerkenswert ist aber auch,
Es folgt eine weitere Kernteilung (Teilung 14), der sich schließ- dass diese Gengruppen unterschiedliche Mechanismen zur
lich die Gastrulation anschließt. Erst mit Beginn der Gastrula- Erfüllung ihrer Aufgaben gebrauchen, sodass wir sie getrennt
tion werden die inneren cytoplasmatischen Brücken zwischen betrachten müssen.
den Zellen endgültig geschlossen, und die Zellen erlangen ihre
> Die Längsgliederung des Embryos erfolgt durch Gen-
volle Individualität.
gruppen, die eine anteriore, eine posteriore Region und
> Nach einer Serie von Kernteilungen bildet sich im Droso- die terminalen Regionen festlegen. Eine vierte Gruppe
phila-Embryo zunächst ein syncytiales, dann ein zelluläres von Genen bestimmt die dorso-ventrale Achse.
Blastoderm mit einer einschichtigen peripheren Lage von
Ein Vergleich der verschiedenen Mechanismen wird uns erken-
Zellkernen bzw. Zellen.
nen lassen, dass einem Morphogen kein einheitlicher chemischer
Da sich im Drosophila-Embryo zunächst keine zelluläre Struktur Charakter und keine einheitliche Funktion zugeschrieben wer-
ausbildet, sondern das syncytiale Blastoderm lange erhalten den kann. Verschiedene Morphogene haben vielmehr unter-
bleibt, können die maternalen Gene ihre Funktion im Embryo schiedliche Wirkungsweisen, sodass auch ihre unterschiedliche
durch die ortsspezifische Lokalisation ihrer Genprodukte im molekulare Natur verständlich wird. Die Definition des Begriffs
Periplasma des Eis ausüben. Diese Genprodukte haben die Auf- Morphogen ist daher rein funktionell und bezieht sich auf die
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
549 12

. Tab. 12.1 Genetik der Eientwicklung in Drosophila: Determinan-


ten embryonaler Musterbildung

Embryonales Muster:

Termini Anterior Posterior Dorso-ventral

torsolike exuperantia (cappuccino) pipe

trunk swallow (spire) nudel

fs(1)Nasrat staufen staufen windbeutel

fs(1)pole hole bicoidb oskar gastrulation


defective

torsoa vasa snake

l(1)pole hole pumilio easter

capicuac hunchbackb spätzle

nanosb valois

tudor

mago nashi

Tolla

tube

pelle

cactus

Nach Johnston und Nüsslein-Volhard (1992); Jiménez et al. (2000)


a Gene der dorso-ventralen Achsendetermination und der Termini,

die das zum Signaltransduktionsweg gehörende Transmembranpro-


tein codieren
b Morphogene
c Wirkung durch tor-vermittelte Hemmung der Repression (tor: . Abb. 12.21 Morphologie embryonaler Mutanten von Drosophila mela-
target of rapamycin); vgl. 7 Abschn. 12.4.4 nogaster. Die obere Reihe zeigt schematisch die im Wildtyp (links) aufgrund
des Ausfalls in Mutanten identifizierten Regionen. Bei den Mutanten ist die
jeweils ausgefallene Region des Embryos farbig hervorgehoben: anterior
(links) mit Kopf (He) und Thorax (Th), posterior (Mitte) mit Teilen des Abdo-
Fähigkeit einer Substanz, ein Spektrum von Reaktionen zu indu- mens (Ab) und terminal (rechts) mit Akron (Ac) und Telson (Te). Die hellrote
zieren, die zur Entwicklung spezifischer Strukturen führen. Alle Färbung markiert den anterioren Bereich in bicoid-Mutanten, der sich zu
übrigen beteiligten Gene unterstützen die morphogenetischen einem Telson statt zu einem Akron entwickelt. Die mittlere Reihe zeigt die
bei den jeweiligen Mutanten gefundenen Phänotypen der Embryonen.
Funktionen eines Morphogens. Dieses skizzierte Modell der Links: Wildtyp, zweite von links: anteriore Mutation (hier: bicoid), zweite von
morphologischen Organisation eines Embryos geht davon aus, rechts: posteriore Mutation (hier: nanos) und rechts: terminale Mutation
dass es im Eicytoplasma eine positionelle Information gibt, die (hier: torso). Die untere Reihe zeigt die embryonalen Phänotypen einer drei-
für eine differenzielle Regulation zygotischer Gene sorgt und da- fachen Mutante (links) und von Doppelmutanten (alle übrigen), bei denen
durch die unterschiedliche Differenzierung der (späteren) Zellen Gene, die in den angezeigten Regionen normalerweise aktiv sind, mutiert
sind. Der Strich zeigt jeweils den Ausfall eines Gens an, das für die betreffen-
in verschiedenen Bereichen des Embryos steuert. Wir wollen de Region des Embryos erforderlich ist. A: anterior, P: posterior, T: terminal.
nun betrachten, um was für Moleküle es sich bei dieser positio- (Nach Johnston und Nüsslein-Volhard 1992, mit freundlicher Genehmigung
nellen Information handelt und wie sie die Regulation zygoti- von Elsevier)
scher Gene bewirken. Für die Aufklärung der genetischen Kon-
trolle der frühen Embryonalentwicklung von Drosophila erhielt
Christiane Nüsslein-Volhard zusammen mit Edward Lewis und schlaggebend ist, nicht jedoch der des Embryos. Das lässt sich
Eric Wieschaus 1995 den Nobelpreis für Medizin. experimentell dadurch belegen, dass Mutationen in maternal
aktiven Genen bei Homozygotie (im Falle rezessiver Mutatio-
nen) der Mutter (nicht jedoch des Vaters!) eine defekte Entwick-
12.4.3 Ausbildung der anterior-posterioren lung des Embryos verursachen.
Körperachse Solche Effekte zeigen z. B. Mutationen im Gen bicoid von
D. melanogaster. Im Falle maternaler Homozygotie von Nullmuta-
Der maternale Ursprung der genetischen Information für die tionen dieses Gens (bcd/bcd) fehlt dem Embryo der gesamte ante-
Organisation des anterioren Bereichs bedingt, dass der mütter- riore Bereich, der Kopf und Thorax umfasst. Es differenziert sich
liche Genotyp für die Entwicklung dieser Region im Embryo aus- allein das Abdomen zusammen mit den Termini (. Abb. 12.21).
550 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Ein solcher Befund besagt zunächst natürlich noch sehr wenig liegt. Im Falle der anterioren Region des Embryos war es für
über die tatsächliche Funktion des bicoid-Gens, da der Ausfall dessen Identifikation entscheidend, dass die Injektion von ante-
der anterioren Region auch ein indirekter Effekt sein könnte. riorem Cytoplasma aus unbefruchteten Wildtyp-Eiern in das
Diese Möglichkeit einer indirekten Wirkung scheint dadurch anteriore Ende eines Eis einer homozygot mutanten bicoid-Mut-
unterstrichen zu werden, dass auch durch Mutationen in drei ter den Ausfall der anterioren Region im Embryo weitgehend
anderen Genen – swallow (swa), exuperantia (exu) und staufen kompensieren kann, nicht jedoch die Injektion von Cytoplasma
(stau) – in den entsprechenden homozygot mutanten mütter- aus swallow-, exuperantia- oder staufen-Mutanten. Die Annah-
lichen Konstitutionen ganz ähnliche Defekte hervorgerufen wer- me einer morphogenen Wirkung des bicoid-Genproduktes im
den wie durch bicoid. Zugleich wird uns aber durch die Identifi- Eicytoplasma wird zusätzlich dadurch gestützt, dass eine Injek-
kation mehrerer Gene des gleichen embryonalen Phänotyps tion von anteriorem Cytoplasma aus Eiern von Wildtyp-Weib-
deutlich, dass es durch die Analyse von Phänotypen möglich chen auch in anderen Eiregionen eine Bildung von Kopfstruktu-
ist, Gruppen von Genen zu erkennen, die eine Rolle bei der ren induziert.
Entwicklung bestimmter morphologischer Strukturen spielen Weiterführende Informationen über den Charakter des bi-
(. Tab. 12.1). In unserem Beispiel lässt sich aufgrund der ver- coid-Genproduktes und seine Funktion ergab die Isolierung die-
gleichbaren Effekte der verschiedenen Mutationen annehmen, ses Gens und seine Nukleotidsequenzanalyse. Aus der Nukleotid-
dass insgesamt vier Gene (bicoid, swallow, exuperantia, staufen) sequenz des Gens war abzuleiten, dass es sich um ein Protein-
an der Organisation der anterioren Region des Embryos betei- codierendes Gen handelt. Das Protein wurde aufgrund seiner
ligt sind. Struktur als Transkriptionsfaktor der Homöoboxfamilie identi-
fiziert (. Abb. 7.18). Die Synthese von Proteinen dieses Gens in
> Die Mutantenanalyse zeigt, dass an der Organisation
Bakterien ermöglichte die Herstellung eines Antiserums. Durch
des Kopf- und Thoraxbereichs des Embryos eine Gruppe
die Verfügbarkeit der DNA des bicoid-Gens und von Antiserum
von vier Genen beteiligt ist, die bei Veränderungen
gegen das von ihm codierte Protein konnten die Synthese und
ihrer Funktion gleiche phänotypische Auswirkungen
Lokalisation der Genprodukte während der Oogenese und im
zeigen.
Embryo sowohl auf der mRNA-Ebene als auch auf der Protein-
Die funktionelle Abfolge der Funktionen der verschiedenen ebene analysiert werden (. Abb. 12.22). Diese Experimente be-
Gene einer solchen Gengruppe lässt sich durch die Überlegung wiesen, dass die mRNA des Bicoid-Proteins vom Stadium 6 bis 9
ermitteln, dass beim Vergleich zweier mutierter Gene das je- der Oogenese in den Nährzellen der Eikammer synthetisiert und
12 weils  übergeordnete Gen einen epistatischen Effekt über den von hier in den anterioren Bereich der Oocyte importiert wird.
Funktionszustand des untergeordneten Gens ausübt (7 Abschn. In der Oocyte bleibt die mRNA bis in die Embryonalentwicklung
11.3.3). Wird ein Genprodukt durch Mutation so verändert, dass hinein nachweisbar. Das Bicoid-Protein hingegen lässt sich im-
es seine normale Funktion auf Genprodukte, die in nachfolgen- munologisch erst vom Zeitpunkt der Ablage des befruchteten Eis
den Schritten erforderlich sind, nicht mehr ausüben kann, so ist an nachweisen. Besonders auffallend ist seine Verteilung im Ei:
eine Reversion dieser Mutation entweder durch Hinzufügen des Im syncytialen Blastoderm bildet dieses Protein einen deutlichen
funktionellen Genproduktes selbst oder durch geeignete Gen- Gradienten über etwa zwei Drittel der Eilänge mit seiner höchs-
produkte, die nachgeordnet funktionell sind, nicht aber durch ten Konzentration im anterioren Bereich des Embryos. Bemer-
zuvor benötigte Genprodukte möglich. kenswert ist auch die Lokalisation des Bicoid-Proteins: Bis zum
Bei der Untersuchung der Embryonalentwicklung von Dro- syncytialen Blastoderm befindet es sich im Cytoplasma, wandert
sophila haben wir besonders günstige Voraussetzungen für der- dann aber in die Zellkerne ein. Hier übt es seine eigentliche Wir-
artige Experimente vorliegen. Da während der gesamten Früh- kung als Transkriptionsfaktor aus, indem es zygotische Gene
entwicklung ein Syncytium ohne diffusionshemmende Zell- reguliert, die zur Ausbildung der anterioren Region des Embryos
membranen vorliegt, können Transplantationsexperimente erforderlich sind.
durch Injektion von Cytoplasma mit dem gewünschten Gen-
produkt durchgeführt werden. Sind diese Genprodukte in der C Wichtige Aufschlüsse über die Funktion der verschiedenen
Lage, den Effekt einer Mutation zu kompensieren, sprechen wir Gene, die an der Organisation des anterioren Bereichs des
von einer Rettung (engl. rescue) des Embryos. So kann im Falle Embryos beteiligt sind, hat die Analyse der Verteilung des
eines bei der Mutter defekten bicoid-Gens der Embryo durch Bicoid-Antigens in Embryonen aus homozygot mutanten
Injektion von Cytoplasma aus der anterioren Region eines Wild- exuperantia-, staufen- oder swallow-Müttern gegeben. In
typ-Embryos gerettet werden, in der das bicoid-Genprodukt vor- allen drei Fällen ist das Bicoid-Protein nicht mehr im anterio-
handen ist. ren Bereich des Eis lokalisiert, sondern findet sich im gesam-
ten Periplasma verteilt. Es hat sich zeigen lassen, dass diese
> Die Hierarchie in der Funktion von Genen lässt sich auf-
drei Gene für die anteriore Lokalisation der bicoid-mRNA
grund ihrer epistatischen Effekte ermitteln. Eine ausgefal-
verantwortlich sind.
lene Genfunktion kann durch Zugabe des betreffenden
Wodurch lässt sich beweisen, dass tatsächlich das bicoid-Gen
Genproduktes, z. B. durch Injektion (Cytoplasmatransplan-
das für die Ausbildung der anterioren Region verantwortli-
tation), gerettet werden.
che Morphogen ist, nicht aber eines der Gene swallow, exu-
Solche Injektionsexperimente sind für den Nachweis entschei- perantia oder staufen? Die zuvor beschriebenen Injektions-
dend, dass ein Genprodukt mit morphogenem Charakter vor- versuche mit anteriorem Cytoplasma zeigen ja nur, dass
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
551 12
. Abb. 12.22 Der Gradient des Morphogens Bicoid im Drosophila-Ei.
a bicoid-mRNA ist ausschließlich im anterioren Teil des Cytoplasmas der
Eizelle lokalisiert. b Nach der Befruchtung wird das Bicoid-Protein trans-
latiert und diffundiert nach posterior, wobei es einen Gradienten ausbildet,
der etwa 60 % der Länge des Embryos erfasst. c Hohe Konzentrationen
von Bicoid aktivieren die Transkription von orthodenticle im anterioren
Bereich des Embryos. d Bei niedrigerer Konzentration von Bicoid wird die
Transkription von hunchback aktiviert. (Beachte, dass der posteriore Strei-
fen von hunchback unter unabhängiger Kontrolle durch das terminale
System steht!) e Bicoid reprimiert die Translation von caudal-mRNA und
bewirkt damit einen umgekehrten Gradienten des Caudal-Proteins (von
posterior nach anterior). (Nach Ephrussi und Johnston 2004, mit freund-
licher Genehmigung von Elsevier)

in diesem Bereich des Eis Substanzen lokalisiert sind, die die > Das Morphogen der anterioren Region eines Drosophila-
Induktion anteriorer Strukturen verursachen, ohne diese Embryos ist das Bicoid-Protein, ein Transkriptionsfaktor
Substanzen selbst zu identifizieren. Die Antwort wurde durch der Homöoboxfamilie. Die mRNA von bicoid wird mithilfe
die Injektionen von bicoid-mRNA in Embryonen gegeben. der Genprodukte anderer maternaler Gene im anterioren
Sie zeigten, dass bicoid-mRNA ausreicht, um die Ausbildung Periplasma des Eis verankert. Nach ihrer Translation im
anteriorer Strukturen zu induzieren. Diese Induktion erfolgt Blastoderm bildet sich durch Diffusion ein Gradient des
nicht nur in der anterioren Region, sondern kann ektopisch Bicoid-Proteins.
beispielsweise auch in posterioren Embryobereichen erfol-
gen, wenn die Injektion hier erfolgt. Die Verteilung in Form eines Gradienten ist für die Funktion des
Warum aber werden dann in swallow-, exuperantia- und Bicoid-Proteins entscheidend. Bevor wir diese weiter verfolgen,
staufen-Mutanten keine anterioren Strukturen im gesamten wollen wir jedoch zunächst die Entwicklung in der posterioren
Eibereich ausgebildet, obwohl hier die bicoid-mRNA ja über Region der Oocyte und des Embryos bis zum Blastoderm be-
das gesamte Ei verteilt ist? Die Antwort liegt in der Art der trachten. Eine dem Bicoid-Protein vergleichbare Funktion als
Verteilung des Bicoid-Proteins: Seine Konzentration muss Morphogen hat das Gen nanos (nos) für den posterioren Bereich
einen bestimmten Mindestwert erreichen, um eine induk- (. Tab. 12.1). Dieses Gen ist das posteriore Morphogen und ver-
tive Wirkung zu erzielen. Mithin ist die Wirkung des Morpho- hält sich hinsichtlich seiner Lokalisation ganz analog dem bicoid-
gens konzentrationsabhängig. Gen: Die mRNA wird während der Oogenese in den Nährzellen
synthetisiert und im posterioren Abschnitt des Eis deponiert.
Aufgrund dieser (und anderer hier nicht erörterter) Befunde lässt Wie die bicoid-mRNA, so wird auch die nanos-mRNA im Cyto-
sich die Morphogenese der anterioren (also Kopf- und Thorax-) plasma der posterioren Eiregion verankert. Hierfür sind noch die
Region des Embryos zusammenfassend folgendermaßen be- Produkte weiterer Gene (. Tab. 12.1) notwendig, die auch die
schreiben: Während der Oogenese wird mRNA der swallow-, Bildung der Polzellen induzieren. Das Gen nanos codiert für ein
staufen- und exuperantia-Gene in den Nährzellen synthetisiert. Protein, das nach seiner Synthese einen Gradienten in anteriorer
Die Produkte dieser Gene sorgen für einen Transport der bicoid- Richtung bildet. Diese Verteilung scheint durch das pumilio-
mRNA durch die interzellulären Brücken in die Oocyte und für Genprodukt unterstützt zu werden. Im Gegensatz zum Bicoid-
deren Verankerung im Cytoplasma des anterioren Bereichs des Protein ist das Nanos-Protein jedoch kein Transkriptionsfaktor.
Eis. Diese Verankerung im Cytoplasma verhindert eine Diffu- Seine Wirkung ist vielmehr die eines Repressors, der die Trans-
sion der bicoid-mRNA im Ei. Erst nach der Fertilisation des Eis lation bestimmter mRNAs in der posterioren Region des Em-
beginnt die Translation der bicoid-mRNA. Das hierbei produ- bryos verhindert.
zierte Bicoid-Protein diffundiert nunmehr frei im Cytoplasma
und verbreitet sich dadurch in einem Gradienten mit abneh- > Am posterioren Pol des Eis bildet sich ein Proteingradient
mender Proteinkonzentration nach dem posterioren Pol des Em- des nanos-Genproduktes aus, der ebenfalls von maternalen
bryos zu. Genen während der Oogenese vorprogrammiert wird.
552 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

C Nach der Ermittlung der genetischen Elemente, die an der dass das Nanos-Protein, das posteriore Morphogen, ebenfalls
Entstehung der embryonalen Längsachse beteiligt sind, einen Gradienten, nun aber vom posterioren Ende des Embryos
müssen wir uns der Frage zuwenden, auf welchem Wege die in anteriore Richtung, ausbildet. Die Funktion des Nanos-Pro-
beteiligten Gene die Regionalisierung des Embryos bewir- teins unterscheidet sich allerdings grundsätzlich von der des
ken. Betrachten wir zunächst die Funktion des Bicoid-Prote- Bicoid-Proteins. Das Nanos-Protein wirkt als Repressor auf die
ins. Die Funktion dieses Proteins als Morphogen für die an- Translation von mRNA; Ziel dieser Translationskontrolle ist ins-
teriore Region des Embryos lässt sich dadurch demonstrie- besondere die mRNA des Gens hunchback (Struhl et al. 1992,
ren, dass man die Anzahl der Genkopien von bicoid in der Schulz und Tautz 1994). Die Transkription dieses Gens wird
Mutter erhöht: Der vom Bicoid-Protein erzeugte anterior- nämlich nicht allein durch den Bicoid-Gradienten im anterioren
posteriore Gradient verschiebt sich in Richtung auf das pos- Bereich des Embryos induziert, sondern hunchback wird bereits
teriore Ende des Embryos. Das resultiert im Embryo in einer während der Oogenese transkribiert, und man findet diese ma-
Verschiebung der anterioren Region nach hinten, wie sich ternale mRNA gleichförmig über den gesamten Embryo verteilt.
durch die Expressionsmuster zygotischer Gene, die in der Das Nanos-Protein dient offenbar dazu, die Translation von
anterioren Region transkribiert werden (. Tab. 12.1), zeigen hunchback-mRNA im posterioren Bereich des Embryos zu repri-
lässt. Zumindest zwei zygotische Gene stehen direkt unter mieren. Hierdurch wird wiederum die Transkription zweier
der Transkriptionskontrolle des Bicoid-Proteins (. Abb. zygotischer Gene – knirps und giant – ermöglicht, die für die
12.22). Eines dieser Gene ist das Gen hunchback (hb). Sein Differenzierung der posterioren Region erforderlich sind.
zygotisches Transkriptionsmuster entspricht dem des Die Entwicklung der posterioren Region des Embryos ver-
Bicoid-Proteingradienten: Es wird nur im anterioren Bereich läuft damit im Prinzip vergleichbar der der anterioren Region:
des Embryos aktiviert. Bei Fehlen des Bicoid-Gradienten Durch Bildung eines Gradienten in der Verteilung eines Mor-
(z. B. in bcd/bcd-Mutanten) wird das Gen zygotisch im ante- phogens (posterior: Nanos-Protein, anterior: Bicoid-Protein)
rioren Bereich des Embryos nicht transkribiert. Die Unter- wird eine positionelle Information erzeugt, die anschließend zur
suchung des hunchback-Gens hat erwiesen, dass das Gen differenziellen Aktivierung von Genen ausgewertet wird. Diese
mehrere Bicoid-Proteinbindungsstellen in seiner Promotor- späteren Effekte sind in der Übersicht der weiteren Entwicklung
region besitzt, die aber jeweils unterschiedliche Bindungs- des Drosophila-Embryos in . Abb. 12.24 und . Abb. 12.26 darge-
affinitäten für das Bicoid-Protein haben. Die Bindung von stellt.
Bicoid-Protein an die verschiedenen Promotorregionen ist
12 > Der nach posterior abfallende Konzentrationsgradient des
stark konzentrationsabhängig. Damit wird eine prinzipielle
Bicoid-Proteins und der nach anterior abnehmende Gradient
Funktion des Bicoid-Proteingradienten im Embryo deutlich:
des Nanos-Proteins bestimmen die räumliche Expression des
Bindungsstellen niedriger Affinität für ein regulatorisches
hunchback-Gens im Embryo durch Induktion und Repression.
Protein erfordern eine hohe Konzentration des betreffenden
Die Konzentrationsgradienten der Morphogene werden auf
Proteins, Bindungsstellen hoher Affinität eine niedrigere
diese Weise in Genexpressionsmuster umgesetzt.
Konzentration für dessen Bindung. Geht man davon aus,
dass es mehrere Gene mit Bindungsstellen unterschiedlicher
Affinität für das Bicoid-Protein gibt, so wird verständlich,
dass diese durch die unterschiedlichen Bicoid-Proteinkon- 12.4.4 Ausbildung der dorso-ventralen
zentrationen entlang dem Gradienten differenziell reguliert Körperachse
werden können. Mithin wird die kontinuierliche Verteilung
des Bicoid-Proteins in einem diffusionsbedingten Gradien- Einem vollständig anderen Prinzip der Funktion eines Morpho-
ten in ein diskretes Muster unterschiedlicher Genaktivitäten gens begegnen wir bei der Entwicklung der Termini des Embryos
umgesetzt. Der Gradient dient also dazu, eine bestimmte (Akron und Telson) und bei der Festlegung der dorso-ventralen
positionelle Information im Embryo zu schaffen, die in dif- Achse. Beide Differenzierungsprozesse machen von vergleichba-
ferenzielle Genaktivität umgesetzt wird. ren molekularen Mechanismen Gebrauch. Diese sollen im Fol-
Wenn eine solche positionelle Information, die in einem Gra- genden am Beispiel der Entwicklung der dorso-ventralen Achse
dienten niedergelegt ist, tatsächlich eine Bedeutung für die dargestellt werden.
Entwicklung des Embryos hat, müssen wir annehmen, dass Durch Veränderungen des Musters der dorso-ventralen
nicht allein hunchback durch das Bicoid-Protein reguliert wird, Morphologie in Mutanten konnte eine Reihe von Genen identi-
sondern noch weitere Gene mit zumindest teilweise unter- fiziert werden, die an der Entwicklung der dorso-ventralen Sym-
schiedlicher Affinität ihrer Promotorregionen zum Bicoid- metrie beteiligt sind (. Tab. 12.1). Ihre Mutation führt entweder
Protein. In . Tab. 12.1 sind weitere Gene aufgeführt, die für 4 zu einer Dorsalisierung oder
die Entwicklung der anterioren Region bedeutsam sind. 4 zu einer Ventralisierung des Embryos.

Das zuvor beschriebene Modell der differenziellen Genregula- Morphologisch lassen sich diese Effekte besonders gut durch die
tion durch eine Kombination unterschiedlicher Konzentrationen Untersuchung der ventralen Cuticula erkennen, da hier norma-
von Transkriptionsfaktoren mit Promotorregionen unterschied- lerweise Reihen von Dentikeln (Härchen) gebildet werden. Diese
licher Affinität lässt sich auch auf die Entwicklung der posterio- Cuticularborstenreihen sind in dorsalisierten Embryonen ver-
ren Region des Embryos anwenden. Wir hatten bereits gesehen, kürzt oder fehlen ganz. Anders als bei der Körperlängsachse
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
553 12
lassen sich solche Mutationen nicht durch die lokalisierte Trans-
plantation von Cytoplasma (oder durch Entfernen von Cytoplas-
ma) kompensieren. Das weist darauf hin, dass die Festlegung der
dorso-ventralen Achse im Gegensatz zur anterior-posterioren
Körperachse nicht durch cytoplasmatische lokalisierte Determi-
nanten im unbefruchteten Ei erfolgt.
Als wichtige genetische Elemente des dorso-ventralen Sys-
tems haben sich die Gene Toll und dorsal erwiesen. Beide sind
maternal in der Keimbahn exprimierte Gene. Ihre Funktion be-
darf weiterer maternaler Gene, von denen einige in den somati-
schen Zellen der Ovarien, den Follikelzellen aktiv sind. Das
Genprodukt von Toll hat sich als ein Transmembranprotein er-
wiesen, das als Rezeptor für ein lokalisiertes externes Signal in
der Eimembran vorhanden ist. Dieses Signal wird mittels des
Transmembranproteins ins Zellinnere übertragen und leitet die
spezifischen Genfunktionen ein, die zur Ausbildung der dorso-
ventralen Achse erforderlich sind. Die Lokalisation des Zielbe- . Abb. 12.23 Differenzierung der dorso-ventralen Achse des Drosophila-
reichs dieses Signals im Ei lässt sich aus dem Effekt von Mutati- Embryos. Querschnitt durch ein frühes Gastrulationsstadium. Die ventralen
onen von Toll ableiten. Funktionsverlust-Mutationen führen zu Zellen sind mit einem Antikörper gegen das Genprodukt von twist gefärbt;
twist codiert einen Transkriptionsfaktor mit einem Helix-Loop-Helix-Motiv,
dorsalisierten Embryonen, Mutationen mit einer Überexpres- der für die Mesodermentwicklung notwendig ist. Dieses zygotische Gen
sion dagegen zu ventralisierten Embryonen. Die Überexpres- wird, wie auch snail, seinerseits durch das Dorsal-Protein (ebenfalls ein Tran-
sions-Mutation bedarf also keines externen Signals, um die skriptionsfaktor) aktiviert. (Aus Leptin und Grunewald 1990, mit freund-
Übertragungsfunktion des Transmembranproteins auszuführen, licher Genehmigung der Company of Biologists)
sondern der Signaltransduktionsweg ist konstitutiv aktiviert. Das
normal wirksame Signal muss somit die ventrale Seite des Em-
bryos definieren. Damit stimmt der Effekt der Funktionsverlust- Der Lokalisationsmechanismus für das Dorsal-Protein unter-
Mutation von Toll überein. Hier entstehen dorsalisierte Embry- scheidet sich jedoch grundlegend von dem des Bicoid- und des
onen, d. h. das zur Entstehung der ventralen Seite notwendige Nanos-Proteins. Während die anterior-posterioren Determinan-
Signal kann durch das Fehlen des Toll-Transmembranproteins ten während der Oogenese in denjenigen cytoplasmatischen Re-
nicht mehr ins Zellinnere übertragen werden. Ligand des Toll- gionen niedergelegt werden, die ihrer Funktion im Embryo be-
Rezeptors ist ein Fragment des Genprodukts von spätzle. dürfen, erfolgt die endgültige Lokalisation von Dorsal-Protein
Auch das Gen dorsal wird während der Oogenese transkribiert am Ort seiner Wirkung erst im Blastoderm unter Vermittlung
und in ein Protein translatiert, das im gesamten Eicytoplasma bis eines Signaltransduktionsmechanismus. Nur die Dorsal-Protein-
zum syncytialen Blastoderm gleichförmig verteilt ist. Dann erfährt moleküle, die das Signal am Ende dieser Signaltransduktion
es eine auffallende Veränderung seiner Lokalisation. Im ventralen empfangen, sind fähig, ihre intranukleäre Position zu erreichen.
Bereich des Embryos wandert es in die Kerne ein, während es im Für die Funktion dieses Mechanismus sind nicht nur die Keim-
dorsalen Bereich im Cytoplasma verbleibt. Der molekulare Me- bahnkomponenten der Oogenese entscheidend, wie bei bicoid
chanismus für diesen Übergang vom Cytoplasma in den Zellkern und nanos, sondern auch die somatischen Follikelzellen. Auch
ist in seinen Grundzügen bekannt: Die Bindung des extrazellulä- diese weisen eine topologische Differenzierung auf, die es ihnen
ren Liganden (das Spätzle-Fragment) aktiviert den Transmem- gestattet, je nach ihrer Position relativ zur Oocyte den ventralen
branrezeptor Toll, was dazu führt, dass das Tube-Protein die cyto- Bereich des Embryos festzulegen. Das verdeutlicht, welche ent-
plasmatische Serin/Threoninkinase Pelle aktiviert. Die Pelle-Akti- scheidende Bedeutung die topologische Organisation des Ovars
vität wiederum kontrolliert den Abbau des Cactus-Proteins, das für die Entwicklung des Embryos hat.
mit dem Dorsal-Protein einen Komplex im Cytoplasma bildet. Die Entstehung der Termini der longitudinalen Achse des
Wenn Cactus in der Folge der Signalkette abgebaut wird, wird das Embryos (Akron und Telson) unterliegen einem vergleichba-
Dorsal-Protein frei und kann in den Zellkern eindringen, wo es die ren  Signaltransduktionsmechanismus wie die dorso-ventrale
Transkription spezifischer Zielgene reguliert. Hierzu gehören die Differenzierung. Im Falle der Termini funktioniert das Produkt
Gene twist und snail (. Abb. 12.23). Wie bicoid kann dorsal daher des Gens torso als Transmembranrezeptorprotein. Auch torso
als Morphogen angesehen werden. wird während der Oogenese transkribiert. Das Genprodukt
von torso-like hat sich als der Ligand des Torso-Rezeptor-
> Die dorso-ventrale Achse des Embryos wird mithilfe eines proteins erwiesen. Es wird von einer kleinen Gruppe von Fol-
Transmembranproteins und eines lokalisierten extrazellu- likelzellen an den Polen der Oocyte synthetisiert, in die Peri-
lären Signals in der Perivitellinflüssigkeit über einen vitellinflüssigkeit ausgeschieden und aktiviert an den Polenden
Signaltransduktionsmechanismus festgelegt. Das Signal den Rezeptor Torso, der gleichmäßig in der Plasmamembran
wird in den ventralen Follikelzellen der Eikammer gebil- verteilt ist. Der Ligand wird nach seiner Freisetzung nur über
det. Signalempfänger als Morphogen ist das (maternale) eine kurze Distanz diffundieren, da er durch die Bindung an
Dorsal-Protein im Eiperiplasma. die extrazelluläre Domäne des Rezeptors schnell weggefangen
554 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

wird. Durch diesen Mechanismus wird die Rezeptor-Tyrosin- Maternale Morphogen-


kinase-Aktivität von Torso nur an den beiden Eipolen stimu- Gradienten
z. B. nanos
liert,  die daraufhin eine Ras-Raf-Signalkaskade in Gang setzt. bicoid
Die Mitglieder dieser evolutionär stark konservierten Signal-
kette  sind wiederum Kinasen, die hier das Genprodukt von
Gapgene
capicua (Gensymbol: cic), einen Transkriptionsrepressor, so z. B. Krüppel
modifizieren, dass die zygotischen Gene tailless und huckebein
an den terminalen Bereichen des Embryos exprimiert wer-
den  können. Der Transkriptionsrepressor cic wird überall im
Embryo exprimiert und wirkt, wenn er nicht wie an den Enden Paarregelgene
z. B. even-skipped
durch das Torso-Signal gehemmt wird, zusammen mit Groucho
(Gro) als Repressor von tailless und huckebein (Jiménez et al.
2000).
> Auch die Termini des Embryos werden mithilfe eines
A8 A7 A6 A5
Signaltransduktionsmechanismus festgelegt, der von dem A4
Transmembranprotein des Gens torso und seinem Ligan- A3
den (Gen: torso-like) Gebrauch macht. Der Ligand wird in
Segment- A2
Follikelzellen gebildet, die an den Eipolen liegen. Durch polaritätsgene A1
T1 T2 T3 Hox-Gene
Torso, eine Rezeptor-Tyrosinkinase, wird ein Trankriptions- z. B. engrailed
wingless z. B. Ultrabithorax
repressor, Capicua (Gen: cic), gehemmt, sodass die zygo- abdominal A
tischen Gene tailless und huckebein spezifisch an den Ter-
mini exprimiert werden können.

Die Darstellung der Achsenentwicklung des Drosophila-Em-


bryos hat uns gelehrt, wie eine kleine Gruppe von etwa 30 Genen
eine positionelle Information im Ei aufbauen kann, die die Ent- T1 T2 T3 A1 A2 A3 A4 A5 A6 A7 A8
wicklung des Embryos in seinen Grundcharakteren festlegt. Die
Thorax Abdomen
12 Interaktion dieser Gene resultiert in der Bereitstellung spezieller
Transkriptionsfaktoren, die spezifische Muster von Genaktivitä- . Abb. 12.24 Genetische Grundlage der Segmentierung von Drosophila.
In einer hierarchischen Folge werden durch Gradienten maternaler Mor-
ten im Embryo induzieren und damit seine weitere Entwicklung
phogene zunächst die Gapgene, dann die Paarregelgene und schließlich
festlegen. Die Aufklärung dieser grundlegenden Vorgänge biolo- die Segmentpolaritätsgene aktiv. Sie untergliedern den Embryo in stets
gischer Entwicklungsprozesse wurde durch die beeindruckende kleinere Untereinheiten. Als Beispiele für maternale Morphogene sind die
Kombination genetischer, morphologischer, cytologischer und Verteilungsmuster der Aktivitätszonen von nanos (blau) und bicoid (lila)
molekularer Techniken möglich. Obwohl die hier dargestellten angegeben. Gapgene werden durch Krüppel (grün) repräsentiert und Paar-
regelgene durch even-skipped (rot). Als Segmentpolaritätsgene sind die
Mechanismen speziell den Drosophila-Embryo betreffen, kön-
Aktivität von engrailed (hellblau) und wingless (gelb) dargestellt, die in einem
nen wir annehmen, dass vergleichbare Mechanismen auch bei gegeneinander versetzten Muster zur Ausprägung kommen. Die Hox-Gene
der Embryogenese anderer Organismen eine grundlegende Rol- werden durch Ultrabithorax (rosa) und abdominal A (violett) repräsentiert.
le spielen. Segementpolaritätsgene und Hox-Gene wirken zusammen, um die Diffe-
renzierung in den Segmenten der zukünftigen Larve zu steuern. (Nach
Sanson 2001, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

12.4.5 Segmentierung bei Drosophila


Der Embryo von Drosophila wird stufenweise in kleinere Längs-
In den vorangegangenen Abschnitten haben wir uns mit der einheiten unterteilt, deren niedrigstes Niveau die Segmente sind
Entstehung der positionellen Information für die embryonalen (. Abb. 5.36). Segmente sind die charakteristischen Bauelemente
Achsen beschäftigt. Nun wollen wir uns der Frage zuwenden, des Grundbauplans der Articulata. In der hierarchischen Folge
welche Aufgaben diese positionelle Information im Embryo im sind für die Längsgliederung des Embryos folgende Gengruppen
Einzelnen erfüllt. Wir haben gesehen, dass die Verteilung des verantwortlich (. Abb. 12.24):
Bicoid- und des Caudal-Proteins im syncytialen Blastoderm 4 Für die grobe Untergliederung des Embryos sind die
(. Abb. 12.22) durch ihre jeweiligen Konzentrationen drei Gapgene (engl. gap = Lücke) zuständig, da ihr Ausfall zu
Regionen des Embryos definieren: jeweils spezifischen strukturellen Lücken in der anterior-
4 eine anteriore, die durch eine hohe Konzentration des posterioren Organisation des Embryos führt.
Bicoid-Proteins gekennzeichnet wird, 4 Die Längseinheiten in der Größe von Doppelsegmenten
4 eine posteriore mit einer hohen Konzentration des Nanos- werden durch Paarregelgene (engl. pair rule genes)
Proteins und definiert.
4 eine mittlere Region, die durch niedrige Konzentrationen 4 Gene, die die Segmentstruktur festlegen, werden als
(oder Abwesenheit) dieser beiden Proteine charakterisiert Segmentpolaritätsgene bezeichnet (engl. segment polarity
ist. Welche Bedeutung hat diese Verteilung? genes).
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
555 12

a b c

. Abb. 12.25 Expression verschiedener zygotischer Gapgene im frühen Drosophila-Embryo. Die Expression der Gene im Wildtyp-Embryo ist durch in-situ-
Hybridisierung dargestellt. a Das Gen hunchback ist im anterioren Bereich und in einer begrenzten posterioren Region des Embryos aktiv. b Das Gen Krüppel
ist in einer mittleren Region des Embryos aktiv. c Das Gen knirps ist in einem mittleren Bereich, etwas posterior von Krüppel, aktiv. (Fotos: Diethard Tautz, Plön)

> Der Drosophila-Embryo wird unter der Kontrolle verschie- Diese Region entspricht der Region des Embryos mit den nied-
dener Gruppen von Genen allmählich in Segmente unter- rigsten Konzentrationen von Bicoid- und Nanos-Protein. Diese
teilt. Diese bilden die Grundstruktur des Körpers für die beiden Proteine wirken offenbar als Repressor von Krüppel: Die
weitere Differenzierung. Expression von Krüppel wird sowohl durch das Bicoid-Protein
als auch durch das Nanos-Protein unterdrückt. Die Aktivierung
Gapgene und Repression von Krüppel steht zudem unter der Kontrolle des
Gapgene (Lückengene) haben ihre Bezeichnung daher erhalten, vom Hunchback-Protein geformten Gradienten. Die Hunch-
dass bei Ausfall dieser Gene (loss-of-function-Mutationen) be- back-Proteinkonzentration nimmt auch Einfluss auf andere
stimmte Regionen des Embryos nicht ausgebildet werden. Zu Gapgene. Damit wird das Hunchback-Protein selbst zum Mor-
den Gapgenen gehören die folgenden sechs Gene, deren Muta- phogen, das die Expression anderer Gene konzentrationsabhän-
tion zum Fehlen oder der abnormalen Entwicklung der dabei gig reguliert. Die Expression einiger Gapgene wird durch in-situ-
vermerkten Regionen des Embryos führt: Hybridisierungen sichtbar (. Abb. 12.25).
4 hunchback (hb): Deletion von Kopf und Thorax;
> Gapgene codieren Transkriptionsfaktoren, deren Lokali-
4 Krüppel (Kr): Deletion von Thorax und vorderen Abdomi-
sation und Aktivität durch die Konzentration der anterior-
nalsegmenten;
posterioren Achsendeterminanten (Morphogene) und
4 knirps (kni): Deletion des Abdomens;
durch gegenseitige Repression bestimmt wird. Sie erzeu-
4 giant (gt): Kopf und Abdomendefekte;
gen eine grobe Untergliederung der Längsachse des
4 tailless (tll): Defekte der Termini;
Embryos.
4 huckebein (hkb): Defekte der Termini.
Wir erkennen aus diesem vereinfacht wiedergegebenen Regula-
Alle diese Gene codieren für Transkriptionsfaktoren. Das von tionsmodell, dass im Embryo eine intensive Verknüpfung ver-
kni codierte Protein trägt eine Leucin-Zipper-Region, die von schiedener regulativer Genfunktionen erfolgt. Wie schon bei den
anderen Transkriptionsfaktoren her bekannt ist. Die übrigen primären maternalen Achsendeterminanten, so ist auch bei den
fünf Gene gleichen dem Transkriptionsfaktor TFIIIA und be- zygotischen Gapgenen festzustellen, dass die Proteinkomponen-
sitzen als DNA-bindende Region einen Zinkfinger-Bereich ten, die von ihnen codiert werden, einer gewissen Diffusion im
(. Abb. 7.18). Cytoplasma des syncytialen Blastoderms unterliegen. Die Ab-
Die Analyse der Funktion der Gapgene beruht vor allem auf grenzung der verschiedenen, von ihnen kontrollierten Regionen
der Untersuchung der Auswirkungen von Mutationen in den be- des Embryos ist daher nicht sehr scharf. In diesen Grenzregionen
treffenden Genen und auf der Transplantation von Cytoplasma. kommt es zu Interaktionen zwischen den verschiedenen Tran-
Sie hat das folgende, hier nur grob umrissene Bild ihrer Wirkung skriptionsfaktoren mit den durch sie regulierten Genen. Diese
im frühen Embryo ergeben. Es soll am Beispiel von hunchback Interaktionen sind für die endgültige Festlegung der Grenzen der
und Krüppel dargestellt werden, wie es vor allem von Herbert verschiedenen strukturellen Bereiche des Embryos wichtig.
Jäckle und Mitarbeitern erarbeitet wurde (Übersicht in Rivera- Es soll noch erwähnt werden, dass für die Organisation der
Pomar und Jäckle 1996). Abdominalsegmente, die nicht unter der Kontrolle des Krüppel-
Die Expression von hunchback wird nach dem 10. Kerntei- Gens stehen, das Gen knirps (kni) verantwortlich ist, das die Ent-
lungszyklus im Embryo durch das Bicoid-Protein induziert, wie wicklung der Abdominalsegmente 7 bis 12 kontrolliert.
man es von diesem Protein in seiner Eigenschaft als Transkrip-
tionsfaktor erwartet. Die Transkription erfolgt nur im vorderen Interaktion zwischen Gap- und Paarregelgenen
Bereich des Embryos, der dem Bereich des anterioren Bicoid- Mutationen in Paarregelgenen führen zum Verlust der Hälfte
Gradienten entspricht (. Abb. 12.21). Zusätzlich erfolgt noch aller Segmente. Das bedeutet, dass Paarregelgene die Ausbildung
eine Transkription im posterioren Bereich des Embryos, die jedes zweiten Segmentes kontrollieren. Hierbei fehlen in Mutan-
durch das Gen torso induziert wird. Die Expression von Krüppel ten jeweils die Segmente, in denen das mutierte Paarregelgen
hingegen ist auf einen mittleren Bereich des Embryos beschränkt. normalerweise zur Ausprägung kommt. Die meisten, wenn nicht
556 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

c
knirps-Expression giant-Expression Segmentierungsmuster

Wildtyp

caudal-

12
caudal-/bicoid-

. Abb. 12.26 Beispiele der musterbildenden Genexpression bei Drosophila, die zur Segmentierung führt. Der anteriore Teil der Embryonen ist jeweils links
und dorsal oben. a Muster von Bicoid (rot) und Caudal (grün) und ihre Verteilung entlang der anterior-posterioren Achse im präblastodermalen Embryo.
b Beispiel der Expression von Gapgenen (knirps, kni; links) und Verteilung der verschiedenen Transkriptionsfaktoren, die durch Gapgene codiert werden,
entlang der Längsachse (zusätzlich zu den schon vorhandenen Gradienten; grau gestrichelt, rechts). c Expression eines Paarregelgens (hairy, h), das eine Serie
von sieben Streifen im gleichen Abstand entlang der anterior-posterioren Achse hinzufügt (rechts). Die schon vorher angelegten Gradienten sind grau ge-
strichelt. d–l Die Analyse von Mutanten war von besonderer Bedeutung (z. B. von caudal- und bicoid-defizienten Mutanten). Expression der Gapgene kni und
giant (gt) im Wildtyp (d, e), in caudal-Mutanten (g, h) sowie in caudal(cad)-bicoid(bcd)-Doppelmutanten (j, k). Präparationen der Cuticula zeigen das Wildtyp-
Muster (f), den Phänotyp der cad-Mutante (i) und den Verlust der Segmentation in Embryonen ohne cad- und bcd-Aktivität (l). Beachte in i die Bildung der
abdominalen Segmente in der cad-Mutante aufgrund der Aktivierung der posterior wirksamen Gene durch Bicoid. hb: hunchback; hkb: huckebein; Kr: Krüppel;
tll: tailless. (Nach Niessing et al. 1997, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

alle Paarregelgene codieren wie die ihnen übergeordneten Gap- dene Zellen sind durch ihre jeweils spezifische Kombination von
gene wiederum Transkriptionsfaktoren. Jedes Paarregelgen Regulationssignalen individuell gekennzeichnet.
wird durch bestimmte Gapgene in seiner Transkription kontrol- Die Ausbildung der Expressionsstreifen wird nicht allein
liert. Die Aktivierung der verschiedenen Paarregelgene erfolgt durch die Konzentration der Gapgenprodukte gesteuert, sondern
für unterschiedliche Paarregelgene phasenverschoben relativ gleichzeitig auch durch gegenseitige Repression der Paarregel-
zum Segmentmuster, sodass ihre Wirkungsbereiche insgesamt genprodukte. So regulieren die primären Paarregelgene hairy (h),
15 solcher embryonalen Regionen definieren (. Abb. 12.24). even-skipped (eve) und runt (run) die Paarregelgene paired (prd)
Primäre Zielgene der von den Gapgenen codierten Transkrip- und fushi tarazu (ftz). So kontrolliert das Genprodukt von even-
tionsfaktoren sind die Paarregelgene hairy (h), even-skipped (eve) skipped die Expression von fushi tarazu. Aktivierungs- und Inhi-
und runt (run). Deren Promotoren können durch unterschiedli- bitionseffekte der Paarregelgene und der Gapgene zusammen
che Konzentrationen der Transkriptionsfaktoren differenziell re- ermöglichen die Bildung von Zonen alternierender Genexpres-
guliert werden, sodass hierdurch eine regionale Feinregulation der sion der Paarregelgene und führen gleichzeitig zu einer Ver-
Genexpression möglich wird. Die Bildung von Diffusionsgradien- schärfung der gegenseitigen Abgrenzungen der Wirkungsberei-
ten der Transkriptionsfaktoren im Cytoplasma ermöglicht also bei che dieser Gene. Einen Eindruck von der Präzision dieses Regu-
unterschiedlichen relativen Konzentrationen der verschiedenen lationsmechanismus vermittelt die longitudinale Ausdehnung
Proteine unterschiedliche Induktionsmuster der Gene. Verschie- der verschiedenen Expressionsbereiche. So umfasst der endgül-
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
557 12
a b c d e f

. Abb. 12.27 Modellierung des Netzwerks der Genregulation im Drosophila-Embryo an fünf Zeitpunkten. a Beobachtete Expression von bicoid (bcd), caudal
(cad) und tailless (tll), die nicht modelliert wurden, aber als exogene Einflussgröße auf die Expression der Lückengene des Rumpfes zugelassen wurden.
b Beobachtete Expression der Lückengene des Rumpfes. c–f Simulierte Expression der Lückengene hunchback (hb), Krüppel (Kr), knirps (kni) und giant (gt) bei
verschiedenen Rechenmodellen (Unc-GC, Unc-Logic, RPJ-GC und RPJ-Logic). Die horizontale Achse gibt jeweils die anterior-posteriore Position an (zwischen
35 % und 92 % der Länge des Embryos). Die vertikale Achse repräsentiert die relative Proteinkonzentration an fünf Zeitpunkten. g Schematische Darstellung
eines kombinierten Netzwerk-Modells. Die umrahmten Proteinsymbole repräsentieren die Expressionsdomänen der Lückengene im Rumpf (die Endungen
»a« und »p« unterscheiden die anteriore und posteriore Expressionsdomäne). Pfeile deuten Aktivierungen an, stumpfe Enden dagegen eine Hemmung. (Nach
Perkins et al. 2006)

tige Aktivitätsbereich der Gene even-skipped und fushi tarazu nur


jeweils etwa drei Zellen in longitudinaler Richtung bei einer ge-
*Die Musterbildung in den frühen Embryonalstadien von
Drosophila kann aber auch als intellektuelle Herausforde-
samten Segmentlänge von fünf Zellen. rung verstanden werden, die vorhandenen genetischen
In . Abb. 12.26 sind die Zusammenhänge zwischen maternal Daten mit weiteren zellbiologischen, biochemischen und
codierten Transkriptionsfaktoren, Gap- und Paarregelgenen so- biophysikalischen Daten zusammenzuführen und die
wie das Wechselspiel mit anderen, terminalen Regulationsfakto- biologischen Prozesse mathematisch zu modellieren. Wenn
ren im Zusammenhang dargestellt. Dabei wird die hierarchische diese mathematischen Modelle die experimentellen Be-
Struktur des genetischen Netzwerks deutlich, die letztlich zu funde gut nachbilden, kann man davon ausgehen, dass die
einer klaren morphologischen Struktur führt. Von besonderer Vorstellungen über die grundlegenden biologischen Pro-
Bedeutung für die Charakterisierung der einzelnen Gene und zesse wohl weitgehend richtig sind. Ergeben sich aber deut-
ihrer Stellung innerhalb der Kaskade war die detaillierte Analyse liche Unterschiede, so lassen sich daraus Hinweise für weite-
von Mutanten. Die frühe Embryonalentwicklung von Drosophila re, notwendige Experimente ableiten. In . Abb. 12.27 ist
ist damit zu einem Paradigma der modernen Entwicklungsgene- eine solche Modellierung für verschiedene Lückengene
tik geworden, und es wird sich zeigen, inwieweit diese Mechanis- dargestellt.
men auch bei der Entwicklung höherer Organismen anzutreffen
sind. Segmentpolaritätsgene
Die Segmentpolaritätsgene haben die Aufgabe, das Zellmuster
> Die unter der Transkriptionskontrolle der Gapgene ste-
innerhalb eines Segmentes zu kontrollieren. Demgemäß führen
henden Paarregelgene erzeugen das segmentale Muster
Mutationen in diesen Genen auch zu Deletionen, Duplikationen
des Embryos. Hierbei spielen Interaktionen dieser Gene
oder zu veränderten Polaritätsmustern der Zellen innerhalb
untereinander und mit Gapgenen eine Rolle und führen
eines Segmentes.
zur Präzisierung des Segmentierungsmusters.
Die Segmentspolaritätsgene stehen unter der Regulations-
kontrolle der Paarregelgene. Ihr embryonales Genaktivitätsmus-
ter lässt sich durch in-situ-Hybridisierung am Embryo besonders
558 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Es soll noch darauf hingewiesen werden, dass die genetische


Analyse der Funktion von engrailed dazu geführt hat, eine zur
klassischen Aufteilung des Insektenkörpers in Segmente, die im
Wesentlichen auf morphologischen Kriterien beruht, alternative
Untergliederung als Grundprinzip der Längsgliederung vorzu-
stellen. Die Parasegmente bestehen aus dem posterioren Teil
eines Segmentes und dem anschließenden anterioren Teil des
folgenden Segmentes.
In . Abb. 12.29 ist ersichtlich, wie diese Signalkaskade wirkt:
In schmalen Streifen an beiden Seiten der Grenze der Paraseg-
a
mente findet man Zellen, die die Proteine Wingless und Hedge-
hog sezernieren. Die Paarregelgene, die die Transkription von
wingless (wg) und hedgehog (hh) stimulieren, etablieren also zwei
weitere Streifen pro Segment. Die Proteine Wingless und Hedge-
hog wiederum sorgen dafür, dass die Gene spitz (spi) und Serrate
(Ser) aktiviert werden. Die entsprechenden Genprodukte codie-
ren für Liganden des epidermalen Wachstumsfaktors (EGFR)
bzw. des Notch-Signalweges. Diese vier Signale wirken auf kurze
Distanz, und gemeinsam kontrollieren sie die epidermale Diffe-
renzierung auf dem Ein-Zell-Niveau innerhalb eines Segmentes.
Dieses Beispiel von Drosophila ist ein Paradigma dafür gewor-
b den, wie in einem naiven Feld präzise Muster gebildet werden
und schließlich zur Differenzierung verschiedener Zelltypen
führen.
> Eine Unterteilung in Parasegmente ist eine alternative
Untergliederung des Insektenkörpers. Parasegmente be-
12 stehen jeweils aus dem posterioren Teil eines Segmentes
und dem anterioren Teil des folgenden Segmentes.

Homöotische Gene
Nach Festlegung der Segmentgrenzen und der innersegmentalen
c Organisation verbleibt als letzter Schritt die Identifikation jedes
. Abb. 12.28 Streifenbildung des Segmentpolaritätsgens engrailed (en). Segmentes in seiner jeweils spezifischen Identität: Am leichtes-
a Das En-Protein wird in einem charakteristischen 14-Banden-Muster wäh- ten lässt sich das am Thorax aufzeigen. Jedes Thoraxsegment
rend der frühen Embryonalentwicklung von Drosophila exprimiert (Nach- besitzt seine besonderen Eigenheiten neben anderen, die es
weis durch einen monoklonalen Antikörper gegen das En-Protein). b Jeder mit den anderen Thoraxsegmenten teilt. So besitzt einerseits
zweite En-Streifen (dunkelbraun) überlappt mit Fushi-tarazu-Streifen
jedes Thoraxsegment ein Beinpaar. Andererseits gibt es Flügel
(Ftz; hellbraun). c Ftz ist für die Ausbildung jedes zweiten En-Streifens ver-
antwortlich: In Embryonen von ftz-Mutanten fehlen die Ftz-abhängigen bei Dipteren nur im zweiten Thorakalsegment (Mesothorax), im
En-Streifen. (Nach Pick 1998, mit freundlicher Genehmigung der Company dritten (Metathorax) hingegen Halteren, während das erste (Pro-
of Biologists) thorax) keine von beiden Strukturen besitzt. Jedem Segment
muss also seine eigene spezifische Identität vermittelt werden.
Veränderungen dieser Segmentidentität kann man durch
schön darstellen (. Abb. 12.28), da die Aktivität durch die Aus- Mutationen erhalten: Mutationen im bithorax-Genkomplex (BX-
bildung von transversalen Streifen angezeigt wird. Die Expres- C) können zur Umwandlung des Meta- in einen (zweiten) Meso-
sion bestimmter Segmentpolaritätsgene wird durch die Konzen- thorax führen. Als Folge davon besitzt die Fliege zwei Paar Flügel.
tration des Genproduktes bestimmter Paarregelgene bestimmt: Da durch solche Mutationen ein Segment den Charakter eines
So wird bei hoher Konzentration der Genprodukte von even- anderen Segmentes annimmt, hat man sie als homöotische Mu-
skipped oder fushi tarazu das Segmentspolaritätsgen engrailed tationen bezeichnet. Die betroffenen Gene heißen dementspre-
(en) aktiviert. Da das engrailed-Gen unter der Kontrolle zweier chend homöotische Gene (oder homöotische Selektorgene).
Paarregelgene mit alternierender Aktivität steht, kommt es sei-
nerseits in jedem einzelnen Segment zur Expression. Innerhalb C Der Begriff »Homöosis« wurde 1894 von William Bateson
des Segmentes definiert das engrailed-Produkt die Zellen an der geprägt, als er eine Klasse von biologischen Variationen be-
posterioren Segmentgrenze. In ähnlicher Weise stehen andere schrieb, in der ein Element einer segmentförmig wiederhol-
Segmentpolaritätsgene unter der Kontrolle unterschiedlicher ten Struktur in die Identität eines anderen überführt werden
Paarregelgene, sodass die Individualität aller Zellen innerhalb kann. Er beobachtete dies sowohl bei Pflanzen (7 Abschn.
jedes Segmentes genau festgelegt wird. 12.2.3) als auch bei Skeletten von Tieren. Die ersten Gene,
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
559 12

PS En PS En
Stadien 9-10

Wg Hh Wg Hh

PS PS
En En
Stadium 11

Ser Wg Hh Ser Wg Hh Ser

PS S PS S
En En
Stadium 12

Ser Rho Wg Hh Rho Ser Rho Wg Hh Rho Ser

Dentikelstreifen Dentikelstreifen

5 6 1 2 3 4 5 6 1 2 3 4 5 6
S S
Ende der
Embryogenese

Ser Wg En Rho Ser Wg En Rho Ser


Hh Hh
Segment
. Abb. 12.29 Musterbildung innerhalb eines Segmentes während der Embryonalentwicklung von Drosophila. Die Darstellung der einzelnen Schritte gilt
für die ventrale Seite des Abdomens. PS bezeichnet die Grenze der Parasegmente und S die der Segmente; anterior ist links und posterior rechts. Die apikale
Seite der Zellen ist oben, die basale unten. Kleine blaue Punkte repräsentieren den extrazellulären Gradienten des Wg-Proteins. Stadien 9–10: Die Expression
von Wg und En/Hh sind voneinander abhängig und der Wg-Gradient ist symmetrisch. Stadium 11: Die Expression von Wg und En/Hh werden voneinander
unabhängig und der Wg-Gradient wird unsymmetrisch. Zur gleichen Zeit wird die Expressionsdomäne von Ser durch die repressive Wirkung von Wg und
Hh begrenzt. Dadurch entsteht ein Ser-Streifen mit einer Breite von zwei bis drei Zellen pro Parasegment. Stadium 12: Hh aktiviert die Expression von Rho
in zwei Reihen von Zellen posterior zur En/Hh-Domäne, und Ser aktiviert Rho in einer Reihe von Zellen anterior von dieser Domäne. Das führt zu einem
Streifen von Rho, der genau drei Zellen breit ist, da anterior zur En/Hh-Domäne Wg-Signale die Rho-Expression verhindern. Am Ende des Stadiums 12 sind
die PS-Grenzen nicht länger sichtbar und die Segmentfurchen haben sich unmittelbar hinter den En-Zellen gebildet. Am Ende der Embryogenese sezer-
nieren die posterioren En-Zellen sowie die Rho- und Ser-Zellen Dentikel, die den ventralen Dentikelstreifen des Abdomens der Larve bilden. En: Engrailed,
Hh: Hedgehog, Rho: Rhomboid, Ser: Serrate, Wg: Wingless. (Nach Sanson 2001, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

die bei Drosophila in den 1920er- und 1930er-Jahren als BX-C enthält zusätzlich zu diesen Protein-codierenden Genen
homöotische Gene identifiziert wurden, waren bithorax, eine komplexe Zusammenstellung von Regulationselementen,
aristapedia und proboscipedia. Wir sollten aber nicht verges- die über die gesamte 300 kb lange Region dieses Genbereichs
sen, dass das Phänomen als solches auch noch früher verteilt sind. Diese Regulationselemente kontrollieren die
beschrieben wurde (z. B. Goethe: Die Metamorphose der Segmentspezifität der Abdominalsegmente.
Pflanzen). Der ANT-Komplex besteht aus fünf Genen: labial (lab),
Antennapedia (Antp), Sex comb reduced (Scr), Deformed (Dfd)
Seit Mitte der 1980er-Jahre wissen wir, dass die meisten homöo- und proboscipedia (pb). Unter die Kontrolle dieses Genkom-
tischen Gene sich zwei Genkomplexen im Chromosom 3 von plexes fallen die Kopf- und Thoraxsegmente. Ein klassisches
D. melanogaster zuordnen lassen, dem Antennapedia-Komplex Beispiel für die Auswirkung einer homöotischen Mutation zeigt
(ANT-C) und dem bithorax-Komplex (BX-C). Zum BX-C gehö- . Abb. 12.30, nämlich die Ausbildung eines Beines anstelle einer
ren die Gene Ultrabithorax (Ubx), abdominal-A (abd A) und Ab- Antenne aufgrund einer Mutation im Antp-Gen.
dominal-B (Abd B). Ultrabithorax ist für die Ausbildung des drit- Alle homöotischen Gene haben ein Sequenzelement, das als
ten thorakalen Segmentes verantwortlich. Sein Ausfall führt zur Homöobox bezeichnet wird. Es handelt sich um eine 180 bp
Umbildung des dritten in ein zusätzliches zweites Thoraxseg- lange DNA-Sequenz, die ein 60 Aminosäuren langes Protein-
ment, wie es in der Ausbildung eines zweiten Flügelpaares zum fragment codiert: die Homöodomäne (. Abb. 7.18). Die klas-
Ausdruck kommt. Die beiden anderen Gene, abd A und Abd B, sische Homöodomäne besteht aus drei α-Helices, deren erste und
kontrollieren die Eigenschaften der Segmente des Abdomens. zweite eine antiparallele Richtung gegeneinander einnehmen,
560 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

a b

. Abb. 12.30 Homöotische Mutation. a Wildtyp-Kopf von Drosophila melanogaster. b Durch die homöotische Mutation Antennapedia wird die Antenne in
ein (phylogenetisch homologes) Bein verwandelt. (Foto: Walter Gehring, Basel)

während die dritte Helix im rechten Winkel gegen die beiden


ersten Helices angeordnet ist. Die dritte Helix greift sequenz-
spezifisch in die große Furche der DNA ein. Proteine, die diese
Homöodomäne besitzen, sind durchweg Transkriptionsfak-
12 toren, die mit ihrer Hilfe sequenzspezifisch an DNA binden. Die
Homöodomänen anderer homöotischer Gene haben prinzipiell
vergleichbare Strukturen, obwohl ihre Aminosäuresequenzen
und damit ihre Bindungsspezifitäten unterschiedlich sind. Aber
auch eine Reihe anderer Transkriptionsfaktoren besitzt eine
Homöodomäne (z. B. auch die, die durch das maternale Gen
bicoid oder das zygotische Gen engrailed codiert werden). Man
beachte daher, dass nicht jedes Gen mit einer Homöobox auch
ein homöotisches Gen ist.
Vergleichbare Cluster von Homöoboxgenen finden wir auch
bei Säugern. Bei Mäusen und Menschen wurde das Cluster be-
stehend aus dem ANT- und BX-Komplexes vervierfacht (. Abb.
12.31) und wird heute als HoxA-, HoxB-, HoxC- und HoxD-Clus-
ter bezeichnet. Wir kennen insgesamt 39 Hox-Gene bei der
Maus; Hox-Gene werden aufgrund ihrer Sequenzähnlichkeiten
und der Position im Cluster in 13 paraloge Gruppen eingeteilt
(beachte, dass nicht jedes Cluster vollständig ist!). Ein charakte-
ristisches Merkmal der Hox-Cluster ist, dass die Anordnung der
Gene auf dem Chromosom der relativen Position ihrer Expressi-
on entlang der anterior-posterioren Achse entspricht, wobei sich
die jeweilige Expressionsdomäne der Gene am 3’-Ende des Clus-
ters am vorderen Körperende befindet.
. Abb. 12.31 Organisation des Hox-Clusters und seine Konservierung in
> Homöotische Gene bestimmen zusammen mit Gap-, Paar- der Evolution. Der Hox-Gencluster bei Drosophila – bestehend aus dem
regel- und Segmentpolaritätsgenen die Segmentidentitä- Antennapedia-Komplex (Ant-C) und dem Bithorax-Komplex (BX-C) – findet
ten. Mutationen in homöotischen Genen (homöotische sich im Prinzip bei den Säugetieren in vierfacher Form (Hox-A bis Hox-D).
Einander entsprechende Nummern bzw. Farben kennzeichnen orthologe
Mutationen) verschieben die Identität eines Segmentes.
Gene, die eine besonders hohe Sequenzübereinstimmung haben. Beachte
Alle homöotischen Gene haben eine Homöobox (aber auch, dass die 3’-5’-Anordnung auf dem Chromosom dem anterior-pos-
nicht alle Gene mit einer Homöobox sind homöotische terioren Expressionsmuster entspricht – bei der Fliege und bei der Maus.
Gene!). (Nach Müller und Hassel 2012, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
561 12

*Esgulationsvorgänge
ist Gegenstand vieler Untersuchungen, die Serie der Re-
der Hox-Gene im Detail zu charakterisie-
12.4.6 Imaginalscheiben, Metamorphose
und Organentwicklung bei Drosophila
ren. Jüngere Arbeiten deuten darauf hin, dass es sich hierbei
um ein komplexes Netzwerk handelt, an dem viele Faktoren Die Funktion der homöotischen Selektorgene wird durch ein Zu-
beteiligt sind, die wir in früheren Kapiteln jeweils für sich sammenspiel von Gap-, Paarregel- und Segementpolaritätsgenen
betrachtet haben: zum Zeitpunkt der Zellularisierung bestimmt, also nach Festle-
– Bildung von Kompartimenten im Zellkern: Aktives gung der segmentalen Organisation. Zu diesem Zeitpunkt wer-
Chromatin ist eher im Inneren des Zellkerns lokalisiert den auch die Anlagen der Imaginalscheiben festgelegt, aus denen
(7 Abschn. 5.1.5); sich während der Metamorphose die meisten Strukturen der
– Chromatin-Elemente: Insulatoren und andere Abgren- Imago entwickeln (. Abb. 12.32). Die Imaginalscheiben entstam-
zungselemente (engl. boundary elements) grenzen die men dem embryonalen Ektoderm und stülpen sich als einfache
Domänen der Expression gegenüber anderen Regulations- epitheliale Säckchen ins Körperinnere ein. Sie bleiben als solche
bereichen ab (7 Abschn. 5.1.5); bis zur Metamorphose erhalten. Die Entwicklung der adulten
– Enhancer und Promotoren: Weitreichende Enhancer und Strukturen aus den Imaginalscheiben verläuft unter Bildung von
direkte Regulationen von Transkriptionsfaktoren an ihren Kompartimenten. Die Grenzen zwischen den verschiedenen
spezifischen Promotoren führen zum korrekten Transkrip- Kompartimenten entsprechen den Grenzen der Funktion von
tionszustand (7 Abschn. 7.3); homöotischen Genen oder von Segmentpolaritätsgenen. Wäh-
– Regulation auf RNA-Ebene: Eine Feinregulation erfolgt rend der Metamorphose zur Fliege proliferieren die Zellen der
durch miRNAs, die zwischen den einzelnen Genen des Imaginalscheiben weiter und differenzieren schließlich zu ver-
Hox-Clusters lokalisiert sind – Mutationen in solchen schiedenen Organen wie Labialanhängen, Antennen, Augen, Flü-
miRNA-Genen können ebenfalls zu homöotischen Trans- geln oder Halteren, Beinen und Genitalplatten. Die Differenzie-
formationen führen (7 Abschn. 8.2); rung von larvalen Imaginalscheiben in Strukturen der Fliege wird
– posttranslationale Modifikationen und das Zusammen- durch das Metamorphosehormon Ecdyson ausgelöst.
spiel mit vielen Cofaktoren schließen den Regulations-
mechanismus ab. > Unter der Kontrolle homöotischer Gene bilden sich wäh-
rend der Differenzierung der Imaginalscheiben Komparti-
Der interessierte Leser sei für eine ausführliche Darstellung mente aus, die bestimmte Bereiche der Strukturen der
auf die Arbeit von Chopra und Mishra (2006) verwiesen, deren Imago umfassen.
breitere Darstellung den Rahmen dieses Genetik-Lehrbuches
sprengen würde.

. Abb. 12.32 Imaginalscheiben von Drosophila melanogaster. Lokalisation der Imaginalscheiben in der Larve und die zugehörigen Strukturen in der Imago.
(Nach Nöthiger 1972, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
562 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

. Abb. 12.33 Die Flügelimaginalscheibe von Drosophila (rot) ist ein zweiseitiger Sack, der zylindrische Zellen enthält, die das zukünftige Flügelblatt (wb)
und die Thorax-Regionen (t) sowie eine darüberliegende, schuppenartige peripodiale Membran (pm) enthält; Letztere wurde von der embryonalen Epider-
mis angefügt und entwickelt sich während der Larvalstadien. Die Imaginalscheibe ist in ein anteriores (A) und posteriores (P) Kompartiment unterteilt. Hh-
mRNA wird durch in-situ-Hybridisierung sichtbar gemacht (links). (Nach Tabata und Takei 2004, mit freundlicher Genehmigung der Company of Biologists)

Wir wollen im Folgenden die Organentwicklung an zwei Beispie- timente entstehen im zweiten Larvalstadium, nachdem sich die
len diskutieren: die Entwicklung der Flügel und der Augen. Flügelscheibe gebildet hat. Sie unterscheiden sich in der Expres-
sion des homöotischen Selektorgens apterous (ap), das nur im
Flügelentwicklung bei Drosophila dorsalen Kompartiment aktiv ist. Die ap-Expression führt zur
Im Falle der Flügelimaginalscheiben wird die Bildung eines Sekretion von Proteinen, die von den Genen fringe und Serrate
Flügels und seines ersten Grundmusters noch im embryonalen codiert werden. An der Kompartimentgrenze treten dorsale Zel-
Epithel festgelegt, also zu einer Zeit, in der auch das Segment- len mit ventralen Zellen in Wechselwirkung: Die dorsalen Zellen
12 muster entsteht und die einzelnen Segmente ihre Identität erhal- bilden das Serrate-Protein, ein Transmembranprotein, das als
ten. Aus 15 bis 20 Zellen, die sich während der Embryogenese Ligand an einen Rezeptor (Notch) in der Nachbarzelle bindet.
vom lateralen Ektoderm des mittleren Thoraxsegmentes einstül- Das fringe-Gen codiert für eine UDP-Glykosyltransferase, die
pen, entstehen während der Larvalstadien 50.000 Zellen. Die bestimmte Motive des Notch-Rezeptors so modifiziert, dass er
Flügelimaginalscheiben sind durch eine Kompartimentgrenze in mit dem Liganden Serrate nicht mehr so gut in Wechselwirkung
eine anteriore und eine posteriore Entwicklungsregion unterteilt treten kann, aber umgekehrt die durch Delta (einen anderen
(. Abb. 12.33). Transmembranliganden von Notch aus dem ventralen Kompar-
In der Flügelimaginalscheibe bilden Zellen an der Grenze timent) verstärkt. So sind diejenigen Zellen, die die höchsten
zwischen anteriorem und posteriorem Kompartiment eine Konzentrationen von Notch aufweisen, genau die Zellen an der
Signalregion, die die Musterbildung entlang der anterior-poste- dorso-ventralen Grenze, wo Serrate auf ventrale Zellen einwir-
rioren Flügelachse steuert. Dieses Signalzentrum entsteht auf- ken kann (die kein fringe exprimieren) und wo das ventrale Del-
grund einer Folge von Ereignissen, die hier kurz skizziert werden ta sein Signal stärker an die dorsalen Zellen vermitteln kann, die
sollen. Das Gen hedgehog (hh) wird im posterioren Komparti- fringe exprimieren.
ment der Imaginalscheibe exprimiert; das Hedgehog-Protein Neben diesen Signalen, die über kurze Distanzen ausge-
sorgt für die Expression des decapentaplegic(dpp)-Gens in der tauscht werden, gibt es auch ein weiter reichendes Signalsystem.
benachbarten Zelle auf der anderen Seite der Grenze, indem es Damit fungiert auch die Grenze zwischen dem dorsalen und ven-
die Wirkung von Proteinen hemmt, die normalerweise dpp repri- tralen Kompartiment als Organisationszentrum (wie wir das an
mieren. Das Dpp-Protein, ein Signalprotein aus der TGF-β-Fa- der Grenze zwischen anteriorem und posteriorem Komparti-
milie, wird nunmehr an der Kompartimentgrenze sezerniert und ment bereits gesehen haben). Als Signalmolekül dient hier das
dient sowohl im anterioren als auch im posterioren Komparti- Wingless-Protein, ein sezerniertes Glykoprotein. Wingless ist vor
ment als Positionssignal zur Musterbildung längs der anterior- allem für die Ausbildung der Borsten am Rand der Flügel verant-
posterioren Achse. Eines der Zielgene der weitreichenden Wir- wortlich.
kung des Dpp-Proteins ist spalt (sal). Das sal-Gen wird in einem
Bereich exprimiert, der sich mit dem von dpp nur teilweise deckt; > Die Flügel von Drosophila entwickeln sich aus den entspre-
die sal-Expression setzt vielmehr in einer Region ein, wo die chenden Imaginalscheiben, die bereits früh in ein anterio-
Konzentration des Dpp-Proteins gerade bestimmte obere bzw. res und posteriores Kompartiment unterteilt sind. Der
untere Schwellenwerte überschreitet (. Abb. 12.34). Grenzbereich fungiert als Organisator; dort wird das Gen
Eine zweite Orientierungsachse bildet sich zwischen der Flü- decapentaplegic aktiviert. Eine zweite Organisationsachse
gelober- und -unterseite aus. Wir haben es hier mit einem dorsa- entwickelt sich an der Grenze zwischen dem dorsalen und
len bzw. ventralen Kompartiment zu tun. Die beiden Kompar- ventralen Kompartiment; hier wird wingless exprimiert.
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
563 12
a

III III

IV IV II
I
III
Hh en ptc dpp
IV

V
III

IV

Dpp sal omb


b

II III II
I
I II
III
I
II
I

. Abb. 12.34 Der Flügel von Drosophila wird durch zwei Morphogene gestaltet, Hedgehog (Hh) und Decapentaplegic (Dpp). a Hh, das im posterioren
Kompartiment exprimiert wird, erzeugt einen Gradienten, der nur kurz in das anteriore Kompartiment hineinreicht. Hh gestaltet die zentrale Domäne des
Flügels und induziert in einem Zellstreifen an der anterior-posterioren Grenze bei hohen, mittleren und niedrigen Schwellenwerten die Expression von
engrailed (en), patched (ptc) und dpp. Dpp induziert bei hohem bzw. niedrigem Schwellenwert die Expression von spalt (sal) bzw. optomotorblind (omb) und
gestaltet den Flügel jenseits der zentralen Domäne. b Die ektopische Expression von hh bewirkt eine spiegelbildliche Duplikation des ganzen anterioren
Kompartiments, wohingegen Dpp eine spiegelbildliche Verdoppelung der anterioren Domäne ohne die zentrale Domäne bewirkt. (Nach Tabata und Takei
2004, mit freundlicher Genehmigung der Company of Biologists)

C Der Ursprung der Wingless-Forschung liegt in den 1970er- das sezernierte Wingless-Protein der Ligand für seinen
Jahren, als R. P. Sharma und V. L. Chopra (1976) eine flügel- Rezeptor Frizzled-2 ist und damit eine ganze Signalkaskade
lose Drosophila-Mutante beschreiben. Sie charakterisieren in Gang setzt – den Wnt-Signalweg.
wingless als eine rezessive Mutation auf dem Chromosom 2.
Allerdings erschien die Mutation zunächst komplex, denn Augenentwicklung bei Drosophila
unter den Nachkommen von flügellosen Mutanten waren Die Augen von Drosophila sind Facetten- oder Komplexaugen,
nicht nur wieder flügellose (wie es für einen klassischen re- die aus vielen morphologisch identischen Untereinheiten, den
zessiven Erbgang zu erwarten wäre), sondern auch Fliegen Ommatidien, bestehen (. Abb. 12.35). Die Anzahl der Omma-
mit einem oder zwei Flügeln in einem Verhältnis von 2:1:1. tidien innerhalb eines Auges schwankt; innerhalb des normalen
Die Autoren beschrieben dieses Verhalten damals als unvoll- Temperaturbereichs, in dem Drosophila normalerweise fort-
ständige Penetranz und Expressivität, und jeder Versuch, pflanzungsfähig ist (18–25 °C), werden je nach Temperatur zwi-
eine homogene flügellose Population zu etablieren, schlug schen 750 und 1020 Ommatidien gebildet.
fehl; nach fünf Generationen betrug der Anteil der flügel- Jedes Ommatidium besteht aus acht Photorezeptorneuronen
losen Nachkommen 70 % (gegenüber 40 % in der Ausgangs- (Retinulazellen, R1 bis R8), vier darüberliegenden transparenten
population). Die Autoren beobachteten allerdings auch Kegelzellen, die einen lichtbündelnden Kristallkegel bilden, und
zusätzliche Effekte der Mutation auf die Ausprägung des zusätzlichen (roten) Pigmentzellen. Das Auge entwickelt sich ab
Mesothorax und die Anordnung der Haare, insbesondere der Mitte des 3. Larvenstadiums aus dem einlagigen Epithelblatt
das Fehlen der Borsten. Die Mutation in der ursprünglichen der Augenimaginalscheibe, die sich im Kopf befindet. Eines der
wingless-Mutante besteht in einer Deletion von ungefähr frühesten Ereignisse der Augendifferenzierung ist die Bildung
300 bp in der 3’-UTR des wingless-Gens und stellt ein hypo- einer Rinne in der Imaginalscheibe, der morphogenetischen
morphes Allel dar (www.flybase.org); das ursprüngliche Furche (engl. morphogenetic furrow), die von posterior über das
Gensymbol war wg1 (aktuell: Wnt). Heute wissen wir, dass Scheibenepithel nach anterior wandert (. Abb. 12.35a). Die Fur-
564 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

a
CL

KK

PPCs IOCs

Cornea-
Linse Fuß

Kristallkegel

MF SMW Verpuppung 15 % 45 % 75 % 100 %

b. 12.35b
. Abb. 12.35 Augenentwicklung bei Drosophila. a Im 3. Larvenstadium
b bewegt sich die morphogenetische Furche (MF) nach anterior über die Ima-
CL
ginalscheibe des Auges und arretiert dabei die sich teilenden Vorläuferzel-
KK
len in der G1-Phase. Aus dem Vorrat dieser Vorläuferzellen entstehen die
mechano-
PPC Retinulazellen R8, R2/R5 und R3/R4 der neuralen Retina (hellblau). Darauf
sensorische
CC Haarzelle folgt eine zweite mitotische Welle (SMW), wobei sich die verbleibenden
SPC Vorläuferzellen erneut teilen. Aus diesen Vorläuferzellen bilden sich dann
TPC die restlichen Photorezeptoren, R1/R6 und R7. Nachdem die Bildung der
Photorezeptoren abgeschlossen ist, werden jeweils paarweise die beiden
12 R7
SPC
anterioren und posterioren Kristallkegelzellen (aCC/pCC; hellbraun) sowie
R1–6 die beiden äquatorialen und polaren (eqCC/plCC; hellbeige) gebildet. In
der frühen Verpuppungsphase werden die primären Pigmentzellen (PPCs;
orange) hinzugefügt, die zusammen mit den Kristallkegelzellen (CC) die
R8 Linsen-sezernierenden Zellen bilden. Kurze Zeit später werden die interom-
matidialen Pigmentzellen (IOCs; dunkelrot) gebildet, und alle nicht weiter
differenzierten Zellen werden durch Apoptose abgebaut. In der mittleren
Verpuppungsphase beginnen alle Zellen mit ihrer terminalen Differenzie-
rung; in der Linse beinhaltet das die Sezernierung der Cornea-Linse (CL),
gefolgt von der Sekretion des Kristallkegels (KK). Die IOCs häufen Pigment
an, während die apikalen, Licht wahrnehmenden Membranen (Rhabdomere) der Photorezeptoren elongieren. Die Kristallkegelzellen erstrecken sich über
die ganze Länge der Retina, wobei ihre Füße die Axone der Photorezeptoren proximal umhüllen und die apikalen Oberflächen die Cornea-Linse und den Kris-
tallkegel sezernieren. b Adultes Ommatidium von Drosophila im Längsschnitt (links) und im Querschnitt (rechts). Man beachte die Anordnung der R7- (lila)
und R8-Rhabdomere (grün) übereinander und die entsprechenden Unterschiede des oberen und unteren Querschnitts. Die Retinulazellen sind einfach num-
meriert; die Rhabdomere liegen innen (blaue Ovale). Die sekundären (SPC) und tertiären (TPC) Pigmentzellen liegen außen und bewirken, dass die einzelnen
Ommatidien erkannt werden können (daher auch die Bezeichnung als interommatidiale Pigmentzellen, IOCs); die Lage der mechanosensorischen Haarzellen
ist angedeutet. (a nach Charlton-Perkins et al. 2011; b nach Wang und Montell 2007, beide mit freundlicher Genehmigung von Springer)

che bewegt sich langsam und braucht etwa 2 Tage, um die gesam- entstehen auf einer Seite R3 und R4. Nachdem sich so ein Halb-
te Imaginalscheibe zu überqueren. Sie hinterlässt dabei alle 2 h kreis um R8 gebildet hat, kommen R1 und R6 hinzu; mit der
eine Reihe zukünftiger Ommatidien. Während sie sich vorwärts- Differenzierung von R7 wird dann der Kreis geschlossen. Im rei-
bewegt, beginnen sich die Zellen hinter ihr zu differenzieren und fen Ommatidium (. Abb. 12.35b) wird diese Anordnung dann
in Reihen angeordnete sechseckige Ommatidien zu bilden. Jede später weiter modifiziert.
Reihe ist gegenüber der vorherigen um ein halbes Ommatidium Der entscheidende Schritt in der Augenentwicklung von
versetzt, sodass ein charakteristisches Wabenmuster entsteht. Drosophila ist die Wanderung der morphogenetischen Furche:
Zuerst entstehen die R8-Photorezeptorneuronen. Sie er- Da die Augenimaginalscheiben im Gegensatz zur oben bespro-
scheinen in regelmäßigen Abständen in jeder Ommatidienreihe chenen Flügelimaginalscheibe nicht von vorneherein in ein an-
und sind durch etwa acht Zellen getrennt. Jede R8-Zelle leitet teriores und posteriores Kompartiment unterteilt ist, kommt
eine Reihe von Signalen ein, die dazu führen, dass um R8 herum diese Unterteilung hier der Furche zu. Das lässt sich auch an
eine Gruppe von 20 Zellen ein Ommatidium bildet: Zunächst unterschiedlichen Expressionsmustern deutlich machen. Ante-
differenzieren R2 und R5 auf einander entgegengesetzten Seiten rior der Furche wird das Gen eyeless (ey) exprimiert, das für die
zu zwei funktionell identischen Neuronen; zwischen R2 und R5 Entwicklung der Augen essenziell ist. Mutationen in diesem Gen
12.4 · Entwicklungsgenetik von Drosophila melanogaster
565 12

a schen diesen verschiedenen Spezies konserviert, sodass wir von


einem gemeinsamen Entwicklungsweg ausgehen müssen (siehe
auch den Abschnitt über die Augenentwicklung bei Säugern,
7 Abschn. 12.6.4).
Allerdings ist das Konzept eines einzigen Schlüsselgens
durch weitere Untersuchungen ins Wanken geraten. Denn bevor
die morphogenetische Furche startet, wird im gesamten Augen-
feld dpp exprimiert (noch unter der Kontrolle des maternalen
Dorsal-Gradienten); dpp ist offensichtlich notwendig, um die
erste Welle der morphogenetischen Furche auszulösen. Dazu ge-
hört dann auch die Expression von ey, aber auch anderer Gene
wie sine oculis (so) und eyes absent (eya; . Abb. 12.37). Diese Gene
sind nach entsprechenden Mutanten bei Drosophila benannt, die
über keine Augenstrukturen verfügen. Auch für sie gibt es ent-
sprechende homologe Gene bei Säugern. Erwähnenswert ist in
diesem Zusammenhang aber noch das Gen twin of eyeless (toy),
das über eine Genduplikation mit ey eng verwandt ist. Wie oft in
solchen Fällen, überlappen die Funktionen von ey und toy teil-
weise; für toy gibt es interessanterweise kein homologes Gen bei
Vertebraten.
Die Zellen hinter der morphogenetischen Furche von Droso-
phila kann man auch als posteriore Zellen auffassen, da sie das
hedgehog(hh)-Gen exprimieren. Durch die Sekretion dieses Sig-
nalproteins wird decapentaplegic (dpp) wieder in den Zellen der
Furche aktiviert und die Differenzierung der R8-Zellen eingelei-
tet. Das System ist dynamisch, denn nach einer Weile schalten die
Zellen in der Furche dpp wieder ab und beginnen dafür hh zu
b exprimieren, dessen Genprodukt wiederum die dpp-Expression
in den weiter anterioren Zellen aktiviert – so schiebt sich die
. Abb. 12.36 Komplexauge von Drosophila. a Elektronenmikroskopische Furche vorwärts. Der dritte Spieler, den wir ebenso bereits bei der
Aufnahme des Kopfes von Drosophila: rechts der Wildtyp mit dem typischen
Flügelentwicklung kennengelernt haben, ist wingless. Dieses
roten Facettenauge, links eine eyeless-Mutante ohne Augen. b Ektopische
Bildung von Ommatidien am Bein von Drosophila. (a Foto: Ralf Dahm und Gen wird an den Seitenrändern exprimiert und verhindert, dass
Jürgen Berger, Tübingen; b Foto: Walter J. Gehring, Basel) die Furche dort ihren Anfang nimmt.
Ein weiterer interessanter Prozess führt zur regelmäßigen
Anordnung der R8-Photorezeptorzellen. Zunächst haben alle
führen bei betroffenen Fliegen zur Verkümmerung oder zum nach der Furche entstehenden Zellen das gleiche Potenzial. Al-
völligen Fehlen der Komplexaugen (. Abb. 12.36a). Eine Reihe lerdings beginnen nach der Furchenwanderung die einen Zellen
von Experimenten hat gezeigt, dass seine ektopische Expression etwas früher und die anderen etwas später mit ihrer Differenzie-
in anderen Imaginalscheiben dort ebenfalls eine Augenentwick- rung. Zum Differenzierungsprogramm gehört auch, dass eine
lung in Gang setzt (z. B. in Flügeln, an Beinen oder Antennen). R8-Zelle im Umkreis von etwa drei Zellen keine weitere R8-Zel-
Daher wird eyeless auch als Schlüsselgen (engl. master control le duldet (. Abb. 12.35a). Daher werden Signalketten aktiviert,
gene) der Augenentwicklung bezeichnet. Das Gen eyeless ge- die die Differenzierung zu R8-Zellen in den benachbarten Zellen
hört zur Klasse der Pax-Gene (so genannt nach ihrem charakte- unterdrücken (»laterale Inhibition«). An diesem Prozess ist das
ristischen Merkmal, der paired-Box, die zuerst bei dem Droso- scabrous-Gen (sca) beteiligt (das für ein Fibrinogen-ähnliches,
phila-Gen paired definiert wurde und für eine DNA-bindende sezerniertes Protein codiert), der Notch/Delta-Signalweg, dem
Domäne codiert). Entsprechende Gene finden sich auch bei Säu- wir auch schon bei der Flügelentwicklung begegnet sind, sowie
gern, und Mutationen in dem homologen Gen Pax6 führen das einen Inhibitor codierende Gen hairless (H). Zu den wichti-
ebenfalls zu schweren Störungen in der frühen Augenentwick- gen Genen, die an der Differenzierung der R8-Zellen beteiligt
lung. Walter Gehring und seinen Kollegen gelang 1995 ein klas- sind, gehört auch atonal (ato), das durch eya, so und hh reguliert
sisches Experiment (Halder et al. 1995), in dem sie zeigten, dass wird. Die ato-positiven Zellen werden auch als larvale »Augen-
das Pax6-Gen der Maus in der Lage ist, in Drosophila ektopisch gründerzellen« bezeichnet. Sie senden das Signalprotein aus, das
die Entwicklung funktioneller Ommatidien-Augen zu induzie- durch das Gen spitz (spi) codiert wird. Es bewirkt in den Nach-
ren (. Abb. 12.36b). Damit wurde von genetischer Seite ein barzellen von R8 über den EGF-Rezeptor-Signalweg die Spezia-
zentrales Dogma der Evolutionsbiologie aufgehoben, dass lisierung der Zellen zu den Photorezeptoren R2–R7.
nämlich die Entwicklung der Komplexaugen bei Fliegen und Unter den verschiedenen Drosophila-Mutanten mit Störun-
der Linsenaugen bei Säugern unabhängig verlaufen sei. Offen- gen in der Augenentwicklung sollen an dieser Stelle noch zwei
sichtlich sind die genetischen Signalketten in der Evolution zwi- weitere erwähnt werden: sevenless (sev) und bridge-of-sevenless
566 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

. Abb. 12.37 Genexpressionsmuster in der frühen Augenentwicklung bei Drosophila. Die Spezifizierung des Augenfeldes erfolgt durch eine Gruppe von
Proteinen (DAC: Dachshund, EY: Eyeless, EYA: Eyes absent, SO: Sine oculis, TOY: Twin of eyeless). Während des 3. Larvenstadiums läuft eine Differenzierungs-
welle (»morphogenetische Furche«) über die Imaginalscheibe hinweg – und hinter dieser Welle entstehen die Photorezeptorzellen (PR). Der Prozess wird
durch Notch (N) und den epidermalen Wachstumsfaktor (EGFR) unterstützt. Während des Puppenstadiums bilden sich unter dem Einfluss des Gens spalt
(sal) die inneren Photorezeptoren (inner PR) R1–R6; die Gene prospero (pros) und senseless (sens) sind an der Differenzierung von R7 und R8 beteiligt. Die
weitere Differenzierung in die einzelnen Subtypen der Retinulazellen (blass [pale] oder gelb [yellow]) wird von den Genen orthodenticle (otd), spineless (ss),
warts (wts) und melted (melt) unterstützt. Das Gen homothorax (hth) ist verantwortlich für die Ausbildung Polarisations-sensitiver Photorezeptoren an der
dorsalen Randzone (engl. dorsal rim area, DRA). Rh: verschiedene Rhodopsine mit unterschiedlichen spektralen Empfindlichkeiten. (Nach Morante et al.
2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

12 (boss). In beiden Fällen entwickelt sich keine R7-Zelle, sondern 12.5 Entwicklungsgenetik bei Fischen
eine zusätzliche Kegelzelle. Detaillierte genetische Experimente
zeigten nun, dass sev für einen Transmembranrezeptor mit Tyro- Der Zebrafisch (Danio rerio; 7 Abschn. 5.3.6) ist in den letzten
sinkinase-Aktivität codiert; dieses Gen wird normalerweise in Jahren besonders für Entwicklungsgenetiker immer interessan-
den zukünftigen R7-Zellen exprimiert. Umgekehrt codiert boss ter geworden. Ein wesentlicher Vorteil des Zebrafisches ist die
für einen membrangebundenen Liganden, der in den R8-Zellen Transparenz seiner Embryonen, wodurch ihre Entwicklung ge-
exprimiert wird. Die Bindung des Boss-Proteins an den Sev- nau verfolgt werden kann. Sie verläuft wie die eines typischen
Rezeptor setzt eine intrazelluläre Signalkette in Gang, die zur Teleostiers und ist als Modell auch für die Entwicklung anderer
Aktivierung verschiedener Transkriptionsfaktoren und zur end- Vertebraten geeignet.
gültigen Differenzierung der R7-Photorezeptorzelle führt.
> Das Komplexauge von Drosophila besteht aus ca. 800
12.5.1 Allgemeine Embryonalentwicklung
wabenmusterförmig angeordneten Ommatidien. Sie ent-
des Zebrafisches
wickeln sich aus der Augenimaginalscheibe. Durch die
wandernde morphogenetische Furche wird die Imaginal-
Im Gegensatz zu dem frühzeitig festgelegten Schicksal der Blas-
scheibe vorübergehend in ein anteriores und ein posterio-
todermzellen in Drosophila, die eine als Mosaikentwicklung
res Kompartiment unterteilt. Hinter der Furche beginnt
gekennzeichnete frühembryonale Entwicklung durchlaufen, ist
die Differenzierung der Photorezeptorzellen R1 bis R8.
die Entwicklung des Zebrafisches regulativ. Das bedeutet, dass
Das Gen eyeless ist das Schlüsselgen für die Augenent-
frühembryonale Zellen relativ lange undeterminiert bleiben oder
wicklung; es kann in anderen Imaginalscheiben ektopisch
lange die Fähigkeit zur Änderung ihrer Determination behalten.
funktionelle Ommatidien induzieren. Es ist verwandt mit
Die abgelaichten Eier sind transparent und messen ca. 0,6–
dem Säugergen Pax6, das in Drosophila vergleichbare
0,7 mm, die Embryonalentwicklung ist, je nach Temperatur, in 2
Effekte zeigt. Die genetischen Grundprinzipien der Augen-
bis 4 Tagen abgeschlossen. Der erwachsene Zebrafisch ist etwa
entwicklung sind offensichtlich zwischen Fliegen und
2–3 cm groß und braucht ungefähr 12 Wochen, um fortpflan-
Säugern stark konserviert.
zungsfähig zu werden. Nach der Befruchtung bildet sich im Ei
durch cytoplasmatische Strömungen und Umschichtung der
Komponenten eine animale Kappe mit klarem Plasma, in dem
sich der Eikern befindet; darunter (im vegetativen Bereich) ist
das Ei reich mit Dottermaterialien angefüllt (. Abb. 5.40). Die
ersten Zellen, die sich am animalen Pol der Eikugel bilden, sind
12.5 · Entwicklungsgenetik bei Fischen
567 12
. Abb. 12.38 Mutanten des Zebrafisches.
a d
a Wildtyp-Embryo eines Zebrafisches im Alter
von 30 h nach der Fertilisation (hpf ). b Embryo
mit einer Mutation im aldh1a2-Gen (nls, neckless).
c Wildtyp-Embryo, dem im 1-Zell-Stadium ein
Morpholino gegen aldh1a2 injiziert wurde.
d Wildtyp-Embryo, der ab 8 hpf mit Retinsäure
(10−7 M) behandelt wurde. e Embryo mit einer
b e Mutation im cyp26a-Gen (gir, giraffe). f Wildtyp-
Embryo, dem im 1-Zell-Stadium ein Morpholino
gegen cyp26a injiziert wurde. Stern: Kopfdefekte,
Pfeil: Herzödem, Pfeilspitze: Schwanzknick, Klam-
mer: Schwanzverkürzung. (Nach Skromne und
Prince 2008, mit freundlicher Genehmigung von
Wiley)

c f

anfänglich nach unten hin zum dottergefüllten Restei offen. Es trifft das cyp26a-Gen, und die betroffenen Fischembryonen
wird also nicht die ganze Eizelle vollständig in Tochterzellen zer- weisen einen verkürzten Schwanz auf. Beide Mutationen greifen
legt (partiell discoidale Furchung). Wenn 16 und mehr Zellen in den Retinsäure-Signalweg ein. Wenn in das Schwimmbecken
vorliegen, bilden sie einen scheibenförmigen Verband, der dem mit Wildtyp-Fischen Retinsäure (10−7 M) gegeben wird, zeigen
Restei aufliegt. Dieser Zellverband wird durch Zellteilungen zu sich ähnliche charakteristische Merkmale (verkürzter Schwanz
einer mehrschichtigen Keimscheibe (Blastoderm). Sie nimmt und Defekte in der Kopfentwicklung). Der Zebrafisch bietet aber
durch anhaltende Zellteilungen und durch Abflachung an Um- über die einfache Identifikation von Mutanten hinaus noch einen
fang zu und umwächst die Dotterkugel. Nach etwa 5,5 h erstre- weiteren Vorteil, nämlich die Möglichkeit, durch Injektion von
cken sie sich schon über die halbe Strecke (man spricht je nach Morpholino-antisense-RNA die Aktivität von Genen gezielt aus-
Position des Umwachsungsrandes von z. B. 40, 70 oder 100 % zuschalten (7 Technikbox 31). Dies erleichtert die funktionelle
Epibolie). Charakterisierung von Genen; in . Abb. 12.38c und f sind zwei
Jetzt setzt die Gastrulation ein: Die zukünftigen Entoderm- Beispiele gezeigt, und zwar für das aldh1-Gen sowie für das
und Mesodermzellen der tieferen Schicht am Rande des Blasto- cyp26a-Gen. Die mit Morpholinos behandelten Tiere zeigen
derms wechseln die Richtung und wenden sich nach innen; sie ähnliche Störungen wie die Mutanten, bei denen die Gene durch
wandern zur zukünftigen Dorsalseite. Dabei strebt das Gewebe Punktmutationen verändert sind.
von allen Seiten auf die Mittellinie des Embryos zu und dehnt sich
> Der Zebrafisch ist noch ein relativ neues, aber sehr
gleichzeitig aus, während sich der Embryo in anterior-posteriorer
interessantes Objekt zur entwicklungsgenetischen Unter-
Richtung in die Länge zieht. Das Mesoderm und Entoderm kom-
suchung von Wirbeltieren. Seine Vorteile sind die hohe
men schließlich unter das Ektoderm zu liegen. Nach 9 h kann man
Geschwindigkeit der Embryonalentwicklung und die
die Chorda erkennen, und nach 10 h ist mit der Bildung der ersten
Durchsichtigkeit der Embryonen.
Somiten anterior die Gastrulation abgeschlossen.
Als Nächstes folgen die Neurulation und die Bildung der
Somiten. Dabei streckt sich der Embryo in die Länge und die
Anlagen der primären Organsysteme sind zu erkennen. Das Ner- 12.5.2 Frühe Embryonalentwicklung
vensystem entwickelt sich schnell. Die optischen Bläschen, aus des Zebrafisches
denen sich die Augen entwickeln, kann man nach 12 h als Aus-
stülpungen des Gehirns erkennen. Die Somiten bilden sich in Viele frühere entwicklungsbiologische Arbeiten wurden an Frö-
Intervallen von 2–3 h; nach insgesamt 18 h sind 18 Somiten vor- schen durchgeführt. Als der Zebrafisch neu als entwicklungsge-
handen. In diesem Alter beginnt der Körper zu zucken, nach 48 h netisches Modell eingeführt wurde, begann bald auch die Suche
schlüpft der Embryo, und der junge Fisch beginnt zu schwim- nach solchen Genen, die sich bei Fröschen als wichtig für be-
men und zu fressen. stimmte Entwicklungsstufen herausgestellt hatten. Dies wurde
In . Abb. 12.38 sind zwei Beispiele für Mutanten mit Ent- allerdings dadurch erschwert, dass das Zebrafischgenom in wei-
wicklungsstörungen gezeigt, die aufgrund äußerer Merkmale ten Bereichen dupliziert ist und daher viele Gene überlappende
einfach erkannt werden konnten: Die Mutation neckless (nls) be- Funktionen haben.
trifft das aldh1-Gen – die Mutanten zeigen Störungen in Hinter- Einige der besonders eindrucksvollen Mutanten des Zebra-
hirn, Flossen, Pankreas und Herz. Die Mutation giraffe (gir) be- fisches haben hier jedoch weitergeholfen. In Embryonen, die für
568 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

a . Abb. 12.39 Streifenmuster-Mutanten


des Zebrafisches. a Die wichtigen inneren
Organe und Streifenmuster einer Zebra-
fisch-Larve. b Das Streifenmuster eines
erwachsenen Zebrafisches. Die Melano-
phoren-Streifen bestehen aus ca. sechs
Zellreihen, wohingegen die Xantho-
phoren-Streifen aus ca. neun Zellreihen
aufgebaut sind. c In der (heterozygoten)
leopard-Mutante ist die Streifengrenze
verbreitert. d In der homozygoten leopard-
b Mutante ist nur noch ein Punktmuster
sichtbar. e Die heterozygote obelix-Mutante
zeigt breite und unterbrochene Streifen.
f In der homozygoten obelix-Mutante er-
scheinen die Streifenzellen vermischt.
(Nach Moreira und Deutsch 2005, mit
freundlicher Genehmigung von Wiley)

c e

d f

12
die dino-Mutation homozygot sind, zeigen dorsale Zellen schon der LSM-Gruppe führt zum Verlust aller Streifen. Beispiele für
im Gastrulastadium ventrale Eigenschaften – und umgekehrt ah- diese Streifenbildung zeigt die . Abb. 12.39. Die molekulare Ana-
men in swirl-Embryonen die ventralen Zellen dorsale Eigenschaf- lyse hat gezeigt, dass die sparse-Mutation das Gen kit betrifft, das
ten nach. Diese Phänotypen ließen vermuten, dass die beiden bei der Maus für Veränderungen der Fellfarbe verantwortlich ist
Gene für dorsalisierende bzw. ventralisierende Aktivitäten codie- und in Fischen und Mäusen für eine Rezeptor-Tyrosinkinase co-
ren. In Übereinstimmung damit kann der dino-Phänotyp durch diert (bei der Maus ist die vergleichbare Mutation als dominant
die Zugabe von BMP4-mRNA unterdrückt werden, wohingegen spotting bekannt). Die Mutation im kit-Gen verhindert das Aus-
die Funktion von swirl durch Injektion von BMP4-mRNA (teil- wandern der Melanocyten-Vorläuferzellen aus der Neuralleiste
weise) wiederhergestellt werden kann. Die Analyse dieser beiden und deren Überleben. Die rose-Mutation betrifft das Gen ednrb,
Mutanten unterstützte also das Modell, das von Xenopus her be- das für den Endothelin-Rezeptor B codiert. Auch hier gibt es ver-
kannt war, dass nämlich gegenläufige Gradienten von BMP und gleichbare Mausmutanten (piebald-lethal). Allerdings unter-
BMP-Antagonisten das dorso-ventrale Muster aufbauen. Spätere scheiden sich die genetischen Verhältnisse zwischen Zebrafisch
Untersuchungen zeigten dann auch im Detail, dass bei der dino- und der Maus insoweit, dass die Maus beide Gene braucht, damit
Mutante das Chordin-Gen des Zebrafisches (Gensymbol: chd) sich die Melanocyten entwickeln können, wohingegen beim Ze-
betroffen ist und in der swirl-Mutante das BMP2-Gen. brafisch ein Gen für eine Klasse benötigt wird. Weitere Untersu-
Das Streifenmuster des erwachsenen Zebrafisches ist ein wei- chungen haben ergeben, dass die in . Abb. 12.39 ebenfalls darge-
teres imposantes Beispiel über die Konsequenzen frühembryo- stellte obelix-Mutante durch eine Mutation in Kir7.1 verursacht
naler Musterbildung und ihrer genetischen Kontrolle. Zebrafi- wird; dieses Gen codiert für einen K+-Kanal und wird in Mela-
sche übertreffen dabei sogar die Komplexität der Hautfärbungen nophoren benötigt, um deren Aggregation zu fördern und die
bei Säugern, da sie nicht nur die schwarzen Melanocyten haben, Integrität der Grenzen zu kontrollieren.
sondern darüber hinaus die gelben Xanthophoren und silbernen
Iridophoren. Die genaue genetische Analyse des Streifenmusters C Joana Moreira und Andreas Deutsch veröffentlichten 2005 ein
weist die meisten Mutanten zwei Epistasie-Gruppen zu. Eine mathematisches Modell, das die Streifenbildung beim Zebra-
Epistasie-Gruppe beeinflusst die Melanocyten der späten Strei- fisch simuliert und dabei auch die Wirkung einzelner Mutationen
fen (engl. late stripe melanocytes, LSM) und enthält die Mutatio- berücksichtigt. Die Modellierung unterstreicht in besonderer
nen rose, primrose, leopard und panther. Die zweite Gruppe ist Weise die Bedeutung der Haftung zwischen einzelnen Zellen
durch Defekte der frühen Streifenbildung gestört (engl. early bei der Zellwanderung sowie Mechanismen der Regulation von
stripe melanocytes, ESM); dazu gehört aber nur eine Mutation: Stammzellen. Alle Wechselwirkungen, die im Modell berück-
sparse. Doppelmutanten von sparse mit irgendeinem Mitglied sichtigt werden, haben allerdings nur lokale Bedeutung.
12.5 · Entwicklungsgenetik bei Fischen
569 12
> Der Zebrafisch eignet sich hervorragend zur Untersuchung ein Elongationsfaktor der Transkription), miles apart (mil1;
früher Musterbildung bei Vertebraten. Das gilt nicht nur Sphingosin-1-phosphat-Rezeptor), bonnie and clyde (bon; Ho-
für die Ausbildung der zentralen anterior-posterioren und möobox-Transkriptionsfaktor der Mix-Familie), tremblor (tre;
dorso-ventralen Körperachsen, sondern auch für Muster, Na+/K+-Austauscher, SLC8A1A), silent partner (sil; Troponin C1,
die beim erwachsenen Fisch als Streifen sichtbar werden. TNNC1) oder island beat (isl; Ca2+-Kanal, CACNA1C); die durch
die Mutation betroffenen Proteine sind – soweit bekannt – in
Klammern angegeben.
12.5.3 Organentwicklung bei Zebrafischen: Eine besonders eindrucksvolle Möglichkeit (die allerdings in
Herz und Auge einem Buch nicht wirklich überzeugend dargestellt werden
kann) ist die Anwendung bildgebender Verfahren (Antikörper-
Die Durchsichtigkeit des Zebrafisch-Embryos macht diesen Or- färbung mit konfokaler Mikroskopie) und die Beobachtung von
ganismus in ganz besonderer Weise geeignet, die Herzentwick- Zellwanderungen in vivo. So wandern Herzmuskel-Vorläuferzel-
lung zu studieren. Ein zweites prominentes Organ des Zebrafi- len während ihrer Reifung zur Mittellinie und bilden zusammen-
sches – dieses Mal aufgrund seiner relativen Größe – ist das Auge. hängende Populationen mit Fibronectin. Die Mutantenanalyse
Bei der Besprechung der genetischen Regulation der Organent- hat gezeigt, dass diese Anheftung an Fibronectin für die Wande-
wicklung beim Zebrafisch wollen wir uns deshalb auf diese bei- rung selbst nicht essenziell ist, wohl aber für den zeitlichen Ver-
den Organe als Beispiele konzentrieren. lauf. Die Ablagerung von Fibronectin um die Myokardzellen
Die Vorläuferstrukturen des Herzens beim Zebrafisch kann herum ist allerdings unbedingt nötig, damit sich die Zellen rich-
man aufgrund des Expressionsmusters des Transkriptionsfaktors tig anheften können und die wandernde Population ihre epithe-
Nkx2.5 ungefähr 16 h nach der Fertilisation erkennen. Zunächst liale Integrität erhält. Diese in-vivo-Untersuchungen machen
zeigen sich zwei diskrete Domänen, die die Mittellinie flankieren; deutlich, dass Fibronectin für die Reifung des Myokard-Epithels
diese fusionieren etwa 3 h später und bilden den primitiven notwendig ist und dass Zell-Substrat-Wechselwirkungen die
Herzschlauch (engl. heart tube). Obwohl das Fischherz nicht in Zellform und auch die Morphogenese beeinflussen. In hand2-
eine linke und rechte Kammer getrennt ist, vollzieht es dennoch Mutanten (. Abb. 12.40) sind die Myokard-Vorläuferzellen aber
dieselbe rechtsgerichtete Drehung, die den Beginn der Kammer- nicht nur in der Zahl vermindert, sie zeigen auch keinerlei An-
trennung bei Luft atmenden Wirbeltieren kennzeichnet. Dieser zeichen einer Polarisation. Damit konnte mit in-vivo-Verfahren
Prozess findet etwa 36 h nach der Befruchtung statt; etwa 12 h gezeigt werden, dass der Transkriptionsfaktor Hand2 die Polari-
vorher geht ihm eine vorübergehende Biegung in die Gegenrich- tät der wandernden Myokardzellen reguliert.
tung voraus, die durch die asymmetrische Expression von bmp-4 Das Auge des Zebrafisches ist mit dem Ende der Embryon-
in dem sich entwickelnden Herzschlauch sichtbar wird. alphase vollständig entwickelt, da die frei schwimmende Larve
Im Zebrafisch kennen wir jetzt eine ganze Reihe von Mutan- auf selbstständige Nahrungssuche (Protozoen und kleine Larven
ten, bei denen die Links-rechts-Asymmetrie entweder umgekehrt von Metazoen) angewiesen ist. Die Augenentwickung kann 11 h
wird oder nur zufällig ausgebildet wird. Allerdings weisen diese nach der Befruchtung beobachtet werden, wenn die Augenvor-
Mutanten auch noch weitere Defekte in der Entwicklung auf, vor läufer als Ausstülpungen des Diencephalons sichtbar werden.
allem des Notochords und der Bodenplatte (z. B. floating head Die ventralen Ganglienzellen in der Retina sind 28 h nach der
[flh], no tail [ntl] und cyclops [cyc]). Andere Mutanten weisen Befruchtung (engl. hours post fertilization, hpf) ausgebildet, das
Defekte in der späteren Entwicklung auf und betreffen die Ent- Chiasma opticum wird nach 32 hpf gebildet, die Retina insge-
wicklung der Herzschläuche, die Entwicklung und Orientierung samt ist im Alter von 60 hpf voll entwickelt, das visuelle System
der Kammern, die Bildung der Herzklappen und das konzentri- einschließlich des Tectum opticum nach 65 hpf. Durch einfache
sche Wachstum. Beispiele sind cloche (clo), pandora (pan; SPT6, Verhaltenstests, aber auch aufwendige elektrophysiologische

a b c

. Abb. 12.40 Fluoreszenz-Immunhistochemie in Verbindung mit konfokaler Mikroskopie bewirken eine Auflösung auf zellulärer Ebene und ermöglichen
die Aufklärung von pathologischen Mechanismen während der Embryonalentwicklung. Aufgrund eines Falschfarbeneffekts zeigen die blauen Zellen die
Expression eines Myosin-Proteins an (codiert durch cmlc2), das an das grün fluoreszierende Protein (GFP) gekoppelt ist. a Myokard-Vorläuferzellen des
Wildtyps bilden im 20-Somiten-Stadium ein polarisiertes Epithel, wobei eine atypische Proteinkinase C (aPKCλ; grün) in den apikolateralen Membranen
exprimiert wird und β-Catenin (rot) in den basolateralen Membranen lokalisiert ist. b, c In den hand2- (b) und natter-Mutanten (c) ist dieser Prozess gestört;
die hand2-Mutation betrifft den Transkriptionsfaktor Hand2 und die natter-Mutation das Gen, das für Fibronectin codiert. Die einfache Struktur und die ge-
ringe Zahl von Zellen erlaubt die detaillierte Untersuchung der Entwicklung der Herzklappen. (Nach Beis und Stainier 2006, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)
570 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

a b c

. Abb. 12.41 Retina-Mutationen des Zebrafisches. Es sind transversale Schnitte eines 5 Tage alten Zebrafisch-Embryos gezeigt. a Die Retina des Wildtyps
ist voll entwickelt. GCL: Ganglienzellschicht; INL: innere Körnerschicht; IPL: innere plexiforme Schicht; ON: Sehnerv; ONL: äußere Körnerschicht; OPL: äußere
plexiforme Schicht; OS: äußere Segmente der Photorezeptoren; RPE: retinales Pigmentepithel. Balken: 50 μm. b In der lakritz-Mutante fehlt die Ganglien-
zellschicht fast vollständig, dafür ist die innere Körnerschicht dicker. c In der oval-Mutante sind die Photorezeptoren spezifisch betroffen: Die Löcher wer-
den durch degenerierte Zellen hervorgerufen, und die verbleibenden Photorezeptoren sind deutlich verkürzt oder fehlen in den äußeren Segmenten voll-
ständig. (Nach Neuhauss 2003, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

Verfahren (Elektroretinogramm), konnte eine Vielzahl von Mu- steht. Alle weiteren Furchungsteilungen folgen in Intervallen von
tanten beim Zebrafisch identifiziert und charakterisiert werden, 12 h. Auf diese Weise entsteht eine kompakte Zellkugel, die
deren Augenentwicklung oder die Entwicklung des visuellen Morula. Im 8-Zell-Stadium vergrößern die Blastomere die Kon-
Systems »hinter dem Auge« gestört ist. Zwei Beispiele dazu sind taktflächen, über die sie sich berühren (Verdichtung). Danach
in . Abb. 12.41 dargestellt: Die lakritz-Mutante hat keine Gang- sind die Zellen polarisiert: Auf ihren äußeren Oberflächen be-
lienzellen (Ursache: Mutation im Gen ath5, das für den Tran- finden sich Mikrovilli, die inneren sind dagegen glatt. Die weite-
skriptionsfaktor Atonal codiert) und die oval-Mutante keine ren Furchungsteilungen verlaufen in unterschiedlichen Orien-
12 Photorezeptoren (Ursache: Mutation im Gen ift88, das für ein tierungen, sodass eine Morula im 32-Zell-Stadium zehn innere
intraflagellares Transportprotein codiert). und 22 äußere Zellen enthält.
Eine Eigenheit der Säugerentwicklung ist, dass aus den schon
> Im Zebrafisch können bestimmte Organe in ihrer Entwick-
im Morulastadium angelegten zwei Zellgruppen zwei unter-
lung besonders gut verfolgt werden. Dazu gehören das
schiedliche Gewebe hervorgehen: Die inneren Zellen bilden die
Herz wegen der Durchsichtigkeit des Embryos und das
innere Zellmasse (engl. inner cell mass, ICM), aus der sich der
Auge wegen seiner Größe. Es wurde eine Vielzahl von
eigentliche Embryo entwickelt (und auch Amnion und Dotter-
Mutanten identifiziert und charakterisiert, die als Modelle
sack); die äußeren Zellen bilden das Trophektoderm, das sich zu
für entsprechende Erbkrankheiten des Menschen dienen.
extraembryonalen Strukturen wie der Plazenta entwickelt. In
diesem Stadium (3,5 Tage nach der Befruchtung) bezeichnet man
den Embryo als Blastocyste. Das Trophektoderm pumpt jetzt
12.6 Entwicklungsgenetik bei Säugern Flüssigkeit in das Innere der Blastocyste, sodass sie sich zu einem
Vesikel weitet (. Abb. 12.42).
In diesem Abschnitt sollen kurz einige entwicklungsgenetische Nun teilt sich die innere Zellmasse: Aus der Schicht an der
Aspekte des Menschen und des wichtigsten genetischen Modells Oberfläche wird das primitive Entoderm, das an der Bildung
für Säugetiere, der Maus, zusammen angesprochen werden. Für der extraembryonalen Membranen beteiligt ist, und aus den
Details der Entwicklungsbiologie und der Embryologie sei aber übrigen Zellen der inneren Zellmasse entwickelt sich das primi-
auf die einschlägige zoologische bzw. medizinische Fachliteratur tive Ektoderm (auch Epiblast genannt). Erst nach 4,5 Tagen
verwiesen. nistet sich der Embryo in der Gebärmutterwand ein, nachdem
er die Zona pellucida verlassen hat. In dieser Phase sind dann
auch die anterior-posteriore und dorso-ventrale Achse des
12.6.1 Embryonalentwicklung von Säugern Embryos endgültig festgelegt. Es gibt aber deutliche Hinweise
darauf, dass schon die Eintrittsstelle des Spermiums und die
Der Lebenszyklus der Maus von der Befruchtung bis zum ge- Position des zweiten Polkörperchens an der Definition der Ach-
schlechtsreifen Tier dauert 9 Wochen – für einen Säuger eine sen beteiligt sind.
relativ kurze Zeitspanne. Das Ei wird noch im Eileiter befruchtet; Für das spätere Verständnis der Diskussion und Verwendung
hier erfolgt auch die erste Furchungsteilung nach etwa 24 h. In von embryonalen Stammzellen (7 Abschn. 12.7.2) ist es wichtig
diesem Stadium ist das befruchtete Ei bzw. der sich entwickelnde zu wissen, dass embryonale Stammzellen aus dem frühen Moru-
Embryo von einer äußeren Schutzhülle umgeben, der Zona pel- lastadium totipotent sind. Ein wichtiges Gen zur Aufrechterhal-
lucida, die aus Mucopolysacchariden und Glykoproteinen be- tung der Totipotenz in diesem Stadium ist Oct4. Während noch
12.6 · Entwicklungsgenetik bei Säugern
571 12
liefert die Zellpopulationen für das somitische Mesoderm, aus
dem durch Abknospung die ersten segmentierten Strukturen des
Embryos, die Somiten (engl. somites), entstehen. Somiten diffe-
renzieren unter dem Einfluss des Notochords und des darüber-
liegenden Oberflächenektoderms in Sklerotom (später entwi-
ckelt sich daraus das Skelett), Myotom (später entwickelt sich
daraus das Muskelgewebe) und Dermatom (später entwickelt
sich daraus das Hautgewebe).
> Die erste Phase der Embryonalentwicklung der Säuge-
tiere umfasst zunächst die Bildung der Morula und der
Blastocyste. Aus der inneren Zellmasse entwickelt sich
der Embryo, aus dem umgebenden Trophoblasten entsteht
extraembryonales Gewebe. In der Gastrulation werden
die drei Keimblätter angelegt (Ektoderm, Entoderm,
Mesoderm).

Eine zentrale Rolle in dieser Phase der Gastrulation spielt das


Gen sonic hedgehog (Shh), das mit dem hedgehog-Gen von Dro-
sophila eng verwandt ist. Es wird im Notochord exprimiert und
beeinflusst als Morphogen alle umliegenden Gewebe. Mutatio-
nen im Shh-Gen führen bei der Maus zu massiven Defekten bei
der Ausbildung der Mittellinie; es findet keine Bildung der Somi-
. Abb. 12.42 Frühentwicklung der Säuger. Nach den ersten Furchungen
bildet sich zunächst eine Morula, die sich nach weiteren Zellteilungen zur
ten statt und die spätere Induktion der Neuralplatte unterbleibt.
Blastocyste weiterentwickelt. Die Blastocyste enthält die innere Zellmasse, Eine Übersicht über den Einfluss von Shh gibt . Abb. 12.43. Es
die sich zum eigentlichen Embryo weiterentwickelt, und die äußersten wurde noch eine Reihe weiterer Mausmutanten mit Defekten in
Trophoblasten, die das extraembryonale Gewebe bilden der Gastrulation identifiziert und molekular charakterisiert. Dies
im Detail zu erörtern, würde allerdings den Rahmen dieses
Buches sprengen.
alle Blastomeren bis hin zur Morula Oct4 exprimieren, findet
sich nach der Differenzierung in innere Zellmasse und Troph- C Ein Aspekt soll aber dennoch angesprochen werden, der
bereits bei der homöotischen Transformation von Drosophila
ektoderm eine Oct4-Expression nur noch in der inneren Zell-
erwähnt wurde. Wir haben dort gesehen, dass die segmentale
masse und wird später auf das primitive Ektoderm und die
Identität durch die Gene des Antp- bzw. Bx-Komplexes ver-
Vorläuferzellen der Keimzellen beschränkt. Ein Verlust der Oct4-
mittelt werden. Das Hox-Cluster ist bei Säugetieren durch
Genaktivität ist für den Embryo letal, da er dann die Fähigkeit
zweifache Duplikation vervierfacht (. Abb. 12.31). Die Reihen-
verliert, das primitive Ektoderm auszubilden.
folge der Gene auf dem Chromosom entspricht der Reihen-
Die Gastrulation findet während der nächsten Tage statt. Im
folge, in der die Gene entlang der anterior-posterioren Körper-
Epiblasten hat sich 6 Tage nach der Befruchtung eine innere Höh-
achse aktiviert werden (Colinearität zwischen der Position der
le mit der Form eines Bechers mit einem U-förmigen Quer-
Gene auf dem Chromosom und den Orten ihrer Expression).
schnitt gebildet. Aus dieser gekrümmten Epithelzellschicht (in
Das bedeutet, dass die Gene am 3’-Ende des Clusters früh und
diesem Stadium ca. 1000 Zellen) entwickelt sich der eigentliche
anterior und die Gene am 5’-Ende später und weiter hinten
Embryo. Seine Körperachse wird nach etwa 6,5 Tagen erstmals
im Embryo exprimiert werden. Man sieht dabei wechselnde
sichtbar, wenn mit der Bildung des Primitivstreifens (engl. pri-
Expressionsmuster, die sich wellenförmig über große Bereiche
mitive streak) die Gastrulation einsetzt. Der Streifen beginnt als
des Embryos ausbreiten. Bei Ausbildung der longitudinalen
eine lokale Verdickung an einer Stelle außen am Becher; hier
Körperachse werden alle Vertreter der vier Hox-Cluster mit
befindet sich das spätere Hinterende des Embryos. Die Innensei-
scharfen anterioren Grenzen exprimiert, doch sind die Vorder-
te wird dann zur Dorsalseite des Embryos. Proliferierende Epi-
grenzen nicht für alle entsprechenden Gene gleich. Daraus
blastenzellen wandern durch den Primitivstreifen hindurch,
ergibt sich für die Definition bestimmter Segmentbereiche eine
breiten sich zur Seite und nach vorne hin zwischen dem Ekto-
Zuordnung zur Expression der jeweiligen Hox-Gene – dies
derm und dem viszeralen Entoderm aus und bilden so das Me-
wird auch als Hox-Code bezeichnet (Kessel und Gruss 1991).
soderm. Der Primitivstreifen verlängert sich zunächst in Rich-
Gesteuert wird die Expression der Hox-Gene unter anderem
tung des späteren Vorderendes des Embryos. Dort bildet sich ein
durch einen Gradienten von Retinsäure (engl. retinoic acid;
Bereich, in dem die Zellen dicht gepackt sind und der als Primi-
Oxidationsprodukt von Vitamin A). In hohen Dosen hat Vita-
tivknoten (engl. Hensen’s node) bezeichnet wird. Aus Zellen, die
min A daher teratogene Effekte (7 Abschn. 12.6.3), die sich in
durch den Primitivknoten nach vorne wandern, entsteht direkt
der Verkrüppelung der Extremitäten darstellen.
in der Mittellinie die Chorda dorsalis (engl. notochord; dieser
Begriff wird auch im Deutschen häufig verwendet). Auf beiden Am Ende der Gastrulation beginnt die Entwicklung des Nerven-
Seiten bildet sich in zwei Streifen das paraxiale Mesoderm. Es systems, ein Prozess, der auch als Neurulation bezeichnet wird.
572 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

. Abb. 12.43 Sonic-Hedgehog-Signale im Wirbeltierembryo.


Das vom Gen sonic hedgehog (Shh) codierte Protein kann in
einer Membran-assoziierten Form exprimiert werden oder in
einer Form, die sich von der Oberfläche der produzierenden
Zelle ablöst und in die Zellzwischenräume diffundiert, wo
es entfernte Ziele erreichen kann. a Shh, das von der Chorda
direkt dem darüberliegenden Neuralrohr präsentiert wird,
induziert die Bildung der Bodenplatte (engl. floor plate) im
Neuralrohr. b Anschließend produziert die Bodenplatte selbst
a b ein Shh-Signal, das die Neuroblasten stimuliert, zu Moto-
neuronen zu werden (c, d). Shh, das von der Chorda in die
umgebenden Räume entlassen wird, stimuliert die Zellen
des Sklerotoms, aus den Somiten auszuwandern (b) und sich
um die Chorda zu scharen. Hier bilden sie einen Teil der Wir-
belkörper (d). (Nach Müller und Hassel 2012, mit freundlicher
Genehmigung von Springer)

c d

Durch Induktion des sich bildenden Mesoderms entsteht in Nach 8,5 Tagen, im Endstadium der Gastrulation, kommt es
dem darüberliegenden Oberflächenektoderm die Neuralplatte. im Embryo auch zu umfassenden Faltungen, in deren Verlauf
Durch Proliferation wächst die Neuralplatte und faltet sich sich das Entoderm, das zunächst die ventrale Oberfläche des
dabei zunächst nach innen (Neuralfalte), bevor sich die Neural- Embryos bedeckt, nach innen verlagert und den Darm bildet.
falten annähern und verbinden. Damit schnüren sie sich vom Herz und Leber nehmen ihre endgültige Stellung im Verhältnis
Oberflächenektoderm ab und schließen sich zum Neuralrohr zum Darm ein, und der Kopf beginnt sich abzuzeichnen. Der
(engl. neural tube). Im Kopfbereich des Neuralrohrs entsteht die Embryo dreht sich dann so, dass er von seinen extraembryona-
Anlage des Gehirns, während sich die eher posterioren Teile zum len Membranen eingehüllt ist. Nach 9 Tagen ist die Gastrulation
12 Rückenmark ausbilden. An den Rändern der sich auffaltenden beendet: Der Kopf des Embryos ist deutlich zu erkennen,
Neuralplatte entsteht eine Population von Zellen, die als Neural- und die Vorderextremitäten beginnen sich zu entwickeln. Am
leistenzellen (engl. neural crest cells) bezeichnet werden. Sie 10. Tag nach der Befruchtung hat bereits die Entwicklung aller
zeichnen sich durch hohe Mobilität aus und bilden die Stamm- Organe eingesetzt.
zellen für viele verschiedene Zelltypen (z. B. Pigmentzellen, Spinal-
ganglien, Ganglien des vegetativen Nervensystems, Nervenzellen
des Gastrointestinaltrakts oder Zellen des Nebennierenmarks). a b
Ein entscheidender Schritt in diesem Prozess ist das Schließen
des Neuralrohrs, das offensichtlich an drei verschiedenen Bereichen
unabhängig initiiert wird: Zunächst im Bereich des Übergangs des
Hinterhirns zur (späteren) Wirbelsäule im Stadium von sechs bis
sieben Somiten (Tag 8,5 der Embryonalentwicklung, E 8,5); von
hier breitet sich der Verschluss des Neuralrohrs nach rostral (zur
Kopfvorderseite) und caudal (zum Schwanz hin) weiter aus. Der
zweite Initiationspunkt liegt an der Grenze zwischen Vorder- und
Mittelhirn, und der dritte Initiationspunkt befindet sich an der äu-
ßerst rostralen Seite des Vorderhirns. . Abb. 12.44 zeigt zwei ver-
schiedene Mausmutanten am Tag 15,5 der Embryonalentwicklung
mit klassischen Neuralrohrdefekten, die auf Fehler im Schluss des
Neuralrohrs basieren (das Celsr1-Gen codiert für einen siebenfa-
chen Transmembranrezeptor; das betroffene Gen der curly tail-
. Abb. 12.44 Mausmutanten mit Neuralrohrdefekten. Mäuseembryonen
Mutante codiert für den Transkriptionsfaktor grainyhead-like 3
nach 15,5 Tagen der Embryonalentwicklung zeigen das Auftreten von
[Gensymbol: Grhl3]). a Craniorachischisis in der Celsr1-Mutante und b Exencephalie und eine
offene Spina bifida in einer curly tail(ct)-Mutante. Bei der Craniorachischisis
> In der Neurulation bilden sich die grundlegenden Elemente ist das Neuralrohr vom Mittelhirn bis zum unteren Bereich der Wirbelsäule
des Nervensystems: das Neuralrohr, an dessen Vorderende offen (a: zwischen den dünnen Pfeilen). In dem in b gezeigten Embryo
ist die Exencephalie auf das Mittelhirn beschränkt (b: dünner Pfeil), wohin-
sich das Gehirn entwickelt und dessen posteriorer Bereich
gegen die Spina bifida die lumbosakrale Region betrifft (b: Pfeilspitze).
zum Rückenmark wird. Die Neuralleistenzellen zeichnen Beachte den geringelten Schwanz in beiden Embryonen (a, b: dicke Pfeile).
sich durch eine hohe Mobilität aus und sind Ausgangspunkt (Nach Copp et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
vieler neuronaler Zelltypen Group)
12.6 · Entwicklungsgenetik bei Säugern
573 12
12.6.2 Entwicklung von Zwillingen Dizygote Zwillinge haben stets getrennte Embryonalhäute, wäh-
beim Menschen rend bei mehr als zwei Drittel der monozygoten Zwillinge ein ge-
meinsames Chorion gebildet wird. Bei diesen Zwillingen ist die
Genetische Einflüsse auf die menschliche Entwicklung lassen Entstehung der beiden Individuen erst nach der Bildung der
sich in der Humangenetik durch die Zwillingsforschung erken- Blastocyste durch Teilung der inneren Zellmasse erfolgt, da die
nen. Wie wir oben in der Zusammenstellung gesehen haben, ist äußere Zelllage der Blastocyste (das Trophektoderm) das Chorion
die Ausbildung der Embryonalhäute (Amnion und Chorion) ein bildet (. Abb. 12.42). Ist die Teilung der Individuen bereits im
wichtiger Schritt in der frühen Embryonalentwicklung. 2-Zell-Stadium oder spätestens bis zum Morulastadium (etwa 16
Diese Embryonalhäute üben einerseits Schutzfunktionen, an- Zellen) erfolgt, bilden sich zwei Blastulae und damit zwei getrenn-
dererseits aber auch Ernährungsfunktionen aus. Für uns ist an die- te Chorions. Ob sich monozygote Zwillinge in einem Chorion oder
ser Stelle die Ausbildung der äußeren Embryonalhaut, des Chori- in getrennten Embryonalhäuten entwickelt haben, ist deshalb von
ons, von besonderem Interesse. Bei der Entwicklung von Zwillin- Bedeutung, weil Individuen in einem einzigen Chorion ein viel
gen können zwei Arten des Chorions entstehen (. Abb. 12.45): einheitlicheres Milieu während der gesamten pränatalen Entwick-
entweder ein einheitliches, das beide Embryonen umschließt, oder lung vorfinden als im Falle getrennter Embryonalhäute. Der Ver-
zwei getrennte Embryonalhäute, jede für einen der Embryonen. gleich monozygoter Zwillinge monochorionischen Ursprungs mit

. Abb. 12.45 Zwillinge im Uterus.


a Dizygote Zwillinge haben stets zwei
getrennte Plazenten und getrennte
Amnions. b, c Monozygote Zwillinge
a haben eine gemeinsame Plazenta,
können aber je nach dem Zeitpunkt
der Teilung der inneren Zellmasse ein
Amnion (c) oder zwei Amnions (b)
besitzen. d Die Schemazeichnung gibt
die Zeitachse der menschlichen Em-
bryonalentwicklung an; die Zeitanga-
ben für monozygotische Zwillinge
b sind eingearbeitet. ICM: innere Zell-
masse. (Nach Hall 2003, mit freund-
licher Genehmigung von Elsevier)

d
574 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

solchen dichorionischen Ursprungs sollte uns Aufschlüsse über . Abb. 12.46 a Chemische Struktur
das Ausmaß entwicklungsbedingter (also umweltbedingter) Ein- von Thalidomid. b Thalidomid-Embryo-
pathie. Phänotyp eines Kindes mit
flüsse auf die Ausprägung erblicher Eigenschaften gestatten, da ja
Entwicklungsstörungen aufgrund der
die erblichen Eigenschaften identisch sind. Einnahme von Thalidomid durch die
Mutter während der Schwangerschaft.
> Zwillinge können eineiig (monozygot) oder zweieiig
Das Medikament wurde während der
(dizygot) sein. Dizygote Zwillinge entstehen durch gleich- Entwicklung der Gliedmaßen einge-
zeitige Befruchtung zweier Eizellen durch zwei Spermien. nommen (vgl. . Tab. 12.2) und verhin-
Die genetische Konstitution entspricht daher derjenigen derte deren normale Entwicklung.
beliebiger Geschwisterpaare. Monozygote Zwillinge ge- (Aus Tariverdian und Buselmaier 2004,
mit freundlicher Genehmigung von
hen auf ein einziges befruchtetes Ei zurück. Sie entstehen
Springer)
durch Teilung der sich entwickelnden inneren Zellmasse
zu einem früheren Zeitpunkt in der Embryonalentwick-
lung. Die weitere Embryogenese kann, abhängig vom
Zeitpunkt der Teilung, in einem einzigen Chorion oder in
zwei getrennten Chorions verlaufen. Die Untersuchung
der Ausprägung von Merkmalen bei eineiigen Zwillingen
vermag durch einen diskordanten oder konkordanten
Phänotyp Hinweise über die erblichen Komponenten
eines bestimmten Merkmals zu geben.

12.6.3 Teratogene Effekte


a b
Wir haben in den früheren Abschnitten über Modellorganismen
der Entwicklungsgenetik gesehen, dass die molekulare Charak-
terisierung von Mutanten wesentlich dazu beiträgt, die jeweili-
12 gen Mechanismen zu verstehen. Dies gilt auch in besonderer etwa 7000 betroffenen Kindern in den frühen 1960er-Jahren die
Weise für die Säugetiere und insbesondere für den Menschen, Ursache von Widukind Lenz erkannt wurde: Eine einzige Tablette
wie wir in 7 Kap. 13 über Humangenetik noch sehen werden. mit Thalidomid im kritischen Entwicklungszeitraum genügte,
Allerdings gibt es in der Medizin immer wieder Krankheitsfor- eine Missbildung beider Arme und Beine hervorzurufen (eine
men, die durch Schädigungen des Embryos von außen hervorge- sehr persönliche Darstellung der Problematik findet sich bei
rufen werden. Solche Erkrankungen nennen wir teratogen. Oft- Lenz 1992). Nach vielen weiteren Untersuchungen wird Thalido-
mals muss aber das schädigende Agens auf eine ganz spezielle mid heute bei der Behandlung von Lepra, des multiplen Myeloms
Entwicklungssituation treffen, um seine Wirkung zu entfalten. In und anderer schwer behandelbarer Krankheiten erfolgreich einge-
der experimentellen Biologie kann man natürlich auch die Wir- setzt.
kung bestimmter Stoffe auf die Embryonalentwicklung systema- Unter Thalidomideinfluss konnte in Einzelfällen eine diskor-
tisch untersuchen. dante Ausprägung von Entwicklungsdefekten bei Zwillingen
Ein besonders erschütterndes Beispiel ist mit dem Namen beobachtet werden. Diese Beobachtung ist in Zusammenhang
Contergan verbunden. Zwischen 1957 und Ende 1961 wurde das mit unseren vorangehenden Beobachtungen über Differenzen in
Medikament Thalidomid (Firmenproduktbezeichnung: Conter- den Ommatidienzahlen in Komplexaugen von Drosophila inter-
gan; . Abb. 12.46a) als Schlaf- und Beruhigungsmittel häufig essant. Wie bereits dort erörtert (7 Abschn. 12.4.6), können wäh-
verkauft; zudem wirkte es auch gegen die morgendliche Schwan- rend der Entwicklung geringfügige Differenzen in der Entwick-
gerschaftsübelkeit. Allmählich fiel auf, dass nach Einnahme lungsgeschwindigkeit der Embryonen auftreten, die wiederum
dieses Präparats während früher Phasen einer Schwangerschaft Folgen für die Ausprägung von Merkmalen haben können. Of-
häufig Kinder geboren wurden, die unvollständig entwickelte fenbar treten bei Zwillingen bisweilen Unterschiede von mehre-
Gliedmaßen besaßen, also eine Entwicklungsstörung aufwiesen, ren Tagen in der Entwicklungsgeschwindigkeit auf, die zur Folge
die als Phocomelie bezeichnet wird (. Abb. 12.46b). Die nähere haben, dass bei Thalidomidgabe einer der Embryonen medika-
Untersuchung dieses Phänomens zeigte, dass Thalidomid in mentös geschädigt wird, der andere aber nicht, da er sich nicht
der Tat während einer eng begrenzten Periode der Embryonal- mehr oder noch nicht im kritischen Entwicklungsstadium be-
entwicklung eine Anzahl unterschiedlicher Entwicklungsstörun- fand.
gen hervorzurufen vermag (. Tab. 12.2). Diese teratogene Wir-
kung des Medikaments wird ausschließlich zwischen dem 21. und
36. Tag der Embryonalentwicklung beobachtet. Das frühe und
*Die Untersuchung der Thalidomidembryopathie macht uns
auf ein weiteres praktisches Problem aufmerksam. Der tera-
zudem zeitlich sehr begrenzte Wirkungsspektrum machte es togene Effekt ist nämlich in Tierexperimenten mit Mäusen
natürlich zunächst schwierig, die Wirkung des Medikaments zu und Ratten nicht nachweisbar. Allein bei Primaten sind be-
erkennen und genauer zu analysieren, bis nach der Geburt von grenzte Effekte beobachtet worden, die im Wesentlichen in
12.6 · Entwicklungsgenetik bei Säugern
575 12
einer reduzierten Anzahl von Neuronen in den Spinalgang-
. Tab. 12.2 Contergan-Schäden
lien bestanden. Möglicherweise ist das sogar der primäre
Effekt des Thalidomids. Es könnte sekundär einen Effekt auf Entwicklungs- Missbildung
die Induktionsprozesse ausüben, die zur Entwicklung der tag
Gliedmaßen erforderlich sind. Wir wissen, dass die korrekte
Innervation entscheidenden Einfluss auf die Differenzierung 21 Gehörlosigkeit, Facialislähmung, Augenmuskel-
lähmung
von Organen ausüben kann. An diesem Beispiel wird die
Problematik von Tierexperimenten und ihrer Interpretation 23 Missbildung des Daumens
hinsichtlich der Auswirkungen von Medikamenten auf den 24–26 Fehlen oder weitgehender Verlust der Arme
Menschen deutlich sichtbar.
27–29 Nierenmissbildungen, Analatresie

Uns interessiert in diesem Zusammenhang aber auch die Tatsa- 29–31 Armmissbildungen, Fehlen der Beine, Herzmiss-
bildungen, Duodenalmissbildungen
che, dass einige der in . Tab. 12.2 beschriebenen Missbildungen
in ähnlicher Form auch als angeborene erbliche Defekte beob- 30–33 Beinmissbildungen, Herzmissbildungen
achtet werden können. Sie gleichen stark Phänotypen des Oram- 36 Triphalangie des Daumens, Analstenose
Holt-Syndroms (verursacht durch Mutationen im TBX5-Gen),
des Okihiro-Syndroms (verursacht durch Mutationen im SALL4- Tage nach Konzeption, berechnet unter der Annahme, dass diese 14
Tage nach der Menstruation erfolgte. Es können Abweichungen von
Gen), oder des TAR-Syndroms (thrombocytopenia absent radius;
bis zu 5 Tagen auftreten. Aus Lenz (1970)
verursacht durch Mikrodeletionen auf dem Chromosom 1). Wir
haben es also bei der Thalidomidembryopathie mit dem Beispiel
einer Phänokopie einer Erbkrankheit zu tun, die durch das
Medikament Thalidomid verursacht wird. Teratogene Wirkungen können durch die unterschiedlichsten
Wenn wir die Ursachen für die Entstehung von Phänokopien Medikamente, durch Nikotingenuss und andere umweltbedingte
(7 Abschn. 1.2.2) verstehen wollen, müssen wir uns darüber Einflüsse während der Schwangerschaft verursacht werden. In
bewusst sein, dass diese durchaus identisch mit den genetischen vielen Fällen sind Embryopathien in ihren Ursachen noch viel
Ursachen für einen bestimmten Phänotyp sein können. Stellen schwieriger zu ermitteln als beim Thalidomid, das wegen seines
wir uns einerseits vor, dass ein (erblicher) Phänotyp durch die charakteristischen Wirkungsspektrums noch relativ schnell als
permanente Inaktivierung eines Gens (also dessen Ausfall) ver- Ursache erkannt worden war.
ursacht wird, so ist es ebenso gut auch vorstellbar, dass das- Zu den schwerwiegenden Embryopathien gehört die Alko-
selbe Gen, obwohl in voll funktioneller Form im Genom vorhan- hol-Embryopathie, die durch Alkoholgenuss während der
den, durch äußere Einflüsse, etwa durch eine spezifisch darauf Schwangerschaft ausgelöst wird (. Abb. 12.47). Sie äußert sich in
einwirkende chemische Verbindung, während des maßgeblichen schwerer geistiger Behinderung (mittlerer Intelligenzquotient
Zeitraums in seiner Funktion gestört wird. Das würde zu dem
gleichen Phänotyp führen, wie er bei einem defekten Gen ent-
steht. Der einzige Unterschied ist, dass die umweltbedingte In-
aktivität nicht erblich ist, sodass also alle Nachkommen gesund
sind.

*Trotz über 50 Jahre intensiver Forschung blieb der Wirkungs-


mechanismus von Thalidomid lange völlig unklar. Kürzlich
berichtete eine Arbeitsgruppe aus Tokio, dass Thalidomid
von dem Protein Cereblon (Gensymbol: CRBN; Chromosom
3p26) direkt gebunden wird. Cereblon ist eine Untereinheit
der E3-Ubiquitin-Ligase und reguliert gemeinsam mit DBB1
(DNA damage-binding protein 1; Chromosom 11q12) und
CUL4 (Cullin; CUL4A, Chromosom 13q34; CUL4B, Chromo-
som Xp24) die Entwicklung der Extremitäten. Die E3-Ubiqui-
tin-Ligase-Aktivität ist für die Fgf8-Expression wichtig, die
wiederum für die Extremitätenentwicklung besonders be-
deutsam ist. Auch die Culline sind Bestandteile des Ubiqui-
tin-Ligase-Komplexes (Ito und Handa 2012). Allerdings
bleibt es trotz dieses Fortschritts weiterhin unklar, wie es
Thalidomid vermag, die Entwicklung eines menschlichen
. Abb. 12.47 Kind mit Alkohol-Embryopathie. Alkoholkonsum während
Embryos in einem so kurzen Zeitfenster so spezifisch und so
der Schwangerschaft führt zu schweren Entwicklungsstörungen des Kindes,
massiv zu schädigen. Eine Mutation im CRBN-Gen führt zu Verzögerung der geistigen Entwicklung, aber auch Organmissbildungen.
geistiger Behinderung ohne Konsequenzen für die Extremi- (Aus Tariverdian und Buselmaier 2004, mit freundlicher Genehmigung von
tätenentwicklung. Springer)
576 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

[IQ] von 68) und in allgemeinen Entwicklungsstörungen. Bei- dickung des Oberflächenektoderms (bei der Maus am Tag 9,5
spielsweise haben Alkohol-Embryopathie-Patienten bei einem der Embryonalentwicklung, E 9,5). Die Plakoden können allge-
mittleren Lebensalter von 16½ Jahren nur das Vokabular von mein als Anlagen der Sinnesfelder im Ektoderm des Embryos
6½-Jährigen. Man nimmt an, dass ein Drittel bis die Hälfte der aufgefasst werden. Die Linsenplakode steht in engem Kontakt
Kinder von Alkoholikerinnen, die während der Schwangerschaft mit dem darunterliegenden Neuroektoderm des Diencepha-
regelmäßig Alkohol zu sich nehmen, von Entwicklungsstörun- lons. Dadurch wird die Einstülpung der Linsenplakode indu-
gen betroffen ist. In den USA rechnet man mit einer Prävalenz ziert. Die gebildete Linsengrube schließt sich zu einem Linsen-
des fetalen Alkoholsyndroms von 0,3 bis 9,1 pro 1000 Neuge- bläschen zusammen (E 11,5) und schnürt sich vom Oberflä-
borenen. In der Häufigkeit congenitaler geistiger Behinderun- chenektoderm ab. Das neu gebildete Oberflächenektoderm
gen  liegen sie damit unmittelbar hinter dem Down-Syndrom entwickelt sich weiter zur Hornhaut (Cornea), während das
(7 Abschn. 13.2.1) und der Spina bifida; die Alkohol-Embryo- doppelwandige Neuroektoderm zur Netzhaut (Retina) wird:
pathie gilt als die häufigste Ursache geistiger Behinderung welt- Der äußere Teil bildet das Pigmentepithel und der innere Teil die
weit. Neuroretina. An der Spitze des doppelwandigen Augenbechers
entwickeln sich Iris und Ciliarkörper, wohingegen die Verbin-
> Die Einwirkung bestimmter Substanzen wie Medikamente,
dung des Augenbechers zum Zwischenhirn (der Augenbecher-
Alkohol, Nikotin u. a. während der Embryonalentwicklung
stil) den Platz bereitstellt, in dem der Sehnerv retrograd zum
kann schwere irreversible, aber nicht-erbliche Schäden
Gehirn auswächst.
hervorrufen. Diese Schäden gleichen oft Phänotypen (Phä-
Die Linse (. Abb. 12.48b) entwickelt sich aus dem Linsen-
nokopie), die auch erblich bedingt sein können, da sie
bläschen, indem von posterior zunächst die primären Linsen-
auf der Störung von Genfunktionen beruhen können, wie
fasern in das Lumen des Linsenbläschens einwachsen und es
sie auch durch Mutationen induziert werden.
ausfüllen. In einem zweiten Schritt lagern sich die sekundären
Linsenfaserzellen appositionell auf die primären Faserzellen auf.
Dieser Prozess der Bildung sekundärer Faserzellen aus der ger-
12.6.4 Organentwicklung bei Säugern minativen Zone des anterioren Linsenepithels hält ein Leben
lang an. Da aber umgekehrt keine Zellen in der Linse absterben,
Nach der endgültigen Festlegung der Körperachse entsteht im enthält der zentrale Linsenkern Zellen, die so alt sind wie der
Verlauf der weiteren Embryonalentwicklung eine Vielzahl von Organismus selbst. Im Zuge der terminalen Faserzelldifferen-
12 Organen. Die Entscheidung, an welcher Stelle und zu welchem zierung werden im Zentrum der Linse alle Zellorganellen (Zell-
Zeitpunkt Organe ausgebildet werden, wird durch verschiedene kerne und Mitochondrien) abgebaut. Die inneren Zellen werden
Induktionsprozesse gesteuert, deren detaillierte molekulare über kleine Membrankanäle (engl. gap junctions) mit Metaboli-
Untersuchung derzeit Gegenstand vieler experimenteller Arbei- ten aus den anterioren Epithelzellen versorgt. Die Augenent-
ten ist. Eine Reihe von Genfamilien taucht dabei in Variationen wicklung beim Menschen verläuft im Prinzip ähnlich. Das
immer wieder auf; wir haben auch einige Vertreter schon bei Augenbläschen bildet sich in der 4. Schwangerschaftswoche und
Drosophila und Caenorhabditis kennengelernt: Es sind die Hox-, 1 Woche später das Linsenbläschen. Am Ende der 5. Woche ist
Pax-, BMP-, hedgehog-, Fgf- und Wnt-Gene, die wichtige Funk- die Linse mit den primären Linsenfasern gefüllt, und der Diffe-
tionen in diesen Prozessen ausüben. Wir wollen uns im Rahmen renzierungsprozess kann beginnen.
dieses Buches auf die Entwicklung der Augen und der Glied- Die Hornhaut bildet sich als Ergebnis verschiedener Induk-
maßen beschränken. Wir hatten dabei die Aspekte der Augen- tionsprozesse während der Augenentwicklung, wobei am Ende
entwicklung sowohl bei Drosophila als auch beim Zebrafisch ein typisches Oberflächenektoderm in ein transparentes, viel-
besprochen, sodass interessante Querbeziehungen hergestellt wer- schichtiges Gewebe transformiert wird (. Abb. 12.48c). Dazu
den können. tragen Zellen verschiedenen Ursprungs bei, vor allem Neural-
leistenzellen. Unter dem Einfluss von Thyroxin und Hyaluroni-
Augenentwicklung bei Säugern dase wird das Stroma der Hornhaut dehydratisiert und seine
Während der Gastrulation ist das sich entwickelnde Auge noch Kollagen-haltige Matrix wird transparent.
als ein zentrales Augenfeld im vorderen Kopfbereich lokalisiert Die Retina bildet sich aus den zwei Schichten des Augenbe-
(. Abb. 12.48a). Unter dem Einfluss von Genen, die für die Aus- chers (. Abb. 12.48d). Die Zellen der äußeren Schicht bilden das
bildung der Mittellinie verantwortlich sind (also vor allem Shh), Pigmentepithel. An den Rändern, wo die innere und die äußere
teilt sich das Augenfeld auf und wandert seitwärts. Der Ausfall Schicht ineinander übergehen, entwickelt sich die Iris und das
von Shh in einer entsprechenden Knock-out-Mutante der Maus Epithel des Ciliarkörpers (der Ciliarmuskel wird durch einwan-
führt zur Ausbildung einer zentralen Augenanlage (»Zyklopen- dernde Mesenchymzellen gebildet). Aus den Zellen der inneren
auge«), die sich aber nicht weiterentwickelt. Die Auswirkungen Schicht entwickelt sich das vielschichtige Netzhautgewebe mit
auf die Entwicklung des Gehirns und des gesamten Kopfbereichs Gliazellen, Ganglienzellen und den lichtempfindlichen Photo-
sind jedoch so massiv, dass diese Mausmutanten in der Regel rezeptorzellen.
nicht lebensfähig sind. Eine vergleichbare Erbkrankheit des Ein erster systematischer Ansatz zur Sammlung von Augen-
Menschen ist die Holoprosencephalie. mutanten der Maus wurde Ende der 1970er-Jahre von Jana
Üblicherweise beginnt die Darstellung der Augenentwick- Kratochvilova und Udo H. Ehling (1979) begonnen, als sie
lung mit der paarigen Entstehung der Linsenplakode als Ver- männliche Keimzellen mit Röntgenstrahlen behandelten und
12.6 · Entwicklungsgenetik bei Säugern
577 12

C
Chiasma opticum

. Abb. 12.48 Schema der Augenentwicklung bei Säugern. a In den frühen


Phasen der Embryonalentwicklung teilt sich das zentrale Augenfeld in
zwei Augenanlagen. Die Linsenplakoden stülpen sich ein und bilden nach
dem Abschnüren vom Oberflächenektoderm das Linsenbläschen. Aus
dem Linsenbläschen entwickelt sich die Linse (b), aus dem Oberflächen-
ektoderm bildet sich die Hornhaut (c), und die Retina entsteht aus den
beiden Schichten des Augenbechers (d; RPE: retinales Pigmentepithel).
(Nach Graw 2003, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing
Group)

die Nachkommen auf induzierte, erbliche Katarakte und äußer- (Favor und Neuhäuser-Klaus 2000). Eine Übersicht über die
lich sichtbare Veränderungen der Augen (z. B. kleine Augen = wichtigsten Gene vermittelt . Tab. 12.3.
Mikrophthalmie; engl. small eye) untersuchten. Die Methode Dabei zeigte sich, dass eine große Gruppe von Mutanten mit
wurde später auf die Induktion von Mutationen durch das che- Mikrophthalmie auf Veränderungen im Pax6-Gen zurückge-
mische Mutagen Ethylnitrosoharnstoff (ENU) ausgeweitet und führt werden können. Wir haben schon bei der Besprechung der
wird heute in vielen großen Labors in genetischen Screens ange- Drosophila-Augenentwicklung gesehen, dass das Pax6-Gen der
wendet. Aus den Experimenten der letzten 35 Jahre sind über 200 Säuger dem eyeless-Gen von Drosophila entspricht und dass es oft
unabhängige Linien dominanter Augenmutanten der Maus her- als Schlüsselgen (engl. master control gene) der Augenentwick-
vorgegangen und in der Neuherberger Sammlung vorhanden lung bezeichnet wird. Heterozygote Mutanten der Maus zeich-
578 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

. Tab. 12.3 Wichtige Gene der Augenentwicklung bei Säugern

Gen Chromosom Phänotyp bei Mutationen

Mensch Maus* Mensch Maus

Transkriptionsfaktoren:

CHX10 14q24 12 (38) Mikrophthalmie und Katarakt Mikrophthalmie

Eya1 8q13 1 (10) Peter’s Anomalie, Katarakt, Nystagmus; Viele Symptome außerhalb des Auges; homozygot: letal
Erkrankungen des Ohrs und der Niere

FoxC1 6p25 13 (20) Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt Heterozygot: Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt;
homozygot: letal

FoxE3 1p32 4 (50) Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt Heterozygot: milde Linsenanomalien;


homozygot: keine Linse

Maf 16q23 8 (61) Katarakt, Mikrophthalmie, Fehlbildungen im Heterozygot: Katarakt;


vorderen Augenabschnitt homozygot: Mikrophthalmie, Katarakt und Erkrankungen in
anderen Organen (z. B. Niere)

Mitf 3q14 6 (40) Waardenburg-Syndrom Mikrophthalmie; verschiedene rezessive und dominante


Allele

Msx2 5q34 13 (32) Missbildungen des Gesichtsschädels inkl. des Bei Überexpression Apoptose im Augenbläschen
Auges

Pax2 10q22 19 (43) Anomalien am Auge (Kolobom) und an der Niere Anomalien am Auge (Kolobom) und an der Niere

Pax6 11p13 2 (58) Aniridie, Peter’s Anomalie, einige mit Katarakt Mikrophthalmie, Katarakt, Hornhauttrübung;
und Glaukom homozygot: keine Augen und nicht lebensfähig;
auch hypomorphe Allele möglich
12 Pitx2 4q25 3 (58) Rieger-Syndrom Heterozygot: Rieger-Syndrom;
homozygot: letal

Pitx3 10q25 19 (47) Katarakt; Fehlbildungen im vorderen Augen- Homozygot: keine Linse
abschnitt

Prox1 1q32 1 (96) Kein Krankheitsbild beschrieben Heterozygot: leere Linse, postnatal letal;
homozygot: letal

Rx 18q21 18 (38) Anophthalmie, Mikrophthalmie Homozygot: Anophthalmie

Six3 2p21 17 (55) Holoprosencephalie Heterozygot: kein auffälliger Phänotyp;


homozygot: perinatal letal

Six5 19q13 7 (10) Branchiootorenales Syndrom Trübungen der Augenlinse (Katarakt)

Sox2 3q26 3 (15) Anophthalmie, Mikrophthalmie Heterozygot: kein Phänotyp;


homozygot: letal

Signalmoleküle:

BMP4 14q22 14 (15) Anophthalmie/Mikrophthalmie mit zusätzlichen Heterozygot: Fehlbildungen im vorderen Augenabschnitt;
Erkrankungen homozygot: keine Linseninduktion

BMP7 20q13 2 (102) keine Augenerkrankungen Bei Überexpression Schädigung der Retina und der Linse

Shh 7q36 5 (16) Holoprosencephalie Zyklopenauge; schwere allgemeine Entwicklungsstörungen

* in Klammern: Position in cM;


Nach Graw (2003); ergänzt nach OMIM (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim; April 2015)

nen sich durch kleine Augen aus, homozygote Mutanten haben Gens der Maus in Drosophila setzt die Kaskade der Augen-
keine Augen und sind oft wegen weiterer Missbildungen nicht entwicklung in Gang: In einem bahnbrechenden Experiment
lebensfähig. Heterozygote Merkmalsträger des Menschen lei- (Halder et al. 1995) konnten Walter Gehring und seine Mitar-
den an Aniridie (Verlust der Iris), Katarakten (Linsentrübung) beiter 1995 zeigen, dass dadurch an Antennen oder Gliedmaßen
oder Peter’s Anomalie. Die ektopische Expression des Pax6- von Drosophila elektrophysiologisch aktive Ommatidien-Augen
12.6 · Entwicklungsgenetik bei Säugern
579 12
gebildet werden. Damit hat sich die Hypothese der getrennten
Evolution der Ommatidien- und Linsenaugen als falsch heraus-
gestellt (7 Abschn. 12.4.6; . Abb. 12.36b). Pax6 ist außerdem für
die Entwicklung des Gehirns und des Pankreas wichtig.
Das Gen Pax2 ist für die Entwicklung des posterioren Augen-
a
abschnitts und die Entwicklung des Sehnervs verantwortlich.
Heterozygote Pax2-Mutanten der Maus zeichnen sich durch ein
Kolobom des Sehnervs aus (Erhalt der embryonalen Augenbe-
cherspalte); entsprechende Erbkrankheiten des Menschen sind
ebenso beschrieben. Sowohl bei der Maus wie auch beim Men-
schen treten zusätzlich zu den Störungen der Augenentwicklung b c
auch Nieren- und Gehirnschäden auf.
Ein weiteres interessantes Gen ist Pitx3. Es ist ein Transkrip-
tionsfaktor mit dem charakteristischen Merkmal einer Homöo-
box, der während der frühen Linsenentwicklung exprimiert wird.
Mutationen dieses Gens zeigen bei Menschen in verschiedenen d e
Familien dominante Fehlentwicklungen des vorderen Augen-
abschnitts, die mit Katarakten verbunden sind; das humane
PITX3-Gen liegt auf dem Chromosom 10q24. Bei der Maus liegt
es auf dem Chromosom 19 und wird bei der rezessiven Mutante
aphakia nicht exprimiert. Die homozygote Mutante aphakia (ak)
wurde als beidseitig aphak (»ohne Linse«) beschrieben; auch eine f g
Pupille wird nicht gebildet. Die anomale Augenentwicklung
homozygoter ak-Mäuse wird zuerst im Stadium des Linsen-
bläschens beobachtet und führt zu einem Stillstand der Linsen-
entwicklung auf der Stufe des Linsenstils; dieses Stadium ist
üblicherweise nur ein Zwischenschritt bei der Abschnürung des
Linsenbläschens. Die späteren Veränderungen betreffen die Ent-
wicklung des gesamten Auges und führen schließlich zu einem h i
vollständigen Zusammenbruch der morphologischen Augen- . Abb. 12.49 Linsen von Mäusen mit angeborenen dominanten Kata-
strukturen. rakten. Die Linsen wurden von Mäusen im Alter von 3 Wochen präpariert.

*Pitx3 spielt außer in der Augenentwicklung auch bei


der Gehirnentwicklung eine wichtige Rolle, wo es in der
In a ist eine Wildtyp-Linse zum Vergleich gezeigt. Obwohl alle acht Muta-
tionen Gene betreffen, die für γ-Kristalline codieren (Gensymbol: Cryga–Crygf),
ist die Stärke der Schädigung unterschiedlich. Eine Korrelation mit der Art
Substantia nigra exprimiert wird: Diese Region bildet der Mutation ist nicht möglich. In vielen Fällen ist ein semi-dominanter
Nervenzellen mit Dopamin als Neurotransmitter, und der Effekt zu beobachten (d. h. in homozygoten Trägern ist das Merkmal stärker
ausgeprägt; links: heterozygote Träger, rechts: homozygote Träger). Die
Verlust von Dopamin gehört zu den wichtigen moleku-
Mutationen betreffen die Gene Cryga (b, c), Crygc (d, e), Crygd (f, g) und
laren Charakteristika der Parkinson’schen Erkrankung Crygd (h, i). (Nach Graw et al. 2004, mit freundlicher Genehmigung der
(7 Abschn. 14.5.3). In Pitx3-Mutanten fehlen auch die dopa- Association of Researchers in Vision and Ophthalmology)
minergen Neuronen, sodass sie auch als Parkinson-Modelle
betrachtet werden (Smidt et al. 2004, Rosemann et al. 2010).
Unterstützt wird dieser Befund durch epidemiologische
der sechs CRYG-Gene vor; zwei sind nur noch als Pseudogene
Untersuchungen, die zeigen, dass Parkinsonismus auch
aufgrund ihrer Sequenzähnlichkeit erkennbar. Alle bekannten
mit einem Polymorphismus im Promotor des PITX3-Gens
Cryg-Mutationen bewirken Veränderungen der Linsenfaser-
assoziiert ist (Fuchs et al. 2009).
zellen; die Katarakt-Augen sind allerdings insgesamt immer
Innerhalb der Sammlungen von Augenmutanten der Maus kleiner als die Augen des Wildtyps (. Abb. 12.49). Die wesent-
nimmt die Gruppe der γ-Kristallin-Mutanten den größten Platz lichen Effekte der Mutationen in den Cryg-Genen sind Verän-
ein. Die γ-Kristalline gehören zur Familie der β/γ-Kristalline derungen im Differenzierungzustand der Linsenfaserzellen, die
(7 Abschn. 7.2.4). Das sind Strukturproteine der Augenlinse mit bereits am Tag 15 der Embryonalentwicklung einsetzen. Auch
charakteristischen Faltungsmotiven (vier Griechische Schlüs- beim Menschen sind Mutationen in den CRYG-Genen als Ur-
selmotive), die von insgesamt 14 Genen codiert werden. Die sache für angeborene Katarakte beschrieben. Überraschender-
Gene für die γ-Kristalline sind in einem Cluster von sechs Ge- weise findet man in den Cryg-Genen der Maus und den CRYG-
nen (Cryga → Crygf) auf dem Chromosom 1 der Maus lokali- Genen des Menschen eine ganze Reihe von Polymorphismen,
siert. Diese eng verwandten Gene codieren mit drei Exons je- die aber nicht mit den angeborenen Linsentrübungen zusam-
weils ein Protein mit einem Molekulargewicht von 20 kDa. Die menhängen. Es könnte aber sein, dass sie einen Einfluss auf die
Cryg-Gene werden bei Säugetieren überwiegend in der Linse Ausbildung der Alterskatarakt (Cataracta senilis) beim Men-
exprimiert. Allerdings kommen beim Menschen nur noch vier schen haben.
580 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Gliedmaßenentwicklung bei der Maus knospe exprimiert. Wnt5a-Knock-out-Mäuse haben stark ver-
Eine Übersicht über die Entwicklung der Gliedmaßen der Maus kürzte Gliedmaßen, wobei die eher distalen Regionen stärker
ist in . Abb. 12.50a gezeigt; sie ist der Entwicklung bei Men- betroffen sind.
schen und Hühnern sehr ähnlich. Die Gliedmaßen entwickeln Die Signalmoleküle in der ZPA sind vor allem Retinsäure
sich aus kleinen Knospen (engl. limb buds), die an den entspre- (ein Vitamin-A-Derivat; vgl. auch 7 Abschn. 12.6.1), Sonic
chenden Stellen entlang der Kopf-Schwanz-Achse des Embryos Hedgehog (Shh) und BMPs (engl. bone morphogenetic proteins).
entstehen und im Kern aus undifferenzierten Mesenchymzel- Die wichtigsten BMPs der Säuger (BMP2 und BMP4) entspre-
len bestehen. Die Gliedmaßenknospe hat drei Polaritätsachsen chen dabei dem Drosophila-Protein Decapentaplegic (Dpp),
(. Abb. 12.50b): und Shh gehört zur Familie der Hedgehog-Proteine, die wir
4 die proximo-distale Achse (Schulter zur Fingerspitze); ebenfalls von Drosophila her bereits kennen (siehe dort den
4 die anterio-posteriore Achse (Daumen zu kleinem Finger); Abschnitt über Flügelentwicklung, 7 Abschn. 12.4.6). Dabei
4 die dorso-ventrale Achse (Knöchel zur inneren Hand- kontrolliert Shh die Breite der Gliedmaßen, und die BMPs
fläche). determinieren den Fingertyp. Endogene Retinoide sind wahr-
scheinlich dafür verantwortlich, dass die ZPA etabliert und der
Als besonders wichtige Areale in der Gliedmaßenentwicklung proximale Teil der Gliedmaßen ausgebildet wird (Schultergürtel
sind die Polaritätszone (engl. zone of polarizing activity, ZPA) und Oberarm), wohingegen Shh und BMPs zusammenwirken,
und der apikale epidermale Kamm (engl. apical epidermal ridge, um die mittleren (Elle und Speiche) und distalen Segmente (Fin-
AER) zu nennen. In der zuletzt genannten Region sind insbeson- ger) zu bilden. Dies erklärt auch die teratogene Wirkung von
dere verschiedene Fibroblasten-Wachstumsfaktoren (engl. fib- Vitamin A.
roblast growth factor, FGF) aktiv. Einer der Schlüsselfaktoren ist Eine dritte Gruppe von Genen umfasst zwei Mitglieder des
dabei FGF10; Fgf10-Mutanten (Fgf10−/−) haben keine Arme und Hox-Genclusters, Hoxa (Hoxa9−Hoxa13) und Hoxd (Hoxd9−
Beine. Entsprechende Phänotypen findet man auch, wenn der Hoxd13), die in überlappenden Domänen in den frühen Glied-
Rezeptor im Ektoderm nicht aktiv ist. maßenknospen exprimiert werden. Dabei werden die 5’-liegen-
Neben den FGFs spielen Mitglieder der Wnt-Familie eine den Gene später und eher distal exprimiert (. Abb. 12.51). Die
wichtige Rolle: Wnt7a ist für die dorso-ventrale Musterbildung Analyse einiger Mutanten der Maus zeigt, dass die Hoxa11- und
verantwortlich. Es wird im dorsalen Ektodem exprimiert, aber Hoxd11-Gene beispielsweise das mittlere Segment der Glied-
nicht im AER oder im ventralen Ektoderm. Neben Wnt7a wird maßen betreffen und Hoxa13 und Hoxd13 eher die Entwicklung
12 Wnt5a in einem Gradienten im Mesenchym der Gliedmaßen- der Finger.

a
b

. Abb. 12.50 Gliedmaßenentwicklung bei Mäusen. a Die vorderen Gliedmaßen der Maus in verschiedenen Stadien der Embryonalentwicklung (von oben
nach unten: Tag 11, 13, 14 und 15). Die Gliedmaßen sind mit Alcian-Grün gefärbt, um das Skelettmuster zu zeigen, das zunächst als Knorpel angelegt wird.
b Zell-Zell-Interaktionen bei der Gliedmaßenentwicklung. Die obere Reihe zeigt die signalgebenden Regionen aus einer dorsalen Ansicht; in der Mitte ist
ein Schnitt durch eine Gliedmaßenknospe gezeigt. Die Achsen sind in einem Diagramm angegeben mit p: proximal, di: distal, d: dorsal. Die untere Reihe
zeigt die Expression von Genen, die für Signalmoleküle codieren: im apikalen ektodermalen Kamm verschiedene Fibroblasten-Wachstumfaktoren (links);
im dorsalen Ektoderm Wnt7a (Mitte); Shh und Bmp2 in der Region polarisierender Aktivität (rechts), die auch hohe Konzentrationen an Retinsäure enthält.
(Nach Tickle 2002, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)
12.6 · Entwicklungsgenetik bei Säugern
581 12
a b
+/+

. Abb. 12.51 Expressionsmuster von Hox-Genen bei der Gliedmaßenent-


wicklung. Als Antwort auf Signale (vgl. . Abb. 12.50b) werden einige Tran- Dbf/+
skriptionsfaktoren in der Gliedmaßenknospe exprimiert. a Überlappende
Muster der Expression der 5’-Hoxa-Gene. b Überlappende Muster der Hoxd-
Gene. Zur Vereinfachung sind nicht alle Gene der 5’-Region des Clusters an-
gegeben, und nur die mesenchymalen Zellen am posterior-distalen Ende
der Gliedmaßen exprimieren Hoxd13 und Hoxa13. (Nach Tickle 2002, mit
freundlicher Genehmigung von Wiley)

C Ein schönes Beispiel für die Bedeutung des Shh-Signalweges


ist die Mutante Doublefoot (Gensymbol: Dbf). Dabei handelt
es sich um eine spontane Mutante, die eine ausgeprägte Po-
b
lydaktylie (Überzahl von Fingern und/oder Zehen) ohne eine
anterior-posteriore Achse aufweist (. Abb. 12.52). Die Muta- . Abb. 12.52 Skelettmuster im rechten Hinterbein einer Maus. a Wildtyp-
tion kartiert auf dem Maus-Chromosom 1 in einer Region, Embryo (+/+). b Doublefoot-Mutante (Dbf/+) am Tag 17,5 der Embryonal-
die dem menschlichen Chromosom 2q25 entspricht – einer entwicklung. Dieses Beispiel des Doublefoot-Phänotyps zeigt einen Zeh
Region, in der zwei Genorte für Brachydaktylie (Verkürzung »zwischen den Zehen« (dicker roter Pfeil) und eine Gabelung eines Zehs (klei-
ner roter Pfeil); beachte auch die Abwesenheit des zweigliedrigen 1. Zehs.
der Finger) vorkommen. Die Mutante zeigt zwar ein norma-
(Nach Crick et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)
les Expressionsmuster von Shh und Ptc1, aber Ihh wird ekto-
pisch exprimiert und führt zur Vergrößerung der Extremitä-
tenknospe. Doppelmutanten (Shh−/−, Dbf+/−) zeigen den
Doublefoot-Phänotyp an den Zehen, aber den Shh-Null-Phä-
12.6.5 Keimzellentwicklung und Geschlechts-
notyp am Kopf; offensichtlich beeinflusst Dbf also den Shh-
determinierung bei Säugern
Signalweg bei der Gliedmaßenentwicklung (Shh−/−-Mutan-
ten haben nur einen rudimentären Zeh), nicht aber bei
Die Keimzellen üben auf viele Genetiker, Zell- und Entwick-
der Entwicklung des Kopfskeletts. Die Doublefoot-Mutante
lungsbiologen eine einzigartige Faszination aus: Sie sind für
enthält eine große Deletion (~ 600 kb), die etwa 25 Gene
die Reproduktionsfähigkeit aller Arten essenziell, die von sexu-
oberhalb des Ihh-Gens liegt (Babbs et al. 2008).
eller Fortpflanzung abhängen, und sie sind das einzige Mittel,
Wie bei den schon früher besprochenen Beispielen gilt auch um genetische Information auf die nachfolgenden Generationen
hier, dass die erwähnten Gene nur einige wenige ausgewählte zu übertragen. Aus einer kleinen Gruppe von Urkeimzellen ent-
Beispiele repräsentieren und die Entwicklung der Gliedmaßen wickeln sie sich durch eine Vielzahl genetischer, epigenetischer
ein wesentlich komplexerer Prozess ist, der in einem allgemeinen und morphologischer Schritte zu reifen Spermien oder Oocyten.
Lehrbuch der Genetik nur angedeutet werden kann. Eine Über- Die Meiose, durch die die diploiden Keimzellen zu haploiden
sicht über wichtige Gene in der Entwicklung der Extremitäten Gameten werden, ist unter den Tausenden von Zellen im Kör-
gibt . Tab. 12.4. per einzigartig (7 Abschn. 6.3.2). Die Gameten, die schließlich
auf diesem Wege entstehen, sind hochspezialisiert für einen
> Die Organentwicklung bei Säugern wird – ähnlich wie bei eigentlich unwahrscheinlichen Vorgang, die Befruchtung –
Drosophila und dem Zebrafisch – durch hierarchisch ge- ein Flaschenhals, von dem das Überleben der Art unmittelbar
steuerte Netzwerke von Transkriptionsfaktoren, Signal- abhängt.
proteinen und ihren Rezeptoren sowie durch Strukturpro- Morphologisch können Keimzellen während der frühembryo-
teine gesteuert. Diese genetischen Netzwerke sind in der nalen Entwicklung bereits kurze Zeit nach der Zygotenbildung
Evolution konserviert; Mutationen machen sich durch Ver- erkannt werden, wenn sie aus dem Dottersack auswandern und
änderungen des Phänotyps bzw. congenitale Erbkrank- den Keimstreifen (engl. gonadal ridge) besiedeln. Danach beginnt
heiten bemerkbar. Häufig sind diese phänotypischen Ver- die sexuelle Differenzierung der Keimzellen. Einen kurzen Über-
änderungen bzw. Erbkrankheiten nicht auf ein Organsys- blick über die Keimzellentwicklung der Maus gibt . Abb. 12.53.
tem beschränkt, sondern haben pleiotrope Effekte. Die morphologischen Details sind in den einschlägigen entwick-
582 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

. Tab. 12.4 Molekulare Basis der Musterbildung während der Extremitätenentwicklung

Gene für Signalmoleküle Gene für Rezeptoren Phänotyp bei Mutationen

Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF):

Fgf4 Fgfr2 Apert-Syndrom, Pfeiffer-Syndrom, Jackson-Weiss-Syndrom

Fgf8 Fgfr1 Pfeiffer-Syndrom

Fgf9 Fgfr3 Achondroplasia

Fgf10

Wnt-Signale:

Wnt7a frizzleds Abwesenheit von Elle und Wadenbein

Wnt3a frizzleds Abwesenheit von Elle und Wadenbein

Wnt5a frizzleds Abwesenheit von Elle und Wadenbein

Hedgehog-Signale:

Ihh (Knorpel) Hip (Hedgehog interacting protein) Maus: Tod bei Geburt (vergrößerter Embryo); Anophthalmie

Shh Patched (Ptch1, Ptch2), Smoothened (Smo) Holoprosencephalie

Gli3 Greig-Cephalosyndaktylie, Pallister-Hall-Syndrom

Morphogenetische Knochenproteine (BMPs):

Bmp2 Bmp-Rezeptoren (Bmpr1a, Bmpr1b, Brachydaktylie;


Bmpr2) Maus: Tod während der Embryonalentwicklung (Herzentwicklung)

Bmp4 Polydaktylie, Mikrophthalmie

Bmp7 Maus: Tod nach der Geburt; schwere Skelett- und Knochendefekte
12 Gene, die als Antwort auf Signale exprimiert werden:

Hoxa9–Hoxa13 Hand-Fuß-Genital-Syndrom

Hoxd9–Hoxd13 Polysyndaktylie

Lmx1 Erkrankungen an Finger- und Zehennägeln sowie der Kniescheibe

Spalt Townes-Brockes-Syndrom

Tbx3 Erkrankungen an der Elle und den Brustdrüsen

Tbx4 Kleine Kniescheibe

Tbx5 Holt-Oram-Syndrom

Nach Tickle (2002); ergänzt nach OMIM (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim) und MGI (http://www.informatics.jax.org/) (April 2015)

lungsbiologischen oder zoologischen Lehrbüchern genauer aus- Gruppe von etwa 20 Zellen, die zwar den Urkeimzellen ähneln,
geführt; wir wollen uns im Folgenden vor allem der Frage wid- aber nicht wie Urkeimzellen zur Keimleiste wandern. Zusammen
men, welche genetischen Faktoren für die sexuelle Differenzie- mit Prdm14 (engl. PR domain-containing transcriptional regula-
rung der Keimzellen verantwortlich sind. tor 14) ist Blimp1 für die Aufrechterhaltung eines pluripotenten
Die Spezifizierung der Urkeimzellen beginnt – also die »Ge- Zustandes der Urkeimzellen verantwortlich, der sich unter ande-
burt« der Zellen der Keimbahn –, wenn einige wenige (sechs) rem in der Expression der Gene für die Transkriptionsfaktoren
Zellen des extraembryonalen Ektoderms durch Einwirkungen Nanog (benannt nach dem mystischen keltischen »Land der ewi-
von BMPs (engl. bone morphogenetic proteins) und ihren Signal- gen Jugend«, Tir nan Og) und Oct4 (engl. octamer 4) ausdrückt.
überträgermolekülen (engl. small body size und mothers against Die Urkeimzellen wandern dann zunächst vom extraembryo-
decapentaplegic, SMADs) die Kompetenz zur Keimzellentwick- nalen Ektoderm zu dem darunterliegenden Entoderm, das sich
lung erhalten. Andererseits müssen zu diesem Zeitpunkt die später zum Enddarm entwickelt. Das Entoderm stülpt sich ein
Wege der somatischen Differenzierung abgeschaltet werden. und nimmt dabei die Urkeimzellen mit. Diese wandern dann
Dies wird durch das Protein Blimp1 bewirkt (engl. B lymphocyte- entlang der Mittellinie durch das dorsale Mesenterium und be-
induced maturation protein 1), das die meisten Gene abschaltet, siedeln zwischen den Tagen 10 und 12,5 der Embryonalentwick-
die in der Nachbarschaft der Urkeimzellen sonst aktiv sind. lung in zwei lateralen Gruppen die sich bildenden Keimleisten.
Homozygote Blimp1−/−-Mäuse bilden dagegen eine kompakte Für diese Wanderung sind natürlich viele Signalmoleküle erfor-
12.6 · Entwicklungsgenetik bei Säugern
583 12
a
Vorläufer der
b Alter des Embryos
extraembryonales
Urkeimzellen Ektoderm
Epiblast
viszerales Beschränkung der Differenzierungs-
6–6,5 parietales
Entoderm möglichkeiten der PGCs im
Unterdrückung somatischer
Entoderm Zellprogramme in PGCs
extraembryonalen Mesoderm

extraembryonales Eintritt der PGCs in den Embryo


Ektoderm PGCs
Primitivstreifen Wanderung der PGCs zur sich X-Inaktivierung in
viszerales weiblichen PGCs
Entoderm proximaler entwickelnden Keimleiste
6,5–7,5 Epiblast
Apoptose ektopischer PGCs
Kolonialisierung der
Keimleiste durch PGCs
PGCs
Löschung der genetischen Mitotische Proliferation von PGCs
Prägung in den Keimzellen
7,5
Differenzierung der Keimzellen
X-Reaktivierung in weiblichen
Arretierung der männlichen PGCs
Keimzellen in der Mitose

Apoptose weiblicher Keimzellen


PGCs
Apoptose männlicher Keimzellen
Differenzierung der Keimzellen
(Eintritt in die Meiose)
8,5–10 Enddarm
Prospermatogonien in männlichen
Keimzellen in der G1/G0-Phase

Oocyten in der Prophase I

Epigenetische Neuprogrammierung
Apoptose weiblicher Keimzellen
10–12,5 männlicher Keimzellen
Keimzellen
Keimleiste

Apoptose männlicher Keimzellen Epigenetische Neuprogrammierung


Geburt
weiblicher Keimzellen

. Abb. 12.53 Keimzellentwicklung der Maus. a Die Festlegung der Urkeimzellen (engl. primordial germ cells, PGCs) erfolgt in zwei Schritten: Am Tag 6,5 der
Embryonalentwicklung erlangen die Zellen des Epiblasten, die direkt am extraembryonalen Ektoderm liegen, die Kompetenz, sich zu Urkeimzellen zu ent-
wickeln. Am Tag 7,5 ist dann ein Teil dieser Zellen als Urkeimzellen spezifiziert. Danach erfolgt die Wanderung der Urkeimzellen in drei Phasen: Wenn sich
ab Tag 7,5 der Enddarm einfaltet, wandern auch die Urkeimzellen in den Embryo ein. Zwischen den Tagen 8,5 und 10 wandern die Urkeimzellen vom End-
darm zu den sich bildenden Keimleisten, die danach von den Keimzellen besiedelt werden. b Zeitliche Abfolge der wichtigsten Schritte in der Keimzellent-
wicklung: Spezifikation, Proliferation, Apoptose, Besiedelung der Keimleiste, genetische Reprogrammierung, Aktivität des X-Chromosoms und Differenzie-
rung der Keimzellen (für Details siehe Haupttext). Links: Spermien; rechts: Oocyten; die Zahlenangaben sind die Tage nach der Befruchtung. (Nach Ewen
und Koopman 2010, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

derlich: Für die Initiation ist der Ligand von c-Kit entscheidend Nach dem Eintritt in die Keimleiste durchlaufen die Keimzel-
(engl. kit ligand, auch als stem cell factor oder mast-cell growth len bemerkenswerte Veränderungen im Hinblick auf ihren Me-
factor bekannt); das Gen wurde wegen der entsprechenden Fell- thylierungszustand. Zuvor sind sie schon weitgehend hypo-
farbe der Mäuse als Steel bezeichnet (Gensymbol: Sl). Die Anwe- methyliert (wenn man sie mit somatischen Zellen vergleicht),
senheit des Kit-Liganden führt zur Autophosphorylierung von danach werden sie aktiv und genomweit demethyliert; das gilt
Kit und damit zur Aktivierung einer Signalkaskade, die letztlich sowohl für die geprägten Gene als auch für das inaktivierte
zur Aktivierung der Proteinkinase AKT (alternative Bezeich- X-Chromosom in weiblichen Zellen. Im Zusammenhang mit
nung: Proteinkinase Bα) führt. Weiterhin sind eine Reihe chemo- der Demethylierung wird auch das Chromatin umorganisiert;
taktischer Signale und Proteine der extrazellulären Matrix (z. B. heterochromatische Strukturen und die entsprechenden repres-
Kollagene, Fibronectin, Laminin, Tenascin-C, E-Cadherin) an siven Histonmarkierungen (wie H3K27me3 und H3K9me3)
der Festlegung der Wanderungsroute beteiligt. Während der gehen verloren und werden durch aktive Histonmarkierungen
Wanderung zur Keimleiste und nach deren Besiedelung teilen ersetzt (wie H3K4me und H3K9ac). Dieser Zustand bleibt er-
sich die Urkeimzellen ständig, sodass die Population am Tag 13,5 halten, bis die männlichen Keimzellen ihren eigenen Weg einge-
der Embryonalentwicklung auf ca. 25.000 Zellen angewachsen schlagen haben; bei den weiblichen Keimzellen sogar bis kurz vor
ist. dem Beginn der Ovulation (7 Abschn. 8.3.2 und 7 Abschn. 8.4).
584 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Keimleiste Beginn der


(bipotent) Meiose nach der
Geburt

Mesonephros als
Quelle für Retinsäure

. Abb. 12.54 Bedeutung der Retinsäure bei der Keimbahnentwicklung. Das Gen Aldh1a2 wird in der Urniere (Mesonephros) exprimiert und codiert für
eine Retinaldehyd-Dehydrogenase (gelb); die dadurch gebildete Retinsäure (RA, engl. retinoic acid) wirkt unmittelbar auf weibliche Keimzellen. Nicht-meio-
tische Keimzellen (schwarze Kreise) werden von der Retinsäure nicht beeinflusst, da hier die Retinsäure durch das Enzym Cyp26b1 (blau) schnell abgebaut
wird. Da Cyp26b1 nur in der bipotenten Keimleiste und in den männlichen Keimzellen exprimiert wird, bleiben diese in der Mitose arretiert und können
nicht in die Meiose eintreten. In der weiblichen Keimbahn bewirkt die Anwesenheit eines Retinsäuregradienten den Eintritt in die Meiose in Form einer an-
terio-posterioren Welle, die von einer Erhöhung der Expression von Stra8 (engl. stimulated by retinoic acid 8) und Sycp3 (engl. synaptonemal complex prote-
in 3) sowie einer Verminderung der Expression von Pou5f1 (engl. POU domain class 5, transcription factor 1; auch als Oct4, engl. octamer-binding transcription
factor 4, bezeichnet) begleitet wird (meiotische Zellen sind grün dargestellt). (Nach Rodríguez-Marí et al. 2013)

Unter dem Einfluss des SRY-Proteins (engl. sex-determining Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, durch welche
region on the Y-chromosome) wird die Wanderung der Urkeim- genetischen Faktoren das Geschlecht festgelegt wird. Wir haben
zellen in männlichen Organismen beendet; am Tag 12,5 der Em- oben schon gesehen, dass nur bei Anwesenheit und ausreichen-
bryonalentwicklung beginnt die Ausbildung der Hoden und der Aktivität des SRY-Gens die männliche Keimbahn gebildet
damit der Leydig’schen Zellen, die Testosteron synthetisieren. wird; bei Abwesenheit entsteht automatisch ein weiblicher Orga-
Männliche Keimzellen arretieren in der Mitose (G0/G1-Phase) nismus. Untersuchungen an Maus-Chimären haben gezeigt, dass
etwa am Tag 13 der Embryonalentwicklung und verbleiben in SRY in mesodermalen Sertolizellen aktiv ist und für die Produk-
diesem Ruhezustand bis zur Geburt, wenn sie sich wieder zu tion eines Hormons (AMH, abgeleitet vom engl. anti-Müllerian
12 teilen beginnen und zu der peripheren Basalmembran der Ho- duct hormone) verantwortlich ist, das für die Degeneration der
denkanälchen (Tubuli seminiferi) wandern. Dort differenzieren (weiblichen) Müller’schen Gänge sorgt. Möglicherweise ist es
sie zu Spermatogonien (spermatogoniale Stammzellen), die sich zudem für die Repression von Genen verantwortlich, die die Dif-
selbst erneuern können und Tochterzellen produzieren, die beide ferenzierung der Ovarien induzieren. In beiden Geschlechtern
Runden der Meiose durchlaufen und sich dabei zunächst zu sorgen die von den Gonaden produzierten geschlechtsspezifi-
Spermatiden entwickeln und schließlich zu reifen, funktionellen schen Sexualhormone für die weitere Entwicklung des jeweiligen
Gameten (Spermatozoen) differenzieren. Geschlechts. Somit ist bei Säugern die Geschlechtsbestimmung
Beim Fehlen des Einflusses von SRY im weiblichen Orga- kein zellautonomer Prozess wie bei Drosophila, sondern wird
nismus wandern die Urkeimzellen weiter in den Cortex und durch die Gonaden über eine hormonelle Steuerung auf den
induzieren dort am Tag 13,5 der Embryonalentwicklung die gesamten Organismus ausgeübt.
Bildung der Eierstöcke und die Umbildung der Müller’schen Neben SRY gibt es ein zweites Signalmolekül, das für die
Gänge zu Tuben, Uterus und Vagina. Die damit eingeleitete getrennten Wege in der weiblichen und männlichen Keimbahn-
sexuelle Differenzierung bei weiblichen Keimzellen beinhaltet entwicklung wichtig ist: Retinsäure. Retinsäure wird in der Ur-
auch den Beginn der Meiose; nach Erreichen der Diakinese niere (Mesonephros) gebildet und erreicht dann die Keimzellen
der meiotischen Prophase I bei der Geburt bleiben sie in diesem in der benachbarten Keimleiste. In der weiblichen Keimbahn ist
Ruhestadium (Dictyotän) bis zur Ovulation. Dann beenden sie es dafür verantwortlich, dass es dort die Meiose induziert. Das
die erste meiotische Teilung. Die zweite meiotische Teilung geschieht dadurch, dass eine Reihe von Genen eingeschaltet
stoppt vor der Metaphase II; sie wird erst nach der Befruchtung wird, die für die Einleitung der Meiose verantwortlich sind,
beendet. wie z. B. Stra8 (engl. stimulated by retinoic acid 8) und Sycp3
(engl. synaptonemal complex protein 3). Der Start in die Meiose
> Weibliche Keimzellen teilen sich nur während der embryo- folgt dabei dem Retinsäuregradienten in anterior-posteriorer
nalen Entwicklung. Zum Zeitpunkt der Geburt treten sie Orientierung. Dem Stra8-Gen kommt hierbei eine besondere
im Diakinesestadium der ersten meiotischen Teilung in Bedeutung zu: In Stra8-Null-Mutanten (Knock-out-Mäuse)
eine Ruhephase ein, die nach Erlangung der Geschlechts- wird kein Eintritt der weiblichen Keimzellen in die Meiose be-
reife beendet wird; die dann weitergeführte Meiose wird obachtet, und es wird auch das zweite wichtige Gen, Sycp3, nicht
erst bei der Befruchtung beendet. exprimiert.
Männliche Keimzellen teilen sich in der Embryonalphase In der männlichen Keimbahn wird Retinsäure allerdings
nicht; nach der Geburt bilden sich spermatogoniale durch das Cytochrom-P450-Enzym Cyp26b1 abgebaut und
Stammzellen, die beide meiotischen Teilungen durchlau- kann somit seine Meiose-induzierende Wirkung nicht entfal-
fen und zu reifen Spermien differenzieren. ten; wir können Cyp26b1 insofern als einen »Verhütungsfaktor«
12.7 · Stammzellen
585 12
der männlichen Meiose verstehen. Cyp26b1 ist damit für die a
Arretierung der männlichen Keimzellen in der Mitose zumin-
dest mitverantwortlich. . Abb. 12.54 zeigt eine Zusammen-
fassung der komplexen Situation während dieser entscheiden-
den Phase der Entwicklung männlicher und weiblicher Keim-
zellen.
> Bei Säugern erfolgt die Geschlechtsbestimmung durch SRY, b
ein Y-chromosomales Gen, das die embryonalen Gonaden-
anlagen als Testes determiniert. Bei Abwesenheit dieses
Gens differenzieren sich die Gonadenanlagen zu Ovarien.
Retinsäure stimuliert den Eintritt in die Meiose in weiblichen
Keimzellen. Die Ausprägung der geschlechtsspezifischen
Merkmale erfolgt unter hormonaler Kontrolle. c

12.7 Stammzellen

12.7.1 Totipotenz von Zellkernen


d
Wir wissen, dass es möglich ist, genetisch identische Pflanzen
durch vegetative Vermehrung zu erzeugen. Hierzu zerteilt man
z. B. Wurzelstöcke. Eine alternative Möglichkeit der vegetativen
Vermehrung ist die in-vitro-Kultur von Protoplasten, die es er-
laubt, genetisch identische Individuen aus Einzelzellen zu gewin-
nen. Zwei in diesem Zusammenhang wichtige Fragen haben wir . Abb. 12.55 Kerntransplantation bei Xenopus und der Maus. a Oogenese
und frühe Entwicklung bei Xenopus. b In Eizellen von Xenopus wird nach
jedoch bisher noch nicht gestellt: Sind alle Zellen eines Indivi-
einem Kerntransfer eine reprogrammierte Genexpression im späten Blastula-
duums genetisch völlig identisch? Besitzen sie die gleiche gene- stadium nach mindestens zwölf Zellteilungen beobachtet. c In Oocyten
tische Information, die die Zygote besessen hat, von der sie ab- von Xenopus wird nach einem Kerntransfer eine reprogrammierte Genexpres-
stammen? Beide Fragen gehören zu den Grundfragen der Ent- sion ohne DNA-Replikation und Zellteilungen beobachtet. d In der Maus
wicklungsbiologie und haben demgemäß die Biologen bereits in wird nach einem Kerntransfer in Eizellen die reprogrammierte Genexpres-
sion im Blastocystenstadium beobachtet. (Nach Gurdon et al. 2003, mit
den Frühzeiten der experimentellen Forschung interessiert. Be-
freundlicher Genehmigung der Nationalen Akademie der Wissenschaften
obachtungen der klassischen Cytologen zeigen, dass man bei der USA)
geeigneten Organismen im Mikroskop Unterschiede im Karyo-
typ zwischen Keimbahn- und Somazellen erkennen kann
(7 Abschn. 6.4.3 und 7 Abschn. 9.3.2). Solche Befunde lassen es der Entwicklungsfähigkeiten von Zellen erweisen sich bei ge-
nicht als abwegig erscheinen zu vermuten, dass zelluläre Diffe- nauerer Untersuchung als eine allgemeine Erscheinung, die mit
renzierung mit dem teilweisen Verlust – oder zumindest mit zellulärer Differenzierung verbunden ist. Diese Feststellung wirft
Veränderungen – genetischer Information verbunden ist. Versu- erneut die Frage auf, inwiefern solche Einschränkungen auf Ver-
che von Hans Driesch (1867–1941) gegen Ende des 19. Jahrhun- änderungen im genetischen Material zurückzuführen sind. Sie
derts hatten jedoch andererseits gezeigt, dass die verschiedenen könnten auch rein epigenetisch bedingt sein, d. h. durch sekun-
Blastomeren von Seeigelembryonen in der Lage sind, einen voll- däre Faktoren, die auf die Expression des genetischen Materials
ständigen Organismus entstehen zu lassen (Driesch 1900). Glei- einwirken. Um diese Problemstellung besser beurteilen zu kön-
che Schlüsse wurden auch später hinsichtlich der Zellen in der nen, wollen wir uns zunächst auf die Beantwortung der Frage
inneren Zellmasse in Säugerblastulae gezogen (7 Abschn. 12.6.1), nach der Unveränderlichkeit des genetischen Materials in so-
von denen jede einzelne in der Lage ist, einen vollständigen Em- matischen Zellen konzentrieren.
bryo entstehen zu lassen. Experimente Hans Spemanns (1868– Eine geeignete experimentelle Technik zur Beantwortung
1941) ließen auch erkennen, dass Säugerzellen ganz allgemein in der Frage nach der Gleichheit des genetischen Materials in
einem hohem Maße zu Regenerationsprozessen befähigt sind differenzierten Zellen eines Organismus ist die der Kerntrans-
und daher, wenn überhaupt, nur geringe Restriktionen hinsicht- plantation. Führt man beispielsweise den Zellkern einer aus-
lich ihrer genetisch programmierten Fähigkeiten aufzuweisen differenzierten Zelle eines adulten Individuums nach Entfer-
scheinen (Spemann 1938). nung der beiden Pronuklei in eine befruchtete Eizelle ein, so
Allerdings zeigen die gleichen embryologischen Experimen- sollte man erwarten, dass diese nunmehr mit einem Zellkern
te auch Einschränkungen der Differenzierungsfähigkeit an. Vor einer differenzierten Zelle ausgestattete Eizelle in der Lage ist,
allem Experimente an Seeigeln hatten erkennen lassen, dass die sich zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln, wenn
Differenzierungskapazität von Seeigelblastomeren bereits vom tatsächlich alle Informationen des Genoms unverändert vor-
32-Zell-Stadium an begrenzt ist. Auch solche Einschränkungen handen sind (. Abb. 12.55).
586 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

C Solche Versuche wurden von Thomas J. King und Robert


Briggs (1956) an Rana pipiens unternommen. Sie zeigten,
dass Zellkerne aus Blastulae die Entwicklung bis hin zur
Kaulquappe gestatten. In Versuchen, in denen sie Zellkerne
späterer Entwicklungsstadien verwendeten, etwa aus spä-
ten Gastrulae oder sogar von somatischen Zellen aus Kaul-
quappen, nahm die Entwicklungsfähigkeit in den Transplan-
tationsexperimenten jedoch mit fortschreitender Differen-
zierung der Donorzellen drastisch ab, sodass schließlich
keine entwicklungsfähigen Embryonen mehr erzeugt wur-
den. Lediglich bei der Verwendung von Keimzellkernen aus
Kaulquappen blieb die Differenzierungsfähigkeit erhalten.
Diese Versuche scheinen daher eine zunehmende Restrik-
tion der funktionellen Fähigkeiten des Genoms somatischer
Zellen mit zunehmendem Differenzierungsgrad der Zelle
anzuzeigen. Die Frage, ob es sich um irreversible Verände-
rungen des genetischen Materials oder lediglich um sekun-
däre Restriktionen der Expressionsfähigkeit bestimmter
Gene handelt, konnte jedoch durch diese Experimente nicht . Abb. 12.56 Das Schaf Dolly. Das Lamm Nr. 6LL3 (später als »Dolly«
beantwortet werden. bekannt geworden) entstand aus dem Zellkern einer Brustdrüsenzelle eines
finnischen »Dorset«-Muttertieres und einer schottischen »Blackface« als
Ähnliche Versuche wurden von John Gurdon (1968) an Xenopus Empfängerin. Dolly starb im Alter von 6 Jahren an einer schweren Lungen-
krankheit. (Nach Wilmut et al. 1997, mit freundlicher Genehmigung der
durchgeführt. Seine Ergebnisse wichen von denen der Experi- Nature Publishing Group)
mente an Rana ab. Gurdon gelang es in einigen Fällen, wenn
auch mit geringer Häufigkeit, durch Kerntransplantationen von
Darmzellkernen fertile Xenopus-Individuen zu erhalten. Über- In allen Experimenten war die Erfolgsquote äußerst niedrig.
einstimmend sprechen somit embryologische Experimente, ins- Nur ein kleiner Prozentsatz der jeweiligen behandelten Oocyten
12 besondere an Tieren, für eine gewisse Beschränkung der Diffe- entwickelte sich über Frühstadien hinaus. Das berühmte Schaf
renzierungsfähigkeit somatischer Zellen. Diese Klonierungsver- »Dolly« war das einzige lebende Lamm unter 277 Versuchen.
suche sprechen aber auch dafür, dass solche Beschränkungen In der Regel gilt: Je fortgeschrittener das Entwicklungsstadium
experimenteller Natur sind und dass vielen somatischen Zellen einer Zelle ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihr
eine Pluripotenz oder sogar Totipotenz ihrer Differenzierungs- Kern die Embryonalentwicklung vollständig unterstützen kann.
fähigkeit erhalten bleibt. John Gurdon erhielt für seine Arbeiten Dieses Experiment revolutionierte die Biowissenschaften und
2012 den Nobelpreis für Medizin – zusammen mit Shinya Yama- Reproduktionsmedizin. Die Herstellung von »Dolly« durch den
naka für dessen Entwicklung der induzierbaren pluripotenten Transfer eines Zellkerns aus einer erwachsenen Zelle hat auch
Stammzellen (iPS-Zellen; 7 Abschn. 12.7.3). das Interesse an der Klonierung von Menschen wieder geweckt.
Was lange undenkbar schien, bekommt auf einmal realistischere
C Auch in einer Reihe von Säugerarten war der Kerntransfer Züge, nimmt aber auch in der Wissenschaft selbst beängstigende
in Eizellen erfolgreich. So konnten zunächst embryonale
Formen an: So hat der südkoreanische Forscher Hwang Woo
Zellkerne von Schafen, Rindern, Kaninchen und einigen an-
viele seiner bahnbrechenden Stammzellstudien gefälscht. Die
deren Säugerspezies die Embryonalentwicklung in Gang
gesellschaftliche Diskussion ist kontrovers, wenn auf der einen
setzen. In einer klassischen Arbeit ist es einer Gruppe um
Seite der Kinderwunsch unfruchtbarer Paare oder das Bedürfnis
Keith Campbell im schottischen Roslin-Institut gelungen,
nach maßgeschneiderten Spenderorganen und auf der anderen
durch Kerntransfer aus einer Zelle ein lebensfähiges Schaf
Seite grundsätzliche ethische und religiöse Überzeugungen ste-
(»Dolly«) zu erzeugen (. Abb. 12.56). Dabei stammte der
hen (Spiegel 2013). Wir werden diese Aspekte auch in den nächs-
Spenderkern aus einer Zelllinie, die aus adultem Eutergewebe
ten beiden Abschnitten über embryonale Stammzellen (ES-Zel-
gewonnen wurde (Wilmut et al. 1997). Ebenso gelang es,
len; 7 Abschn. 12.7.2) und über induzierte pluripotente Stamm-
Mäuse aus ausdifferenzierten adulten Ovarienzellen zu klonen.
zellen (iPS-Zellen; 7 Abschn. 12.7.3) immer wieder zu beachten
Zudem waren sowohl besagtes Schaf als auch die Mäuse,
haben.
die aus den Kerntransplantationen entstanden, fertil. Folg-
lich sind somatische Zellkerne prinzipiell fähig, die Onto- > Obwohl tierische Zellen im Allgemeinen noch einen hohen
genese sogar bis zur Fortpflanzungsfähigkeit zu steuern. Grad an Differenzierungsfähigkeit besitzen (sie sind pluri-
Dennoch scheinen dazu auch bei Säugern nicht alle diffe- potent), ist ein Teil der Zellen nicht mehr zur Entwicklung
renzierten Zellkerne gleichermaßen geeignet. Bei den Maus- eines ganzen Organismus fähig (sie sind nicht totipotent).
experimenten konnten sich etwa bei der Verwendung von Bei Pflanzen sind mehr Zellen totipotent, jedoch kann
Kernen aus Nervenzellen keine Tiere entwickeln. auch hier nicht von einer allgemeinen Totipotenz gespro-
chen werden.
12.7 · Stammzellen
587 12
12.7.2 Embryonale Stammzellen nehmen und sie in einen Wirtsembryo injizieren, wo sie sich wie
die übrigen Zellen der inneren Zellmasse verhalten. Sowohl der
Wir haben gesehen, dass Zellen und ihre Zellkerne offensichtlich Verlust als auch das Hinzufügen von Zellen kann durch den
in unterschiedlichem Ausmaß in der Möglichkeit ihrer weiteren Mausembryo ausgeglichen werden. Verschiedene Embryonen
Entwicklung festgelegt sind: So zeigen beispielsweise die mesen- der Maus können auch im Morulastadium durch Anlagerung
chymalen Vorläufer der Muskelzellen (7 Abschn. 12.6.1) noch verschmelzen (Morula-Aggregation). Daraus entsteht dann
keine Anzeichen für die komplexe Anordnung der kontraktilen ebenfalls eine Chimäre. Bilden sich aus der hinzugefügten Zelle
Filamente, die sie in ihrem Inneren später entwickeln werden. Keimzellen, so stammen alle Nachkommen des erwachsenen
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Zellen bestehen wahr- Tieres von der hinzugefügten Zelle ab.
scheinlich in kleinen Veränderungen, die durch Aktivitätsände- 1981 gelang es Martin Evans und Matthew Kaufman, Zellen
rungen einiger weniger Gene (Transkriptionsfaktoren) verur- aus der inneren Zellmasse der Maus zu isolieren und in vitro zu
sacht werden. In diesem Zustand werden die Zellen hinsichtlich kultivieren. Diese Zellen werden als embryonale Stammzellen
ihrer weiteren Entwicklungsmöglichkeiten determiniert. Es (ES-Zellen) bezeichnet. Unter geeigneten Kulturbedingungen
können z. B. aus mesodermalen Zellen der Somiten (7 Abschn. wachsen solche ES-Zellen unbegrenzt, ohne ihre Pluripotenz zu
12.6.1) noch Muskel-, Knorpel-, Unterhaut- und Gefäßgewebe verlieren. So wie sich durch die Übertragung von Zellen aus der
entstehen, aber keine anderen Gewebe. Ist die Entwicklungsrich- inneren Zellmasse eines Mausembryos in einen anderen Maus-
tung einer Zelle einmal festgelegt, so »vererbt« sie diesen Deter- embryo Chimären herstellen lassen, so lassen sich auch einzelne
minierungszustand auf alle ihre Nachkommen. ES-Zellen nach einer in-vitro-Kultur wieder mit frühen Maus-
Die Frage ist daher, worauf diese Unterschiede in der Diffe- embryonen kombinieren. Nach der Injektion von ES-Zellen in
renzierungskapazität zurückzuführen sind: auf Veränderungen »Empfänger-Blastocysten« können sie sich in den entwickelnden
in der Genomstruktur oder auf epigenetische Mechanismen. Embryo integrieren und bilden so eine Chimäre.
Wir werden sehen, dass Differenzierungsprozesse auf beiden Dieses System eröffnete die Möglichkeit, genetisch veränder-
Ebenen bestimmt werden können. Zunächst aber wollen wir uns te DNA zunächst in ES-Zellen zu transfizieren und nach geeig-
die Zellen etwas genauer betrachten, die als Stammzellen be- neter Selektion auch stabil zu integrieren. Die anschließende
zeichnet werden. Diese sind in der Lage, in verschiedene Zell- Einschleusung dieser veränderten ES-Zellen in Embryonen und
typen zu differenzieren und sich an der Entwicklung aller die Produktion von Chimären haben den Grundstein für die
embryonalen Gewebe einschließlich der späteren Keimzellen zu enorm gestiegene Bedeutung der Maus als Tiermodell für gene-
beteiligen. Diese Definition gilt in besonderem Maße für die em- tische Untersuchungen gelegt. Es können im Prinzip Maus-
bryonalen Stammzellen (ES-Zellen), die die Blastocysten von mutanten mit Mutationen in praktisch jedem Gen auf diese
Säugetieren bilden (7 Abschn. 12.6.1). In eingeschränktem Maße Weise gezielt hergestellt werden (7 Technikbox 27). Für die Ent-
gilt dies aber auch noch für Zellen adulter Gewebe, die die Fähig- wicklung dieser Methode wurden Mario Capecchi, Martin Evans
keit zur wiederholten differenziellen Zellteilung haben, wobei und Oliver Smithies 2007 mit dem Nobelpreis für Medizin aus-
die Mutterzelle eine Stammzelle bleibt und die Tochterzelle sich gezeichnet.
differenziert. So leiten sich sämtliche Blutzellen in erwachsenen
Säugetieren aus einer Population pluripotenter Stammzellen im
Knochenmark ab. Ähnliches gilt für männliche Keimzellen, die
*Analog zu den ES-Zellen der Maus wurden auch ES-Zell-
kulturen von menschlichen Embryonen hergestellt. Diese
fortwährend Spermatogonien produzieren. Weiterhin kennen menschlichen Embryonen aus der Prä-Implantationsphase
wir retinale Stammzellen oder neuronale Stammzellen. stammten in der Regel aus »überzähligen« Embryonen von
In den frühen Embryonalstadien besitzen Wirbeltiere ein in-vitro-Fertilisationen. Die Frage, wie mit solchen »über-
beachtliches Regulationspotenzial, wenn Teile des Embryos ent- zähligen« Embryonen und daraus entwickelten ES-Zellen
fernt oder anders angeordnet werden. Allerdings haben dabei umgegangen werden soll, ist seit Jahren Gegenstand hefti-
verschiedene Organismen an unterschiedlichen Stellen ihre je- ger Kontroversen zwischen Wissenschaftlern, aber in noch
weiligen Grenzen. Isoliert man die animalen und vegetativen stärkerem Maße innerhalb der Gesellschaft. Offensichtlich
Hälften eines 8-Zell-Embryos des Krallenfrosches Xenopus, so handelt es sich doch um menschliche Embryonen, die aus-
entwickeln sich diese nicht mehr normal. Anders dagegen bei der schließlich zu Menschen werden können. Da sie sich aber
Maus: Hier sind die Zellen der inneren Zellmasse (Morulasta- noch nicht eingenistet haben, sprechen ihnen viele die volle
dium mit insgesamt 32 Zellen; 7 Abschn. 12.6.1) noch nicht de- Menschenwürde ab. Dieser Standpunkt erscheint dem Autor
terminiert. Die Zellen der inneren Zellmasse der Maus sind bis allerdings mit der »Unantastbarkeit der Menschenwürde«
zu 4,5 Tage nach der Befruchtung noch pluripotent und können nicht vereinbar zu sein.
daher in dieser Zeit in viele verschiedene Zelltypen differenzie- Ein erstes Ergebnis der gesellschaftlichen Debatte über die
ren. Schleust man sie in die innere Zellmasse einer anderen Verwendung menschlicher ES-Zellen in Deutschland ist die
Blastocyste vergleichbaren Alters ein, können sie an der Bildung Verabschiedung des Stammzellgesetzes im Juni 2002 durch
aller embryonalen Gewebe einschließlich der zukünftigen Keim- den Deutschen Bundestag. Es verbietet zwar grundsätzlich
zellen beteiligt sein. die Einfuhr und Verwendung menschlicher ES-Zellen, kann
Diese Eigenschaft ermöglicht die Erzeugung von chimären dies allerdings ausnahmsweise auf Antrag für Forschungs-
Mäusen, die Zellen mit zwei verschiedenen Genotypen besitzen. zwecke genehmigen, wenn die Zellen vor dem 1. Mai 2007
Man kann dazu Zellen der inneren Zellmasse eines Tieres ent- hergestellt wurden. Über den Antrag entscheidet das
588 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Ektoderm Mesoderm Entoderm

. Abb. 12.57 Von der Blastocyste zu embryonalen Stammzellen und Körperzellen. Zellen werden der inneren Zellmasse entnommen und können als em-
bryonale Stammzellen in Kultur gehalten werden. Unter geeigneten Bedingungen können sie weiter ausdifferenzieren. HSC: hämatopoetische Stammzel-
12 len. (Nach Placzek et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung der Royal Society)

Robert-Koch-Institut nach Anhörung seiner Zentralen ferenzierungsschritte hohe lokale Zelldichten notwendig sind,
Ethik-Kommission für Stammzellenforschung (ZES; alle und die zusätzliche Anwesenheit von Wachstumsfaktoren beein-
wichtigen Informationen dazu findet man unter http:// flusst das Differenzierungsprogramm. Diese Technologien sollen
www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/ZES/zes_node.html). in der Transplantationsmedizin Anwendung finden, insbeson-
dere für Herzinfarktpatienten und Patienten mit neurodegene-
ES-Zellen der Maus – und in etwas eingeschränkterem Umfang rativen Erkrankungen.
auch ES-Zellen des Menschen – können unter definierten Bedin-
gungen wie »normale« Zellkulturen gehandhabt werden (Passier
und Mummery 2003). In Suspensionskulturen von ES-Zellen der
*neurodegenerative
Die Parkinson’sche Krankheit (7 Abschn. 14.5.3) ist eine
Erkrankung, die in erster Linie durch
Maus führt Zellaggregation zu einer Differenzierung in mehr- einen Verlust von dopaminergen Neuronen im Mittelhirn
schichtige Strukturen, die als »embryoide Körper« (engl. embryo- charakterisiert ist. Dementsprechend setzt eine Therapie
id bodies) bezeichnet werden. Zwar fehlt eine Körperachse, doch auch primär an der Substitution des Neurotransmitters
die Differenzierung schreitet wie bei einem frühen Mausembryo Dopamin an. Dopaminerge Neurone, die aus menschlichen
fort und führt zu einer Reihe differenzierter Gewebe, wie Dotter- ES-Zellen entstanden sind, wurden in Gehirne von Mäusen
sack, Herz- und Skelettmuskelzellen, embryonalen und definiti- und Ratten eingeführt, bei denen diese Zellen vorher ent-
ven hämatopoetischen Zellen, Endothelzellen, Nerven- und fernt wurden. In allen Fällen wurde eine lang anhaltende
Gliazellen (. Abb. 12.57). Es ist möglich, diese Differenzierung Wiederherstellung der entsprechenden Gehirnareale in Ver-
von ES-Zellen der Maus durch Wachstumsfaktoren und/oder bindung mit den entsprechenden Bewegungs- und Verhal-
Retinsäure oder durch die Hemmung spezifischer Signalwege zu tensparametern festgestellt. Diese Arbeiten zeigen, dass
steuern. So führt die ektopische Expression der Transkriptions- diese Abkömmlinge von ES-Zellen prinzipiell in der Lage
faktoren GATA-4 oder GATA-6 in ES-Zellen der Maus zur Dif- sein können, zur Therapie von Parkinson-Patienten einge-
ferenzierung in viszerales Entoderm. setzt zu werden (Krigs et al. 2011). Allerdings sind dabei
Während bei ES-Zellen der Maus die wesentlichen Differen- noch viele Probleme ungelöst, sodass mit einer Standard-
zierungsschritte in den embryoiden Körpern ablaufen, differen- therapie in nächster Zukunft eher nicht zu rechnen sein
zieren ES-Zellen des Menschen auch in der Zellkultur z. B. zu wird (Kazmerova et al. 2013).
Neuronen, Pankreaszellen, Herzmuskelzellen, hämatopoeti-
schen Zellen oder Endothelzellen. Es ist klar, dass für diese Dif-
12.7 · Stammzellen
589 12
> Embryonale Stammzellen werden aus der inneren Zell-
masse von Blastocysten vor der Implantation in den Ute-
rus gewonnen. Stammzellen haben die Fähigkeit zur wie-
derholten differenziellen Teilung, wobei die Mutterzelle a
eine Stammzelle bleibt und die Tochterzelle differenzieren
kann. Totipotente Stammzellen haben dabei die Möglich-
keit, wieder einen vollständigen Organismen zu generie-
ren. Pluripotente Stammzellen können viele Gewebe eines
Organismus aufbauen (zu dieser Gruppe gehören die em-
bryonalen Stammzellen). Multipotente Stammzellen kön-
b
nen zu einigen spezialisierten Geweben oder Zelltypen
differenzieren; so können hämatopoetische Stammzellen
Erythrocyten, Leukocyten und Thrombocyten bilden, aber
keine Zellen außerhalb des Blutsystems.
c

12.7.3 Somatische Stammzellen

Stammzellen wurden nicht nur aus embryonalem Gewebe ge-


wonnen, sondern kommen auch in vielen Geweben eines er-
wachsenen Organismus vor (sie werden daher oft auch als
»adulte« Stammzellen bezeichnet). Solche Gewebe sind z. B.
Haut, Knochenmark, Gehirn, Leber, Pankreas oder Darm. Ob-
wohl ursprünglich angenommen wurde, dass sich diese somati- d
schen Stammzellen nur zu den Geweben weiterentwickeln kön-
nen, aus denen sie entnommen wurden, haben verschiedene
. Abb. 12.58 Strategien zur Reprogrammierung des Zellkerns. a Zellkerne
neuere Untersuchungen gezeigt, dass somatische Stammzellen aus somatischen Zellen können durch Injektion in eine vorher entkernte Ei-
unter geeigneten experimentellen Bedingungen auch in völlig zelle reprogrammiert werden (Kerntransfer). b Wenn eine pluripotente Zelle
andere Zelltypen differenzieren können. Eine Übersicht über (wie eine embryonale Stammzelle = ES-Zelle) mit einer somatischen Zelle
die verschiedenen technischen Möglichkeiten gibt . Abb. 12.58. fusioniert wird, entwickelt sich daraus eine tetraploide Zelle, die einen plu-
ripotenten Zustand besitzt (Zellfusion). c Ektopische Expression der Tran-
Einige der Methoden haben wir bereits früher kennengelernt
skriptionsfaktoren Oct4, Sox2, Klf4 und c-Myc ist ausreichend, um soma-
(z. B. den Kerntransfer, . Abb. 12.55). tische Zellen zu reprogrammieren (induzierte pluripotente Stammzellen =
iPS-Zellen; direkte Reprogrammierung). d Unter spezifischen Kulturbedin-
C Wir hatten im 7 Abschn. 12.7.2 im Zusammenhang mit hu-
gungen können Keimzellen zu pluripotenten Zellen reprogrammiert wer-
manen embryonalen Stammzellen die grundlegenden ethi- den (Zellkultur-induzierte Reprogrammierung). 2N: diploide Zelle; 4N: tetra-
schen Probleme diskutiert, die damit verbunden sind, be- ploide Zelle. (Nach Amabile und Meissner 2009, mit freundlicher Genehmi-
fruchtete menschliche Eizellen zu verwenden, denen eine gung von Elsevier)
noch nicht realisierte individuelle Menschenwürde zu-
kommt. Es gab deshalb schon bald vielfältige Bestrebungen,
ben in der Zwischenzeit gezeigt, dass die hohe Plastizität von
somatische Zellen so zu »programmieren«, dass sie Pluripo-
Stammzellen aus dem Nabelschnurblut und aus dem Knochen-
tenz zurückgewinnen und dadurch in jedes gewünschte Ge-
mark routinemäßig dazu genutzt werden kann, um zerstörte Or-
webe differenzieren können. Kazutoshi Takahashi und
gane in therapeutischen Verfahren wiederherzustellen. Es entwi-
Shinya Yamanaka (Kyoto) ist dies 2006 gelungen: Durch Ein-
ckelt sich daraus ein neuer Wissenschaftszweig, die regenerative
führen von nur vier Genen (Sox2, Oct4, Klf4 und c-Myc) konn-
Medizin, dessen komplexe Verfahren den Rahmen eines Buches
ten sie Fibroblasten (der Maus) in pluripotente Stammzellen
über allgemeine Genetik sprengen. Der interessierte Leser sei
umwandeln; aufgrund dieser erzwungenen Reprogrammie-
deshalb auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen (z. B. Addis
rung nannten sie diese Zellen »induzierte pluripotente
et al. 2013, Guo et al. 2013).
Stammzellen«, kurz iPS-Zellen. Die Autoren konnten außer-
dem zeigen, dass diese iPS-Zellen in der Lage sind, in ver-
> Somatische (oder adulte) Stammzellen kommen in Men-
schiedene Zelltypen auszudifferenzieren, z. B. Fibroblasten,
schen und Tieren in verschiedenen Organen vor, z. B. im
Nerven- oder Darmzellen. Wie bereits erwähnt erhielt Shinya
Knochenmark. Über ein komplexes Steuerungssystem ma-
Yamanaka dafür nur sechs Jahre später (2012) den Nobel-
chen es diese somatischen Stammzellen möglich, dass sich
preis für Physiologie und Medizin (zusammen mit John
hochspezialisierte Gewebe kontinuierlich erneuern. Unter
Gurdon für dessen Experimente zur Kerntransplantation in
bestimmten experimentellen Bedingungen ist es möglich,
Fröschen aus den 1960er-Jahren).
aus spezialisierten Geweben wieder pluripotente Stammzel-
Adulte Stammzellen können aus allen Geweben der drei Keim- len zu erzeugen (iPS-Zellen); am Einsatz für therapeutische
blätter und der Plazenta gewonnen werden. Etliche Studien ha- Verfahren wird gearbeitet (regenerative Medizin).
590 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Kernaussagen
5 Zentrale Differenzierungsprozesse, insbesondere in der 5 Regulationsgene, die in ihrer Funktion den Regulationsgenen
Frühentwicklung von Tieren, aber auch bei der Organdiffe- bestimmter Entwicklungswege von Drosophila entsprechen
renzierung von Pflanzen, werden hierarchisch auf dem Niveau (homöotische Gene), werden auch bei Vertebraten und Pflan-
der Transkription reguliert. Hierbei spielen sowohl DNA-bin- zen gefunden. Die in der Frühentwicklung von Drosophila vor-
dende Transkriptionsfaktoren als auch Hormone und andere gefundenen Regulationsmechanismen sind daher von allge-
Signalmoleküle eine wichtige Rolle (z. B. Auxine, Ethylen meiner biologischer Bedeutung.
und Gibberelline bei Pflanzen, Steroide und Retinsäure bei 5 Bei Säugern erfolgt die Geschlechtsdifferenzierung durch ein
Tieren). zentrales Regulationsgen (SRY). Das männliche Geschlecht
5 Die frühe embryonale Entwicklung von Drosophila wird durch wird als Folge der Aktivierung dieses Gens (bei Anwesenheit
Gene, die während der Oogenese in der Mutter aktiv sind des Y-Chromosoms) durch männliche Geschlechtshormone
(maternale Gene), und durch Gene, die im Embryo aktiviert festgelegt. Inaktivität des Schlüsselgens führt zur Ausprägung
werden (zygotische Gene), bestimmt. Maternale Gene sorgen des weiblichen Geschlechts durch die Wirkung weiblicher
für die gezielte Lokalisation von Molekülen (Morphogenen) Geschlechtshormone.
im Ei, die im Embryo als Transkriptionsfaktoren die Transkrip- 5 Pflanzliche Zellen sind im Allgemeinen totipotent.
tion zygotischer Gene differenziell regulieren. 5 Die meisten tierischen Zellen sind nicht totipotent, behalten
5 Die Determination von Körperregionen in Drosophila erfolgt jedoch eine relativ große Plastizität ihrer Entwicklungsfähig-
durch Lokalisation von Molekülen in bestimmten Regionen keit (sie sind pluripotent). Dazu gehören auch embryonale
des Eicytoplasmas oder durch Signaltransduktion, deren Initia- Stammzellen.
tion von somatischen Zellen des Ovars ausgeht. 5 Viele tierische Zellen werden während der Frühentwicklung
5 Während der Embryogenese werden durch die Lokalisation eines Organismus für ihre spätere Funktion determiniert. Die
von Morphogenen insbesondere die beiden Achsen des Differenzierung tritt erst später ein. Stammzellen haben die
Embryos festgelegt. Außerdem bedingt die Lokalisation der Fähigkeit zur wiederholten Teilung, wobei die Mutterzelle eine
Achsendeterminanten zugleich auch eine Untergliederung Stammzelle bleibt und die Tochterzelle differenzieren kann.
der Körperlängsachse. Morphogene sind Moleküle, die ver- 5 Die Differenzierung von Zellen wird durch spezielle Signale
schiedene Differenzierungsprozesse steuern. Sie können durch ausgelöst. Dies kann unter Kulturbedingungen mit embryona-
unterschiedliche Mechanismen wirksam werden. len und adulten Stammzellen nachgeahmt werden.
12
Übungsfragen
1. Beschreiben Sie die Rolle des Florigens so- 3. Welche besondere Eigenschaft des Faden- sie in diesem Organismus besonders gut
wie die Einflüsse von Licht und Temperatur wurms Caenorhabditis elegans führte zu engesetzt werden?
auf die Blühinduktion bei Pflanzen. der Formulierung des Konzepts der Apop- 5. Begründen Sie, warum wir heute nicht
2. Erläutern Sie die Bedeutung des Begriffs tose? mehr von einer getrennten Evolution von
»homöotische Mutation« jeweils an einem 4. Erläutern Sie das Wirkungsprinzip von Mor- Facetten- und Linsenaugen sprechen
Beispiel aus dem Pflanzen- und Tierreich. pholinos beim Zebrafisch. Warum können können.

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12
Technikbox
593 12

Technikbox 30

In-situ-Hybridisierung von Nukleinsäuren


Anwendung: Nachweis von DNA- oder Je nach den unterschiedlichen Eigenschaften wobei infolge der niedrigen Strahlungsener-
RNA-Molekülen in ihrer natürlichen zellulä- dieser verschiedenen Nukleinsäuremoleküle gie und der daher geringen Reichweite der
ren Lokalisation durch mikroskopische sind Modifikationen der Grundtechnik erfor- Strahlung (β-Strahlung) vor allem Tritium
Analyse. derlich. (3H) geeignet ist (7 Technikbox 15). Es wird
Voraussetzungen ∙ Materialien: Die in-situ- Methode: Die Grundtechnik der in-situ-Hybri- aber auch radioaktiver Schwefel (35S) bzw.
Hybridisierungsmethodik umfasst eine Reihe disierung besteht in der Inkubation cytologi- Phosphor (32P, 33P) eingesetzt. Neuerdings
unterschiedlicher Techniken, die sich auf scher (histologischer) Präparate mit einer mar- werden jedoch vorwiegend nicht-radioaktive
verschiedene Fragestellungen zur Lokalisation kierten Nukleinsäureprobe. Nach der Inkuba- Markierungsmethoden, z. B. durch Biotin oder
einer Nukleinsäuresequenz beziehen. Es lässt tion werden überschüssige, nicht-hybridisier- Digoxigenin, verwendet. In beiden Fällen
sich Folgendes nachweisen: te, markierte Nukleinsäuren durch Waschen kann der Nachweis entweder durch Farbreak-
5 chromosomale DNA, entfernt. Anschließend wird eine zur mikrosko- tionen oder durch Fluoreszenz erfolgen.
5 wachsende Transkripte in ihrer Position pischen Untersuchung der Lokalisation der ge- Beachte: Der Umgang mit radioaktiven
am Chromosom, bildeten Hybride geeignete Nachweisreaktion Stoffen unterliegt der Strahlenschutzverord-
5 RNA-Fraktionen im Cytoplasma und ausgeführt. Markierung von Nukleinsäuren nung; dabei sind geeignete Maßnahmen
5 DNA von Viren oder Bakteriophagen. kann durch radioaktive Nukleotide erfolgen, zu ergreifen.

In-situ-Hybridisierung. Auf Chromosomen- oder Gewebepräparaten In-situ-Hybridisierung mit einer Crygd-Probe am Auge. Dargestellt ist das
wird zunächst eine normale Hybridisierungsreaktion mit markierten Auge eines 15,5 Tage alten Embryos der Maus; der Schnitt wurde mit ei-
Nukleinsäuren ausgeführt. Die markierten Hybride können durch Au- ner RNA-Sonde hybridisiert, die dem Gegenstrang des Crygd-Transkripts
toradiographie oder mithilfe von Antikörpern (je nach Markierungs- entspricht (codiert für das γD-Kristallin). Die RNA ist mit Digoxigenin
verfahren) nachgewiesen werden; DIG: Digoxigenin markiert, das über eine Enzym-gekoppelte Antikörperreaktion erkannt
wird. Die Blaufärbung tritt vor allem im vorderen Bereich der Linse auf
und markiert damit den Bereich, in dem die Crygd-mRNA vorhanden ist.
Der schwarze Ring entspricht dem stark pigmentierten retinalen Pig-
mentepithel. (Bild: Jochen Graw, Neuherberg)
594 Kapitel 12 · Entwicklungsgenetik

Technikbox 31

Morpholinos
Anwendung: Methode zur gezielten Aus- tide, in denen die Ribose in der mRNA durch spiel dazu ist in der Abbildung zu Fgf8 im
schaltung eines Gens durch antisense-RNA. einen Morpholinring ersetzt ist (siehe Ab- Zebrafisch gezeigt).
Voraussetzungen: Kenntnis der DNA-Sequenz bildung Rückgrat eines Morpholin-Oligo-
des zu inaktivierenden Gens. nukleotids). Diese Morpholinos werden so Weitere Vorteile von Morpholinos sind:
Methode: Antisense-Oligonukleotide sind konstruiert, dass sie möglichst an oder in der 5 Sie werden nicht durch Nukleasen ab-
Nukleotide, die an eine kurze komplemen- Nähe der Initiationsstelle für die Translation gebaut.
täre Sequenz einer mRNA binden und da- binden. Sie haben darüber hinaus wesentlich 5 Sie binden sehr effektiv an den komple-
durch deren Translation verhindern. Sie sind bessere antisense-Eigenschaften als mRNA- mentären mRNA-Teil.
gut geeignet, die Funktion eines Gens zu Oligonukleotide. Sie können leicht in kulti- 5 Sie zeigen eine äußerst geringe Ten-
untersuchen, weil sie sehr schnell eingesetzt vierte Zellen eingebracht werden. Ein weite- denz, sich an nicht-komplementäre
werden können, schnell wirken und ihr Ein- res umfangreiches Anwendungsgebiet in der Sequenzen zu binden.
satz sehr billig ist. Kurze mRNA wird aber Entwicklungsgenetik ist die Ausschaltung 5 Sie verteilen sich schnell im Cytosol und
rasch von Nukleasen abgebaut (siehe dazu von Genen beim Zebrafisch: Durch Injektion im Kern.
auch 7 Technikbox 20, RNAi und siRNA). von Morpholinos auf der einen Seite des
Durch den Einsatz von Morpholinos werden Fischembryos wird das zu untersuchende Dadurch werden sie zu idealen Instrumenten
nun diese Schwierigkeiten überwunden. Gen ausgeschaltet, während die andere Seite für die Untersuchung der Funktion eines
Dabei handelt es sich um kurze Oligonukleo- eine endogene Kontrolle darstellt (ein Bei- Gens.

a b

c d
12

Schematische Darstellung des Rückgrats eines Mor- Vergleich von genetischem und Morpholino-induziertem Funktionsverlust von Fgf8 im
pholin-Oligonukleotids. Anstelle der Vernetzung der Zebrafisch. Gezeigt sind Geschwister von Zebrafisch-Embryonen im Alter von 24 h (a, c:
Basen über ein Ribosemolekül (wie in der RNA) und Wildtyp; b: homozygote ace-Mutation). Die ace-Mutanten exprimieren kein Fgf8, was zum
Phosphatreste sind die Morpholinos über einen Mor- Verlust der Bildung des Kleinhirns (Cerebellum) führt (Pfeilspitzen in a deuten auf das
pholinring und Phosphoamid-Gruppen verbunden. Kleinhirn; der Stern in b zeigt den Verlust des Kleinhirns). In d ist ein Zebrafisch-Embryo
Die Basen, die mit dem Morpholinring verbunden gezeigt, dem im 1-Zell-Stadium ein Morpholino injiziert wurde, der für den Gegenstrang
sind, bleiben allerdings dieselben, sodass die üblichen von Fgf8 codiert und die Translation von Fgf8-mRNA verhindert. Man beachte, dass der
Basenpaar-Reaktionen ablaufen können Phänotyp des Fgf8-Morpholino-induzierten Fischembryos sich nicht von der homozygo-
ten ace-Mutante (b) unterscheidet. Die Embryonen sind von der Seite fotografiert, die
anteriore Seite ist oben, die dorsale Seite unten). (Bild: Laure Bally-Cuif, Gif-sur-Yvette)
595 13

Genetik menschlicher
Erkrankungen

Gleichheit und Individualität (hier ein Tibeter) – diese beiden Charakteristika des Menschen wurden durch das
Humangenomprojekt noch deutlicher. (Foto: W. Hennig, Mainz)

13.1 Methoden der Humangenetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597


13.1.1 Molekulare Diagnostik, Familienberatung und Reihenuntersuchungen . . . 598
13.1.2 Zwillingsforschung und Geschwisterpaar-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
13.1.3 Stammbaumforschung und Kartierung von Erbkrankheiten . . . . . . . . . . 604
13.1.4 Genetische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609

13.2 Chromosomenanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611


13.2.1 Numerische Chromosomenanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
13.2.2 Strukturelle Chromosomenanomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615

13.3 Monogene Erbkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616


13.3.1 Autosomal-rezessive Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
13.3.2 Autosomal-dominante Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621
13.3.3 X-chromosomale Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628
13.3.4 Y-chromosomale Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635
13.3.5 Mitochondriale Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
13.4 Komplexe Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
13.4.1 Gene und Krebs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 639
13.4.2 Asthma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648
13.4.3 Diabetes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651

13.5 Genbasierte Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655


13.5.1 Gentechnische Aspekte bei der Herstellung von Medikamenten . . . . . . . . 655
13.5.2 Pharmakogenetik, Pharmakogenomik und personalisierte Medizin . . . . . . 656
13.5.3 Somatische Gentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657
13.5.4 Genetik und Reproduktionsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660
13.1 · Methoden der Humangenetik
597 13

Überblick
Obgleich sich die Vererbung von Eigenschaf- vermittelt. Dies wird nach der nunmehr voll- die in klaren Formen den Mendel’schen Regeln
ten des Menschen in ihren Grundprinzipien ständigen Sequenzierung des menschlichen folgen. Hier gibt es in vielen Fällen eine aus-
und Regeln nicht von denen anderer Organis- Genoms und vieler Modellorganismen (z. B. gefeilte molekulare Diagnostik und eine siche-
men unterscheidet, stellt sie den Genetiker vor Maus, Drosophila, Hefe) mit noch höherer re Therapie auf gentechnischer Grundlage.
besondere Probleme. Die Erforschung der Geschwindigkeit voranschreiten. Dabei wer- Durch die Kombination pränataler Diagnostik
genetischen Grundlage menschlicher Krank- den aber durch die Einbeziehung von immer mit den Techniken der Molekulargenetik ist
heiten wird oft durch die Familiengröße limi- mehr Menschen in gendiagnostische Verfah- es heute möglich, eindeutige Aussagen
tiert. In der klassischen Humangenetik waren ren auch die individuellen Unterschiede stär- über die genetische Konstitution selbst von
Familienstammbäume das wichtigste Werk- ker zum Vorschein kommen. Es eröffnen sich heterozygoten rezessiven Krankheiten bei
zeug. Manche grundsätzlichen Fragen ließen dadurch aber auch neue Ansätze zur Therapie Eltern und ihren Kindern zu erhalten. Hier-
sich zudem durch die vergleichende Unter- genetischer Defekte, z. B. durch geeignete Ein- durch wird die genetische Familienberatung
suchung von Zwillingen lösen. In der Praxis griffe in den Stoffwechsel, um bestehende erb- erleichtert, ohne damit jedoch die ethischen
boten diese Analysen aber meistens nur die liche Defekte zu kompensieren. Andererseits Fragen zu lösen, die der Humangenetik durch
Möglichkeit, Wahrscheinlichkeitsaussagen besteht im Prinzip die Möglichkeit der Korrek- diese neuen Methoden zunehmend gestellt
über das Vorkommen von Erbkrankheiten bei tur des Erbmaterials. Gegenwärtig stehen wir werden.
Kindern betroffener Eltern zu machen. erst am Beginn eines neuen Zeitalters der Die Untersuchung menschlicher Krank-
Durch die Entwicklung gentechnologi- Humangenetik, dessen Möglichkeiten erst all- heiten lässt auch erkennen, dass viele Erb-
scher Methoden hat die Humangenetik einen mählich deutlich werden. Besonders wichtige krankheiten auf komplexen genetischen Kon-
revolutionären Wandel erlebt. Es war gelun- Konsequenzen ergeben sich gegenüber den stitutionen beruhen (z. B. Asthma, Diabetes).
gen, eine Anzahl von Genen zu isolieren, deren moralischen und ethischen, aber auch den Dabei spielen oft Umweltfaktoren eine so
Mutation schwere Erbkrankheiten zur Folge rechtlichen Fragen, die sich in diesem Zusam- große Rolle, dass präventive Diagnosen sehr
hat. Die molekulare Analyse dieser Gene hat menhang stellen. schwer sind. Das bedeutet aber zugleich,
dabei in vielen Fällen neue Einsichten in die Die größten Fortschritte wurden bisher dass für diese Krankheiten Therapien in naher
molekulare Struktur und Funktion von Genen bei den monogenen Erkrankungen gemacht, Zukunft noch nicht wahrscheinlich sind.

13.1 Methoden der Humangenetik (7 Technikbox 6). Öffentliche Diskussionen begannen um


1986, als Renato Dulbecco den Bezug zwischen Krebsfor-
Obgleich die Vererbung von Eigenschaften beim Menschen sich schung und der Sequenzierung des menschlichen Genoms
in keiner Weise von der bei anderen Organismen unterscheidet, herausgestellt hatte. Ein solches Programm einzuführen,
hat die Humangenetik eine besondere Stellung in der Genetik war keine triviale Frage der Organisation von Forschungs-
erlangt. Diese wird einerseits durch ihre Bedeutung für die projekten, denn seine Durchführung musste notwendiger-
Medizin bedingt, andererseits aber auch durch das allgemeine weise mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbun-
Bedürfnis des Menschen, die biologischen Grundlagen seiner den sein. Man hat die Kosten für die Sequenzierung des
Existenz zu verstehen. Der Erforschung dieses Hintergrundes menschlichen Genoms auf etwa 3 Mrd. Dollar geschätzt.
steht, wie in allen auf den Menschen direkt bezogenen Wissen- Dieser Betrag liegt in der Größenordnung von Projekten der
schaften, das ethische Verbot gegenüber, Experimente am Men- Hochenergiephysik, und ein solcher Betrag an Forschungs-
schen auszuführen. Um zu einer Einsicht zu gelangen, mussten geldern wurde in vergleichbarer Weise noch nie für ein biolo-
wir in der Vergangenheit in erster Linie auf Experimente zurück- gisches Projekt verfügbar gemacht. Doch das Projekt wurde
greifen, die uns die Natur selbst zur Verfügung stellt, d. h. es wur- von vielen Wissenschaftlern unterstützt, darunter den Nobel-
de versucht, aus Veränderungen in der Nachkommenschaft auf preisträgern Walter Gilbert und James D. Watson, sodass
erbliche Eigenschaften und deren Erbgänge zu schließen. Die seine Realisierung schließlich möglich wurde.
beiden wichtigsten Methoden der klassischen Humangenetik Die Durchführung des Humangenomprojektes in einer
hierfür waren die Zwillingsforschung und die Analyse von sinnvollen und koordinierten Weise verlangte erhebliche
Familienstammbäumen. Allerdings stellt das internationale Hu- technische Vorbereitungen. Es war nicht nur erforderlich,
mangenomprojekt, das um die Jahrtausendwende abgeschlossen die Aufgaben der DNA-Sequenzierung über die beteiligten
wurde, eine Zäsur für die Humangenetik insgesamt dar: Im Laboratorien zu verteilen, sondern es musste z. B. auch neue
Rückblick war es nicht der Höhepunkt der Humangenetik, son- Computer-Software zur Auswertung der erhaltenen Se-
dern vielmehr die Initialzündung für eine moderne, molekulare quenzdaten geschaffen werden, oder es waren Entscheidun-
und ganzheitlich orientierte Humangenetik. Die notwendigen gen darüber zu treffen, in welcher Weise die Klonierung des
technischen Innovationen haben (zusammen mit den neuen menschlichen Genoms erfolgen sollte. Sollten die erhalte-
Möglichkeiten der Datenverarbeitung) eine enorme Schubkraft nen Klone in zentralen Sammlungen aufbewahrt werden?
entwickelt. Wie und von wem dürfen die Daten verwendet werden? Die
Frage der Aufbewahrung klonierter DNA-Bereiche hat sich
C Das Humangenomprojekt (engl. Human Genome Project) mittlerweile durch die technischen Möglichkeiten der PCR-
geht in seiner Grundidee in die Zeit zurück, in der die Technik (7 Technikbox 4) erübrigt, da es bei der Kenntnis
DNA-Sequenzierungstechniken von Frederick Sanger sowie einer DNA-Sequenz mithilfe geeigneter Primer leicht möglich
Allan Maxam und Walter Gilbert entwickelt wurden (Sanger ist, diese Sequenz jederzeit erneut aus genomischer DNA
und Gilbert erhielten dafür 1980 den Nobelpreis in Chemie) zu erhalten.
598 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Die durch die Sequenzierung des menschlichen Genoms maß der im Genom tatsächlich enthaltenen Informationen für
aufgeworfenen ethischen und sozialen Probleme sowie die Proteinsequenzen gegenüber der reinen Anzahl von Genen deut-
rechtlichen Aspekte konnten ebenfalls nicht unbeachtet lich erhöht, die aus einer vereinfachten Genomanalyse sichtbar
gelassen werden, obgleich sie sich kaum von den Proble- werden und bei der lediglich die Anzahl Protein-codierender
men unterscheiden, die durch die Verwendung gentechno- Einheiten ermittelt wird.
logischer Methoden ganz allgemein entstehen. Wir wissen von der Besprechung der Genstruktur (7 Kap. 7),
dass eukaryotische Gene in der Form von Introns DNA-Se-
Inzwischen ist das menschliche Genom vollständig sequenziert quenzbereiche enthalten, die keine Proteine codieren und im
und in Datenbanken der weiteren Untersuchung zugänglich. In Genprodukt nicht mehr wiederzufinden sind. Der Anteil von
großen Sonderheften berichteten Nature (Vol. 409, Feb. 2001) Introns ist bei menschlichen Genen besonders groß und kann
und Science (Vol. 291, Feb. 2001) über die fast vollständige Roh- mehr als das 10-fache der eigentlichen Protein-codierenden Se-
fassung. Der Eindruck jedoch, der durch Presseveröffentlichun- quenz betragen. Unter der Annahme, dass das generell für alle
gen oft erweckt wurde, dass damit die Probleme von Erbkrank- Gene gilt, ließen sich etwa 20 % der Größe des menschlichen
heiten gelöst seien und der Mensch nun für jede Manipulation Genoms durch die Anwesenheit großer Intronabschnitte in den
verfügbar sei, reflektiert den Mangel an Information über die Genen erklären. Etwa 60 % des Genoms entspricht Einzelkopie-
tatsächliche Bedeutung des Human Genome Projects und seiner DNA oder ist niedrigrepetitiv. Die restlichen 30–40 % des
Konsequenzen in der Öffentlichkeit: Durch die Kenntnis der menschlichen Genoms entfallen zum größten Teil auf hoch- und
DNA-Sequenz des menschlichen Genoms ist noch nicht mehr mittelrepetitive DNA-Sequenzen. Hiervon sind etwa 10 % hoch-
über seine Funktion bekannt, als wir ohne die Kenntnis der repetitive Sequenzen, und 20 % des Genoms werden durch mit-
DNA-Sequenz gewusst haben. Die Sequenz versetzt uns jedoch telrepetitive Sequenzen repräsentiert. Zur hochrepetitiven DNA
in die Lage, die codierten Proteinsequenzen abzuleiten und die im menschlichen Genom zählen neben Mikrosatellitensequen-
betreffenden Gene auf ihre Regulation und Funktion hin zu un- zen auch Telomersequenzen (TTAGG-Repeats, 7 Abschn. 6.1.4)
tersuchen. Die DNA-Sequenz hat somit eine Schlüsselfunktion, und Centromer-DNA. Mittelrepetitive DNA-Sequenzen umfas-
die uns die Tür öffnet, um weitere Erkenntnisse zu sammeln; sie sen zu einem erheblichen Teil Transposons, zu denen unter an-
hat aber ohne weitere Forschung ebenso wenig Konsequenzen derem LINEs und SINEs zählen (7 Abschn. 9.2.3), aber auch
wie der Besitz eines Schlüssels, wenn man nicht weiß, wo das Pseudogene (7 Abschn. 7.2.1), die im menschlichen Genom rela-
Schloss ist, in das er passt. tiv häufig vorkommen.
Die Sequenzierung kompletter Genome hat sich naturgemäß
> Durch das Humangenomprojekt wurde es möglich, das
nicht auf das menschliche Genom beschränkt, sondern es ist
gesamte menschliche Genom zu sequenzieren (3,3 Mrd.
13 derzeit bereits eine Vielzahl anderer Genomprojekte beendet,
Basenpaare, über 20.000 Protein-codierende Gene). Ein
die das E. coli-Genom und andere Mikroorganismen ebenso
großer Anteil des Genoms (30–40 %) enthält repetitive
einschließen wie das Genom von Saccharomyces cerevisiae,
Sequenzen.
Caenorhabditis elegans, Drosophila melanogaster, der Maus, der
Ratte, des Huhns und einiger Pflanzen (z. B. Arabidopsis thaliana).
Die Liste aller bisher sequenzierten Genome (und der ent- 13.1.1 Molekulare Diagnostik, Familienberatung
sprechenden annotierten Sequenzen) findet sich bei Ensembl und Reihenuntersuchungen
(www.ensembl.org).
Das menschliche Genom umfasst 3,3 × 109 Basenpaare Im Mittel sind etwa 2 % aller Neugeborenen klinisch auffällig
(Gbp) DNA in 23 Chromosomen (haploid; diploid: 44 Autoso- – das macht deutlich, welchen wichtigen Stellenwert die Kennt-
men und ein Geschlechtschromosomenpaar: XX bei der Frau, nis (und Diagnostik!) von Erbkrankheiten hat, um so rechtzeitig
XY beim Mann), und die Anzahl der Protein-codierenden Gene die angemessene medizinische Hilfe anbieten zu können. Erb-
wird heute mit 20.300 angegeben. Dazu kommen noch 7715 krankheiten werden auf absehbare Zeit ein schwerwiegendes
Gene für kleine, nicht-codierende RNAs, 14.863 Gene für lange, medizinisches Problem bleiben – daran werden auch alle Fort-
nicht-codierende RNAs (7 Abschn. 8.2) sowie 14.424 Pseudogene schritte der Humangenetik in nächster Zeit noch nichts Grund-
(Ensembl; April 2015). Das bedeutet, dass nur knapp 1 % der sätzliches ändern. Die an sie gestellten Erwartungen werden
DNA auf Protein-codierende Genombereiche entfällt: Nehmen allerdings häufig durch unangemessene Übertreibungen zu
wir die mittlere Größe eines Gens mit 1500 Basenpaaren (500 hoch angesetzt.
Aminosäuren) an, so umfassen ca. 21.000 Gene nur 3,15 × 107 Ein wesentliches Kriterium für eine genetische Diagnostik ist
Basenpaare oder 1 % der gesamten Genom-DNA. Das bedeutet die Frage, ob bestimmte Krankheitsbilder in einer Familie ge-
aber nicht, dass es nur knapp 21.000 menschliche Proteine gäbe: häuft auftreten. Stammbäume (7 Abschn. 13.1.3) sind häufig
So ist inzwischen bekannt, dass viele eukaryotische Gene multi- entscheidend für die Erkenntnis, dass in einer Familie eine be-
ple Promotorregionen mit einem dazugehörenden ersten Exon stimmte Erbkrankheit vorhanden ist und welchem Erbgang sie
besitzen, die in verschiedenen Geweben unterschiedlich aktiv folgt. Da die heutigen molekularen Marker (Mikrosatelliten und
werden. Hinzu kommt die Kenntnis von alternativem Spleißen, SNPs) einfach zu handhaben sind, werden Familienanalysen
bei dem in unterschiedlichen Zellen unterschiedliche Exons zu sicherlich weiter zunehmen. Außerdem können durch eine
Proteinen kombiniert werden können. Durch solche funktionel- Optimierung der statistischen Analysen auch eher Aussagen für
len Unterschiede im Gebrauch von Gensequenzen wird das Aus- kleine Familien gemacht werden.
13.1 · Methoden der Humangenetik
599 13
a Fruchtwasserpunktion (Amniozentese)
*Die PCR wird nicht nur in der Diagnostik von familiären Erb-
krankheiten, sondern auch in der forensischen Medizin und
Plazenta
Kriminalistik eingesetzt. Hier nutzte man schon bisher die
Nabelschnur
Uterus hohe Empfindlichkeit der PCR-Reaktionen, da einzelne
Amnionhöhle Haare, Blutflecken auf der Kleidung oder auch Schleimhaut-
Ultraschallgerät abstriche im Mund ausreichen, um genügend DNA für eine
molekularbiologische Analyse zu gewinnen. Beim geneti-
schen Fingerabdruck führt eine Spur zu einem unter
100 Mrd. Menschen. Es gibt keine zwei gleichen genetischen
Amniozentesenadel
Fingerabdrücke (Ausnahme: eineiige Zwillinge). Es besteht
insofern kein Zweifel daran, dass beim Vergleich verschiede-
ner Marker eine eindeutige Zuordnung zu einer individuel-
len Person möglich ist (Vec 2001). Die Verfeinerung dieser
Methoden wird in naher Zukunft die Aufklärungsraten von
b Chorionzottenbiopsie Verbrechen deutlich erhöhen.
Ultraschallgerät
 Die Methode des »genetischen Fingerabdrucks« verwendet
im Wesentlichen Mikrosatelliten (engl. short tandem repeats,
STR), die mittels PCR amplifiziert und danach in einem Elek-
Amnionhöhle
tropherogramm analysiert werden. Die STRs enthalten dabei
villöses Chorion im Allgemeinen bis zu 50-mal kurze DNA-Wiederholungs-
Chorionhöhle einheiten, die aus zwei bis sechs Basen bestehen. Um ein
Biopsie-Nadel »Stottern« der DNA-Polymerase während der PCR-Reaktion
(Spinalnadel) zu vermeiden, werden gerne STRs mit 4er-Wiederholungs-
sequenzen verwendet (z. B. GATA). Die unterschiedliche
Uterushöhle Häufigkeit der Wiederholungssequenz führt zu unterschied-
Uteruswand lichen Längen der Fragmente (. Abb. 11.26). Dieser Frag-
mentlängenpolymorphismus von STRs zeigt ein hohes Maß
. Abb. 13.1 Amniozentese und Chorionzottenbiopsie. a Amniozentese
(ca. 15. Schwangerschaftswoche): Das Fruchtwasser enthält embryonale an Heterozygotie. Dennoch müssen, um eine hohe Spezifität
Zellen. Zu deren Analyse werden etwa 10–20 ml Fruchtwasser entnommen, zu erzielen, in einer Probe mehrere solcher STRs oder Mikro-
die Zellen werden durch Zentrifugation gesammelt und in vitro kultiviert. satelliten untersucht werden. Die chromosomale Verteilung
Nach etwa 2 Wochen können Zellen auf ihren Karyotyp (. Abb. 6.2 und verschiedener Marker zeigt . Abb. 13.2. Die Wahrscheinlich-
. Abb. 6.4) und mit biochemischen und molekulargenetischen Methoden
keit, dass zwei Menschen bei acht verschiedenen STRs das
analysiert werden. b Chorionzottenbiopsie (ab der 11. Schwangerschafts-
woche): Es wird etwa 10–15 mg Zottengewebe entnommen; daraus kann gleiche Muster haben, liegt bei etwa 1:1013. Zur Bestim-
direkt DNA zur molekulargenetischen Untersuchung gewonnen werden. mung des männlichen Geschlechts wird eine kleine Dele-
Für weitere Untersuchungen müssen verschiedene Kulturen angelegt tion im 1. Intron der Y-spezifischen Form des Amelogenin-
werden. (Nach Schaaf und Zschocke 2008, mit freundlicher Genehmigung Gens verwendet (Gensymbol: AMELY; . Abb. 13.38). Der
von Springer)
Marker D21S11 kann auch verwendet werden, um eine Triso-
mie 21 (7 Abschn. 13.2.1) zu identifizieren. In . Abb. 13.3
Bei Vorliegen entsprechender Vorerkrankungen wird sicher- wird ein Beispiel eines automatischen STR-Profils gezeigt.
lich auch in der Zukunft zu einer pränatalen Diagnostik geraten
(. Abb. 13.1). Dabei können nicht nur Untersuchungen auf Chro- Der Übergang sowohl von der humangenetischen Beratung als
mosomenaberrationen durchgeführt werden (7 Abschn. 10.2 und auch der gruppenweisen Untersuchung bei Gewaltverbrechen bis
7 Abschn. 13.2). Vielmehr hat die einfache, schnelle und präzise hin zu einem bevölkerungsweiten Screening ist fließend. Schon
Durchführung der Polymerasekettenreaktion (engl. polymerase seit langer Zeit wird von jedem Neugeborenen in Deutschland
chain reaction, PCR; 7 Technikbox 4) das Anwendungsspektrum innerhalb weniger Tage nach der Geburt ein Tropfen Blut aus der
deutlich erweitert und damit zu einer rasanten Zunahme gendia- Ferse abgenommen und in einem enzymatischen Test auf das
gnostischer Verfahren geführt. In der humangenetischen Bera- Vorliegen von Phenylketonurie (7 Abschn. 13.3.1) getestet. Durch
tung spielt die PCR-basierte Gendiagnostik eine immer größere das Einleiten einer frühen Diät können Schäden durch diese Erb-
Rolle, da sie in vielen Fällen andere diagnostische Verfahren er- krankheit vermieden werden. Es gibt Überlegungen, solche Rei-
gänzt oder sogar ablöst und damit auch Voraussetzung für eine henuntersuchungen auch auf andere Erkrankungen auszuweiten;
effiziente Therapie ist. So ist z. B. in manchen Fällen eine Abgren- so ist beispielsweise die Allelhäufigkeit für die Δ508-Mutation bei
zung der Hämophilie A von bestimmten Formen der von-Wille- der Zystischen Fibrose (Mukoviszidose; 7 Abschn. 13.3.1) mit ca.
brand-Jürgens-Erkrankungen nur über eine entsprechende mole- 1:25 in der deutschen Bevölkerung sehr hoch. Da die therapeuti-
kulare Diagnostik möglich. Technisch ist es dabei unerheblich, ob schen Verfahren natürlich umso besser wirken, je früher sie ange-
die PCR an Präimplantationsembryonen, pränatal, an Kleinkin- wendet werden, kann eine derartige Reihenuntersuchung durch-
dern oder Erwachsenen durchgeführt wird, da die Empfindlich- aus gerechtfertigt werden. Dagegen wird immer wieder auch das
keit der analytischen Methodik außerordentlich hoch ist. »Recht auf Nicht-Wissen« über die genetische Konstitution eines
600 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

. Abb. 13.2 Quellen menschlicher DNA für die


forensische Analytik. Die aus den Zellkernen von
Blutstropfen (oder von anderen Körperflüssigkeiten
bzw. Geweben) isolierte DNA wird mithilfe ver-
schiedener Marker untersucht, die über das ganze
Genom verteilt sind. Verschiedene Kombinationen
sind angedeutet (FBI CODIS: Combined DNA-Index
System des FBI der USA; SGM: second generation multi-
plex; Y-spez.: spezifische Wiederholungseinheiten
für das Y-Chromosom aus dessen pseudoautosomaler
Region). Die ringförmige mitochondriale DNA (mtDNA)
kommt in hoher Kopienzahl im Organismus vor und
zeigt besonders in alten oder beschädigten Proben
eine gute Stabilität; hier werden vor allem Variationen
in den Kontrollregionen untersucht (HVS: hypervariable
Sequenz). (Nach Jobling und Gill 2004, mit freund-
licher Genehmigung der Nature Publishing Group)

13

Individuums ins Feld geführt. Allerdings sollte bei diesem Argu- chung werden kann. Hier besteht noch erheblicher Änderungs-
ment im Zusammenhang mit Reihenuntersuchungen an Neuge- bedarf.  Dies wurde inzwischen auch von der Gendiagnostik-
borenen auch bedacht werden, dass Kindern mögliche therapeu- Kommission in ihrem ersten Tätigkeitsbericht 2013 eingeräumt
tische Erleichterungen verloren gehen können, wenn man sich (die Gendiagnostik-Kommission [kurz GEKO] bewertet im
gegen eine Reihenuntersuchung entscheidet. Dieser Punkt wird Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit die Ent-
sicherlich noch für viele weitere Erbkrankheiten zu diskutieren wicklung in der genetischen Diagnostik und ist beim Robert-
sein, und zwar in dem Maße, wie die Möglichkeiten der Diagnos- Koch-Institut angesiedelt; http://www.rki.de/DE/Content/Kom-
tik und der Therapie (7 Abschn. 13.5) verbessert werden. missionen/GendiagnostikKommission/GEKO_node.html ).
In Deutschland wurde diese Debatte besonders in den Jahren
2007 bis 2009 geführt, als im Deutschen Bundestag das Gen-
diagnostik-Gesetz beraten und schließlich beschlossen wurde.
*Ende des Jahres 2007 haben zwei Firmen Billig-Analysen des
menschlichen Erbguts angeboten (http://www.decode.com/;
Leider beschränkt dieses Gesetz genetische Diagnostik nicht auf https://www.23andme.com/ ): Dazu muss der Interessent
die genetische Untersuchung (DNA- und Chromosomenunter- eine Speichelprobe einschicken. Untersucht werden etwa
suchungen), sondern schließt auch bildgebende und Protein- 1 Mio. SNPs; der Einsender bekommt nach etwa 4 Wochen
analytische Verfahren ein, sodass jede biochemische oder die Informationen über Hinweise auf Risiken bei einigen
Ultraschalluntersuchung zu einer gendiagnostischen Untersu- ausgewählten Krankheiten. Die Liste der Krankheiten wird
13.1 · Methoden der Humangenetik
601 13

. Abb. 13.3 DNA-Fingerabdruck. a Der DNA-Fingerabdruck einer Multiplex-Analyse mit der Markerkombination »SGM-Plus« (. Abb. 13.2) identifiziert einen
Mann anhand der beiden X- und Y-spezifischen Markerlängen für das Amelogenin-Gen (106 bzw. 112 bp). Die meisten übrigen STRs sind heterozygot und zei-
gen etwa eine 1:1-Verteilung (charakterisiert durch die Peakhöhe); der Marker D19S433 ist dagegen homozygot. Die Zahlen unterhalb des Peaks bezeichnen
die Nummer des jeweiligen Allels, wie es sich aus seiner Länge bestimmen lässt. Es sind drei Fluoreszenzkanäle angegeben (grün, blau und gelb). Die rote
Markerspur ist nicht gezeigt. b Die Mischung zweier männlicher DNA-Proben (nur der grüne Kanal ist gezeigt) wird deutlich am Auftreten von mehr als zwei
Allelen in unterschiedlichem Mischungsverhältnis: vier Allele von D21S11 in einem 1:1:1:1-Verhältnis sind dafür der deutlichste Hinweis; die Marker D8S1179
und D18S51 zeigen davon abweichende Verhältnisse (2:1:1 bzw. 3:1). (Nach Jobling und Gill 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

dabei ständig erweitert, sodass der Einsender mit dem wis- trons außerhalb der direkten Grenzen zu den Exons nicht er-
senschaftlichen Fortschritt auch ein »Update« seiner eigenen kannt; diese können aber die Expression bzw. das Spleißen ent-
Daten erhält. Das zeigt einerseits den enormen technischen scheidend beeinflussen. Für eine ausführliche Darstellung dieser
Fortschritt, aber auch mögliche Gefahren, die nicht nur im Technik und ihrer Anwendung in der modernen humangeneti-
möglichen Missbrauch der genetischen Daten durch Versi- schen Diagnostik sei auf die Arbeit von Rabbani et al. (2014)
cherungen, Arbeitgeber oder andere Interessierte liegen. verwiesen.
Ein großes Problem dabei ist, dass sicherlich viele Einsender
> Die Verfeinerung genbasierter Diagnose-Verfahren er-
mit der Interpretation der Ergebnisse überfordert sind und
möglicht es heute in vielen Fällen, frühzeitig und präzise
vielmehr der Unterstützung eines fachlich ausgebildeten
Krankheiten zu diagnostizieren; entsprechende Verfahren
Genetikers bedürfen. Inzwischen hat die amerikanische
können auch dazu verwendet werden, umstrittene Fami-
Behörde zur Überwachung von Lebens- und Arzneimitteln
lienverhältnisse zu klären und in der Kriminaltechnik
(engl. Food and Drug Administration, FDA) darauf reagiert
Personen zweifelsfrei zu identifizieren.
und ein Verkaufsverbot des Zubehörs für den Speichelab-
strich und den personalisierten Genom-Service angeordnet.
Die Webseite von deCODEme ist jetzt nicht mehr erreichbar; 13.1.2 Zwillingsforschung und
von 23andMe wird der personalisierte Gesundheitsservice Geschwisterpaar-Analyse
nicht mehr angeboten, sondern nur noch die Auswertung
zur Ahnenforschung (Stand: April 2015). Die Zwillingsforschung gehört zu den ältesten Methoden der
Humangenetik; sie vergleicht die Gemeinsamkeiten und Unter-
Möglich wurden diese dramatischen Fortschritte in der Sequen- schiede zwischen genetisch identischen und nicht identischen
ziertechnik durch die vielfache Anwendung des »next generation Individuen (. Abb. 13.4). Wir haben bereits bei der Besprechung
sequencing« (7 Technikbox 7). Besonders das Verfahren, das als der Meiose gesehen, dass allein die Kombinationsmöglichkeiten
Exom-Sequenzierung bekannt ist, wird sehr häufig angewendet zwischen väterlichen und mütterlichen Chromosomen bei der
(hier werden alle bekannten Exons und ihre flankierenden Re- Gametenbildung so groß sind (7 Abschn. 6.3.2), dass zufällig
gionen sequenziert). Die Ergebnisse liegen innerhalb von 4 Wo- identische genetische Konstitutionen bei den Nachkommen
chen vor und erfassen etwa 85 % der monogenen Erbkrankhei- praktisch ausgeschlossen werden können. Das gilt selbst dann,
ten (7 Abschn. 13.3). Im Gegensatz zu SNP-basierten Verfahren, wenn man von möglichen Rekombinationsereignissen ganz ab-
die nur bekannte Mutationen erfassen, handelt es sich bei der sieht. So scheint es, dass es genetisch identische Individuen gar
Exom-Sequenzierung um ein voraussetzungsloses Verfahren, nicht gibt. Dieser Schluss ist jedoch nicht ganz richtig.
das auch neue Mutationen (bei geeigneten Kontrollen!) in Exons Zwillinge entstehen, wenn sich embryonale Zellen, die aus
erfassen kann. Aufgrund des methodischen Designs werden da- der Zygote durch mitotische Teilungen entstanden sind, zu ei-
gegen Mutationen in Promotoren und Enhancern sowie in In- nem sehr frühen Zeitpunkt in der Embryonalentwicklung in
602 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

bei Frauen oder das Repertoire der funktionellen Immunglobu-


lin-Gene, aber auch eine ungleichmäßige Verteilung der Mito-
chondrien.
Im Gegensatz hierzu sind zweieiige (= dizygote) Zwillinge
durch eine gleichzeitige Befruchtung zweier reifer Eizellen durch
zwei verschiedene Spermatozoen entstanden (. Abb. 12.45). Sie
sind also genetisch nicht identisch und können daher auch ein
unterschiedliches Geschlecht haben. Die vergleichende Untersu-
chung von mono- und dizygoten Zwillingen hat der Humange-
netik wichtige Einsichten vermittelt. Aufgrund des enormen
technischen Fortschritts erlebt die Zwillingsforschung derzeit
eine Renaissance in großen Studien.
a
C Als ein Sonderfall monozygoter Zwillinge sind die Siamesi-
schen Zwillinge bekannt, die mit einer Häufigkeit von etwa
einer in 500 aller Zwillingsgeburten auftreten. Sie entstehen
durch eine unvollständige Trennung der inneren Zellmasse
(. Abb. 12.42) in der Blastocyste. Das führt zur (teilweisen)
Entwicklung zweier Individuen, die nicht vollständig ge-
trennt sind. Daher sind, wie beim ersten – aus Siam (dem
heutigen Thailand; »Siamesische« Zwillinge) – beschriebe-
nen Fall, die beiden Individuen in einer mehr oder weniger
begrenzten Körperregion miteinander verbunden. Sie lassen
sich chirurgisch voneinander trennen, wenn jedes Indivi-
duum alle Organe besitzt. Im Falle einer weniger vollständi-
gen Trennung haben die miteinander verwachsenen Indivi-
b duen beispielsweise zwei Köpfe, teilen sich aber im Übrigen
einen gemeinsamen Körper. In wieder anderen Fällen haben
sie nur einen Kopf und sind im unteren Körperbereich ver-
doppelt. Solche partiellen Zwillinge sterben oft noch vor ih-
13 rer Geburt oder kurz danach. Die Häufigkeit Siamesischer
Zwillinge, bezogen auf alle Geburten, ist mit 5 × 10−4 nied-
rig im Vergleich zu anderen genetischen Veränderungen.
Vergleichbare Entwicklungsstörungen werden natürlich
auch bei Tieren beobachtet.

Die mittels der Zwillingsforschung erzielten Ergebnisse liegen


auf zwei Ebenen der genetischen Forschung. Zunächst gestattet
es die genetische Identität monozygoter Zwillinge, durch direk-
ten Vergleich Hinweise auf die erbliche Grundlage morphologi-
scher oder anderer Merkmale zu erhalten, da eine phänotypische
Identität in diesem Falle mit hoher Wahrscheinlichkeit zugleich
c auch die Identität der Erbeigenschaften anzeigt. Vielleicht wich-
. Abb. 13.4 Zwillinge. a Ähnliche monozygote Zwillinge. b Ähnliche di-
tiger noch sind aber Schlüsse über die Variabilität erblicher Aus-
zygote Zwillinge. c Unähnliche monozygote Zwillinge. (Aus Tariverdian und prägungsformen, die wir aus der vergleichenden Untersuchung
Buselmaier 2004, mit freundlicher Genehmigung von Springer) monozygoter Zwillinge ziehen können. Der Phänotyp eines Or-
ganismus ist stets das Ergebnis der Funktion der erblichen Anla-
gen in ihrer Zusammenwirkung mit den Umweltgegebenheiten.
zwei (oder mehr) Zellgruppen organisieren, die sich unabhängig Betrachten wir diese Feststellung im Hinblick auf Zwillinge etwas
voneinander zu einem vollständigen Organismus entwickeln. Da genauer, so werden wir erkennen, dass sowohl monozygote als
diese beiden (oder mehr) Organismen von der gleichen befruch- auch dizygote Zwillinge uns kaum anderweitig zu erlangende
teten Zygote abstammen, sind sie genetisch identisch. Beim Informationen über die Einflüsse der Umwelt auf die Ausprä-
Menschen kennen wir solche genetisch identischen Individuen gung menschlicher Erbanlagen im Phänotyp verfügbar machen
als eineiige (= monozygote) Zwillinge. Es ist einleuchtend, dass können.
eineiige Zwillinge das gleiche Geschlecht haben. Die einzigen
Unterschiede monozygoter Zwillinge sind Merkmale, die auf Umweltfaktoren Eine interessante Beobachtung ist es, dass die
somatisch-genetischen Veränderungen nach dem Zygotenstadi- Entstehung monozygoter Zwillinge selbst offenbar vorwiegend
um zurückzuführen sind, z. B. das Muster der X-Inaktivierung entwicklungsphysiologisch (also durch Umwelteinflüsse) be-
13.1 · Methoden der Humangenetik
603 13
dingt ist, wenn auch erbliche Faktoren nicht ganz ohne Bedeu-
. Tab. 13.1 Abschätzung der Erblichkeit von Merkmalen oder
tung sind. Die Häufigkeit dizygoter Zwillinge hingegen ist so- Erkrankungen aufgrund von Zwillingsstudien
wohl durch äußere Faktoren als auch genetisch beeinflusst. Als
äußere Faktoren sind hierbei Außentemperaturen und das Le- Merkmal/Erkrankung Erblichkeit Anzahl der
bensalter der Mutter zu nennen: Bei niedrigeren Außentempera- Zwillingspaare
turen steigt der Anteil dizygoter Zwillinge ebenso wie mit dem in der Studie
Lebensalter der Mutter.
Größe Männer: 0,87–0,93 30.111
Frauen: 0,68–0,90
Häufigkeit In den Vereinigten Staaten liegt die Häufigkeit dizy-
Body-Mass-Index Männer: 0,65–0,84 37.000
goter Zwillinge von Müttern, die jünger als 30 Jahre alt sind, bei
Frauen: 0,64–0,79
0,6 %. Von Müttern, deren Lebensalter bei Ende 30 liegt, werden
etwa 1,3 % dizygote Zwillinge geboren. Genetische Faktoren, die Diabetes Typ 1 0,88 22.650
die Häufigkeit von Zwillingen beeinflussen, werden bei Familien Diabetes Typ 2 0,64 13.888
sichtbar, bei denen vorwiegend Mehrfachgeburten vorkommen.
Asthma 0,60 21.135
In manchen Populationen ist die Häufigkeit dizygoter Zwillinge
offenbar aufgrund genetischer Faktoren beträchtlich erhöht. Bei- Schizophrenie 0,81 Meta-Analyse
spielsweise liegt der Anteil von Zwillingen bei Nigerianern bei Alzheimer’sche 0,48 662
etwa 4 % aller Geburten. Die Häufigkeit monozygoter Zwillinge Erkrankung
hingegen ist nicht altersabhängig. Ihr mittlerer Anteil liegt bei Schwere 0,37 Meta-Analyse
etwa 0,4 % aller Geburten. Depression

Parkinson’sche 0,34 46.436 Zwillinge


Ausprägung von Merkmalen Die Zwillingsforschung hat in der Erkrankung
Geschichte der Humangenetik eine wichtige Rolle bei der Erfor-
Migräne 0,34–0,57 29.717
schung genetisch bedingter Merkmale gespielt:
Prostatakrebs 0,42 21.000
C Die erste klassische Zwillingsstudie wurde von Francis Galton Brustkrebs 0,27 23.788
bereits 1875 publiziert. Die systematische Analyse von Ähn-
lichkeiten bei mono- und dizygoten Zwillingen wurde durch Telomerlänge 0,56 175

den Dermatologen Hermann Werner Siemens 1924 einge- Alkoholmissbrauch 0,50–0,70 Keine Angabe
führt, der die Korrelationsanalyse mit Zwillingsdaten verband:
Er bestimmte die Zahl der Muttermale in dem einem und im Nach van Dongen et al. 2012

anderen Zwilling und verglich die Korrelation in mono- und


dizygoten Zwillingspaaren. Die Korrelation in eineiigen Zwil-
lingen beträgt 0,4 und nur noch 0,2 in zweieiigen Zwillingen Ein wichtiger Aspekt der Zwillingsforschung besteht in der
– diese Untersuchung machte zunächst zwar »nur« den gene- Bestimmung der Erblichkeit. Erblichkeit (engl. heritability, h2)
tischen Beitrag bei der Variation der Zahl der Muttermale wird in der Humangenetik als das Verhältnis der genetischen
deutlich (die »Erblichkeit« beträgt 40 %; siehe unten), die Me- Varianz zu der gesamten Varianz betrachtet; häufig findet man
thode wurde in der Folgezeit aber auf eine Vielzahl von Merk- dafür die Formel
malen angewendet.
h2 = G/V = (A + D)/(A + D + E),
Der Vergleich monozygoter Zwillingen kann uns also Aufschluss
darüber verschaffen, ob die Ausprägung eines Merkmals stark wobei G die genetische Varianz darstellt (bestehend aus der Va-
von der Umwelt beeinflusst oder weitgehend genetisch festgelegt rianz aufgrund additiver genetischer Effekte, A, und der Varianz
ist. Man untersucht hierzu monozygote und dizygote Zwillinge aufgrund dominanter Effekte, D). V bedeutet die gesamte Vari-
und stellt den Prozentsatz an übereinstimmender (Konkordanz) anz des Phänotyps; sie setzt sich aus der genetischen Varianz und
und abweichender Ausprägung (Diskordanz) fest. In . Tab. 13.1 der umweltbedingten Varianz (E) zusammen. Viele psychische
sind die Ergebnisse von Zwillingsstudien für einige komplexe Krankheiten haben zwar eine beträchtliche erbliche Komponen-
Merkmale und Erkrankungen (7 Abschn. 13.4, 7 Kap. 14) zusam- te in ihrer Expression, ihre Ausprägung wird aber auch durch
mengestellt. Wir erkennen, dass viele der untersuchten Eigen- einen nicht unerheblichen Beitrag der Umwelt gesteuert. Expres-
schaften auch bei monozygoten Zwillingen ein großes Maß an sivitäts- und Penetranzunterschiede machen es in solchen Fällen
Diskordanz aufweisen, also in einem hohen Maße durch die Um- besonders schwierig, den Anteil des genetischen Beitrags genau-
welt beeinflusst sind. Eine Ausnahmestellung nehmen mono- er zu bestimmen. Das gilt insbesondere für alle Verhaltensmerk-
gene Erbkrankheiten ein (7 Abschn. 13.3), für die bei monozygoten male. Aussagen über angeblich erblich bedingte »abnormale«
Zwillingen in der Regel eine 100 % konkordante Ausprägung zu Verhaltensweisen (z. B. Kriminalität) sind daher mit größter Zu-
beobachten ist. Solche Krankheiten sind rein genetisch bedingt, rückhaltung zu bewerten.
wie es aufgrund der Ursache (z. B. Ausfall eines Genproduktes) In gleicher Weise wie dizygote Zwillinge weisen Geschwister
auch zu erwarten ist. ein hohes Maß an genetischer Ähnlichkeit auf. Geschwisterpaare
604 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

unterscheiden sich nur durch wenige Rekombinationen, sodass 13.1.3 Stammbaumforschung und Kartierung
große Chromosomenabschnitte übereinstimmen. Für ein zufäl- von Erbkrankheiten
lig ausgewähltes Chromosomensegment ist zu erwarten, dass
Geschwisterpaare keinen, einen oder zwei elterliche Haplotypen Mithilfe der Stammbaumforschung (teilweise zusammen mit
gemeinsam haben (die entsprechenden Häufigkeiten sind 25 %, cytologischen Chromosomenuntersuchungen) hat man eine
50 % bzw. 25 %). Wenn beide Geschwister von einer genetisch Reihe der wichtigsten monogenen Erbkrankheiten des Men-
bedingten Krankheit betroffen sind (engl. affected sib pairs), schen erkennen und zunächst bestimmten Chromosomen oder
dann ist es wahrscheinlich, dass sie ein Chromosomensegment Chromosomenregionen zuordnen können. Durch Ermittlung
gemeinsam haben, das das Krankheitsgen enthält (bei dominan- der Häufigkeit von Rekombinationsereignissen zwischen Genen,
ten Krankheiten besitzen sie mindestens einen übereinstimmen- die zu Erbkrankheiten führen, und geeigneten Markergenen war
den Haplotyp; bei rezessiven Krankheiten müssen beide Haplo- es gelungen, genetische Chromosomenkarten des menschlichen
typen übereinstimmen). Dabei ist es wichtig, zwischen Segmen- Genoms zu erstellen. Aus praktischen Gründen – auch rezessive
ten zu unterscheiden, die aufgrund der Abstammung identisch Allele sind im männlichen Geschlecht aufgrund der Hemizygotie
sind (engl. identical by descent), und solchen, bei denen die Her- leicht zu erkennen – waren geschlechtsgekoppelte Krankhei-
kunft unklar ist, weil beide Eltern dasselbe Allel besitzen (engl. ten oder morphologische Merkmale besonders einfach zu kar-
identical by state). Um eine Identität nach Abstammung festzu- tieren, sodass die Genkarte des X-Chromosoms besonders früh
stellen, sind Mikrosatelliten-Marker mit mehreren Allelen für gut untersucht war. Die besonderen Erfordernisse der Human-
derartige Untersuchungen wesentlich effizienter als Marker mit genetik, deren wichtigste Grundlage bis vor Kurzem große Fami-
nur zwei Allelen (SNPs). Wenn dazu mehrere Marker verwendet lienstammbäume waren, haben zu einer besonderen genetischen
werden, wird die Spezifität weiter erhöht, da jeder einzelne Hap- Symbolik geführt, die in . Abb. 13.5 zusammengefasst ist. Diese
lotyp wahrscheinlich selten ist. Symbolik gestattet es, den Erbgang von Krankheiten (oder ande-
Eine Vielzahl betroffener Geschwisterpaare lässt sich ohne ren Merkmalen) übersichtlich darzustellen.
vorherige Annahmen über den Erbgang (autosomal, rezessiv, X- Solche Stammbäume sind eine wichtige Grundlage, um die
gekoppelt) der Erkrankung analysieren. Es ist auch oft viel einfa- Lokalisation von (primär monogenen) Erbkrankheiten auf dem
cher, die Daten von erkrankten Geschwisterpaaren zu sammeln jeweiligen Chromosom zu lokalisieren. Im 7 Abschn. 11.4 haben
als von ausgedehnten Familien. Ein Nachteil der Geschwister- wir bereits einiges über das Kartieren von Genen erfahren; wir
paar-Analysen besteht aber darin, dass die ermittelten Kandida- haben uns dort allerdings auf die experimentellen Systeme be-
tenregionen oft zu groß sind, um allein aufgrund dieser Posi- schränkt. Dabei stand im Vordergrund, wie man das experimen-
tionsangabe das betroffene Gen zu erkennen (Positionsklonie- telle System optimieren kann, um möglichst präzise Kartierungs-
13 rung). Wir wollen diesen Aspekt im 7 Abschn. 13.1.3 über Kar- informationen zu erhalten (z. B. über Erhöhung der Zahl unter-
tierungen von Erbkrankheiten noch einmal aufgreifen und suchter Nachkommen in der F2-Generation oder Auskreuzun-
vertiefen. gen zu anderen Stämmen etc.). In der Humangenetik ist die
Ausgangssituation umgekehrt: Hier haben wir vorgegebene Fa-
> Zwillings- und Geschwisterpaar-Analysen sind wichtige
milien und müssen die Methoden so optimieren, dass auch für
Werkzeuge der Humangenetik und haben viel dazu bei-
kleine Familien die maximalen Informationen möglich sind.
getragen, genetische Ursachen bei komplexen Erkrankun-
Dabei hat uns das Humangenomprojekt riesige Schritte vorange-
gen zu erkennen. Zwillingsstudien erlauben dabei auch,
bracht, denn jetzt steht nicht nur die vollständige Sequenz des
den genetischen und umweltbedingten Anteil an Erkran-
Genoms (und damit eine exakte »physikalische Karte«) zur Ver-
kungen abzuschätzen.
fügung, sondern auch ein umfangreiches molekulares und statis-

*Um große Zahlen wie in . Tab. 13.1 für Zwillingsstudien zu


erreichen, sind entsprechende landesweite Register hilf-
tisches Methodenspektrum. Dazu gehört neben der Möglichkeit
der schnellen Sequenzierung mit großer Reichweite die hohe
Dichte an Mikrosatelliten-Markern, die Möglichkeit, Polymor-
reich. In Europa gibt es solche Zwillingsregister unter ande-
phismen auf der Ebene einzelner Basen zu erkennen (SNPs) und
rem in Dänemark, Großbritannien, Finnland, Niederlande,
als Marker einzusetzen, sowie die PCR-Technologie (7 Technik-
Norwegen und Schweden. Diese Register werden häufig
box 4).
über Jahrzehnte geführt und enthalten vielfältige Angaben
Die genetische Kartierung menschlicher Krankheitsgene
zu Merkmalen und zum Gesundheitszustand der Zwillinge;
funktioniert also im Prinzip genauso wie die genetische Kartie-
darüber hinaus werden oft Blutproben entnommen, um
rung eines jeden anderen diploiden Organismus, der sich sexuell
Metaboliten zu bestimmen und auch, um DNA zu isolieren.
fortpflanzt. Das Ziel besteht darin, herauszufinden, wie häufig
Wenn Langzeitstudien durchgeführt werden, können damit
zwei Genorte durch meiotische Rekombination getrennt werden,
auch somatische Mutationen und epigenetische Verände-
um auf diese Weise den genetischen Abstand (ausgedrückt in
rungen erfasst werden – dies ist natürlich insbesondere für
cM, 7 Abschn. 11.4.2) sowie die Lage des gesuchten Krankheits-
das Verständnis altersabhängiger Prozesse hilfreich. Für wei-
gens in Bezug auf die ausgewählten Marker bestimmen zu kön-
tere Details sei der interessierte Leser auf aktuelle Über-
nen. Eine Rekombination ist aber, wie wir bereits früher gesehen
sichtsarbeiten verwiesen (van Dongen et al. 2012, Tan et al.
haben, umso wahrscheinlicher, je weiter entfernt die betrachte-
2013).
ten Gene oder Marker voneinander sind. Umgekehrt werden
Allele umso wahrscheinlicher gemeinsam vererbt, je dichter sie
13.1 · Methoden der Humangenetik
605 13

. Abb. 13.5 Symbole in der Humangenetik. Bei der Anordnung der Symbole steht der Vater (wenn möglich) links, die Mutter rechts; die Anordnung der
jeweiligen Kinder erfolgt von links nach rechts mit absteigendem Alter. Durchgestrichene Familienmitglieder (hier nicht dargestellt) sind bereits vestorben.
Ein derartiger Stammbaum kann auch noch zusätzliche Informationen enthalten (für weitere Details siehe Bennett et al. 2008)

beieinander liegen. Solch ein Block von gemeinsamen Allelen auch vom Vorkommen ähnlicher Sequenzen und von der chro-
wird auch als Haplotyp bezeichnet. Haplotypen markieren also mosomalen Region ab (im Allgemeinen finden wir besonders in
chromosomale Bereiche, die sich durch Stammbäume und Be- männlichen Meiosen Rekombinationen häufiger an den Telome-
völkerungsgruppen verfolgen lassen. Die Analyse der Haploty- ren, wohingegen die Regionen nahe am Centromer eher in weib-
pen in einer Familie ist in der Regel sehr informativ, um inner- lichen Meiosen Rekombinationen zeigen). Generell treten in der
halb eines gegebenen kritischen Intervalls einzelne Rekombina- weiblichen Meiose Rekombinationen häufiger auf als in männli-
tionsereignisse zu erkennen, die dann die Region der möglichen chen, und außerdem behindert natürlich die Entstehung eines
Kandidatengene weiter einengen können (. Abb. 13.6). Crossing-overs das Entstehen eines zweiten in seiner Umgebung;
Wenn es nun zwischen den betrachteten Genorten in der dieser Vorgang wird als Interferenz bezeichnet. Moderne Com-
Meiose zu einem Crossing-over kommt, entstehen zwei rekom- puterprogramme können diese Phänomene berücksichtigen.
binierte Chromatiden mit neuen Allelkombinationen. In der
Prophase I der Meiose (7 Abschn. 6.3.2) liegen zwar vier Chro- C Mithilfe solcher Computerprogramme und geschlechts-
spezifischer Rekombinationsdaten von 28.121 Markern
matiden vor, aber an einem Rekombinationsereignis sind immer
(ohne das Y-Chromosom) errechnet sich eine genetische
nur jeweils zwei Chromatiden beteiligt – die anderen beiden
Länge des männlichen Genoms von 2867 cM. Das weibliche
bleiben unverändert. Daher erzeugt ein Crossing-over immer
Genom umfasst dagegen 4596 cM bei einer physikalischen
zwei rekombinierte und zwei nicht rekombinierte Chromatiden,
Länge des menschlichen Genoms von ungefähr 3000 Mb
was einer Rekombinationshäufigkeit von 50 % (oder 0,5) ent-
(Matise et al. 2007). Daraus ergibt sich, dass im Durchschnitt
spricht. Die Rekombinationshäufigkeit ist also nie größer als
1 männliches cM etwa 1,05 Mb entspricht und 1 weibliches
50 %, unabhängig von der Länge des physikalischen Abstands.
cM 0,65 Mb; als Faustregel kann man sich merken, dass beim
Der Zusammenhang zwischen der Rekombinationshäufigkeit
Menschen der genetische Abstand von 1 cM einen physika-
und dem genetischen Abstand gehorcht unter mathematisch-
lischen Abstand von etwa 1 Mb bedeutet.
statistischen Gesichtspunkten dabei einer Normalverteilung und
unterstellt ein rein zufälliges Auftreten von Rekombinationen, die In der klinisch orientierten Humangenetik richtet sich heute das
sich außerdem nicht beeinflussen. Aufgrund dieser Überlegun- wesentliche Interesse auf die Kartierung und Charakterisierung
gen hat John Haldane (1919) die nach ihm benannte Kartie- der Krankheitsgene in betroffenen Familien. Dazu bedarf es ei-
rungsfunktion aufgestellt (7 Abschn. 11.4.2). ner großen Zahl von Markern, die in hoher Dichte über das ge-
Allerdings hat sich im Laufe der Jahre gezeigt, dass die oben samte Genom verteilt sind und außerdem schnell zu analysieren
genannten Voraussetzungen nicht immer zutreffen. Insbesonde- sind. Die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Marker
re sind die Crossing-over nicht zufällig verteilt, sondern hängen verwendeten Blutgruppen umfassen nur etwa 20 Genorte, und
13
I
606

I:2 I:1 I:2 I:1


D17S921 ? ? ? ? ? ? ? ?
D17S805 ? ? ? ? ? ? ? ?
CRYBA1EXON4 ? ? ? ? ? ? ? ?
rs1047790 ? ? ? ? ? ? ? ?
D17S1294 ? ? ? ? ? ? ? ?
D17S1293 ? ? ? ? ? ? ? ?
D17S966 ? ? ? ? ? ? ? ?
D17S1299 ? ? ? ? ? ? ? ?
D17S1868 ? ? ? ? ? ? ? ?
D17S787 ? ? ? ? ? ? ? ?

II
* *
II:3 II:1 II:4 II:2 II:1 II:3 II:2
D17S921 176 178 184 182 ? ? 182 184 176 178 184 178 176 178
D17S805 217 217 217 215 ? ? 217 217 217 229 217 227 217 229
CRYBA1EXON4 WT WT MUT WT ? ? WT WT MUT WT WT WT WT WT
rs1047790 C C T C ? ? C C C C C C C C
D17S1294 247 251 247 255 ? ? 251 263 251 255 259 263 259 255
Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

D17S1293 271 291 283 291 ? ? 279 283 287 287 271 287 275 287
D17S966 295 277 269 291 ? ? 277 295 277 291 295 281 295 291
D17S1299 191 199 191 195 ? ? 195 199 195 199 199 203 203 199
D17S1868 194 192 188 188 ? ? 192 188 190 194 194 190 196 194
D17S787 141 159 137 137 ? ? 159 159 165 165 165 141 137 165
III
* * * *
III:1 III:2 III:5 III:3 III:4 III:6 III:7 III:4 III:1 III:2 III:3
D17S921 184 178 184 176 178 184 184 178 184 176 176 176 182 182 178 182 176 178 176 184 178 178
D17S805 217 217 217 217 219 227 217 217 217 217 217 231 217 217 215 231 217 227 217 217 217 227
CRYBA1EXON4 WT WT MUT WT WT WT WT WT MUT WT WT WT WT WT WT WT MUT WT MUT WT MUT WT
rs1047790 C C T C C C C C T C T C C C C C C C C C C C
D17S1294 255 251 247 247 251 259 247 251 247 247 251 255 251 247 259 247 251 263 251 259 251 259
D17S1293 291 291 283 271 291 275 283 291 283 271 279 275 279 283 275 291 287 287 287 271 287 271
D17S966 291 277 269 295 281 295 269 277 269 295 285 285 277 295 277 285 277 281 277 295 277 295
D17S1299 195 199 191 191 195 195 191 199 191 191 195 187 195 199 195 203 195 203 195 199 195 199
D17S1868 188 192 188 194 192 196 188 192 188 194 192 194 192 194 196 194 190 190 190 194 190 194
D17S787 137 159 137 141 141 141 137 159 137 141 165 141 159 152 152 159 165 141 165 165 165 165

IV
* * * *
IV:1 IV:2 IV:3 IV:4 IV:1
D17S921 184 184 184 178 184 176 184 176 182 178
D17S805 217 227 217 219 217 231 217 217 231 227
CRYBA1EXON4 MUT WT MUT WT MUT WT MUT WT WT WT
rs1047790 T C T C T T T C C C
D17S1294 247 259 247 251 247 251 247 251 247 263
D17S1293 283 275 283 291 283 279 283 279 291 287
D17S966 269 295 269 281 269 285 269 285 285 281
D17S1299 191 195 191 195 191 195 191 195 203 203
D17S1868 188 196 188 192 188 192 188 192 194 190
D17S787 137 141 141 141 137 165 137 165 159 165

Familie 1 Familie 2
13.1 · Methoden der Humangenetik
607 13
9 . Abb. 13.6 Haplotyp-Analyse. Zwei große Familien, in der viele Mitglieder Varianten einer Familie mit unterschiedlichem Informationsge-
an erblichem grauen Star (Katarakt) leiden (schwarze Symbole; Pfeile: Index- halt gezeigt. In . Abb. 13.7a ist klar, dass die Krankheit zunächst
Patienten), wurden zunächst mit SNPs genomweit untersucht (Teilnehmer
mit dem Allel A1 assoziiert ist: von der Großmutter (I-2) über die
sind durch einen Stern gekennzeichnet); eine Haplotyp-Analyse mit poly-
morphen Mikrosatelliten-Markern erfolgte für die Region mit Kopplung auf Mutter (II-1) zu den Kindern III-1, III-3 und III-4; bei III-6 liegt
dem Chromosom 17. Der entscheidende Bereich wird in der Familie 1 durch offensichtlich eine Rekombination vor. In der Situation von
die Rekombinationen in den Mitgliedern III-1 und IV-2 definiert und in Fa- . Abb. 13.7b ist das nicht mehr klar: Da über die Generation der
milie 2 durch deren Mitglieder III-3 und IV-1. WT: Wildtyp; MUT: mutierte Großeltern keine Informationen vorliegen, kann bei der Mutter
Form des CRYBA1-Gens (Deletion von drei Basen im Exon 4). Obwohl die
(II-1) die Krankheit mit beiden Allelen, A1 oder A2, assoziiert
kausale Mutation in den beiden Familien identisch ist, zeigt der Vergleich
der Haplotyp-Analyse, dass beide Mutationen wahrscheinlich unabhängig sein. Allerdings lässt das Verhältnis in der 3. Generation eine
voneinander entstanden sind, da die flankierenden Marker bei den Pa- Assoziation mit A1 wahrscheinlicher erscheinen als mit A2.
tienten unterschiedliche Allele aufweisen. (Nach Lu et al. 2007, mit freund- Im Stammbaum in . Abb. 13.7b ist es also nicht möglich,
licher Genehmigung von Molecular Vision) zweifelsfrei die Rekombinationsereignisse zu bestimmen. Es ist
aber möglich, die Wahrscheinlichkeit der beiden Alternativen zu
berechnen, ob die beiden Genorte (Krankheit und Marker A1)
auch die später entwickelten biochemischen Verfahren haben gekoppelt sind (Rekombinationshäufigkeit = Θ) oder nicht (Re-
keine wesentliche Verbesserung gebracht. Es sind heute insbe- kombinationshäufigkeit = 0,5 – d. h. maximale Rekombinations-
sondere drei Kategorien von Markern, die diesen Ansprüchen häufigkeit). Das Verhältnis dieser beiden Wahrscheinlichkeiten
genügen: zeigt an, welche Wahrscheinlichkeit überwiegt (engl. odds), und
4 Restriktionsfragmentlängenpolymorphismen (engl. der Logarithmus daraus wird als LOD-Score bezeichnet (engl.
restriction fragment length polymorphism, RFLP): Sie erfor- logarithm of the odds). Newton Morton hat 1955 gezeigt, dass
derten früher ein Hybridisierungsverfahren (Southern die Berechnung der LOD-Scores die effizienteste statistische
Blot); heute kann es aber vielfach durch PCR-basierte Methode darstellt, um Stammbäume auf Kopplung zu unter-
Verfahren ersetzt werden; suchen, und er entwickelte Formeln, um den LOD-Score für
4 Mikrosatelliten (Di-, Tri- und Tetrarepeats) mit hohem bestimmte Standardsituationen als Funktion von Θ zu erhalten.
Informationsgehalt; Die entsprechenden Daten für unsere zwei Standardfamilien aus
4 SNPs können in automatischen Verfahren schnell nach- . Abb. 13.7 sind in . Tab. 13.2 angegeben. Positive LOD-Scores
gewiesen werden. lassen eine Kopplung wahrscheinlicher erscheinen, wohingegen
negative LOD-Scores eher für eine Ablehnung dieser Hypothese
Für alle drei Kategorien liegt die Zahl der bekannten Marker über sprechen. Man beachte aber, dass nur Rekombinationshäufigkei-
105, bei SNPs sogar noch einmal eine Größenordnung darüber. ten Θ zwischen 0 und 0,5 aussagekräftig sind; bei Θ = 0,5 lässt
Der Informationsgehalt der RFLP-Verfahren ist allerdings in der sich aber Kopplung und Nicht-Kopplung nicht mehr unterschei-
Humangenetik begrenzt, da es maximal zwei Allele gibt: Restrik- den (beide Möglichkeiten sind gleich wahrscheinlich), sodass
tionsschnittstelle vorhanden oder nicht. Bei den Mikrosatelliten der Quotient 1 und damit der entsprechende Logarithmus 0
gilt diese Einschränkung nicht – hier sind natürlich durch die wird. Computerprogramme können die entsprechenden Kurven
Vielzahl der Wiederholungsmöglichkeiten auch eine entspre- grafisch darstellen (. Abb. 13.8).
chend hohe Zahl an Allelen möglich, womit die Wahrscheinlich- Die nächste Frage betrifft den Schwellenwert, ab dem wir
keit steigt, auch in kleinen Familien informative Marker verwen- einen LOD-Wert als signifikant betrachten können. Es hat sich
den zu können. allgemein durchgesetzt, dafür einen Wert von 3 anzunehmen.
Hat man nun eine Familie mit klarem Mendel’schen Erbgang Das beruht darauf, dass dann die Wahrscheinlichkeit der Kopp-
und informativen Markern gefunden, stellt sich die Frage, wie lung 1000-fach über der Wahrscheinlichkeit der Nicht-Kopplung
man Kopplung statistisch sichern kann. In . Abb. 13.7 sind zwei liegt (der Logarithmus von 1000 ist 3). Mathematische Überle-

a b

. Abb. 13.7 Erkennung von Rekombinationen. Es sind zwei Versionen einer Familie mit einer autosomal-dominanten Erkrankung angegeben, die mit
dem Marker A assoziiert ist. Dieser Marker kommt in verschiedenen Allelen (A1 bis A6) vor. a Wir können zweifelsfrei erkennen, dass bei den Familienmit-
gliedern III-1 bis III-5 keine Rekombinationen vorliegen; bei III-6 hat dagegen eine Rekombination stattgefunden. b Wenn in derselben Familie allerdings
Informationen über die Großeltern (Generation I) fehlen, erscheint die Situation nicht mehr so eindeutig: Bei der Mutter (II-1) könnte die Krankheit mit dem
Allel A1 oder A2 assoziiert sein. Entsprechend könnten formal entweder die Kinder III-1 bis III-5 rekombinant sein und III-6 nicht rekombinant oder umge-
kehrt (III-1 bis III-5 nicht rekombinant und III-6 rekombinant). Da aber Rekombinationsereignisse selten sind, erscheint die zweite Interpretation wahr-
scheinlicher. (Nach Strachan und Read 2005, mit freundlicher Genehmigung von Taylor & Francis)
608 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

. Tab. 13.2 Berechnung der LOD-Werte der Familien aus . Abb. 13.7

Familie Aa

Θ 0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5

Z –∞ 0,58 0,62 0,51 0,30 0

Familie Bb

Θ 0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5

Z –∞ 0,28 0,32 0,22 0,08 0

Vorbemerkungen: Unter der Annahme, dass die Gene wirklich gekop-


pelt sind (Rekombinationshäufigkeit Θ), beträgt die Wahrscheinlich-
keit, dass eine Meiose nicht rekombinant ist, 1 – Θ. Wenn die Gene
tatsächlich aber nicht gekoppelt sind, beträgt die Wahrscheinlichkeit,
dass eine Meiose rekombinant oder nicht rekombinant ist, in gleicher
Weise 1/2.
a Es gibt 5 Nicht-Rekombinante und 1 Rekombinante. Die Gesamt-

wahrscheinlichkeit für Kopplung ist (1 – Θ)5 × Θ. Die Wahrscheinlich-


keit für keine Kopplung ist (1/2)6. Das Verhältnis der Wahrscheinlich-
keiten ist (1 – Θ)5 × Θ/(1/2)6. Der LOD-Wert (Z) ist der Logarithmus
des Verhältnisses beider Wahrscheinlichkeiten; bei verschiedenen
beobachteten Rekombinationshäufigkeiten ergeben sich obige . Abb. 13.8 Kurven von LOD-Werten. Aufgetragen sind die LOD-Werte ge-
LOD-Werte. gen die Rekombinationshäufigkeit bei einem Satz hypothetischer Kopp-
b Wenn A mit der Erkrankung gekoppelt ist, gibt es 5 Nicht-Rekom-
1 lungsexperimente. Kurve 1: Nachweis einer Kopplung (Z > 3) ohne Rekom-
binante und 1 Rekombinante; wenn A2 mit der Erkrankung gekoppelt bination. Kurve 2: Hinweis auf eine Kopplung (Z > 3), wobei die wahrschein-
ist, gibt es 5 Rekombinante und 1 Nicht-Rekombinante. Die Gesamt- lichste Rekombinationshäufigkeit einen Wert von 0,23 erreicht. Kurve 3:
wahrscheinlich ist 1/2 [(1 – Θ)5 × Θ/(1/2)6] + 1/2 [(1 – Θ) × Θ5/(1/2)6]. Ausschluss einer Kopplung (Z < −2) für Rekombinationshäufigkeiten von
Der LOD-Wert (Z) ist der Logarithmus des Verhältnisses beider Wahr- unter 0,12; über größere Rekombinationshäufigkeiten sind keine Aussagen
scheinlichkeiten; bei verschiedenen beobachteten Rekombinations- möglich. Kurve 4: für keine der Rekombinationshäufigkeiten lässt sich eine
häufigkeiten ergeben sich obige LOD-Werte. Aussage machen. (Nach Strachan und Read 2005, mit freundlicher Geneh-
migung von Taylor & Francis)

13
gungen können zeigen, dass dieser 1000-fache Überschuss der
Wahrscheinlichkeit dem allgemein üblichen Grenzwert von
p < 0,05 entspricht, den man in der Statistik als Signifikanz- Chromosomale Region
schwelle für eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 % wählt. Um- 17q11.2 - 21.32
CRYBA1

gekehrt wird eine Kopplung mit einem LOD-Wert kleiner als −2


ausgeschlossen; LOD-Werte zwischen −2 und +3 lassen keine
klaren Aussagen zu.
D17S1293

D17S1299

D17S1868
D17S1294
D17S921

D17S805

D17S966

D17S787

Wir haben uns aus Gründen der Einfachheit nur auf die
Kopplung mit einem Marker beschränkt; die Aussagekraft der
Methode wird jedoch deutlich verbessert, wenn mehr Marker in 4
die Untersuchung einbezogen werden. Die Auswertung über ent- 2
sprechende Computerprogramme ergibt dann ein »kritisches
LOD-Wert

Intervall«, innerhalb dessen das gesuchte Gen zu finden sein 0


sollte – ein Beispiel dafür zeigt die . Abb. 13.9, wobei aufgrund -2
der Vielzahl der Marker auch ein LOD-Wert zwischen 2 und 3 -4
eine klare Interpretation liefert. Es sei abschließend darauf hin-
-6
gewiesen, dass die Aussagekraft der Methode sehr davon ab- 0 10 20 30 40 50 60
hängt, dass der Phänotyp eindeutig bestimmt werden kann Lokalisation (Mb)
(krank/nicht krank) und dass die Marker klar voneinander un- . Abb. 13.9 Kartierung unter Verwendung mehrerer Marker. Die waag-
terschieden werden können. Falsche Klassifizierungen auf der rechte Achse gibt die genetischen Abstände in Megabasen (Mb) an, die
einen oder anderen Seite können leicht zu unklaren Ergebnissen senkrechte Achse die LOD-Werte. In der Nähe von Markern, die mit dem
führen. Wir werden später sehen (7 Abschn. 13.4), wie diese Me- Krankheitsgen rekombinieren, werden die Werte stark negativ. Der höchste
Wert der Kurve zeigt die wahrscheinlichste Position für das Krankheitsgen
thode auch bei komplexen Erkrankungen angewendet werden
an. Fünf Marker aus der chromosomalen Region 17q11.2–21.32 (Familie 1
kann. aus . Abb. 13.7) zeigen positive LOD-Werte > 2; die Region enthält das
Die Notwendigkeit, sich auf ein vollständiges genetisches Kandidatengen CRYBA1, in dem die kausale Mutation beobachtet wurde.
Modell festlegen zu müssen, erweist sich bei einer Kopplungs- (Nach Lu et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung von Molecular Vision)
13.1 · Methoden der Humangenetik
609 13

Vorfahre Ursprüngliches „G“-Allel an


einem gegebenen Genort

Mutation verändert das


„G“-Allel zu einem „T“

Basispopulation zur
Bestimmung des
IBD-Koeffizienten

Aktuelle Population von


Chromosomensegmenten
in fünf Individuen

. Abb. 13.10 Identität aufgrund der Abstammung (engl. identity by descent, IBD). Es ist ein ursprüngliches Allel (»G«) an einem bestimmten Genort ge-
zeigt, in dem die Allele der aktuellen Population C1–C5 zusammenlaufen (»letzter gemeinsamer Vorfahre«). In einem Ast des Stammbaums mutiert dieses
»G«-Allel zu »T« (Blitz) und führt damit zu einem G/T-Polymorphismus. IBD unter den Individuen C1–C5 an dem polymorphen Genort kann in Bezug zur
Basispopulation B (B1–B4) definiert werden (dargestellt durch unterschiedlich gefärbte Chromosomensegmente). Danach sind C1, C2 und C3 untereinander
aufgrund ihrer Abstammung identisch (IBD), da alle drei von dem »G«-Allel in B1 abstammen. Die »T«-Allele in C4 und C5 sind dagegen aufgrund ihres
Zustandes identisch (engl. identity by state, IBS), da sie von unterschiedlichen »T«-Allelen in der Basispopulation abstammen. Die ganzen Chromosomen-
segmente C1 und C2 sind IBD, da sie ohne Rekombination aus B1 hervorgehen; das Segment C3 ist dagegen nicht IBD zu C1 und C2, da es eine Rekombi-
nation mit einem Segment aus B3 aufweist. (Nach Powell et al. 2010, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

analyse von nur eingeschränkt mendelnden Merkmalen als möglich, neue Kandidatengene zu identifizieren, die mit der un-
ernsthaftes Problem. Modellfreie Kopplungsanalysen bieten tersuchten Krankheit assoziiert sind. Diese Überlegungen sind in
eine Möglichkeit zur Lösung. Dabei lässt man nicht betroffene . Abb. 13.10 schematisch dargestellt.
Personen außer Acht und sucht stattdessen nach chromoso-
malen Abschnitten, die bei betroffenen Personen übereinstim- > Die Kartierung von Erbkrankheiten in größeren Familien
men. Wie wir bereits im 7 Abschn. 13.1.2 gesehen haben, ist es erfolgt durch die Verwendung von Mikrosatelliten-Mar-
dabei wichtig, zwischen Abschnitten zu unterscheiden, die kern, die die Bestimmung von LOD-Werten erlaubt. Bei
aufgrund der Abstammung übereinstimmen (engl. identical by LOD-Werten, die größer als 3 sind, wird eine Kopplung als
descent), und solchen, bei denen die Übereinstimmung rein zu- sehr wahrscheinlich angenommen.
fällig ist (engl. identical by state). Verfahren, die übereinstim-
mende Abschnitte untersuchen, lassen sich innerhalb von Kern-
familien (Geschwisterpaar-Analysen, engl. sib-pair analysis), bei 13.1.4 Genetische Epidemiologie
ausgedehnten Familien oder bei Bevölkerungsgruppen anwen-
den, die sich auf eine kleine Ursprungsgruppe zurückführen Die Suche nach statistischen Assoziationen zwischen der Krank-
lassen. heit und einem Markergenotyp in der allgemeinen Bevölkerung
Neue statistische Verfahren, verbunden mit verfeinerten Me- ist eine zunehmend interessanter werdende Alternative zur
thoden zur Bestimmung von SNPs und DNA-Sequenzierungen Kopplungskartierung in Familien. Kopplungen und Assoziation
(7 Technikbox 6 und 7 Technikbox 7) erlauben es heute, die Her- sind unterschiedliche Phänomene, wobei der wesentliche Unter-
kunft von Haplotypen über eine gemeinsame Abstammung schied darin besteht, dass Kopplung eine Beziehung zwischen
(engl. identity by descent) auch über mehrere Generationen zu- zwei Genorten und Assoziation eine Beziehung zwischen Alle-
rückzuverfolgen, ohne dass für alle Familienmitglieder experi- len darstellt. Bei einer Kopplungsanalyse ist die Kausalität zwi-
mentelle Daten vorliegen. Damit können auch solche Stamm- schen der Veränderung in der kritischen chromosomalen Re-
bäume, wie wir sie in . Abb. 13.7b kennengelernt haben, für eine gion und der beobachteten (seltenen monogenischen) Krank-
humangenetische Analyse nutzbar gemacht werden; ebenso heit in der Regel gegeben und durch Co-Segregation in den be-
kann man damit statistisch überprüfen, ob die in . Abb. 13.6 troffenen Familien nachweisbar (liegt keine Co-Segregation vor,
dargestellte Haplotyp-Analyse tatsächlich auf zwei unabhängige bedeutet dies, dass die beobachteten genetischen Unterschiede
Mutationsereignisse zurückgeführt werden kann, oder ob es für die Krankheit nicht kausal sind!). Assoziationsstudien wer-
nicht vielmehr doch einen gemeinsamen Vorfahren gibt. Ein ent- den dagegen in der Regel für häufige und komplexe Erkrankun-
scheidender Punkt dabei ist das phasing eines bzw. mehrerer gen durchgeführt; die beobachteten Allele stellen entweder ge-
SNPs, d. h. die Zuordnung eines SNPs bzw. eines Haplotyps zu koppelte Marker dar oder erhöhen bzw. erniedrigen als funk-
dem jeweils väterlichen bzw. mütterlichen Chromosom über tionelle DNA-Veränderungen das Risiko, mit dem eine Erkran-
mehrere Generationen hinweg mithilfe verschiedener statisti- kung auftritt. Für die Aussagekraft von Assoziationsstudien auf
scher Verfahren. Damit ist es auch bei komplexen Erkrankungen Populationsbasis ist die Auswahl der Kontrollen von ganz ent-
610 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

scheidender Bedeutung. Es reicht oft nicht aus, Studenten oder Wie oben bereits erwähnt, lassen sich die Ergebnisse der
Personal der Universität als Kontrollen zu verwenden, da sie GWAS nicht mit Kartierungsdaten aus Familienuntersuchungen
möglicherweise nicht typisch für die Population sind, aus der die vergleichen. Ihre Stärke liegt vielmehr darin, dass sie für komple-
Patienten stammen. xe Erkrankungen ein zusätzliches Risiko angeben können, wenn
Aus derartigen Überlegungen heraus hat sich langsam ein eine bestimmte genetische Konstitution vorliegt (wir sprechen
neues Feld entwickelt – die genetische Epidemiologie. Der Be- daher von Risiko-Allelen oder Anfälligkeitsgenen; engl. suscepti-
griff wurde von James Neel und William Schull 1954 geprägt, um bility genes). Deswegen werden die Ergebnisse häufig in Form
das Zusammenwirken zweier Disziplinen zu beschreiben, die zur eines Quotenverhältnisses (engl. odds ratio, OR) angegeben, oft
Erklärung verbreiteter Krankheiten ihre Ursache und die Ver- zusammen mit einem Vertrauensintervall von 95 %. Übliche Er-
breitung in der Bevölkerung analysieren wollen. Aufgrund ihrer gebnisse zeigen signifikante Quotenverhältnisse unter 1,5 an –
»Hybrid-Natur« zehrt die genetische Epidemiologie von ver- d. h. der jeweilige SNP erhöht das Erkrankungsrisiko um weni-
schiedenen, benachbarten Arbeitsrichtungen: Populationsgene- ger als den Faktor 1,5 (oder um weniger als 50 %). Daraus ergibt
tik (7 Abschn. 11.5), quantitativer Genetik, Epidemiologie und sich natürlich im Umkehrschluss, dass es für die Volkskrankhei-
Biostatistik. Im Zentrum der genetischen Epidemiologie steht ten viele genetische Komponenten geben muss (abgesehen von
der Versuch, genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die den Umwelteinflüssen, die bei diesen Erkrankungen eine große
Krankheitsentstehung zu unterscheiden. Dazu wurden in den Rolle spielen, aber in einem genetischen Kontext nicht weiter
letzten Jahren viele verschiedene Verfahren entwickelt, die alle erörtert werden können).
einen großen statistischen Aufwand betreiben, um Genorte zu
identifizieren, die mit komplexen Krankheiten assoziiert sind.
Eine der wichtigsten neuen Methoden sind die genomwei-
*EsvongibtVolkskrankheiten
verschiedene Modelle, wie viele Gene zum Entstehen
beitragen. Ein entscheidendes Argu-
ten Assoziationsstudien (GWAS). Dabei werden in ausreichend ment dabei ist die Häufigkeit der Risiko-Allele in der unter-
großen Kohorten Patienten, die an Volkskrankheiten leiden, mit suchten Population. Wir können dabei grob drei Gruppen
gesunden Kontrollen verglichen. Für die Assoziation mit geneti- unterscheiden:
schen Markern werden 500.000 oder mehr SNPs verwendet, die 5 Seltene Allele mit großer Wirkung: Häufige Erkrankungen
zufällig über das gesamte Genom verteilt sind. Dieser hypothe- sind sehr heterogen in ihrer Ursache; jedes Risiko-Allel
senfreie Ansatz ermöglicht auch die Entdeckung von Genen, kommt in der Bevölkerung zwar selten vor (~ 1 %), leistet
von denen man bisher nicht wusste, dass sie an der Ausbildung aber einen großen Beitrag zur Krankheitsentstehung, be-
der entsprechenden Krankheit beteiligt sind. Volkskrankheiten sonders in homozygotem Zustand. Diese Form ist nahe
sind ihrer Natur nach häufig und genetisch komplex (d. h. viele an der klassischen Genetik rezessiver Erbgänge.
13 Gene sind an der Ausbildung der Krankheit beteiligt; hierzu ge- 5 Häufige Erkrankungen durch häufige genetische Varian-
hören Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Asthma, Auto- ten: Jedes Risiko-Allel hat eine Häufigkeit von etwa 5 %
immunerkrankungen oder psychiatrische Erkrankungen). Wir in der Bevölkerung – damit ergeben sich für jede Krank-
werden später einige Ergebnisse dazu vorstellen (7 Abschn. 13.4 heitsform ca. 20 Varianten als Ursache.
über komplexe Erbkrankheiten; 7 Kap. 14 über Verhaltens- und 5 Das infinitesimale Modell: Bei komplexen Erkrankungen
Neurogenetik); . Abb. 13.11 vermittelt einen Eindruck von der erhöht jedes Risiko-Allel das relative Risiko um weniger
Vielzahl wissenschaftlicher Ergebnisse auf diesem noch relativ als 20 % (odds ratio < 1,2) – damit tragen Hunderte von
jungen Gebiet der genetischen Epidemiologie. Varianten zur Krankheit bei.

*:$63XEOLNDWLRQHQ ದ . Abb. 13.11 Anzahl der publizierten genom-


1350 weiten Assoziationsstudien in den Jahren 2005
1400
bis 2012. (Mit freundlicher Genehmigung vom
National Human Genome Research Institute
1200 der USA; http://www.genome.gov/26525384;
*HVDPW]DKOGHU3XEOLNDWLRQHQ

Stand 12.7.2014)
1000

800

600

400

200

0
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012
-DKU 4XDUWDOV]DKOHQ
13.2 · Chromosomenanomalien
611 13
Natürlich kann man sich auch Mischformen vorstellen: ein 13.2 Chromosomenanomalien
oder zwei Allele mit hohem Anteil, einige mit mittlerem und
andere, die nur einen geringen Beitrag leisten – eben kom- Im 7 Kap. 6 haben wir bereits viel über die Struktur und den
plexe Erkrankungen. Details dieser Überlegungen finden Aufbau menschlicher Chromosomen erfahren. Insbesondere
sich bei Gibson (2009). wurden dort auch die verschiedenen Färbetechniken vorge-
stellt,  mit denen in der humanen Cytogenetik gearbeitet wer-
Wenn wir nun die signifikanten SNP-Daten im Detail interpre- den  kann (. Abb. 6.2 und . Abb. 6.4). Ein klassisches Karyo-
tieren wollen, stehen wir vor verschiedenen Möglichkeiten: gramm (. Abb. 6.2) zeigt einen haploiden menschlichen Chro-
4 Viele SNPs liegen in nicht-codierenden Regionen (Introns mosomensatz mit 22 Autosomen und einem Geschlechts-
oder zwischen Genen). Hier können sie entweder als chromosom (X oder Y). Menschliche Chromosomen sind in der
Marker dienen, d. h. die genetisch relevante Veränderung Regel metazentrisch mit einem kurzen (p = petit) und einem
befindet sich in der »Nähe«, oder es handelt sich um eine langen (q = queue) Arm. Chromosomenmutationen haben wir
funktionelle Veränderung, die die Regulation eines Gens in allgemeiner Form bereits im 7 Abschn. 10.2 besprochen und
betrifft (Enhancer, Promotor, nicht-codierende RNA etc.). dabei einige Konsequenzen in der Evolution der Pflanzen ken-
4 Wenn SNPs in einem Exon liegen, können sie einen nengelernt. Im Folgenden wollen wir uns auf die humangeneti-
Aminosäureaustausch andeuten (nicht-synonyme SNPs) schen Konsequenzen konzentrieren. Hier standen numerische
oder nicht (synonyme SNPs). Auch synonyme SNPs und strukturelle Veränderungen der Chromosomen wegen ihrer
können funktionelle Bedeutung haben, da nicht für jedes leichten Analyse am Mikroskop lange Zeit im Zentrum der
Codon dieselbe Menge an tRNA zur Verfügung stehen Untersuchungen.
muss, sodass es deswegen zur Veränderung der synthe-
tisierten Menge des entsprechenden Proteins kommen
kann. 13.2.1 Numerische Chromosomenanomalien

In allen Fällen stimuliert die Identifizierung eines signifikanten Bei den numerischen Chromosomenanomalien kann der basale
SNPs in einer GWAS eine Vielzahl biochemischer, molekularbio- Chromosomensatz (Euploidie) vervielfacht sein – wir sprechen
logischer und genetischer Experimente, um die funktionelle Be- dann von Polyploidie (Beispiel: 3n = Triploidie). Andererseits
deutung des jeweiligen SNPs für die untersuchte Krankheit her- kann auch ein einzelnes Chromosom in seiner Zahl erhöht
auszuarbeiten. Die Zahl der Gene, die mit Volkskrankeiten in (Hyperploidie; Beispiel: 2n + 1 = Trisomie) oder erniedrigt sein
Verbindung gebracht werden, hat sich durch die GWAS mehr als (Hypoploidie; Beispiel: 2n – 1 = Monosomie). Da hierbei das
verzehnfacht – auch daraus kann die Bedeutung dieser neuen Gleichgewicht der Chromosomenzahl gestört ist, sprechen wir
Methode abgeleitet werden (für weitere Details siehe Visscher et ganz allgemein von Aneuploidien. Diese wichtige Klasse von
al. 2012). Krankheiten wird durch einen Fehler in den meiotischen Teilun-
gen verursacht, den wir bereits kennengelernt haben: durch Non-
> Die genetische Epidemiologie gewinnt durch die techni-
disjunction, also eine unvollständige Verteilung der Chromoso-
schen Möglichkeiten der automatisierten, genomweiten
men oder Chromatiden während einer der meiotischen Teilun-
Markeranalyse mithilfe von SNPs eine Genauigkeit, die es
gen (7 Abschn. 6.3.2, . Abb. 6.19). Nondisjunction kann theore-
erlaubt, viele Krankheiten molekular zu charakterisieren,
tisch alle Chromosomen eines Genoms betreffen, und zwar mit
wenn sie in der Bevölkerung häufig genug vorkommen.
ungefähr der gleichen Wahrscheinlichkeit. In den meisten Fällen
Dazu werden populationsbezogene Studien und keine
sind Aneuploidien letal, d. h. Organismen mit fehlenden oder
familienbezogenen Studien durchgeführt.
überzähligen Chromosomen sind nicht lebensfähig.
*Eine besondere Form der Assoziationsstudie ist der Trans-
missions-Disequilibrium-Test (TDT): ein Test auf Kopplung in
Nur in Ausnahmefällen werden Kinder geboren, die abwei-
chende Chromosomenzahlen besitzen. Im Allgemeinen sind
einer Assoziationsstudie. Dabei wird eine Besonderheit der auch diese Individuen mehr oder weniger schwer behindert. Zu
Populationsgenetik berücksichtigt, dass nämlich Heteroge- diesen Ausnahmen gehören Monosomien (d. h. Konstitutionen,
nitäten in einer Population (Schichtung der Population oder bei denen eines der zwei homologen Chromosomen fehlt) des
Stratifikation) bestehen können und damit möglicherweise X-Chromosoms (X/0). Trisomien, also eine Triplikation eines
eine Kopplung vortäuschen. Beim TDT werden zunächst er- der Chromosomen, können hingegen offenbar zumindest in
krankte Probanden ermittelt und mit ihren Eltern auf ausge- einigen wenigen Fällen besser kompensiert werden. Kinder mit
wählte Markerallele getestet. Um herauszufinden, ob ein be- aneuploiden Chromosomenzahlen werden nur dann lebend ge-
stimmtes Markerallel mit der Krankheit assoziiert ist, werden boren, wenn diese die Geschlechtschromosomen oder die Auto-
diejenigen Eltern herausgesucht, die für dieses Markerallel somen 13, 18 oder 21 betreffen. Dass Aneuploidien der übrigen
heterozygot sind. Im Kern besteht der entscheidende Test Autosomen nicht gefunden werden, besagt nicht, dass für diese
im Vergleich der Häufigkeiten, mit denen das eine oder das Chromosomen keine Nondisjunction vorkommt. Derartige Ab-
andere Allel von den Eltern auf die erkrankten Kinder weiter- weichungen haben vielmehr so schwerwiegende Entwicklungs-
gegeben wird. Dabei kann das Markerallel selbst ein Anfäl- störungen in der Embryonal- und Fötalentwicklung zur Folge,
ligkeitsgen sein oder mit einem benachbarten Anfälligkeits- dass es bereits frühzeitig zum Abort kommt, oft bereits in den
gen gekoppelt sein (Ewens und Spielman 2005). ersten Wochen der Schwangerschaft.
612 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Die Geburt von Kindern mit Aneuploidien (Trisomien;


. Tab. 13.3 Häufigkeit der verschiedenen Chromosomenstörungen
. Tab. 13.3) der Chromosomen 13 (Pätau-Syndrom, Karyotyp
bei Neugeborenen
47,XY,+13) und 18 (Edwards-Syndrom, Karyotyp 47,XY,+18)
besagt jedoch nichts über die Lebensfähigkeit solcher Kinder. Chromosomenstörung Häufigkeit bei der Geburt
Entwicklungsstörungen, wie sie durch diese Chromosomen-
konstitutionen verursacht werden, manifestieren sich bisweilen Trisomie 21 (Down-Syndrom) 1/700
erst später, sodass ein Teil der Kinder noch lebend geboren Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) 1/3000
wird, dann aber innerhalb kurzer Zeit stirbt. Lediglich Indi- Trisomie 13 (Pätau-Syndrom) 1/5000
viduen mit Aneuploidien von Chromosom 21 oder der Ge-
47,XXY (Klinefelter-Syndrom) 1/1000 ᄝ
schlechtschromosomen sind in einem gewissen Prozentsatz
der Fälle lebensfähig. Offenbar spielt hierfür die übrige ge- 47,XYY (XYY-Syndrom) 1/1000 ᄝ
netische Konstitution eine Rolle, denn auch Individuen mit 47,XXX (Triple-X-Syndrom) 1/1000 ᄛ
Aneuploidien des Chromosoms 21 und der Geschlechtschro-
45,X0 (Turner-Syndrom) 1/2000–5000 ᄛ
mosomen sterben zu einem erheblichen Anteil bereits während
der Frühentwicklung. Nach Tariverdian und Buselmaier (2004)
Die tatsächliche Häufigkeit fehlerhafter Chromosomenvertei-
lung während der Meiose ist wahrscheinlich noch höher als in
. Tab. 13.3 angegeben. . Tab. 13.4 deutet an, dass eine Viel-
zahl spontaner Aborte (> 35 %) auf Aneuploidien zurückzufüh- stabil, dass er diesen langen Zeitraum unbeschädigt übersteht
ren ist. bzw. erhalten bleibt. Außerdem ist auch der Zusammenbau der
Wie aus der . Tab. 13.4 deutlich hervorgeht, gehen die meis- Meiose-Spindeln ein störanfälliger Prozess; dieser Komplex ist in
ten menschlichen Aneuploidien auf Fehler während der Eizell- den weiblichen Eizellen ebenfalls schwächer ausgebildet als bei
entwicklung zurück; Fehler in der Spermienentwicklung spielen den Spermien. Über diese grundsätzlichen Unterschiede zwi-
mit 1–4 % bei diesem Krankheitstyp eine untergeordnete Rolle. schen der Entwicklung weiblicher und männlicher Keimzellen
Eine genauere Analyse der Entwicklung von Ei- und Samen- hinaus gibt es zusätzlich noch Unterschiede zwischen den einzel-
zellen deutet darauf hin, dass schon in der frühen Entwick- nen Chromosomen; . Abb. 13.12 gibt hier entsprechende Hin-
lungsphase Unterschiede zwischen beiden Geschlechtszellen weise.
bestehen: So sind im Pachytän offensichtlich fast alle Chromo-
> Chromosomenanomalien sind für viele Fehlgeburten
somen in den Spermatocyten durch mindestens ein Crossing-
verantwortlich; betroffene Individuen sind offensichtlich
13 over verbunden – in menschlichen Oocyten enthalten dagegen
nicht lebensfähig. Aneuploidien nehmen mit dem Alter
mehr als 10 % der Zellen mindestens ein Chromosomenpaar
der Mutter zu.
ohne Crossing-over. Etwa die Hälfte dieser Zellen ohne Cros-
sing-over führt zu Aneuploidien. Der Hauptunterschied zwischen
Spermatogenese und Oogenese wird aber nach dem Pachytän
*Seit Langem wird darüber spekuliert, ob Umwelt- und Le-
bensstilfaktoren einen Einfluss auf die Aneuploidie-Häufig-
offensichtlich: Die männlichen Keimzellen durchlaufen rasch die keit haben könnten. In den letzten Jahren gibt es jedoch
weiteren Stadien der Meiose, wohingegen die Oocyten in einem überzeugende Hinweise darauf, dass die Umweltchemikalie
späten Stadium der Prophase für Jahre, wenn nicht gar für Jahr- Bisphenol A und Methoden der künstlichen Befruchtung
zehnte stehen bleiben (7 Abschn. 12.6.5). Dabei wird während Auswirkungen auf die Aneuploidie haben. Bisphenol A wird
der Prophase ein Meiose-spezifischer Proteinkomplex gebil- als Weichmacher in vielen Plastikmaterialien verwendet und
det, dessen zentrale Komponente aus einem Cohesin-Ring be- kann in Körperflüssigkeiten nachgewiesen werden; die Rei-
steht (vgl. . Abb. 6.18; allerdings ist hier die Rolle des Cohesin- fung von Eizellen und Befruchtungshäufigkeiten sind umge-
Rings in der Mitose gezeigt). Der Cohesin-Ring ist aber nicht so kehrt proportional zur Konzentration von Bisphenol A im

. Tab. 13.4 Häufigkeiten von Aneuploidien während der Embryonalentwicklung

Häufigkeit von Aneuploidien Häufigste Aneuploidien

Spermien 1–4 % XY-Disomie; +13; +21; +22

Oocyten 10–35 % +15; +16; +17; +18; +21; +22

Embryonen vor der Implantation 20–40 % +15; +16; +17; +18; +21; +22

Spontane Aborte > 35 % 45,X; +15; +16; +21; +22

Totgeburten 4% 45,X; +13; +18; +21; XXX; XXY

Neugeborene 0,3 % +13; +18; +21; XXX; XXY; XYY

Nach Nagaoka et al. (2012)


13.2 · Chromosomenanomalien
613 13

Ursprung des zusätzlichen Mütterliches Alter Zusammenhang mit Rekombination


Chromosoms 4.5 – achiasmatisch distal proximal
100 –
Trisomie 16 (%)

4.0 –
50 –
3.5 –

0–
Meiose I Meiose II 3.0 –

100 –
Trisomie (%) 2.5 –
Trisomie18 (%)

50 –
2.0 –

0– 1.5 –
Meiose I Meiose II
100 –
1.0 –
Trisomie 21 (%)

50 – 0.5 –

0– 0.5 –
Meiose I Meiose II <19 20–24 25–29 30–34 35–39 40+
Alter (in Jahren)
. Abb. 13.12 Abhängigkeit der Häufigkeit von Trisomien vom Alter der Mutter. Dabei nimmt die Häufigkeit der meisten Trisomien mit dem mütterlichen
Alter zu (Mitte, blau: Trisomie 16; grün: Trisomie 18; rot: Trisomie 21). Allerdings unterscheiden sich die Steigungen der Kurven, sodass auf unterschiedliche
Mechanismen geschlossen werden kann. Links: unterschiedliche relative Beiträge der Meiose I und II. Rechts: Für die verschiedenen Trisomien sind unter-
schiedliche Crossing-over-Konfigurationen verantwortlich: Abwesenheit von Crossing-overs (achiasmatisch) oder das Vorkommen von Crossing-overs nur
im distalen bzw. proximalen Bereich des Chromosoms. (Nach Nagaoka et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Blut. Untersuchungen in Modellorganismen legen die Ver- Symptome Patienten mit Trisomie 21 zeichnen sich generell
mutung nahe, dass es die frühe Eizellentwicklung beein- durch eine mentale Retardation aus. Hinzu kommen physische
flusst und dabei seine Wirkung durch die Bindung an Östro- Gebrechen wie eine verzögerte Entwicklung des Skeletts und eine
gen-Rezeptoren entfaltet. Dieser Mechanismus ist bei Men- generelle Verminderung des Tonus der Muskulatur. Das verur-
schen schwierig nachzuweisen, da die Wirkung in utero er- sacht auch den für ein Down-Syndrom typischen Gesichtsaus-
folgt, die Konsequenzen aber erst Jahrzehnte später bei den druck (. Abb. 13.13). Dieser entwickelt sich häufig erst bei älte-
erwachsenen Frauen beobachtet werden können. Ähnlich
verhält es sich bei der künstlichen Befruchtung: Es gibt
deutliche Hinweise darauf, dass niedrigere Dosen des gona-
dotropen Hormons bei der künstlichen Befruchtung mit
niedrigeren Aneuploidie-Raten der befruchteten Eizelle
bzw. des heranwachsenden Embryos korreliert sind. Eine
ausführliche Darstellung mit einer Vielzahl von Literaturstel-
len findet sich bei Nagaoka et al. (2012).

Das Down-Syndrom
Die wohl bekannteste Chromosomenaberration des Menschen
ist eine triploide Konstitution des Chromosoms 21, auch Tri-
somie 21 oder Down-Syndrom (Morbus Langdon-Down) ge-
nannt (. Abb. 13.13). Die früher gebräuchliche Bezeichnung
Mongolismus weist auf eine oberflächliche phänotypische Ähn-
lichkeit der Augenform der Symptomträger mit denen von In-
dividuen mongolider Abstammung hin, wird heute aber nicht
mehr gebraucht. Die Ähnlichkeit mit Individuen der asiatischen
Population beruht auf einer schmalen Falte am inneren Augen- . Abb. 13.13 Phänotyp eines Kindes mit Down-Syndrom. (Foto: J. v. d.
winkel. Burgt, Nijmegen)
614 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

ren Kindern, sodass es oft schwierig ist, eine Trisomie 21 bereits Genom: Das heterogametische Geschlecht besitzt ja ebenfalls
nach der Geburt zu erkennen. Ein relativ zuverlässiges Indiz für nur eine Dosis des X-Chromosoms. Auch Triploidien des X-
das Vorliegen eines Down-Syndroms beim Neugeborenen ist der Chromosoms (Triple-X) haben weniger schwerwiegende Effekte
abnormale Verlauf der Falten in den Handinnenflächen. Ein gro- als die von Autosomen. Das ist auf einen Mechanismus zurück-
ßer Prozentsatz der betroffenen Individuen hat zudem Herzano- zuführen, der dafür sorgt, dass die im homo- und heterogameti-
malien und Störungen des Immunsystems, die früher meist zum schen Geschlecht ungleiche Anzahl von Allelen durch eine Ver-
Tode der Kinder um das 9. Lebensjahr herum führten. Die Le- änderung ihrer Stoffwechselaktivität kompensiert wird (Dosis-
benserwartung hat sich heute durch die Verfügbarkeit von Anti- kompensation; 7 Abschn. 8.3.2). Dieser Mechanismus wirkt nicht
biotika zur Abwehr von Infektionen trotz der allgemeinen nur geschlechtsabhängig, sondern ist in der Lage, die Anzahl an
Schwäche des Immunsystems erheblich erhöht, sodass Patienten Geschlechtschromosomen in jeder genetischen Konstitution zu
mit Trisomie 21 heute 60 Jahre und älter werden können. zählen und für eine funktionelle Angleichung der betreffenden
Genaktivitäten an einen haploiden Zustand des X-Chromosoms
Häufigkeit und Lebensalter der Mutter Die Häufigkeit des durch Inaktivierung überzähliger X-Chromosomen zu sorgen.
Down-Syndroms ist mit einer von 700 Geburten (also 1,25 × 10−3)
relativ hoch und unterscheidet sich zwischen verschiedenen Turner-Syndrom Ein X0-Genotyp, der postnatal selten zu finden
menschlichen Populationen kaum. Allerdings korreliert die ist (eine unter 5000 Geburten: Frequenz 2 × 10−4), führt zwar
Häufigkeit der Erkrankung des Kindes stark mit dem Lebensalter zu einem weitgehend normalen weiblichen Phänotyp, hat aber
der Mutter: Die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit einer Triso- das Ausbleiben sexueller Reifung und damit Sterilität zur Folge.
mie 21 zu gebären, steigt ab dem 30. Lebensjahr von etwa 0,5 % Diese genetische Konstitution ist als Turner-Syndrom bekannt.
(bei einem Lebensalter zwischen 20 und 30 Jahren) auf 6 % bei Der Genotyp tritt mit 1 % bei einem relativ hohen Prozentsatz
einem Mutterschaftsalter von 45 und mehr (. Abb. 13.12). aller Schwangerschaften auf und ist zu 75 % auf die Befruchtung
mit Spermien ohne Geschlechtschromosom zurückzuführen, ist
> Die Trisomie des Chromosoms 21 ist die häufigste also väterlichen Ursprungs. Der geringe Anteil von X0-Geno-
Trisomie des Menschen. typen bei der Geburt ist auf den frühzeitigen spontanen Abort
der meisten X0-Embryonen zurückzuführen, die einen erheb-
*Das Chromosom 21 des Menschen enthält ungefähr 310
Gene, und es ist eine der interessanten Fragen, welche die-
lichen Anteil (nahezu 20 %) der chromosomalen Aberrationen
bei spontanen Aborten darstellen.
ser Gene dosisempfindlich sind und damit zu dem komple-
xen und variablen Phänotyp des Down-Syndroms beitragen. Trisomie des X-Chromosoms Eine Trisomie des X-Chromosoms
13 Einen wesentlichen Beitrag zur Klärung dieser Frage leisten führt zu weitgehend gesunden, fertilen Frauen mit gelegentlich
Patienten mit partieller Trisomie 21: Hierdurch konnte man auftretender Veranlagung zu mentaler Retardation. Auch bei
Regionen auf dem Chromosom 21 bestimmen, die mehr als diesem Phänotyp dürfte der bereits erwähnte Dosiskompensati-
andere zu dem Krankheitsbild beitragen. Ergänzt werden onsmechanismus eine wichtige Rolle spielen. Die Häufigkeit der
diese Untersuchungen durch vergleichende Untersuchun- X-Trisomien beträgt unter neugeborenen Mädchen etwa 1:1000
gen mit Trisomie-Mutanten der Maus, wobei zu beachten ist, und nimmt mit dem Lebensalter der Mutter zu. Wegen des kli-
dass das menschliche Chromosom 21 auf drei Chromoso- nisch häufig unauffälligen Phänotyps schätzt man, dass aber nur
men der Maus verteilt ist (10, 16 und 17). Eine interessante etwa 10 % der Fälle tatsächlich bekannt sind. Triple-X-Patientin-
Region ist wohl das distale Ende des langen Arms des nen sind eher groß und zeigen eine Epicanthus-Falte am Auge,
menschlichen Chromosoms 21: Hier liegen Gene, die für wie wir sie auch bei Patienten mit Down-Syndrom finden
neurodegenerative Erkrankungen verantwortlich sind (. Abb. 13.14). Schwerwiegendere Symptome sind eine vorzei-
(z. B. APP; 7 Abschn. 14.5.2) oder auch für Herz-Kreislauf- tige Ovarialinsuffizienz (engl. premature ovarian failure), Lern-
Erkrankungen (z. B. COL6A1). Eine detaillierte Diskussion behinderungen und Einschränkungen der Feinmotorik; Stim-
verschiedener Kandidatengene und -regionen findet sich mungsschwankungen bis zu Angstzuständen und Depressionen
bei Lana-Elola et al. (2011). sind häufiger als im Durchschnitt der Bevölkerung. Ursache der
Krankheitsbilder sind vermutlich Gene, die der X-Inaktivierung
Geschlechtschromosomenaberrationen entkommen und daher überexprimiert werden.
Die Häufigkeit von Anomalien der Geschlechtschromosomen
gleicht etwa der von Autosomen. Das ist nach unseren Überle- Aneuploidien des Y-Chromosoms Diese haben insgesamt weni-
gungen im vorangehenden Abschnitt auch zu erwarten. Die phä- ger schwerwiegende phänotypische Folgen als die anderer
notypischen Effekte von Geschlechtschromosomenaberrationen Chromosomen. Das dürfte nicht zuletzt auf die geringere Anzahl
sind jedoch insgesamt weniger schwerwiegend als bei autosoma- von Genen zurückzuführen sein, die im Y-Chromosom liegen
len Trisomien. Im Gegensatz zu autosomalen Aneuploidien sind (7 Abschn. 13.3.4). So ist die Anwesenheit eines zusätzlichen
auch Individuen mit Monosomie des X-Chromosoms lebens- Y-Chromosoms im männlichen Geschlecht (korrekte Schreib-
fähig (korrekte Schreibweise: 45,X0; abgekürzt: X0-Konstitution; weise: 47,XYY; Kurzform: XYY) nicht besonders auffällig und
Turner-Syndrom). Zu erklären ist diese offenbar geringere Emp- bleibt oft unerkannt. Die Männer sind fertil. Es wird gelegentlich
findlichkeit des Organismus gegen Veränderungen der Ge- behauptet, dass Männer dieses Genotyps in erhöhtem Maße zu
schlechtschromosomenzahl durch deren besondere Stellung im Kriminalität neigen. Diese Behauptung ist experimentell nicht
13.2 · Chromosomenanomalien
615 13

a b c

. Abb. 13.14 Variable Gesichtsformen bei Triple-X-Patientinnen. a Epicanthus-Falte und vergrößerter Augenabstand (Hypertelorismus) bei einem 2-jäh-
rigen Mädchen; b Hypertelorismus bei einem 9-jährigen Mädchen; c 19-jährige Triple-X-Patientin ohne Fehlbildungen. (Nach Tartaglia et al. 2010)

belegbar. Allerdings scheinen XYY-Männer in Intelligenztests den Schwangerschaftsmonate meist gar nicht als solche erkannt
schlechter abzuschneiden als XY-Männer. werden. In vielen Fällen werden solche Schwangerschaften sogar
überhaupt nicht wahrgenommen. Es wird vermutet, dass die An-
Klinefelter-Syndrom Hingegen hat die Anwesenheit eines Y- zahl spontaner Aborte innerhalb dieser ersten zwei Monate we-
Chromosoms zusätzlich zu einem normalen weiblichen X-Chro- nigstens ebenso hoch ist wie während der gesamten darauffol-
mosomensatz (XXY) schwerwiegende Auswirkungen, da das Y- genden Schwangerschaftsperiode. Da der Anteil spontaner Ab-
Chromosom Träger männlicher geschlechtsbestimmender Gene brüche von Schwangerschaften bei etwa 15 % liegt, muss man
ist; man bezeichnet diese Konstitution als Klinefelter-Syndrom. davon ausgehen, dass insgesamt wenigstens 30 % aller Schwan-
Man kann die XXY-Konstitution natürlich auch als eine XY- gerschaften vorzeitig beendet werden, meist vor dem 5. Schwan-
Konstitution mit einem zusätzlichen X-Chromosom interpretie- gerschaftsmonat. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass bis zur
ren; XXY-Individuen sind männlich, mit Penis, Skrotum und Hälfte aller Schwangerschaften spontan abbrechen. Ein nicht
Testes, diese allerdings in verminderter Größe. Aufgrund von unerheblicher Anteil spontaner Aborte beruht auf Chromoso-
Störungen der Spermatogenese sind sie steril, und sie erscheinen menaberrationen. Nehmen wir noch eine – unbekannte – An-
oft mental retardiert. Die Häufigkeit des Klinefelter-Syndroms zahl anderer, nicht leicht sichtbarer genetischer Defekte wie Ho-
nimmt, ähnlich wie die anderer Aneuploidien, mit dem Alter der mozygotien letaler Allele oder Neumutationen hinzu, so wird
Mutter zu; allerdings ist das überzählige X-Chromosom zur offensichtlich, dass ein hoher Prozentsatz der spontanen Schwan-
Hälfte väterlichen Ursprungs. Gegenüber XY-Männern sind gerschaftsabbrüche genetische Ursachen hat.
wahrscheinlich die Gene der pseudoautosomalen Region des X-
> Geschlechtschromosomenaberrationen führen zu unter-
Chromosoms sowie die Gene, die der X-Inaktivierung entkom-
schiedlichen phänotypischen Defekten. Überzählige
men, überexprimiert und daher für die Krankheitssymptome
Chromosomen (XXX oder XYY) zeigen geringere Effekte,
verantwortlich. Im Durchschnitt wird eine unter 500 bis 1000
während das Fehlen des zweiten X-Chromosoms (X0) oder
männlichen Geburten mit dem Klinefelter-Syndrom beobachtet.
nur ein Y-Chromosom im Genom (0Y) zu schweren Störun-
Fehlt das X-Chromosom völlig, so entsteht eine frühembry-
gen führen. Spontane Aborte sind häufig durch Chromo-
onal letale Nullisomie. Das gilt auch, wenn das Y-Chromosom
somenaberrationen verursacht.
alleiniges Geschlechtschromosom (Konstitution 0Y) ist; die 0Y-
Konstitution ist letal.
Man könnte erwarten, dass Frauen mit X-Trisomie oder 13.2.2 Strukturelle Chromosomenanomalien
Männer mit XYY-Konstitution in ihren Nachkommen eine er-
höhte Anzahl von Aneuploidien der Geschlechtschromosomen Veränderungen in der Struktur der Chromosomen gibt es in viel-
aufweisen. Das ist jedoch nicht der Fall. Offenbar unterliegen fältiger Weise. In . Abb. 6.2 haben wir bereits ein klassisches
aneuploide Keimzellen bevorzugt dem Zelltod während ihrer Karyogramm des Menschen kennengelernt, und die wichtigsten
Entwicklung und werden wohl schon während prämeiotischer Nomenklaturregeln sind in . Abb. 6.3 beschrieben. Veränderun-
Mitosen eliminiert. gen in der Struktur der Chromosomen bezeichnet man je nach
ihrer Art als:
Häufigkeit von Aborten 4 Deletionen,
Bei der Berechnung von Häufigkeiten chromosomal bedingter 4 Duplikationen,
spontaner Aborte ist ein erheblicher Unsicherheitsfaktor da- 4 Inversionen oder
durch gegeben, dass spontane Aborte innerhalb der ersten bei- 4 Translokationen.
616 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Wir haben diese Veränderungen bereits allgemein im 7 Abschn. zwei akrozentrischen Chromosomen (die Chromosomen 13–15,
10.2.3 besprochen (. Abb. 10.9); dies gilt natürlich auch für 21 und 22) die kurzen Arme in der Nähe des Centromers abbre-
strukturelle Chromosomenaberrationen des Menschen. Grund- chen und die beiden langen Chromosomenarme in der Gegend
sätzlich können diese Strukturveränderungen an jeder Stelle im des Centromers verschmelzen. Dabei entsteht ein Translokati-
Chromosom auftreten und ein unterschiedliches Ausmaß errei- onschromosom, das die beiden langen Arme der beteiligten
chen. Wir sprechen aber nur dann von Chromosomenanoma- Chromosomen enthält. Das reziproke Translokationsprodukt,
lien, wenn sie sich mit cytogenetischen Methoden, d. h. mit den bestehend aus den beiden kurzen Armen, geht verloren. Die Trä-
verschiedenen Methoden der Chromosomenanalytik im Mikro- ger solcher Translokationen haben nur 45 Chromosomen, wobei
skop nachweisen lassen. Können die Mutationen nicht mehr mit ihnen das genetische Material der kurzen Arme zweier akrozent-
dem Mikroskop erkannt werden, werden sie eher dem Bereich rischer Chromosomen fehlt, was aber in der Regel ohne beson-
der Molekulargenetik zugeordnet. Obwohl die Grenze natürlich dere Auswirkungen bleibt. Allerdings treten in der ersten meioti-
im Einzelfall fließend sein mag, hat sie dennoch aufgrund des schen Teilung Probleme bei der Paarung mit den homologen
unterschiedlichen methodischen Repertoires weiterhin Be- Chromosomen und vor allem bei der anschließenden Verteilung
stand. auf die Tochterzellen auf, die zur Weitergabe der Translokation
Bei Deletionen (Verlust eines Teils des Chromosoms) kön- sowohl in balancierter als auch in nicht balancierter Form führen
nen wir unterscheiden zwischen terminalen Deletionen, bei de- kann (wobei balanciert heißt, dass kein Verlust oder Zugewinn
nen Endfragmente entstehen, und interstitiellen Deletionen, bei von Chromosomensegmenten stattfindet).
denen das Fragment aus einem mittleren Chromosomenbereich Unter einer Duplikation versteht man ein zweimaliges Auf-
stammt. Geht ein Telomerfragment verloren, so wird das Chro- treten desselben Chromosomenfragments im haploiden Chro-
mosom instabil und in den meisten Fällen abgebaut. Wenn der mosomensatz. Als Ursache wird im Allgemeinen ein illegitimes
Bruchbereich bei interstitiellen Deletionen auch das Centromer Crossing-over angenommen. Dabei kommt es zu einem Kontakt
einschließt, entsteht ein zentrisches und ein azentrisches Chro- zwischen zwei homologen Chromosomen an nicht homologen
mosomenfragment. Das azentrische Fragment geht im Verlauf Stellen, und ein Chromatidenstück des einen Chromosoms
der Mitose oder Meiose jedoch verloren, da es keine Ansatzstelle wird mit dem des anderen Chromosoms vereinigt. Duplika-
für die Spindelfaser besitzt. Dieser Verlust von genetischem Ma- tionen spielen in der Evolution eine wichtige Rolle (vgl. dazu die
terial ist die Ursache, dass größere Deletionen häufig bereits im Evolution der Hox-Gencluster von Drosophila zu den Säugern,
heterozygoten Zustand letal sind. . Abb. 12.31).
Translokationen sind chromosomale Strukturveränderun- Bei einer Inversion liegt eine Drehung eines Chromosomen-
gen, in deren Verlauf entweder ein Chromosomenfragment in stücks um 180° vor. Hierzu sind zwei Bruchereignisse innerhalb
13 eine neue Lage im gleichen Chromosom eingebaut wird oder auf des Chromosoms notwendig. Das herausgebrochene Stück dreht
ein anderes Chromosom übertragen wird. Es können auch zwei sich und wird umgekehrt in die Bruchstelle wieder eingebaut.
Fragmente zwischen Chromosomen wechselseitig ausgetauscht Oftmals sind an den Bruch- und Wiedervereinigungsreaktionen
werden. Dabei müssen zwei verschiedene Chromosomenstücke ähnliche Sequenzelemente beteiligt (als Beispiel siehe die schwe-
abbrechen, die dann wechselseitig ausgetauscht werden (rezipro- re Form der Hämophilie A; . Abb. 13.32).
ke Translokation); von einer nicht-reziproken Translokation
> Strukturelle Chromosomenveränderungen können als
spricht man, wenn ein Chromosomenfragment direkt auf ein
Deletionen, Duplikationen, Inversionen oder Translokatio-
anderes Chromosom übertragen wird.
nen auftreten, die mikroskopisch identifiziert werden
Bei stabilen reziproken Translokationen besitzt nach dem
können.
Austausch der Fragmente jedes der beiden beteiligten Chromo-
somen ein Centromer; weitere mitotische Zellteilungen können
ungestört ablaufen. Es wurde weder genetisches Material hin-
zugefügt noch entfernt, »nur« die Anordnung der Kopplungs- 13.3 Monogene Erbkrankheiten
gruppen wurde verändert. Allerdings kommen dadurch in vielen
Fällen Gene in eine andere chromosomale Umgebung, wodurch Mutagenese-Studien in vielen Organismen haben gezeigt, dass
sich ihr Expressionsmuster verändert. Wir werden sehen, dass die Mehrzahl (über 90 %) der Mutationen rezessiv gegenüber
damit oft Krankheiten verbunden sind (besonders Krebserkran- dem Wildtyp ist. Entsprechend sind auch die meisten erblichen
kungen; 7 Abschn. 13.4.1). Wird jedoch auch das Centromer Krankheiten des Menschen autosomal-rezessiv. Dominanz und
durch die Translokation erfasst, entsteht ein azentrisches und ein Rezessivität sind keine Eigenschaften von Genen per se (wir hat-
dizentrisches Chromosom. Wie bereits oben erwähnt, wird das ten das Problem auch schon allgemein im 7 Abschn. 11.3 ange-
azentrische Chromosom in der Mitose bzw. Meiose verloren ge- sprochen). Ein dominantes Allel bestimmt bei Heterozygoten
hen. In dem dizentrischen Chromosom wird entweder eines der den Phänotyp. Es gibt unterschiedliche Dominanzgrade; Semi-
beiden Centromere inaktiviert, oder es wird durch die zwei An- dominanz bezeichnet einen intermediären Phänotyp. Dominan-
satzpunkte für die Spindelfasern in der Mitose zerrissen und da- te Mutationen betreffen meist Struktur- oder regulatorische Pro-
mit zerstört, da für die Stabilität der gebrochenen Chromosomen teine. Für die verschiedenen Auswirkungen dominanter Muta-
funktionsfähige Telomerstrukturen notwendig wären. tionen beschreiben die Begriffe amorph, hypomorph und hyper-
Ein Spezialfall ist die Robertson’sche Translokation (auch morph qualitative Veränderungen gegenüber dem Wildtyp;
als »zentrische Fusion« bekannt); davon spricht man, wenn bei antimorph bezeichnet antagonistische Wechselwirkungen mit
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
617 13
dem Wildtyp (dominant-negativ) und neomorph einen neuen dem Zählen beim Startcodon ATG: das »A« bekommt in der
Phänotyp (toxisches bzw. neues Protein oder die ektopische Ex- cDNA-Sequenz die »1«; entsprechend wird ein Austausch
pression eines Gens). Die Begriffe amorph und hypomorph ent- von »G« nach »A« an der Nukleotidposition 254 des codie-
sprechen der molekularen Klassifikation von Haploinsuffizienz renden Bereichs des CFTR-Gens (7 Abschn. 13.3.1: Muko-
(Verlust einer Genfunktion: loss of function); hypermorph beruht viszidose) als »c.254G>A« bezeichnet. Hierdurch wird im
auf einer Erhöhung der Gendosis bzw. der konstitutiven Protein- Protein die Aminosäure Glycin an der Aminosäureposition
aktivität. Rezessivität bedeutet, dass nur homozygote Allelträger 85 durch ein Glutamin ersetzt; wir schreiben »p.Gly85Glu«
das Krankheitsmerkmal klinisch ausprägen, während Heterozy- oder im Ein-Buchstaben-Code »G85E«. Eine andere Mutati-
gote sich nicht von Gesunden mit zwei Wildtyp-Allelen unter- on, c.3484C>T, führt zur Bildung eines Stoppcodons an der
scheiden. Rezessive Mutationen betreffen meist Gene, die für Aminosäureposition 1162 (statt des Einbaus eines Arginins);
Enzyme codieren, und defekte Gene führen meist zum Ausfall wir schreiben dann »p.Arg1162X« oder kurz »R1162X«. Die
des Genproduktes; oft reicht aber ein Wildtyp-Allel zur Auf- Deletion der Aminosäure Phenylalanin an der Position 508
rechterhaltung der Funktion aus. (eine der häufigsten Mutationen im CFTR-Gen) beschreiben
Wenn wir nun im Folgenden jeweils einzelne Krankheiten wir kurz als »ΔF508«; ausführlicher als »p.Phe508del« und
beispielhaft ansprechen, so wird dazu immer die OMIM-Num- auf cDNA-Ebene als »c.1521_1523delCTT«. Entsprechende
mer angegeben. Dies ist eine ständig aktualisierte Datenbank Nomenklaturregeln gibt es natürlich für Insertionen, für
menschlicher Erbkrankheiten; für aktuelle Entwicklungen sei Mutationen in Introns, in den 5’- bzw. 3’-nicht-translatierten
der interessierte Leser daher dorthin verwiesen (Online Mende- Regionen (5’-UTR, 3’-UTR) oder in genomischen Regionen,
lian Inheritance in Man; http://www.ncbi.nlm.nih.gov/omim). die aber hier nicht weiter erörtert werden sollen; der interes-
Hier finden sich auch die anerkannten Gensymbole und ihre – sierte Leser sei auf die einschlägige Literatur (Ogino et al.
oft historisch bedingten – Synonyme; menschliche Gensymbole 2007) bzw. entsprechende Internetseiten verwiesen
werden immer mit Großbuchstaben abgekürzt und kursiv ge- http://www.hgvs.org/mutnomen/).
schrieben.
Bevor wir uns einzelnen Krankheiten und den zugrunde lie-
genden Mutationen zuwenden, sollten wir uns darüber Klarheit 13.3.1 Autosomal-rezessive Erkrankungen
verschaffen, wie wir eine kausale Mutation erkennen und von
einem Polymorphismus unterscheiden können. Im Gegensatz zu Die meisten rezessiven Allele haben Häufigkeiten zwischen 1:100
komplexen Krankheiten (7 Abschn. 13.1.4 und 7 Abschn. 13.4) und 1:1000; entsprechend kommen die Erkrankungen mit Häu-
haben wir es hier mit monogenischen Krankheiten zu tun, die figkeiten zwischen 1:10.000 und 1:1.000.000 vor; allerdings ist
einem Mendel’schen Erbgang folgen. Das bedeutet aber auch, die Häufigkeit bei Verwandtenehen größer. Im Allgemeinen ist
dass die Mutation in allen erkrankten Mitgliedern einer Familie aber der Erbgang oft schwierig zu ermitteln, denn rezessive Er-
nachweisbar sein muss und in den Gesunden entsprechend nicht krankungen gelangen innerhalb einer Familie nur gelegentlich
(Co-Segregation). Weiterhin brauchen wir auch eine ausrei- zur Ausprägung (. Abb. 13.15). Der Kranke stammt nämlich von
chend große Populationskontrolle (ca. 100 Personen), die weder gesunden (aber heterozygoten) Eltern ab; beide Geschlechter
an der entsprechenden Krankheit leiden noch die jeweilige Mu- sind von der Krankheit in gleicher Weise betroffen. Oft ist es
tation zeigen – damit können wir ausschließen, dass es sich um daher nicht ohne Weiteres möglich, den erblichen Charakter
einen Polymorphismus handelt. Und drittens muss das mutierte einer Krankheit nachzuweisen, vor allem in Fällen, in denen die
Gen auch in dem betroffenen Organ exprimiert sein (Expres- Frequenz des betreffenden Allels niedrig ist.
sionsanalyse), um seine Wirkung entfalten zu können. Hilfreich
ist weiterhin, wenn es entsprechende Tiermodelle gibt, die diese
Mutation tragen und einen vergleichbaren Phänotyp zeigen.
Knock-out-Mutanten der Maus (Null-Allele) sind aber nicht im-
mer geeignet, da die Wirkung einer Funktionsverlust-Mutation
sich in ihrer physiologischen Wirkung oft von einer Mutation
unterscheidet, bei der eine Aminosäure ausgetauscht ist. Hier
kommen zusätzlich wichtige strukturelle Aspekte der betrof-
fenen Strukturproteine oder Enzyme ins Spiel, die bei Null-
mutationen oft unbemerkt bleiben. Eine derartige Funktions-
analyse kann auch in geeigneten zellulären Systemen durchge-
führt werden.

C Für eine präzise und einheitliche Verständigung über den


Ort einer Mutation ist eine einheitliche Nomenklatur not- . Abb. 13.15 Autosomal-rezessiver Familienstammbaum. Erbkrankheiten
werden nur gelegentlich sichtbar, und heterozygote Träger sind phänoty-
wendig. Es sollen deshalb hier einige allgemeingültige Re-
pisch nicht ohne Weiteres erkennbar. In vielen Fällen gestatten jedoch be-
geln für die Beschreibung von Mutationen in menschlichen reits heute molekulare Analysen der DNA die Erkennung einer Heterozygo-
Genen gegeben werden. Im Allgemeinen bezieht man sich tie. Das Schema zeigt auch die erhöhte Gefährdung durch Homozygotie
dabei auf die codierende Sequenz der mRNA und startet mit von Kindern aus Verwandtenehen. (Symbole wie in . Abb. 13.5)
618 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

panischen Müttern (1:2320). Weiße, nicht-hispanische Mütter


gebären nur in 1:41.647 Fällen Kinder mit Sichelzellenanämie. In
vielen Regionen Zentralafrikas erreicht die Frequenz des Sichel-
zellenallels über 15 % der Gesamtbevölkerung.

*Der Schweregrad der Erkrankung an Sichelzellenanämie ist


durchaus variabel; die Suche nach Modifikatoren hat vor
allem unterschiedliche Aktivitäten von fötalem Hämoglobin
(. Abb. 7.8) ergeben, das bei jungen Erwachsenen über
10 % des Gesamt-Hämoglobins ausmachen kann. Die Pro-
duktion des fötalen Hämoglobins (HbF) kann auch durch
eine Behandlung mit Hydroxyharnstoff erhöht werden,
sodass damit die relative Konzentration des Sichelzellen-
Hämoglobins gesenkt wird und in deutlich stärkerem Maße
. Abb. 13.16 Sichelzellenanämie. Es ist das periphere Blut eines Patienten funktionsfähiges Hämoglobin gebildet werden kann. Diese
gezeigt, der an Sichelzellenanämie leidet. Die Pfeile deuten auf sichelför- Behandlung bedeutet in vielen Aspekten eine Verbesse-
mige Erythrocyten hin. (Nach Tariverdian und Buselmaier 2004, mit freund-
rung für die Patienten: Vor allem werden die Schmerzepiso-
licher Genehmigung von Springer)
den vermindert, Krankenhausaufenthalte verkürzt und die
Zahl der Bluttransfusionen verringert (Strouse und Heeney
Die Aufklärung der molekularen Ursachen der Sichelzel- 2012).
lenanämie (OMIM 603903) gehört sicherlich zu den Meilenstei-
nen der Genetik und soll daher hier kurz skizziert werden (man- Zu den am längsten bekannten Beispielen für einen autosomal-
che Aspekte wurden bereits in früheren Abschnitten besprochen, rezessiven erblichen Stoffwechseldefekt gehört auch der Okulo-
z. B. 7 Abschn. 11.3.5 und 7 Abschn. 11.5.3). Die erste Beschrei- kutane Albinismus 1 (Gensymbol: OCA1; OMIM 203100). Diese
bung findet sich bei James B. Herrick, der 1910 den Begriff der Form von Albinismus (Häufigkeit ca. 1:40.000) wird durch
sichelförmigen roten Blutkörperchen prägte, die er bei einem Mutationen im Tyrosinase-Gen (Gensymbol: TYR; Chromo-
Patienten beobachtet hatte (. Abb. 13.16). E. A. Beet und James som 11q14–21) verursacht und führt dazu, dass Epidermiszellen
Neel beschrieben 1949 unabhängig voneinander, dass es sich bei keine funktionelle Form des Enzyms Tyrosinase synthetisie-
der Sichelzellenanämie um eine erbliche Krankheit mit rezessi- ren und damit auch den Farbstoff Melanin nicht bilden können
13 vem Erbgang handelt. Linus Pauling und seine Mitarbeiter leg- (. Abb. 13.17). Der Enzymdefekt führt zu einer blassen Haut,
ten 1949 die Grundlage für die folgende Periode der biochemi- nicht pigmentiertem, fast weißem Haar und schwach blauen oder
schen Analyse des Hämoglobins. Sie fanden, dass die Sichelzel- rötlichen Augen, da durch die fehlenden Pigmente die Blutkapil-
lenanämie an das Auftreten eines elektrophoretisch veränderten laren in der Iris durchscheinen (. Abb. 13.18). Hieraus resultieren
Hämoglobins (HbS) im Blut gebunden ist, das in Homozygoten Sehstörungen (die Sehkraft beträgt oft nur 1/10) und eine hohe
anstelle des Hämoglobins A (HbA) gefunden wird und in Hete- Empfindlichkeit für Sonnenbrand sowie, damit verbunden, ein
rozygoten neben dem HbA in gleicher Menge wie dieses gebildet hohes Risiko für Hautkrebs (7 Abschn. 13.4.1).
wird. Schließlich konnte Vernon Ingram 1956 zeigen, dass der Okulokutaner Albinismus wird aber nicht nur durch Mutati-
Unterschied zwischen HbA und HbS in der Veränderung einer onen im TYR-Gen hervorgerufen, sondern kann auch durch
einzigen Aminosäure liegt: Anstelle der Glutaminsäure an der Mutationen in anderen Genen hervorgerufen werden, die für die
Position 6 des β-Globins (HbA; 7 Abschn. 7.2.1) ist bei HbS ein Pigmentierung essenziell sind. Unter Schwarzafrikanern sind
Valin vorhanden (GAG→GTG). Wegen der zentralen Bedeutung Mutationen im OCA2-Gen (verantwortlich für den Okulokuta-
der Erythrocyten für die Sauerstoffversorgung ist es jedoch nicht nen Albinismus 2) sehr häufig (1:4000–1:10.000; unter weißen
erstaunlich, dass diese Mutation eine Vielzahl von Organsyste- Europäern: 1:36.000; OMIM: 611409; Chromosom 15q12). Die-
men betrifft (pleiotroper Effekt; 7 Abschn. 11.3.5). Dabei kommt ses Gen codiert für ein Membranprotein, das den pH-Wert in
es zu Verschlüssen kleiner Arterien mit Durchblutungsstörun- Melanosomen kontrolliert. Die entsprechende Mausmutante
gen in vielen Organen, was häufig zu starken Schmerzen und wurde schon 1915 durch John Haldane als »pink-eyed dilution«
Versagen der entsprechenden Organe führt. (Gensymbol: p) beschrieben (Haldane et al. 1915). In Afrika
Sichelzellenanämie ist besonders häufig in Malaria-Gebieten. ebenfalls weit verbreitet (1:8500) sind Mutationen in einem Gen,
Die Ursache dafür ist, dass Heterozygte in Malaria-Gebieten das für ein Tyrosinase-ähnliches Protein codiert (engl. tyrosina-
einen selektiven Vorteil haben, da sich der Malaria-Erreger in se-related protein 1; Gensymbol: TYRP1; OMIM: 115501; Okulo-
den sichelzellförmigen Erythrocyten schlecht vermehren kann kutaner Albinismus 3; Chromosom 9p23). Selten sind dagegen
(Heterosis-Effekt; 7 Abschn. 11.5.3; . Abb. 11.38). Das spiegelt sich Mutationen in einem Membran-assozierten Transporterprotein
auch heute in unterschiedlichen Häufigkeitsraten von Sichel- (MATP; Gensymbol: SLC45A2; OMIM: 606574; Okulokutaner
zellenanämie bei Neugeborenen in New York bei verschiedener Albinismus 4; Häufigkeit bei Europäern: 1:85.000; Chromosom
ethnischer Zugehörigkeit wider: Die Gruppe mit der häufigsten 5p13.2). Im Gegensatz zu den verschiedenen Formen des
Rate von Kindern mit Sichelzellenanämie werden von Müttern Okulokutanen Albinismus ist bei dem Okulären Albinismus
schwarzafrikanischer Herkunft (1:230) geboren, gefolgt von his- (Gensymbol: OA1; OMIM 300500) die Haut regulär pigmentiert
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
619 13

. Abb. 13.18 Augen eines Patienten mit Okulokutanem Albinismus 1,


der durch eine Mutation im TYR-Gen verursacht ist. Die Iris ist fast rosa und
vollständig durchsichtig. (Nach Grønskov et al. 2007)

des zweiten (Wildtyp-)Allels, so können an geeigneten Stellen


des Körpers Albinismusflecken sichtbar werden, die durch
Gruppen von homozygot mutanten Zellen verursacht werden,
die keine Tyrosinase synthetisieren können (Mosaike). Albinis-
mus ist auch bei Tieren häufig zu finden.

Phenylketonurie. Eine andere autosomal-rezessive Erbkrank-


heit, die Phenylketonurie (PKU; OMIM 261600), bietet für die
Betroffenen eine günstige Aussicht auf eine erfolgreiche The-
rapie bei rechtzeitiger Diagnose. Die Ursache dieser Krankheit
Alkaptonurie – das Fehlen des Enzyms Phenylalanin-Hydroxylase – ist be-
reits lange bekannt. Aufgrund der Kenntnis der Enzymfunk-
tion konnte eine relativ effektive Therapie entwickelt werden.
Das Enzym wird auf Chromosom 12 (Genort: 12q22-q24.1;
Gensymbol: PAH) codiert. Es ist im Katabolismus der Amino-
säure Phenylalanin erforderlich, um eine Umwandlung von
Phenylalanin in Tyrosin zu katalysieren (. Abb. 13.17). Unter-
bleibt diese Umsetzung, wird ein Nebenstoffwechselweg einge-
schlagen, der über Phenylpyruvat zu einer Reihe von Stoff-
wechselprodukten führt, die nicht effektiv ausgeschieden wer-
den, sondern sich im Blut anreichern. Auf diesem Wege wirken
sie hemmend auf die postnatale Entwicklung des kindlichen
Gehirns (. Abb. 13.19), sodass eine irreversible mentale Retar-
dation auftritt, die schließlich zum frühen Tod des Individu-
ums führt.
Die Kenntnis der Stoffwechselfunktion des betroffenen En-
. Abb. 13.17 Stoffwechsel des Phenylalanins. Im normalen Stoffwechsel zyms hat es ermöglicht, eine Therapie zu entwickeln, die zu einer
wird Phenylalanin durch Hydroxylierung in Tyrosin umgewandelt. Tyrosin relativ normalen Entwicklung der homozygoten PKU-Patienten
wird entweder über mehrere Schritte zu CO2 und Wasser abgebaut oder in
führt, wenn sie rechtzeitig durchgeführt wird, d. h. von der Ge-
andere organische Verbindungen umgewandelt. Durch Ausfall von an die-
sen Stoffwechselschritten beteiligten Enzymen kann es zu Blockierungen burt an bis mindestens ins 6. Lebensjahr. Sie besteht aus einer
des betreffenden Stoffwechselweges kommen. Solche Enzymdefekte füh- Phenylalanin-armen Diät, die so abgestimmt wird, dass die Ami-
ren entweder zu Erbkrankheiten wie Phenylketonurie (PKU), Tyrosinose nosäure, die ja für den Organismus als Bestandteil vieler Proteine
oder Alkaptonurie oder, im Falle der Blockierung der Umsetzung von Tyro- unentbehrlich ist, in gerade ausreichender Menge vorhanden ist.
sin in Melanin, zum Ausfall von Pigmenten, die Albinismus zur Folge haben
Auf diesem Wege können die schädlichen hohen Konzentratio-
nen der Abbauprodukte vermieden werden, sodass es zu einer
normalen Entwicklung des Gehirns kommt.
und das Krankheitsbild auf das Auge beschränkt (Nystagmus, Diese Therapie setzt eine frühzeitige Erkennung der Homo-
verminderte Sehschärfe, Hypopigmentierung der Iris, albinoti- zygoten voraus, da eine Behandlung nach dem Auftreten deutli-
scher Fundus und Makulahypoplasie). Ursache sind hier Muta- cher Symptome zu spät wäre. Hierzu ist ein einfacher Test (Gu-
tionen im Gen GPR143, das für den G-Protein-gekoppelten Re- thrie-Test) entwickelt worden, der heute routinemäßig bei Neu-
zeptor 143 codiert; dieses Gen wird ausschließlich in Melano- geborenen zur Früherkennung eingesetzt wird. Der Test beruht
cyten und im retinalen Pigmentepithel exprimiert, wodurch auf der Verwendung von Bakterienstämmen, die kein eigenes
sich auch die Einschränkung der Krankheit auf das Auge erklärt. Phenylalanin synthetisieren können. Phenylalanin muss im Kul-
Das GPR143-Gen liegt auf dem X-Chromosom (Xp22.2); die turmedium enthalten sein, damit die Bakterien wachsen können.
Krankheit folgt einem X-chromosomalen, rezessiven Erbgang Man kann also eine Blutprobe mit Kulturmedium versetzen und
(7 Abschn. 13.3.3). dann testen, ob die Bakterien auf diesem Medium wachsen kön-
Albinismus ist ein Merkmal, bei dem man auch somatische nen oder nicht. Der Test ist so aufgebaut, dass die Bakterienstäm-
Mutationen nachweisen konnte. Kommt es während der Em- me mit der Phenylalaninmenge, die im normalen Blut vorhan-
bryonalentwicklung bei Heterozygoten zu einer Neumutation den ist, nicht wachsen, da der Titer zu niedrig ist. Bei homozygo-
620 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

a Chromosom 7

CFTR-Gen

27 Exons 250 kb

CFTR-Protein 1480
Aminosäuren
TM TM

NBD1 R-Domäne NBD2


b
ΔF508 46,2
66,7
73,3 64,0
75,1 50,2
56,5
72,7 87,2
65,9 75,2 38,5
76,9 74,4 76,3
75,5 68,2 63,1 66,2
81,3 71,7 80,4
69,7
74,7 74,9 55,9
68,3 63,8
43,2 43,9
50,3 42,0
. Abb. 13.19 Phenylketonurie(PKU)-Patient. (Aus Tariverdian und Busel- 61,0 61,1
70,0
maier 2004, mit freundlicher Genehmigung von Springer) 44,5
47,5
56,5 71,4 47,4 64,2

51,4 58,2 53,4 21,3


50,0 52,8
52,5
40,0 26,3 31,0 46,2 32,2
ten PKU-Individuen hingegen reicht die erhöhte Konzentration
. Abb. 13.20 Das CFTR-Gen. a Das CFTR-Gen und sein Protein. Das Gen,
an Phenylalanin im Blut aus, um ein Wachstum der Bakterien zu
dessen Mutation für Mukoviszidose verantwortlich ist, wurde 1989 durch
ermöglichen. Die Diagnose ist von erheblicher Bedeutung, da die Positionsklonierung auf dem Chromosom 7q31.2 entdeckt. Der geno-
13 Häufigkeit der Krankheit mit einem Homozygoten in 10.000 In- mische Bereich umfasst 250 kb und enthält 27 Exons. Es codiert für ein
dividuen relativ hoch ist und eine Therapie, ganz abgesehen von Transmembranprotein mit 1480 Aminosäuren, das als CFTR bezeichnet wird
den humanitären Gesichtspunkten, erhebliche Kosten für die (engl. cystic fibrosis transmembrane conductor). Das Protein besteht aus zwei
hydrophoben Bereichen (TM) mit jeweils sechs transmembranen α-Helices,
Patientenversorgung vermeiden hilft.
außerdem enthält es zwei Nukleotid-bindende Domänen (NBD1 und 2) zur
Die Mukoviszidose, auch als Zystische Fibrose bezeichnet Bindung von ATP und eine regulatorische cytoplasmatische Domäne (R),
(OMIM 219700), ist die häufigste autosomal-rezessive Erb- die zahlreiche geladene Aminosäurereste und die Mehrzahl der poten-
krankheit. Sie tritt fast nur unter der kaukasischen Bevölkerung ziellen Phosphorylierungsstellen enthält. b Die regionale Verteilung der
auf, also wesentlich seltener unter Farbigen oder Asiaten. Bis in ΔF508-Mutation in Europa weist auf einen Ursprung in Nordeuropa hin
(vermutlich Dänemark). Der prozentuale Anteil der ΔF508-Mutation an den
die 1950er- und frühen 1960er-Jahre starben die meisten Er-
CFTR-Mutationen nimmt nach Süden deutlich ab; erstaunlich ist die große
krankten bereits im Säuglings- oder Kindesalter. Durch eine er- Häufigkeit in der Ukraine. (a nach Romey 2006, mit freundlicher Genehmi-
hebliche Verbesserung der Therapie liegt die mittlere Lebenser- gung von Editions John Libbey Eurotext; b nach Estivill et al. 1997, mit
wartung heute geborener Patienten bei über 40 Jahren. Die freundlicher Genehmigung von Wiley)
Wahrscheinlichkeit, an Mukoviszidose zu erkranken, beträgt in
Europa und den USA etwa 1:2500. In Deutschland leben 6000 bis
8000 an Mukoviszidose Erkrankte; die Häufigkeit der Heterozy- Phenylalanin (ΔF508; . Abb. 13.20a). Ursache dieser hohen Al-
goten beträgt etwa 4 %. Damit ist die Zystische Fibrose bei der lelfrequenz ist ein Gründereffekt; es wird vermutet, dass die
weißen Bevölkerung die häufigste autosomal-rezessive Erb- ΔF508-Mutation zur Zeit des Neolithikums in der Umgebung
krankheit. Die Krankheit wird meist aufgrund häufig wiederkeh- Dänemarks ihren Ursprung gefunden hat (. Abb. 13.20b). Das
render Erkältungskrankheiten im Kindesalter diagnostiziert. CFTR-Protein reguliert den Chloridtransport durch die Zell-
Ursache der Erkrankung sind Mutationen in einem Gen, das membran; bei dem mutierten Protein ist dieser Transport ge-
für ein Membranprotein codiert (engl. cystic fibrosis transmem- stört. Die Mutation beeinflusst damit die Sekretion in der Lunge,
brane conductance regulator, Gensymbol: CFTR; Chromosom der Bauchspeicheldrüse, der Leber, dem Dünndarm, der Haut
7q31.2). Die erste Mutation im CFTR-Gen wurde 1989 beschrie- sowie den Geschlechtsorganen.
ben – heute kennen wir fast 2000 verschiedene Krankheitsallele In der Lunge entsteht aufgrund des gestörten Chloridaustau-
(http://www.genet.sickkids.on.ca/cftr/StatisticsPage.html). Al- sches ein zähflüssiger Schleim, der die Bronchien, die Bronchio-
lerdings beobachtet man eine interessante Häufung einzelner len und Alveolen verstopft. Ihre mit Flimmerhärchen ausgestat-
Mutationen: Bei etwa 70 % der Mukoviszidose-Patienten fehlt in tete Wand ist normalerweise mit einer dünnen Schleimschicht
diesem Membranprotein an der Position 508 die Aminosäure überzogen, auf der eingeatmete Partikel haften bleiben und aus-
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
621 13
gehustet werden können. Der zähe, dicke Schleim der erkrankten et al. 2002). Aus diesen Daten lassen sich interessante Rück-
Person führt dagegen zur Verengung der Luftwege und behin- schlüsse auf historische Wanderungsbewegungen ziehen.
dert das Atmen. Zugleich entwickeln sich Infektionen, da Bakte- Die G551D-Mutation führt zu einer verminderten Regulation
rien ebenfalls nicht entfernt werden und in den Atemwegen ver- der Kanal-Aktivität als Antwort auf ATP und damit zu einem
bleiben. Solche immer wiederkehrenden Infektionen schädigen verminderten Chlorid-Transport; das Protein selbst ist in
das Lungengewebe. Die Zerstörung und Verengung der Bron- seiner Menge und Konzentration unverändert. Ivacaftor be-
chien schreitet mit der Zeit so weit fort, bis schließlich die Lunge wirkt einen effektiveren Chlorid-Transport; es beeinflusst
versagt. nicht die Faltung des Proteins oder gar die Transkription/
Infolge der nicht normal funktionierenden Schweißdrüsen Translationsmaschinerie. Da Ivacaftor nur bei der G551D-
enthält der Schweiß erheblich mehr Kochsalz (NaCl) als der von Mutation wirkt, nicht aber bei der viel häufigeren Δ508F-
gesunden Personen. Das hauptsächlich aus Wasser bestehende Mutation, ist eine molekulargenetische Diagnose vor der
Sekret wird bei gesunden Menschen am Grund der Drüsen ge- Therapie notwendig; Ivacaftor ist damit eines der ersten Bei-
bildet und fließt dann durch einen Gang zur Hautoberfläche. spiele für die Bedeutung einer personalisierten Medizin
Anfangs ist es reich an Natrium- und Chlorid-Ionen, aber wäh- (7 Abschn. 13.5.2).
rend seiner Passage werden diese wieder resorbiert, sodass die
ausgeschwitzte Flüssigkeit nur noch schwach salzhaltig ist. Bei Ausgedehnte populationsgenetische Untersuchungen haben
Patienten mit Mukoviszidose hingegen nimmt das Epithel keine nicht nur große Unterschiede in der regionalen Häufung der
Chlorid-Ionen (und damit auch schlechter Natrium-Ionen) auf, Zystischen Fibrose gezeigt, sondern auch eine hohe Zahl hetero-
sodass der Schweiß ungewöhnlich salzig bleibt. Auf dieser verän- zygoter Träger in den betroffenen Populationen, die bei etwa 1:20
derten Schweißzusammensetzung beruht auch der »Schweiß- bis 1:25 liegt. Die Häufigkeit der Erkrankten beträgt in Mitteleu-
test«, der bei Mukoviszidose-Verdacht durchgeführt wird. ropa etwa 1:2000 bis 1:2500. Obwohl die Krankheit für die be-
Bei rund 90 % der Erkrankten verhindert ein durch zähen troffenen Kinder in früheren Jahrhunderten tödlich war, hat sich
Schleim ausgelöster Verschluss der entsprechenden Kanäle den die Zahl der Heterozygoten auf hohem Niveau gehalten. Daraus
Abfluss der in der Bauchspeicheldrüse gebildeten Verdauungs- können wir schließen, dass die Heterozygoten gegenüber beiden
enzyme. Durch fibrös verändertes Gewebe kann weiterhin die homozygoten Formen einen deutlichen Selektionsvorteil hatten
Produktion des Hormons Insulin gestört werden, sodass ein Di- (Heterosis-Effekt, 7 Abschn. 13.3.4). Sherif Gabriel und seine
abetes die Folge sein kann. Mitarbeiter berichteten 1994, dass im Mausmodell Heterozygote
Zurzeit gibt es noch keine kausale Therapie. Bis jetzt lassen im Vergleich mit Wildtypen einen deutlichen Resistenzvorteil
sich nur bestimmte Symptome verbessern, mildern oder sogar gegenüber dem Choleratoxin haben, was dieses Phänomen erklä-
zum Verschwinden bringen. Die Problematik des Verdauungs- ren kann.
apparats ist mittlerweile gut behandelbar. Gegen das Versagen
der Bauchspeicheldrüse werden den Patienten Kapseln mit ent- > Die meisten Erbkrankheiten sind autosomal-rezessiv und
sprechenden Verdauungsenzymen eingegeben. Dazu werden oft schwierig zu erkennen. Der Anteil an Trägern kann auch
eine kalorien- und vitaminreiche Nahrung und fettlösliche Vita- bei geringer Häufigkeit von Homozygoten hoch sein. Die
mine empfohlen. In über 90 % ist der Tod oder die Invalidität auf Gefahr der Homozygotie ist bei Verwandtenehen beson-
Manifestationen in der Lunge zurückzuführen. Im Zentrum ent- ders groß. In Mitteleuropa ist die Zystische Fibrose (Muko-
sprechender Behandlungen stehen die Antibiotikatherapie sowie viszidose) die häufigste autosomal-rezessive Erkrankung.
physiotherapeutische Übungen. Ein weiterer Therapieansatz
besteht im Inhalieren des Enzyms DNase. Dieses Enzym trägt zur
Verflüssigung des Schleims dadurch bei, dass es die langen, ver- 13.3.2 Autosomal-dominante Erkrankungen
klebenden Stränge der DNA zerlegt, die aus abgestorbenen Zel-
len frei werden. Seltener als mit rezessiven Erkrankungen haben wir es mit domi-
nanten Erbkrankheiten zu tun. Dabei tritt die Erkrankung schon
*Seit 2012 ist ein Medikament (Ivacaftor; Handelsname in
TM
den USA: Kalydeco ) zugelassen, das den Chloridkanal des
bei Heterozygoten auf. Es genügt also eine einfache Dosis des
veränderten Allels, damit eine Krankheit ausbricht. Ein Beispiel
CFTR-Proteins aktiviert. Das Medikament ist ein Oxochino- für einen autosomal-dominanten Erbgang gibt . Abb. 13.7. Von
lincarboxamid und gehört zur Gruppe der CFTR-Potenziato- autosomal-dominanter Erkrankung spricht man, wenn das be-
ren. Ivacaftor wirkt allerdings nur bei Patienten, die die troffene Gen auf einem Autosom und nicht auf einem Ge-
G551D-Mutation tragen; in Deutschland betrifft dies knapp schlechtschromosom liegt und wenn außerdem der Phänotyp
1 % der Mukoviszidose-Patienten. Die G551D-Mutation hat eines Heterozygoten dem Phänotyp des homozygoten Trägers
ihren Ursprung in der keltischen Population und ist deswe- entspricht. In der klinischen Praxis sind aber Homozygote häufig
gen in Irland, Schottland und in der Bretagne am häufigsten stärker erkrankt (Semidominanz).
(3–6 % der Mukoviszidose-Patienten). Interessanterweise Die Übertragung eines autosomal-dominanten Merkmals
erreicht sie fast dieselben hohen Werte in der Tschechischen erfolgt in der Regel von einem erkrankten Elternteil auf die Hälf-
Republik, in Toronto, Australien und Neuseeland; in Maine te der Kinder, wobei das Geschlecht keinerlei Rolle spielt. Aber
(USA) ist sie in der Bevölkerung nicht-französischen Ur- auch Neumutationen treten sofort in Erscheinung, da schon die
sprungs mit 2,6 % ebenfalls erstaunlich hoch (Bobadilla Veränderung eines Allels das entsprechende Krankheitsbild
622 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

hervorruft. Verringerte Penetranz und Expressivität (7 Abschn.


11.3.3) erschweren manchmal eine klare genetische Analyse in
einer Familie. Viele autosomal-dominante Erkrankungen haben
Häufigkeiten in der Größenordnung von 1:10.000. Wir wollen im
Folgenden einige Beispiele für dominante Erkrankungen disku-
tieren, ohne dass diese Liste einen Anspruch auf Vollständigkeit
hätte.
Das Marfan-Syndrom (OMIM 154700; . Abb. 13.21) be-
zeichnet eine Störung im Aufbau des Bindegewebes, die sich auf
das Skelettsystem, die Augen und auf das kardiovaskuläre System
auswirkt. Charakteristische Symptome sind lange und schmale
Extremitäten (Spinnenfinger), überstreckbare Gelenke und
Herzfehler, die meist zum Tode führen. Die Krankheit hat eine
Häufigkeit von etwa 1:5000; ungefähr ein Viertel aller Fälle wird
durch Neumutationen hervorgerufen. Obwohl es eine Reihe kla-
rer Merkmale für diese Krankheit gibt, ist eine Diagnose nicht
immer ganz einfach, da sie auch in verschiedenen Schweregra-
den auftreten kann.
Das verantwortliche Gen Fibrillin1 (FBN1, Chromosom
15q21; OMIM 134797) umfasst etwa 235 kb genomischer DNA . Abb. 13.21 Marfan-Syndrom. a Krankheitsbild eines Patienten. b Spin-
nenfingrigkeit bei Marfan-Syndrom. (Nach Tariverdian und Buselmaier
und besteht aus 65 Exons (. Abb. 13.22a). Die mRNA ist knapp
2004, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
10 kb lang und codiert für ein Glykoprotein (MW: ~ 320 kDa),
das aus vielen Domänen besteht. Diese lassen sich in drei Klassen
Cystein-reicher Wiederholungsmotive unterteilen; die wichtigs- in den Zonulafasern des Ciliarkörpers im Auge) oder zusammen
te weist starke Homologien zum epidermalen Wachstumsfaktor mit Elastin in elastischen Fasern (z. B. der Aorta). Bisher war
(EGF) auf. Die Fibrillin-Proteine (ein weiteres Fibrillin-Gen, man davon ausgegangen, dass die Wirkung der Mutationen im
FBN2, ist auf dem Chromosom 5 lokalisiert; Mutationen im Wesentlichen auf einem dominant-negativen Effekt beruht,
FBN2-Gen führen zu ähnlichen, aber nicht identischen Sympto- wobei die veränderten Fibrillin-Monomere den geordneten Auf-
men) sind die Hauptkomponenten der extrazellulären Mikro- bau der reifen Mikrofibrillen stören. Als ein weiterer Aspekt wird
13 fibrillen (Durchmesser: etwa 10–12 nm), die in vielen Geweben allerdings auch ein erhöhter proteolytischer Abbau des veränder-
vorkommen. Die Mikrofibrillen treten entweder alleine auf (wie ten Fibrillin-Proteins diskutiert.

. Abb. 13.22 Fibrillin-1 und wichtige Mutationen seines Gens. a Das Fibril-
lin-1-Protein ist schematisch mit seinen verschiedenen Modulen darge-
stellt. Besonders auffällig sind die vielen Calcium-bindenden Motive, die
dem epidermalen Wachstumsfaktor ähnlich sind (cbEGF). b Die häufigsten
missense-Mutationen, die das Calcium-bindende, EGF-ähnliche Motiv
(cbEGF) betreffen, führen zu Aminosäureaustauschen bei einem der sechs
konservierten Cystein-Reste oder der Consensussequenz der Calcium-Bin-
dungsstelle. (a nach Ramirez und Pereira 1999, mit freundlicher Geneh-
migung von Elsevier; b nach Robinson et al. 2002, mit freundlicher Geneh-
b migung von Wiley)
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
623 13

a b

. Abb. 13.23 Folgen familiärer Hypercholesterinämie bei einer 18-jährigen Frau aus Südindien. a Xanthome an den Strecksehnen der Finger. b Ringför-
mige Trübung am Rande der Hornhaut (Arcus lipoides corneae; rote Pfeile). Zur Anonymisierung wurde ein Teil des Gesichts abgedeckt. (Nach Kumar et al.
2008, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

Die funktionelle Analyse der knapp 3000 verschiedenen Die genetischen Ursachen liegen dabei nicht in einer ge-
Mutationen (http://www.umd.be/FBN1/) hat das Wissen über steigerten Cholesterin-Synthese, wie man zunächst vermuten
den Mechanismus der Krankheitsentstehung verbessert. Zwar ist könnte, sondern vielmehr im unvollständigen Recycling des
im Prinzip das gesamte Gen Ziel von Mutationen, es ist aber LDL-Cholesterins. Dieses LDL-Cholesterin-Recycling ist in
auffallend, dass die Mutationen in den Exons 26 bis 28 über- . Abb. 13.24 schematisch dargestellt – und daraus wird auch er-
repräsentiert sind. Dies mag damit zusammenhängen, dass sichtlich, welche Gene eine wichtige Rolle spielen. Es handelt sich
diese Fälle schwerwiegender sind als andere und damit leichter dabei in erster Linie um Mutationen in dem Gen, das für den
erkannt werden. Außerdem zeigt . Abb. 13.22a sehr deutlich, LDL-Rezeptor codiert (Gensymbol: LDLR, Chromosom 19p13;
dass ein Calcium-bindendes, EGF-ähnliches Motiv ein charak- OMIM 606945); das Gen umfasst 45 kb und enthält 18 Exons.
teristisches Merkmal des Fibrillin-1-Proteins ist. Mutationen, Homozygote Patienten werden aufgrund unterschiedlicher
die zur Ausprägung des Marfan-Syndroms führen, betreffen Schweregrade in zwei Gruppen eingeteilt (weniger als 2 % Rest-
vor allem die hochkonservierten Cystein-Reste sowie  diejeni- aktivität des LDL-Rezeptors und 2–25 % Restaktivität); die Res-
gen  Aminosäuren,  die an der Calcium-Bindung beteiligt sind taktivität des LDL-Rezeptors verhält sich umgekehrt proportio-
(. Abb. 13.22b). Neben den über 2100 Punktmutationen gibt es nal zu den Plasmaspiegeln des LDL-Cholesterins. Dabei vermit-
aber auch etliche (50) größere Deletionen und Duplikationen telt der LDL-Rezeptor die Endocytose von LDL und des daran
sowie kleinere Rearrangements (~ 700 »Indels«: Insertionen und gebundenen Cholesterins. In der Zelle wird das gebundene Cho-
Deletionen). lesterin wieder freigesetzt und hemmt das Enzym 3-Hydroxy-
Die familiäre Hypercholesterinämie (OMIM 143890) ist die 3-methylglutaryl-Coenzym-A-Reduktase (HMG-CoA-Reduk-
häufigste autosomal-dominante Erkrankung mit einer weltwei- tase), das Schlüsselenzym der endogenen Cholesterin-Biosyn-
ten Häufigkeit von 1:500. Allerdings tritt sie aufgrund von Grün- these. Auf diese Weise wird bei Gesunden ein Gleichgewicht
dereffekten in einigen Populationen häufiger auf (Afrikaner in zwischen Cholesterin-Aufnahme über die Nahrung und eigener
Transvaal, christliche Libanesen, Finnen, Schotten und Franko- Cholesterin-Synthese eingestellt. Dieses hemmende Signal fehlt,
Kanadier). Bei Heterozygoten ist die Konzentration von Serum- wenn der LDL-Rezeptor durch Mutationen verändert ist. In der
Cholesterin, das an eine bestimmte Klasse von Lipoproteinen klinischen Therapie wird dieses fehlende Signal durch Inhibito-
(low density lipoprotein, LDL) gebunden ist, auf das 2- bis 3-fache ren der HMG-CoA-Reduktase ersetzt (Statine).
der Norm erhöht (200–400 mg LDL-Cholesterin/dl statt 75– Wie bei vielen häufigen Erbkrankheiten steigen auch die In-
175 mg/dl bei Gesunden). Herzanfälle treten aufgrund korona- formationen über Mutationen im LDLR-Gen ständig an; zum
rer Arteriosklerose (im englischsprachigen Raum auch als Athe- Zeitpunkt des Drucks (April 2015) waren über 1700 Einträge
rosklerose bezeichnet; Ablagerung von Cholesterin-Plaques in in Datenbanken verzeichnet (davon 1122 verschiedene Allele;
den Herzkranzgefäßen) bereits im 3. Lebensjahrzehnt auf. Bei http://www.ucl.ac.uk/fh). Die Listen beinhalten Punktmutatio-
Homozygoten (Häufigkeit 1:250.000) beobachten wir einen nen und große Deletionen. Unter funktionellen Gesichtspunkten
Gendosis-Effekt: Hier sind die Werte noch einmal deutlich er- können fünf Gruppen unterschieden werden:
höht (über 450 mg/dl, und zwar unabhängig von Diät und Le- 4 Die Mutationen führen dazu, dass kein immunpräzipitier-
bensstil!), sodass Herzanfälle bereits im frühen Kindesalter auf- bares Protein gebildet wird (Null-Allel); Ursache dafür
treten können. Neben den Herzerkrankungen treten in unter- können Mutationen im Promotor, an Spleißstellen,
schiedlichem Ausmaß auch Cholesterin-Ablagerungen unter der Veränderungen im Leserahmen oder große Deletionen
Haut und im Auge auf (. Abb. 13.23). sein.
624 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

LDL LDL ApoB


ApoB
Membran
Bündelung

Endocytose
LDLRAP1 LDLRAP1
LDLRAP1
Transport zur
Membran
ApoB
LDL
LDL-Rezeptor-
Recycling
Clathrin-
bedeckte
LDL- Golgi Einsenkung
Rezeptor
LDL-Rezeptor-
Biosynthese

Posttranslationale
Modifikationen

Endoplasmatisches Reticulum

. Abb. 13.24 Der LDL-Rezeptor-Zyklus. Das LDL-Partikel bindet an den extrazellulären Teil des LDL-Rezeptors (LDLR), vermittelt durch dessen Liganden,
das Apolipoprotein B (ApoB). Das LDL-Rezeptor-adaptierte Protein (LDLRAP1) bindet an den intrazellulären Teil des LDL-Rezeptors, der für die Internalisie-
rung des Gesamtkomplexes verantwortlich ist. Dieser Komplex häuft sich in einer Clathrin-bedeckten Einsenkung an; der LDL-Rezeptor wandert danach er-
neut zur Zellmembran und reguliert damit seine eigene Biosynthese durch einen negativen Rückkopplungsmechanismus. (Nach Dedoussis et al. 2004, mit
freundlicher Genehmigung von Wiley)

4 Die codierten Proteine sind – zumindest teilweise – in Bezug entscheidend die Domäne, mit der das ApoB100-Protein an den
13 auf ihren Transport zwischen dem endoplasmatischen Reti- LDL-Rezeptor binden kann. In Mitteleuropa hat der familiäre
culum und dem Golgi-Komplex blockiert. Die meisten Defekt des APOB-Gens eine Häufigkeit von ca. 1:1000; in anderen
Transportdefekte betreffen die Bindungsdomäne und die Regionen der Welt ist er aber seltener. Man nimmt an, dass es sich
EGF-ähnliche Domäne. hierbei um eine Gründermutation handelt, die vor 6000 bis 10.000
4 Die Proteine werden zwar synthetisiert und transportiert, Jahren (270 bis 390 Generationen) in der Nordwestschweiz ent-
können aber LDL nicht binden (Defekte in der Liganden- standen ist und sich dann mit einer Geschwindigkeit von 2 km pro
Bindedomäne). Generation ausgebreitet hat. Abschließend sei darauf hingewiesen,
4 Die Proteine werden synthetisiert, transportiert und binden dass wir nach intensiver Forschung auf diesem Gebiet wissen, dass
LDL, können sich aber in der Zellmembran nicht zu Clus- weitere Gene an der Erhöhung der Cholesterin-Konzentration im
tern zusammenschließen, sodass keine Endocytose statt- Blut beteiligt sind. Dazu gehören PCSK9 (engl. proprotein conver-
findet (Internalisierungsdefekt). Die Ursachen dafür liegen tase subtilisin/kexin type 9; OMIM 607789; Chromosom 1p34.1-
in Mutationen, die die cytoplasmatische Domäne betreffen. p32) und LDLRAP1 (engl. LDL receptor adaptor protein; OMIM
4 Die Proteine werden synthetisiert, transportiert, binden 603813; Chromosom 1p36-p35); Mutationen im LDLRAP1-Gen
LDL und transportieren es in die Zelle, können dort aber sind auch für eine rezessive Form der Hypercholesterinämie
das LDL nicht entladen und damit auch nicht an die Zell- (ARH, autosomal-rezessive Hypercholesterinämie) verantwort-
oberfläche zurückkehren. Diese Recycling-Defekte werden lich. Damit wird deutlich (wie wir das auch aus den biochemischen
durch Veränderungen in der Vorläuferdomäne verursacht. Abläufen schließen können; . Abb. 13.24), dass die Erhöhung der
LDL-Cholesterin-Konzentration im Blut und damit das Risiko für
Allerdings muss in diesem Zusammenhang auch erwähnt werden, Arteriosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfall einem komplizier-
dass das Erscheinungsbild der familiären Hypercholesterinämie ten Regelmechanismus unterliegt.
nicht nur durch Mutationen am LDL-Rezeptor-Gen, sondern auch Zwergwüchsigkeit (Achondroplasie) betrifft etwa 250.000
durch Mutationen verursacht werden kann, die das Gen für seinen Menschen weltweit und wird autosomal-dominant vererbt. Die
Liganden, das Apolipoprotein B100 (ApoB100) betreffen. Diese Erkrankung betrifft im Wesentlichen das Wachstum der großen
Form betrifft etwa 2–6 % der Patienten mit der klinischen Diag- Röhrenknochen, sodass die Kinder stark verkürzte Gliedmaßen
nose einer familiären Hypercholesterinämie. Das Gen für das aufweisen, weil zu wenige Chondrocyten in die Epiphysenfugen
ApoB100 (Gensymbol: APOB) befindet sich auf dem Chromosom einwandern. Die Krankheit ist lange bekannt; wir kennen histori-
2p23-24; die häufigste Mutation führt zu einem Arg→Gln- sche Abbildungen aus dem alten Ägypten, aus Griechenland und
Austausch an der Position 3527 des Proteins und verändert damit Rom. Ursache für das Krankheitsbild sind Mutationen in einem
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
625 13
Gen, das für einen Rezeptor für Fibroblasten-Wachstumsfaktoren Keimbahn älterer Väter (über 35 Jahre) entstehen. Als Ursache
(FGFs) codiert (Gensymbol: FGFR3; Chromosom 4p16.3; OMIM dafür wird diskutiert, dass Spermien, die diese Mutation tragen,
134934). Die Mutationsanalysen der letzten Jahrzehnte haben ge- einen selektiven Vorteil gegenüber anderen Spermien zeigen.
zeigt, dass mehr als 95 % der Patienten dieselbe Mutation tragen, Damit kann erklärt werden, dass ein Reservoir von prä-meioti-
die zu einem Austausch des Glycin-Restes an der Position 380 schen Zellen, das diese Mutation trägt, mit zunehmendem Alter
durch ein Arginin führt (Gly380Arg). Dieser Aminosäureaustausch relativ schnell an Größe zunehmen kann und dadurch zu der
betrifft die Transmembrandomäne des Rezeptors und führt dazu, beobachteten Korrelation mit dem höheren väterlichen Alter
dass der Rezeptor auch dann Signale weiterleitet, wenn kein Li- führen kann. Eine interessante Darstellung dieser Zusammen-
gand gebunden ist (Funktionsgewinn-Mutation, engl. gain-of- hänge findet man bei Horton et al. (2007).
function mutation). Dadurch wird die inhibitorische Funktion des
Rezeptors aufgehoben, wodurch eine Vielzahl von Komplikatio- > Bei autosomal-dominanten Erbkrankheiten entspricht der
nen entsteht. Heute wissen wir, dass bei den Patienten nicht nur Phänotyp der heterozygoten Genträger weitgehend dem
das Knochenwachstum beeinflusst wird, sondern häufig auch der homozygoten; beide Geschlechter sind gleichmäßig
andere Organe (u. a. der Magen-Darm-Trakt, die Langerhans’schen betroffen. Die Übertragung erfolgt in der Regel von einem
Inseln im Pankreas und die Nebennierenrinde). der Eltern auf die Hälfte der Kinder; sporadische Fälle be-
Bei der Gly380Arg-Mutation handelt es sich aber nicht um ruhen meistens auf Neumutationen. Viele autosomal-
eine Gründermutation (wie wir das oft in solchen Fällen sehen, dominante Erkrankungen haben Häufigkeiten von
z. B. bei der Zystischen Fibrose, 7 Abschn. 13.3.1). Vielmehr sind 1:10.000. Die häufigste autosomal-dominante Erkrankung
ca. 80 % der Gly380Arg-Mutationen Neumutationen, die in der ist die familiäre Hypercholesterinämie.

a b

c d

. Abb. 13.25 CAG-Kopienzahl bei der Chorea Huntington. a Verteilung der CAG-Kopienzahl in Chromosomen von Patienten, die an der Erkrankung Cho-
rea Huntington leiden, und bei Gesunden. Die Häufigkeit der gesunden CAG-Allelgröße (blau) und der Krankheitsallele (rot), gezeigt als Anteil an der Ge-
samtheit, ist gegen die Kopienzahl aufgetragen. Diese Chromosomen wurden von Individuen mit unterschiedlichem genetischen Hintergrund aus ver-
schiedenen Teilen der Welt gewonnen. b Beziehung zwischen der Kopienzahl und dem Eintrittsalter der Erkrankung. Die Zahl der CAG-Wiederholungen in
1226 Patienten mit Chorea Huntington ist gegen das Eintrittsalter der Erkrankung aufgetragen. Zwar ist die Korrelation zwischen dem Eintrittsalter und der
Kopienzahl hoch signifikant, aber aufgrund der großen Spannbreite des möglichen Eintrittsalters insgesamt lassen sich keine individuellen Vorhersagen
treffen. Blaue Punkte: individuelle Fälle; rote Punkte: durchschnittliches Eintrittsalter bei der jeweiligen Kopienzahl. c, d Die Zahl der CAG-Kopien zwischen
verschiedenen Generationen. Die Länge der expandierenden CAG-Wiederholungen, die zu Erkrankungen führen, in Müttern (c) und in Vätern (d) ist jeweils
gegen die Kopienzahl in den jeweiligen erkrankten Kindern aufgetragen. Die diagonale, gestrichelte Linie zeigt die Beziehung an, wenn keine Veränderung
in der Kopienzahl auftritt. Bei der Mehrzahl der Übertragungen (insgesamt 25 über die Mutter und 37 über den Vater) hat sich die Kopienzahl nur um eini-
ge wenige Einheiten nach oben oder unten verändert; allerdings zeigen ca. 1/3 der Fälle, die über den Vater übertragen wurden, eine deutliche Erhöhung
der Kopienzahl. (Nach MacDonald 1998, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
626 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Mensch
Hund
Maus
Opossum
Huhn
Frosch
Zebrafisch
Forelle
Fugu
Stichling
Lanzettfischchen
Schlammwurm
Napfschnecke
Seeanemone
Scheibentiere
Schlauchseescheide

D. melanogaster
D. mojavensis
D. sechellia
D. erecta

. Abb. 13.26 Die Evolution des Polyglutamin-Abschnitts (Q) im Huntingtin-Protein (Htt). In einem multiplen Alignment sind die N-terminalen Aminosäu-
resequenzen im Detail dargestellt. Die verschiedenen Drosophila-Arten besitzen keinen Poly-Q-Bereich (Q; rot) im N-terminalen Bereich, ähnlich auch die
Seeanemone, Scheibentiere, Schlauchseescheide und der Schlammwurm. Erst die Lanzettfischchen zeigen ein doppeltes Q; in Fischen wurde zuerst ein
echter Poly-Q-Abschnitt (4-fach) ausgebildet, der sich auch in Amphibien und Vögeln findet. Der Poly-Q-Abschnitt expandiert schrittweise vom Oppossum
über die Maus und den Hund bis zum Menschen, der den längsten und am meisten polymorphen Poly-Q-Abschnitt enthält. Auf den Poly-Q-Bereich folgt
bei den höheren Gattungen häufig ein Polyprolin-Abschnitt (P; grün). (Nach Schaefer et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung der Autoren)

13
Unter dem Stichwort »dynamische Mutationen« haben wir be- Exons. Es gibt mehrere Spleißprodukte, aber nur eines codiert für
reits im 7 Abschn. 10.3.3 in allgemeiner Form expandierende das Huntingtin-Protein mit 3142 Aminosäuren und einem Mo-
Triplettmutationen erörtert. Sie fallen natürlich unter die domi- lekulargewicht von ca. 350 kDa; die entsprechende mRNA ist
nanten Erkrankungen, da bereits ein mutiertes Allel ausreicht, 13,5 kb lang. Das Gen wurde erstmalig 1993 von einer internati-
um das Krankheitsbild auszulösen. Sie werden hier aber doch onalen Forschergruppe beschrieben.
etwas gesondert behandelt, da die Natur der Mutationen zu ei- Ursache für den Ausbruch der Chorea Huntington ist eine
nem variablen Krankheitsbild führt, das sich auch innerhalb ei- CAG-Triplettwiederholung im ersten Exon, die stark polymorph
ner betroffenen Familie im Laufe der Generationen verstärken ist und für eine unterschiedliche Anzahl von Glutamin-Resten
kann. Als Beispiel wird hier die Chorea Huntington besprochen. codiert. In Gesunden liegt die Anzahl der Triplettwiederholun-
Die Chorea Huntington (auch Veitstanz genannt, OMIM gen unter 35; bei Kranken beträgt sie typischerweise etwa 40 bis
143100) äußert sich im fortgeschrittenen Zustand in motori- 50 (. Abb. 13.25a); liegen allerdings mehr als 70 Wiederholungen
schen Defekten, die durch eine allmähliche Degeneration der vor, tritt die Krankheit bereits im Jugendalter auf (. Abb. 13.25b).
Neurone in den Basalganglien des Gehirns bedingt werden. Da- Homozygote Patienten unterscheiden sich dagegen in ihrem
mit verbunden sind Gedächtnisstörungen, Abnahme der kogni- Schweregrad fast nicht von den heterozygoten Geschwistern, was
tiven Fähigkeiten, Gefühlsstörungen und Persönlichkeitsverän- den dominanten Charakter der Erkrankung unterstreicht. Aller-
derungen. Die Patienten sterben etwa 10 bis 20 Jahre nach dem dings ist eine Übertragung über die männliche Keimbahn oft mit
Ausbruch der Erkrankung an Herz- oder Lungenerkrankungen. einer deutlichen Zunahme der Anzahl von Triplettwiederholun-
Die Neuropathologie zeigt eine Atrophie des Nucleus caudatus gen verbunden (. Abb. 13.25d). Dies wird in der weiblichen
und des Putamen; eine diffuse Degeneration des Neostriatums Keimbahn nicht beobachtet. Offensichtlich findet die Verlänge-
ist pathologisch besonders charakteristisch. Die Krankheit bricht rung der Triplettwiederholungen bevorzugt während der Sper-
erst relativ spät aus, meist um das 40. Lebensjahr. Die Häufigkeit matogenese statt und kann als Unterschied in der Länge der Tri-
der Chorea Huntington beträgt etwa 1:10.000. Formal folgt die plettwiederholungen in der DNA von Spermien nachgewiesen
Erkrankung einem klassischen autosomal-dominanten Erbgang werden. Auch die Tatsache, dass eineiige Zwillinge dieselbe An-
mit vollständiger Penetranz. zahl von Triplettwiederholungen aufweisen, deutet darauf hin,
Das betroffene Gen, Huntingtin (Gensymbol: HTT; Chromo- dass es sich hierbei nicht um einen somatischen Vorgang handelt,
som 4p16.3; OMIM 613004), umfasst etwa 185 kb und enthält 67 sondern dass die Expansion der Tripletts offensichtlich während
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
627 13

469

536
513
530
586

Glu, Ser, Pro


Ser rich
HEAT

HEAT

HEAT
(Q)n

NES
(P)n

SUMO/UBI
A B C
AA
0 250 500 750 1000 1250 1500 1750 2000 2250 2500 2750 3000

. Abb. 13.27 Schematische Darstellung funktionell wichtiger Bereiche des Huntingtin-Proteins (Htt). (Q)n deutet den Polyglutamin-Abschnitt an, dem ein
Polyprolin-Abschnitt, (P)n, folgt. Die roten Rechtecke deuten die drei wichtigsten HEAT-Wiederholungseinheiten an. Die grünen Pfeile repräsentieren Cas-
pase-Schnittstellen mit ihren jeweiligen Aminosäurepositionen (AA, engl. amino acid) 513, 530 und 586; die blauen Dreiecke entsprechen den Calpain-
Schnittstellen (Position 469 und 536). Die grünen und orangenen Dreiecke weisen auf Stellen hin, die durch Proteasen geschnitten werden können; die ent-
sprechenden Schnitte erfolgen bevorzugt entweder im cerebralen Cortex (B) oder im Striatum (C) oder in beiden Gehirnregionen (A). Die Lage der Kern-
exportsequenz (NES) ist angedeutet. Es gibt eine Vielzahl von Stellen, an denen posttranslationale Modifikationen möglich sind (rote und blaue Kreise):
Ubiquitinierung (UBI) und/oder SUMOylierung (SUMO; rot), Phosphorylierung an den Serin-Resten 421 und 434 (blau). Die Glu-Ser-Pro-reichen Regionen
sind mit einem grünen Kreis markiert. (Nach Cattaneo et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

. Abb. 13.28 Mausmodell für die Erkrankung Chorea Huntington. a Eine trans-
gene Maus mit einer stabilen CAG-Wiederholungseinheit im Huntingtin-Gen ist ein
präzises Modell für die Chorea Huntington (»HD-Maus«). Eine zusätzliche TAA-Wie-
derholung in der Nähe des Gens für den Glutamat-Rezeptor 6 verändert das Ein-
trittsalter. Die Maus zeigt ein charakteristisches Klammern mit den Hinterpfoten,
wenn sie am Schwanz gehalten wird. Das ist ein robustes und reproduzierbares An-
zeichen für den Beginn der Erkrankung. b Die Elektronenmikroskopie zeigt zwei
einzelne, homogene Einschlüsse in den Zellkernen des Striatum einer HD-Maus im
Alter von 11 Monaten (Pfeil auf ni; engl. nuclear inclusions). Die Zellkerne (nuc)
haben tiefe Einstülpungen. (Nach van Dellen und Hannan 2004, mit freundlicher
a Genehmigung von Springer)

der Entwicklung der (männlichen) Keimzellen stattfindet (siehe auch die Angaben zur Häufigkeit, die zwischen 1,0 und 3,9 %
auch 7 Abschn. 10.3.3). variieren. Aus den Trägern dieser mittleren Tripletthäufigkeit
Besondere Beachtung, auch in der humangenetischen Bera- rekrutieren sich nämlich die Erkrankten der nächsten Genera-
tung, kommt den Trägern mit einer mittleren Anzahl (zwischen tion. Allerdings zeigen neuere Arbeiten eine Reihe von geneti-
25 und 35) von Triplettwiederholungen zu, wobei es noch keine schen Modifikatoren, die das Eintrittsalter der Erkrankung be-
ganz einheitliche Definition gibt. Entsprechend heterogen sind einflussen können (Zuccato et al. 2010).
628 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Der Bereich der CAG-Wiederholungen codiert für einen 13.3.3 X-chromosomale Krankheiten
Polyglutamin-Abschnitt im N-terminalen Bereich des Hunting-
tin-Proteins (die Abkürzung im Ein-Buchstaben-Code für Glut- Genauso wie bei autosomalen Erkrankungen können wir auch
amin ist Q). Wenn wir diesen Abschnitt unter evolutionären bei Erkrankungen, deren Mutationen in Genen auf dem X-Chro-
Gesichtspunkten betrachten (. Abb. 13.26), stellen wir fest, dass mosom liegen, dominante und rezessive Allele unterscheiden.
wir die ersten vier Glutamin-Reste bei Fischen, Vögeln und Am- Der wesentliche Unterschied bei den X-chromosomal vererbten
phibien finden. Der Poly-Q-Bereich expandiert dann bei den Erkrankungen liegt darin, dass die beiden Geschlechter in unter-
Säugern, wobei die Nager (Ratten und Mäuse) einen relativ kur- schiedlichem Ausmaß betroffen sind. Da die Männer nur ein
zen Poly-Q-Bereich aufweisen – nur sieben bis acht Glutamin- X-Chromosom haben, die Frauen aber zwei, gibt es im Falle einer
Reste; der Mensch hat den längsten Abschnitt und zeigt dabei X-gekoppelten Mutation für Männer und Frauen unterschiedli-
aber auch die größte Heterogenität. Diesem Poly-Q-Abschnitt che Möglichkeiten. Die Männer können jeweils hemizygot für
folgt bei höheren Vertebraten, und besonders bei Säugern, ein das mutierte oder Wildtyp-Allel sein (Hemizygotie: Gen kommt
Polyprolin-Bereich. Man nimmt an, dass er dazu beiträgt, den nur einmal im Genotyp vor), während die Frauen entweder he-
Poly-Q-Bereich zu stabilisieren und löslich zu halten; es ist auf- terozygot oder homozygot für jedes Allel sein können. Das spielt
fallend, dass das Auftreten des Poly-P-Abschnitts mit der Verlän- bei dominanten Allelen in der Regel keine Rolle (Ausnahme:
gerung des Poly-Q-Abschnitts assoziiert ist. semidominante Allele), ein rezessives Allel dagegen wird sich
Das Huntingtin-Protein gehört mit einem Molekulargewicht beim Mann unmittelbar manifestieren, da er im Gegensatz zum
von ca. 350 kDa zu den großen Proteinen und besitzt mehrere weiblichen Geschlecht kein zweites (Wildtyp-)Allel besitzt.
funktionelle Domänen (. Abb. 13.27). Es enthält neben dem X-chromosomal-dominante Allele können ohne umfangrei-
wichtigen Poly-Q-Bereich auch drei HEAT-Domänen, die nach che Familiendaten relativ schwer als solche identifiziert werden,
den vier Proteinen benannt sind, in denen man dieses Amino- da sich der Erbgang nur dann von einem autosomal-dominanten
säure-Motiv zunächst gefunden hatte (Huntingtin, Elongations- Erbgang unterscheiden lässt, wenn Kinder von väterlichen Trä-
faktor 3, Proteinphosphatase 2A und TOR1). Diese HEAT- gern vorhanden sind. In diesem Fall sind nur weibliche Nach-
Domänen sind genauso wie die Poly-Q-Bereiche für Protein- kommen von der Krankheit betroffen, diese aber ohne Ausnah-
Protein-Wechselwirkungen verantwortlich, wobei sie auch zur me. Generell sind Männer von X-chromosomalen dominanten
Bildung der Amyloid-ähnlichen zelltoxischen Huntingtin-Ag- Erbkrankheiten oft stärker betroffen als Frauen, wenn die Krank-
gregate beitragen. Die zelltoxische Wirkung besteht im Wesent- heiten bei Männern nicht sogar letal sind. Eine solche verstärkte
lichen darin, dass die anti-apoptotische Wirkung des Wildtyp- Expression in einem Geschlecht scheint mit der Definition eines
Huntingtins aufgehoben wird und es dadurch zu einem massiven dominanten Allels nicht im Einklang zu stehen. Die Ursache
13 Absterben von Zellen kommt, was sich dann klinisch als Neuro- hierfür liegt jedoch darin, dass das defekte Allel als Folge der
degeneration äußert. Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen nicht in allen
Wenn wir uns entsprechende Mausmodelle betrachten, ster- Zellen des weiblichen Organismus zur Ausprägung kommt
ben homozygote Null-Mutanten bereits während der Embryo- (. Abb. 8.30). Diese Inaktivierung des zweiten X-Chromosoms
nalentwicklung (heterozygote zeigen keine Anzeichen einer Er- in weiblichen Säugern dient zur Dosiskompensation, die erfor-
krankung). Dagegen sind transgene Mäuse, die die CAG-Tri- derlich ist, um die Dosisunterschiede X-chromosomaler Gene im
plettwiederholungen stabil in das Huntingtin-Gen integriert männlichen und weiblichen Geschlecht auszugleichen. Der Do-
haben, hervorragende Modelle für diese schwerwiegende Er- siskompensationsmechanismus wurde bereits an anderer Stelle
krankung. Sie erlauben nicht nur, den Krankheitsverlauf im ausführlich besprochen (7 Abschn. 8.3.2). Folge dieses Mechanis-
Detail zu untersuchen (. Abb. 13.28), sondern auch verschiedene mus ist es, dass in der Hälfte der Zellen einer heterozygoten Frau
andere genetische Einflüsse (z. B. des Glutamat-Rezeptors 6) und das funktionelle X-chromosomale Gen aktiv ist und somit für
Umweltfaktoren (z. B. eine Stimulierung der Umgebung) zu va- einen Ausgleich der Fehlfunktion des zweiten Allels in anderen
riieren. Eine abwechslungsreiche Umgebung kann das Eintritts- Zellen sorgen kann.
alter bei der Maus herausschieben.
> X-chromosomal-dominante Erbkrankheiten sind selten.

*EsAnsätze,
existiert eine Vielzahl verschiedener therapeutischer
um Chorea Huntington zu heilen oder zumindest
Bei der Stammbaumanalyse fallen sie dadurch auf, dass
die männlichen Nachkommen betroffener Männer stets
gesund sind. Frauen erkranken erwartungsgemäß doppelt
die Symptome abzumildern. Ein vielversprechender Ansatz
so häufig wie Männer, jedoch ist der Ausprägungsgrad der
ist der Versuch, die Akkumulation von Huntingtin zu verhin-
Krankheit aufgrund der Inaktivierung eines X-Chromo-
dern und den Abbau über Ubiquitin zu fördern. Die nächs-
soms in Zusammenhang mit der Dosiskompensation oft
ten Jahre werden zeigen, ob dieser Ansatz Erfolg hat.
geringer als beim Mann.
> Autosomal-dominante Erkrankungen sind dadurch
Im Gegensatz zu den X-chromosomal-dominanten Erkrankun-
charakterisiert, dass sie schon in Heterozygoten klinisch
gen kommen X-chromosomal-rezessive Erkrankungen häufi-
manifest werden, und zwar geschlechtsunabhängig.
ger vor. Dabei erfolgt die Übertragung über alle gesunden Töch-
Dominante Mutationen betreffen häufig Gene, die für
ter kranker Väter bzw. über die Hälfte der gesunden Schwestern
Strukturproteine codieren.
kranker Männer. Die phänotypisch gesunden, aber genotypisch
heterozygoten Überträgerinnen werden auch als Konduktorin-
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
629 13
I
Albert Victoria

II

Friedrich III Victoria Ludwig Alice Leopold Helene Beatrice Heinrich

III

Heinrich Irene Friedrich Alexandra Nikolaus II Alice Alexander Victoria Leopold Moritz Alfons XIII

IV

Waldemar Heinrich Alexej Rupprecht Alfonso

. Abb. 13.29 Stammbaum der Nachkommen von Königin Victoria. Er zeigt das charakteristische Muster einer geschlechtsgekoppelten rezessiven Erb-
krankheit, der Hämophilie A. Männliche Nachkommen zeigen die Krankheit (dunkelgrün), während weibliche Nachkommen Überträgerinnen sind (rosa).
Die ersten Erkrankungen in diesem Familienstammbaum wurden in den Nachkommen von Königin Victoria beobachtet. Die Mutation muss daher entwe-
der in der Keimbahn der Mutter von Königin Victoria erfolgt sein oder in (frühen) mitotischen Zellen der Keimbahn von Königin Victoria, da mehrere ihrer
Kinder erkrankten bzw. Träger waren. Gesunde Familienmitglieder sind hellgrün gezeichnet. (Nach Vogel und Motulsky 1997, mit freundlicher Genehmi-
gung von Springer)

nen bezeichnet. Umgekehrt können Söhne erkrankter Väter das innere Blutungen neben der Bildung von großen Hämatomen
Krankheitsallel nicht von ihrem Vater erben (das eine X-Chro- (. Abb. 13.30) zu gefährlichen Blutverlusten führen.
mosom des Mannes kommt immer von seiner Mutter). Wir wol-
len uns hier auf zwei wichtige und bekannte Beispiele beschrän-
ken (Hämophilie A und Duchenne’sche Muskeldystrophie).
*Die Bekanntheit dieser Krankheit, obwohl ihre Häufigkeit
mit einem unter 7000 bis 10.000 Männern geringer ist als
die vieler anderer erblicher Defekte, beruht zum Teil darauf,
Hämophilie. Eine der wohl bekanntesten Erbkrankheiten des dass sie als Erbkrankheit in den europäischen Königsfami-
Menschen ist die Hämophilie A (OMIM 306700), eine X-gekop- lien weit verbreitet ist. Ihr Ursprung konnte bis zu Königin
pelte rezessive Krankheit, die auf einem Blutgerinnungsdefekt Victoria von England (1819–1901) zurückverfolgt werden,
beruht. Anhand der Bluterkrankheit (Hämophilie A) in europä- deren Sohn Leopold als erster Familienangehöriger an
ischen Fürstenhäusern ist in . Abb. 13.29 ein klassischer Stamm- Hämophilie A litt (. Abb. 13.29). Durch ihre Enkeltöchter,
baum für X-chromosomal-rezessive Krankheiten dargestellt. die als heterozygote Träger (engl. carrier) das rezessive Allel
Der Blutgerinnungsdefekt wird durch die fehlende Aktivität weitervererbten, gelangte es in das spanische und russische
eines Proteins – Blutgerinnungsfaktor VIII (Gensymbol: F8) – Königshaus. Der Ursprung des für die Hämophilie A verant-
verursacht. Dieses Protein ist als einer der vielen zur Blutgerin- wortlichen defekten Gens in dieser Familie ist nicht bekannt,
nung erforderlichen Faktoren unentbehrlich. Als Folge eines da es zuvor in der Familie nie aufgetreten war. Es ist also
defekten Gens können äußere Verletzungen oder auch spontane wahrscheinlich auf eine Mutation in einer der elterlichen
Keimzellen oder, weniger wahrscheinlich, sehr früh in der
Entwicklung der Keimzellen von Königin Victoria zurückzu-
führen. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten kann nicht
unterschieden werden, da nicht bekannt ist, ob Königin Vic-
toria selbst heterozygote Trägerin des Allels war. Jedenfalls
haben mindestens drei ihrer neun Kinder das Allel geerbt. In
den folgenden Generationen starben zehn ihrer männlichen
Nachkommen innerhalb von fünf Generationen an dieser
Krankheit. Das berühmteste Beispiel ist der Zarewitsch Ale-
xej, der Sohn Zar Nikolaus II von Russland und Alix von Hes-
sen-Darmstadt (Alexandra von Russland), der die Krankheit
von seiner Mutter erbte.

Wie wir aus dem Stammbaum ablesen können, kommen rezes-


sive X-gekoppelte Allele bei der Frau definitionsgemäß nicht
sichtbar zur Ausprägung, wenn das X-Chromosom heterozygot
ist (. Abb. 13.29). Hingegen spielt der rezessive Charakter in der
hemizygoten Konstitution des Mannes keine Rolle, da sich das
. Abb. 13.30 Hämophilie-A-Patient. Bei diesem Kind hat sich ein großes
Allel hier voll manifestieren kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass
Hämatom entwickelt. (Aus Tariverdian und Buselmaier 2004, mit freund- eine Frau homozygot ist, wird durch die Häufigkeit des Allels in
licher Genehmigung von Springer) Männern angezeigt (7 Abschn. 11.5.1): Ist die Häufigkeit 1/10.000
630 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

(10−4), so ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau heterozygote lich abweichen und zu längeren Menstruationszyklen mit
Trägerin ist, 1/5000 (2 × 10−4). Unterstellt man, dass das Allel höherem Blutverlust führen. Das Risiko, an einer Blutungs-
durch zufällige Partnerwahl weitervererbt wird, so ist die Häu- krankheit zu leiden, wird außerdem erhöht, wenn in Genen
figkeit, mit der Träger der Krankheit Kinder bekommen, für andere Blutgerinnungsfaktoren Polymorphismen oder
10−4 × 2 × 10−4. Homozygote Frauen sind also mit einer Wahr- heterozygote Mutationen vorhanden sind. Besonders häufig
scheinlichkeit von 0,5 × 2 × 10−8 = 10−8 zu erwarten, da nur die ist dabei das Gen des von-Willebrand-Faktors betroffen, der
Hälfte der Töchter aus einer solchen Verbindung das Hämophi- eng mit dem Faktor VIII assoziiert ist. Ein erhöhtes Risiko ist
lie-A-Allel der Mutter erhält. in diesen Fällen vor allem bei einer Schwangerschaft und
Geburt zu beachten (James 2010).
*Wenn wir allerdings die biochemischen Daten betrachten,
zeigen Frauen mit heterozygoter F8-Mutation im Durch- Das gesamte F8-Gen ist mit über 2000 kb sehr groß; aus 26
schnitt auch eine um ca. 50 % verminderte Aktivität des Fak- Exons entsteht eine mRNA von knapp 10 kb, die für ein Protein
tors VIII an. Aufgrund der zufälligen X-Inaktivierung können aus 2332 Aminosäuren codiert (. Abb. 13.31a). Durch Spaltung
die individuellen Werte davon nach oben und unten deut- mit Thrombin wird der inaktive Vorläufer in die aktive Form

a F8-Gen
(186 kb, 26 Exons)

F8-mRNA (9 kb)

F8-Protein
(2332 Aminosäuren)

Aktivierung durch
13 Thrombin

schwere Kette leichte Kette

. Abb. 13.31 Der Faktor VIII und sein Gen F8. a Vom Gen zum aktiven Protein: Die 26 Exons des F8-Gens werden in eine ca. 9 kb große mRNA übersetzt;
das reife Protein wird durch Thrombin in vier Fragmente gespalten (Pfeile an den Arginin[Arg]-Resten). Dabei wird die B-Domäne entfernt, und die drei ver-
bleibenden Fragmente (A1, A2 und A3-C1-C2) werden über Cu2+ komplexiert. b Eigenschaften und Wechselwirkungen des F8-Proteins: Es ist das gesamte
F8-Protein einschließlich des Signalpeptids (SP) am N-Terminus dargestellt; die Ziffern geben die jeweiligen Positionen der Aminosäuren an. Die Stellen für
die Wechselwirkungen mit anderen Faktoren der Gerinnungskaskade sind angegeben: PL: Phospholipide; VWF: von-Willebrand-Faktor; F9/F9a: (aktivierter)
Faktor 9; F10/F10a: (aktivierter) Faktor 10. Das Muster der glykosylierten Asparagin[Asn]-Reste ist für den Transport des F8-Proteins aus dem endoplasma-
tischen Reticulum wichtig (Quadrate: schwarz, glykosyliertes Asn; weiß, nicht glykosyliertes Asn; schwarz/weiß, teilweise glykosyliertes Asn; grau, potenziell
glykosyliertes Asn). Die sulphatierten Tyrosin[Tyr]-Reste (weiße Kreise) sind für die effiziente Aktivierung durch Thrombin an den benachbarten Schnittstel-
len wichtig; die Bildung der Disulfidbrücken (S-S) trägt zur richtigen Faltung des Proteins bei. (Nach Graw et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung der
Nature Publishing Group)
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
631 13
überführt; die B-Domäne des Proteins geht dabei verloren.
Mutationen, die zu Hämophilie A führen, können überall im
Gen vorkommen. Sie haben aber unterschiedlich starke Kon-
sequenzen für die Restaktivität des Faktors VIII und damit
für den Schweregrad der Erkrankung (0–2 %: schwer; 2–5 %:
mittel; 5–25 %: leicht). Der Faktor VIII bildet mit weiteren Kom-
ponenten der Blutgerinnungskaskade einen Komplex (. Abb. intrachromosomale
13.31b). Rekombination
Etwa die Hälfte aller schweren Fälle wird durch Inversionen
verursacht, wobei aufgrund von Sequenzhomologien Teile des
Introns 1 bzw. des Introns 22 mit Bereichen außerhalb des F8-
Gens in Wechselwirkung treten (. Abb. 13.32). Durch die Inver-
sion zwischen den jeweiligen Bruchpunkten werden funktionell
inaktive Proteine gebildet. Die »Intron-22-Inversion« weist auf . Abb. 13.32 F8-Intron-22-Inversion als häufigste Ursache einer schweren
ein interessantes Phänomen hin, nämlich auf die Anwesenheit Hämophilie A. Im Intron 22 befindet sich eine Region (A), die starke Se-
von zwei längeren Sequenzelementen am telomeren Ende des quenzhomologien zu zwei Regionen außerhalb des F8-Gens aufweist; sie
sind ebenfalls durch A gekennzeichnet, weisen aber eine umgekehrte Ori-
X-Chromosoms, die offensichtlich deutliche Homologien zu entierung auf (Pfeile). Durch intrachromosomales Crossing-over zwischen
einer Region im Intron 22 des F8-Gens aufweisen. den mit A gekennzeichneten antiparallelen Sequenzen kommt es nach

*Das
Bruch und Religation zur Inversion des Bereichs zwischen Exon 1 und
große Intron 22 enthält selbst noch zwei weitere Gene, Exon 22 des F8-Gens. Die Exons 23 bis 26 bleiben in ihrer ursprünglichen
die als F8A und F8B bezeichnet werden. Das F8A-Gen be- Orientierung und damit nach der Inversion vom Rest des Gens getrennt.
Diese Inversion ist für etwa 35–45 % der schweren Fälle von Hämophilie A
steht aus drei Exons; es ist in antisense-Orientierung zum F8-
verantwortlich. (Nach Bolton-Maggs und Pasi 2003, mit freundlicher Geneh-
Gen angeordnet. Im Gegensatz dazu hat das F8B-Gen diesel- migung von Elsevier)
be Orientierung wie das F8-Gen selbst und benutzt die
nachfolgenden Exons 23 bis 26 des F8-Gens. Diese Anord-
nung ist spezifisch für den Menschen; bei der Maus gibt es ter Gabe von Faktor VIII kann der Körper in vielen Fällen aller-
keine Gene im Intron 22. Die Expression des F8B-Gens in dings dazu gebracht werden, den exogenen Faktor VIII quasi als
transgenen Mäusen führt zu massiven Entwicklungsstörun- »körpereigenes Protein« zu erkennen.
gen, besonders im Auge (Valleix et al. 1999).

Die Therapie der Hämophilie A bestand in früheren Jahren zu-


*Zur Verbesserung der Therapie wird heute auch intensiv an
Verfahren einer somatischen Gentherapie gearbeitet. In
nächst in Bluttransfusionen. Mit fortschreitender Kenntnis der Hunden wurde ein Verfahren erfolgreich erprobt, bei dem
Biochemie gelang es, den Faktor VIII über verschiedene säulen- das F8-Gen ohne den Abschnitt, der für die B-Domäne
chromatographische Verfahren so weit zu reinigen, dass er ge- (. Abb. 13.31) codiert, in einen Vektor auf der Basis eines
friergetrocknet gelagert und in medizinisch überwachter Heim- Adeno-assoziierten Virus (AAV) kloniert und in der Leber
selbstbehandlung in kleinen Volumina intravenös appliziert exprimiert wurde. Durch kleine Veränderungen in der
werden kann. Wegen der kurzen Halbwertszeit (ca. 13 h) muss Sequenz konnte die Glykosylierung, Sekretion und Aktivität
dies daher bei schweren Fällen zur Vorbeugung von Blutungen des Faktor-VIII-Proteins optimiert werden. In Tierversuchen
etwa alle 2 bis 3 Tage wiederholt werden. Allerdings haben der werden auch zellbasierte Verfahren erprobt, wobei vor allem
Ausbruch von AIDS und unzureichende Kontrollen bei der Ver- das blutbildende System im Knochenmark im Zentrum der
wendung von Blutplasma bei der Herstellung der Präparate Ende Experimente steht. Weitere Details findet der interessierte
der 1980er-Jahre zu massiven HIV-Infektionen bei Bluterkran- Leser bei Monahan und Gui (2013).
ken und damit zu einer dramatischen Erhöhung der Todesrate
geführt. Heute werden viele Präparate gentechnologisch herge- Die Muskeldystrophien vom Typ Becker bzw. Duchenne sind
stellt, wobei sowohl bei den Zellkulturen (keine Wachstumsfak- klassische Beispiele für Pioniertaten in der Molekulargenetik
toren aus Rinderserum) als auch bei der Stabilisierung des gerei- einerseits und allelische Heterogenität andererseits. Die
nigten Faktors (kein Albumin aus Rinderserum) auf Komponen- Duchenne’sche Form (OMIM 310200) ist durch eine Muskel-
ten aus Rinderblut wegen einer möglichen BSE-Kontamination schwäche gekennzeichnet, die von den Beinmuskeln ausgehend
verzichtet wird. Insgesamt hat jedoch die Einführung der Heim- auf Rumpf und Schultergürtel übergreift. Es entwickelt sich
selbstbehandlung zu einer deutlichen Verbesserung der Lebens- schließlich eine Muskelatrophie, die dazu führt, dass die Kinder
qualität und Verlängerung der Lebensdauer der Hämophilie-A- mit ca. 12 Jahren einen Rollstuhl brauchen. Mit der Zeit werden
Patienten geführt. auch die Atemmuskeln schwächer und die Jugendlichen benöti-
Eine weitere wesentliche Komplikation bei der Hämophilie- gen Atemhilfen. Veränderungen am Herzmuskel werden bei etwa
Behandlung, die vor allem bei den schweren Fällen auftritt, ist die 90 % der Patienten beobachtet. Trotz verbesserter Therapiever-
Entwicklung von Antikörpern gegen den therapeutisch gegebe- fahren (z. B. intensive Kortison-Therapie) liegt die Lebenserwar-
nen Faktor VIII, womit dessen Wirkung zunächst zunichte ge- tung bei etwa 40 Jahren. Die Patienten sterben überwiegend an
macht wird. Durch eine lang dauernde Therapie mit stark erhöh- Atemwegserkrankungen; zweithäufigste Todesursache sind Herz-
632 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

nen in der Zellmembran verbindet (. Abb. 13.34b). Ein Verlust


dieser Funktion führt zur Zerstörung der Muskelfasern, zu Lecks
in der Zellmembran und zu Veränderungen in Signalkaskaden.

*Inmatischen
den letzten Jahren wurden verschiedene Ansätze einer so-
Gentherapie erprobt. Ausgangspunkt war zu-
nächst die Applikation von Dystrophin-DNA in einem Plas-
mid unter der Kontrolle des sehr aktiven CMV-Promotors. Zur
Optimierung wurden neue Adeno-assoziierte Viren mit ver-
größerter Verpackungskapazität und verkürzten Mikrodys-
trophin-DNAs im Tierversuch erprobt. Klinische Untersu-
chungen zeigten jedoch Störungen in der Immunantwort.
Zu neueren Technologien gehört die Entwicklung von anti-
sense-Oligonukleotiden, die das Spleißmuster verändern und
so dazu führen, dass die defekte Stelle aus der Dystrophin-
mRNA herausgeschnitten wird, ohne den Leserahmen zu
verändern. Das ist möglich, weil lange Abschnitte des Dystro-
phin-Gens redundant sind und ihr Verlust eine geringe Funk-
tionseinschränkung darstellt. Eine weitere Möglichkeit be-
steht darin, dass die Muskelzellen dazu gebracht werden, ein
vorzeitiges Stoppcodon zu überlesen. Klinische Studien deu-
ten an, dass das Antibiotikum Gentamycin in dieser Richtung
wirksam ist. Weitere Möglichkeiten in der vorklinischen Un-
. Abb. 13.33 Patient mit Duchenne’scher Muskeldystrophie im finalen tersuchung sind die Induktion der Expression von Dystro-
Stadium. (Nach Tariverdian und Buselmaier 2004, mit freundlicher Geneh- phin-ähnlichen Genen (z. B. Utrophin) in Muskelzellen oder
migung von Springer) zellbasierte Therapieverfahren (Rodino-Klapac et al. 2013).

> X-chromosomale rezessive Erbkrankheiten kommen im


probleme. Die Duchenne’sche Muskeldystrophie hat eine Häufig-
männlichen Geschlecht stets zur Ausprägung, im weibli-
keit von etwa 1:3500 neugeborenen Jungen und gehört damit zu
chen nur bei Homozygotie und daher mit wesentlich
13 den häufigsten schweren Erbkrankheiten (. Abb. 13.33).
geringerer Häufigkeit. Allele, deren Ausprägung vor dem
Der Becker’sche Typ (OMIM 300376) hat etwa das gleiche
Erreichen der Geschlechtsreife zum Tod des Individuums
Erscheinungsbild, jedoch einen gutartigeren und langsamer fort-
führen, können nur im heterozygoten Zustand weiterver-
schreitenden Verlauf; dieser Typ ist wesentlich seltener (1:20.000).
erbt werden und sind stets rezessiv.
Die Krankheit beginnt in der Regel jenseits des 10. Lebensjahres,
und Invalidität tritt erst im Alter von 40 oder 50 Jahren auf. Die Bei dem Fragilen-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom, OMIM
Lebenserwartung ist nur wenig verkürzt. Von medizinischer Sei- 309550) handelt es sich um eine X-gebundene, rezessive Krank-
te wird aber betont, dass es sich hier nicht um eine gutartige heit, die neben verschiedenen morphologischen Anomalien
Verlaufsform der Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, son- (. Abb. 13.35a) wie verlängertem Gesicht, abnormal großen Oh-
dern um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt (Tariverdian ren und großen Testes vor allem mit geistiger Retardierung, Hy-
und Buselmaier 2004). peraktivität und Autismus verbunden ist. Die Häufigkeit liegt bei
Beide Krankheiten sind auf dem X-Chromosom lokalisiert Männern bei ca. 1:5000. Der Defekt ist in der Region Xq27.3 lo-
(Xp21.2) und werden durch Mutationen im Dystrophin-Gen kalisiert, die sich – wie auch der Name anzeigt – durch eine hohe
(Gensymbol: DMD) verursacht. Das Dystrophin-Gen ist das mit Bruchempfindlichkeit des X-Chromosoms der Betroffenen aus-
Abstand größte Gen, das im Menschen für ein Protein codiert: zeichnet (. Abb. 13.35b). Auffallend ist der Erbgang dieser
Seine 79 Exons bedecken etwa 2,6 Mio. bp (. Abb. 13.34a). Diese Krankheit: Als Besonderheit ist das Vorkommen von männli-
Größe macht es anfällig für Rearrangements und Rekombina- chen Überträgern zu bezeichnen. Bei diesen Männern kommt
tionen, die zu Mutationen führen. In den meisten Fällen sind die die Krankheit trotz ihrer hemizygoten Konstitution nicht zur
Mutationen Deletionen von einem oder mehreren Exons (60 %); Ausprägung. In deren Töchtern zeigen sich ebenfalls keine An-
daneben werden auch Punktmutationen (32 %), Duplikationen zeichen der Krankheit. In den männlichen Nachkommen der
(6 %) und Translokationen gefunden. Im Allgemeinen kann man folgenden Generation kommt sie aber mit einer Häufigkeit von
sagen, dass Mutationen, die den offenen Leserahmen unterbre- 40 %, in Männern der übernächsten Generation mit der norma-
chen und die zu einem vorzeitigen Abbruch der Dystrophin-Syn- lerweise zu erwartenden Häufigkeit von 50 % zum Ausbruch.
these führen, eine Duchenne’sche Muskeldystrophie verursachen. Die Erklärung dieses ungewöhnlichen Erbgangs besteht da-
Mutationen, die den Leserahmen nicht verändern, resultieren rin, dass im nicht-translatierten Teil des ersten Exons des FMR1-
eher in der milderen Form der Becker’schen Muskeldystrophie. Gens (engl. fragile X mental retardation) eine (CGG)n-Wieder-
Das Dystrophin ist ein bedeutendes Strukturelement in den holungseinheit vorhanden ist. Die Anzahl der CGG-Repeats
Muskelzellen, das die Proteine des internen Cytoskeletts mit de- variiert und ist bei Patienten mit Fragilem-X-Syndrom mehr als
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
633 13
a

. Abb. 13.34 Dystrophin: Gen und Protein. a Das Dystrophin-Gen wird in verschiedenen Geweben durch unterschiedliche Promotoren gesteuert (z. B. B: Ge-
hirn, M: Muskel, P: Purkinje-Zellen). Das jeweils erste Exon ist beige, gemeinsame Exons sind blau und nicht-translatierte Exons sind türkis dargestellt. Die Pfeile
deuten den Transkriptionsstart an, und die rote Box markiert einen charakterisierten Enhancer. Die entsprechenden Dystrophin-Proteine (Dp) sind mit ihrem
Molekulargewicht (in kDa) angegeben. b Schematische Darstellung des Dystrophin-Glykoprotein-Komplexes (DGC) und Etiologie der Muskeldystrophie: Dys-
trophin steht im Skelettmuskel in Wechselwirkung mit cytoplasmatischen, Transmembran- und extrazellulären Proteinen. Mutationen im Dystrophin-Gen und
in Genen, die für andere Komponenten des DGCs codieren, verursachen Muskeldystrophien. BMD: Becker’sche Muskeldystrophie; CMD: congenitale Muskel-
dystrophie; CYS: Cystein; DG: Dystroglykan; DMD: Duchenne’sche Muskeldystrophie; LGMD: Muskeldystrophie des Schulter- und Beckengürtels (engl. limb-girdle
muscular dystrophy); NOS: Stickoxid-Synthase. (Nach Khurana und Davies 2003, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

200-mal vorhanden, während Gesunde nur 6 bis 54 Kopien der tation (engl. premutation). Die Häufigkeit der Prämutationen
CGG-Wiederholungseinheit besitzen (. Abb. 13.36). In Über- wird mit 1:259 bei Frauen und 1:813 bei Männern angegeben;
trägern ist eine Vergrößerung des fraglichen DNA-Bereichs auf 55 Vollmutationen werden nur durch Frauen übertragen. Das Fragi-
bis 200 Wiederholungseinheiten festzustellen, der in den folgen- le-X-Syndrom gehört damit zur Gruppe der »dynamischen Mu-
den Generationen weiter ausgedehnt wird (über 200-fache Wie- tationen« bzw. der »expandierenden Triplettmutationen«, die wir
derholungen) und erst dann zur Ausprägung der Krankheit führt. bereits im 7 Abschn. 10.3.3 allgemein und im 7 Abschn. 10.3.2
Das Anwachsen der Länge des DNA-Bereichs auf eine Länge, die spezifischer besprochen haben (Huntington’sche Erkrankung).
noch keine pathologischen Effekte zur Folge hat (zwischen 55 und Das FMR1-Gen ist in vielen Geweben des Embryos und des
200 CGG-Wiederholungseinheiten), bezeichnet man als Prämu- erwachsenen Menschen exprimiert; seine höchste Konzentration
634 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

. Abb. 13.35 Fragiles-X-Syndrom. a Es sind die charakteristischen Merk-


male im Gesicht eines heranwachsenden Jungen mit fragilem X-Syndrom
zu sehen: langes, schmales Gesicht, prominente Stirn, Kiefer und Ohren.
b Die Metaphasechromosomen zeigen die auffälligen Einschnürungen am
Ende des langen Arms des X-Chromosoms (Pfeile), die für Patienten mit
Fragilem-X-Syndrom charakteristisch sind. (Nach Buselmaier und Tariverdian
2007, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

a b

erreicht es im Gehirn. Das FMR1-Genprodukt FMRP (FMR- der mRNA an die entsprechenden Ribosomen beteiligt. In Neu-
Protein) ist ein selektiv RNA-bindendes Protein, das verschiede- ronen ist das FMRP mit der Translationsmaschinerie in den
ne RNA-bindende Domänen enthält, die als KH- bzw. RGG- Dendriten assoziiert; es wird diskutiert, dass es eine wichtige
Domäne bezeichnet werden; es zirkuliert zwischen dem Zellkern Rolle bei der neuronalen Reifung spielt.
und Cytoplasma. Im Cytoplasma ist das FMRP an mRNA gebun- Es ist bekannt, dass die räumliche Regulation der Proteinsyn-
den (Ribonukleoprotein-Komplex) und mit Polyribosomen oder these für das Zellwachstum, die Zellpolarität und das Manage-
Ribosomen des endoplasmatischen Reticulums assoziiert. FMRP ment der synaptischen Plastizität verantwortlich ist (wichtig für
13 bindet an ca. 4 % der mRNA des Gehirns und ist am Transport Lern- und Gedächtnisleistungen). In betroffenen Männern wird

Aminosäuren
100 200 300 400 500 600

I304N S499

CGG

< 45 Wiederholungen
häufig
45–54 Wiederholungen } gesund
Allele

Zwischenstufe
55–200 Wiederholungen
Prämutation
> 200 Wiederholungen
Vollmutation

100 200 300


Länge der CGG-Wiederholungseinheiten

. Abb. 13.36 Das FMR1-Gen und sein Protein. Oben sind die Positionen verschiedener Domänen (grün) und von zwei wichtigen Aminosäuren (rot) im
FMR1-Protein angegeben: NLS: Kernlokalisationssignal; NES: Kernexportsignal; KH/RGG: RNA-bindende Domänen. I304N: Mutation, die die Bindung des
FMR1-Proteins an Polysomen verhindert und zum Fragilen-X-Syndrom führt; S499: phosphoryliertes Serin. Das FMR1-Gen (Mitte) enthält 17 Exons und wird
alternativ gespleißt (durchgezogene Linien); die codierenden Bereiche sind blau und die nicht-translatierten Regionen grau. Die gepunkteten Linien verbin-
den die wichtigsten Proteindomänen mit den entsprechenden Exons. Unten ist die Länge der CGG-Wiederholungseinheiten gezeigt. Die CGG-Wiederho-
lung befindet sich im 5’-nicht-translatierten Bereich des 1. Exons. Die häufigen Allele und die gesunde Zwischenstufe (< 55 Wiederholungseinheiten) sind
angedeutet; ebenso die Prämutation der Überträger (55–200 Wiederholungen) sowie die Vollmutationen (> 200 CGG-Wiederholungseinheiten), die zum
Fragilen-X-Syndrom führen. (Nach Bassell und Warren 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
635 13
eine Methylierung des CGG-Bereichs und des Promotors des Y-Chromosomen haben sich in vielen verschiedenen Gruppen
FMR1-Gens beobachtet, die in gesunden Männern fehlt. Ver- von Tieren und Pflanzen unabhängig entwickelt; die Y-Chromo-
bunden ist diese Hypermethylierung offenbar mit einer Inakti- somen der Säuger haben einen gemeinsamen Ursprung, aber
vierung des betroffenen Gens und damit mit einem Funktions- nichts gemeinsam mit den entsprechenden Chromosomen in
verlust des FMRP, da die pathologisch expandierten Tripletts mit Vögeln oder Drosophila. Insgesamt sind die Y-Chromosomen
einer verminderten Transkription des FMR1-Gens verbunden reich an repetitiver DNA (transponierbare Elemente und Satel-
sind. Die pleiotropen Effekte des Fragilen-X-Syndroms lassen liten-DNA), wie wir es oft in genomischen Regionen geringer
sich über den gestörten mRNA-Metabolismus erklären, wenn Rekombinationshäufigkeit finden; ein großer Teil des Y-Chro-
das FMRP nicht oder nicht in genügendem Maße zu Verfügung mosoms ist heterochromatisch. Einen Überblick über die heuti-
steht (für einen ausführlichen Übersichtsartikel sei auf die Arbeit gen Vorstellungen der Evolution des menschlichen Y-Chromo-
von D’Hulst und Kooy 2009 verwiesen). soms gibt . Abb. 13.37.
Obwohl Y-chromosomale Merkmale leicht zu erkennen sind,
> Die Ausprägung des Fragilen-X-Syndroms beruht auf einer
spielen sie keine große Rolle in der Humangenetik. Ursache hier-
funktionellen Inaktivität des FMR1-Gens, die auf der Vermeh-
für ist die relativ geringe Anzahl von Genen, die auf dem Y-Chro-
rung von CGG-Tripletts innerhalb des Gens beruht. Die Inak-
mosom liegen; im spezifisch männlichen Teil des Y-Chromo-
tivität des FMR1-Gens ist durch die Methylierung des CGG-
soms (~ 60 Mb, davon nur ~ 35 Mb euchromatisch) kennen wir
Tripletts verbunden, die auch den Promotorbereich erfasst.
158 Transkriptionseinheiten (zum Vergleich: Das X-Chromo-
som umfasst etwa 160 Mb und enthält ca. 1000 Gene). Hinzu
kommt, dass das Y-Chromosom an seinen beiden Enden je eine
13.3.4 Y-chromosomale Gene Region mit Homologie zum X-Chromosom beherbergt (pseu-
doautosomale Regionen, PAR) (. Abb. 13.38). Diese Bereiche
Zu den geschlechtsgekoppelten Merkmalen zählen natürlich können mit den entsprechenden Regionen des X-Chromosoms
auch solche auf dem Y-Chromosom. Y-chromosomale Merk- rekombinieren und unterscheiden sich damit nicht von der Situ-
male erkennt man dadurch, dass stets nur männliche Nachkom- ation von Autosomen; die entsprechenden Merkmale kommen
men Träger dieses Merkmals sind und es – im Gegensatz zu X- also nicht geschlechtsgekoppelt zur Ausprägung.
chromosomalen Merkmalen (7 Abschn. 13.3.3) – stets auch zur Die codierenden Sequenzen auf dem Y-Chromosom können
Ausprägung bringen. Insofern ist das Y-Chromosom ein sehr in zwei Gruppen eingeteilt werden, nämlich diejenigen, die noch
bizarrer Teil des menschlichen Genoms: ein großer Block von Homologien zu Genen auf dem X-Chromosom aufweisen, und
DNA, der weitgehend nicht rekombiniert, permanent in hemi- solchen, die dies nicht haben. Zur ersten Gruppe gehören 27
zygotem Zustand gehalten und ausschließlich durch Männer Gene, davon sind allerdings schon 13 zu Pseudogenen degene-
weitergegeben wird. Man geht davon aus, dass die X- und Y- riert. Eines der am besten untersuchten Gene dieser ersten Grup-
Chromosomen ursprünglich homologe Chromosomen waren, pe ist das ursprünglich als TDF (engl. testis determining factor)
und sich vor ca. 300 Mio. Jahren voneinander getrennt haben; bezeichnete, jetzt SRY genannte Gen (engl. sex determining region
heute ist das Y-Chromosom aufgrund mangelnder Rekombina- on Y); das entsprechende Gen auf dem X-Chromosom ist SOX3.
tion mit dem Partnerchromosom weitgehend degeneriert. Die SRY hat eine entscheidende Bedeutung für die männliche Ge-

Fünfte große
Vierte große Expansion der
Geschlechts- Expansion der NRY (AMELY,
chromosomen, Zweite große Dritte große NRY (CASKP, ARSDP, ARSEP,
NRY treten auf Expansion der Expansion der DBY, E/F1aY, GYG2P, KALP, X-Y-
(SRY beendet NRY (RBMY, NRY (SMCY, Translokation TB4Y, UTY, PRKY) Translokation
Rekombination RPSAY) UBE1Y) vergrößert PARp ZFY) ~30–50 Mio. J. etabliert PCDHY
~290–350 Mio. J. ~290–350 Mio. J. ~130–170 Mio. J. ~80–130 Mio. J. ~80–170 Mio. J. ~3–4 Mio. J.

Autosomen- XY XY XY XY XY XY XY
Paar Mensch

Autosomen in XY in XY in XY in nicht- XY in nicht-


Vögeln Kloakentieren Beuteltieren anthropoiden hominiden
Plazenta-Tieren Anthropoden

. Abb. 13.37 Evolution des menschlichen Y-Chromosoms. Gezeigt sind die Verkürzung des Y-Chromosoms und die blockweise Ausweitung seiner nicht-
rekombinierenden Regionen (NRY). Die wichtigsten Ereignisse sind angegeben und zeitlich grob geschätzt (in Mio. Jahren). Neue nicht-rekombinierende
Gene sind in Klammern gesetzt und die phylogenetischen Verzweigungen durch Pfeile angedeutet. In den blauen Regionen ist freie Rekombination mög-
lich (pseudoautosomale Regionen); die roten Bereiche sind spezifisch für das Y-Chromosom und erlauben keine Rekombination. Die kleine grüne Region am
distalen Ende repräsentiert die PCDHX/Y-Sequenz (Protocadherin X/Y), die vom X-Chromosom auf das Y-Chromosom übertragen wurde (andere ebenso
wahrscheinliche Translokationen wurden der Einfachheit wegen weggelassen). Die Abbildung ist nicht maßstabsgerecht gezeichnet; die Centromere
wurden weggelassen, da ihre Lokalisierung in vielen Stadien des Evolutionsprozesses unklar ist. (Nach Lahn et al. 2001, mit freundlicher Genehmigung der
Nature Publishing Group)
636 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

13.2.1 bereits als 45,X0-Karyotyp kennengelernt. Das Turner-


SRY Syndrom kann als Verlust eines X-Chromosoms angesehen wer-
RPS4Y den (bezogen auf XX-Frauen), aber auch als Verlust eines Y-Chro-
ZFY
mosoms (bezogen auf XY-Männer). Insbesondere für die unter-
PCDHY setzte Statur der Turner-Patientinnen wird der Mangel eines Gens
TTY1 verantwortlich gemacht, SHOX (engl. short stature homebox). In
TSPY der Maus, deren Degeneration des Y-Chromosoms schon weiter
vorangeschritten zu sein scheint, gibt es jedenfalls bei X0-Indivi-
AMELY
11.3
PRY duen keinen dermaßen hervorstechenden Phänotyp.
Euchromatische

TTY1 Die männliche Unfruchtbarkeit kommt bei Männern mit ei-


11.2 TTY2
Region

11.1 TSPY ner Häufigkeit von 1:1000 vor und ist im Wesentlichen durch
11.1
USP9Y Fehler der Spermatogenese verursacht; davon wiederum entste-
11.2 DBY hen etwa 10 % der Fälle durch neue Deletionen im Y-Chromo-
AZFa

UTY
TB4Y som. Die häufigste Deletion wird im Bereich des AZFc-Clusters
Heterochromatische

beobachtet.
12 VCY
CDY
> Die Anzahl Y-chromosomaler Merkmale ist gering. Sie
Region

XKRY
SMCY treten nur im männlichen Geschlecht auf. Das wichtigste
EIF1AY Gen auf dem Y-Chromosom bestimmt das männliche
Y
AZFb

RBMY
PRY Geschlecht (SRY), einige weitere sind für die Fertilität der
TTY2 Spermien notwendig.

*Damosomen
DAZ RBMY
weite Teile des Y-Chromosoms nicht mit anderen Chro-
AZFc

BPY2
PRY
CDY rekombinieren, wurde lange Zeit davon ausge-
gangen, dass das menschliche Y-Chromosom in etwa 5 bis
10 Mio. Jahren nicht mehr existieren würde; der beobachte-
te Genverlust in der Evolution unterstützte diese Hypothese.
Neuere Daten zeigen aber, dass vor etwa 200.000 Jahren
. Abb. 13.38 Aktive Gene des menschlichen Y-Chromosoms. Die Gene auf
acht Regionen größere Palindrome ausgebildet haben, die
der rechten Seite des Chromosoms haben aktive Homologe auf dem X-Chro-
mosom, wohingegen die Gene auf der linken Seite spezifisch für das Y-Chro- untereinander durch Genkonversion Sequenzelemente aus-
13 mosom sind. Gene in Rot sind in vielen Geweben exprimiert (»Haushalts- tauschen können. Möglicherweise entwickeln sich hier neue
gene«); Gene in Schwarz sind nur in den Testes exprimiert, und Gene in Funktionsbereiche auf dem Y-Chromosom.
Grün sind weder allgemein noch Testes-spezifisch exprimiert; AMELY (Ame-
logenin Y) wird in den sich entwickelnden Zähnen exprimiert, wohingegen
PCDHY (Protocadherin Y) im Gehirn exprimiert wird. Mit Ausnahme von SRY
(engl. sex-determining region Y) liegen alle Testes-spezifischen Gene in meh- 13.3.5 Mitochondriale Erkrankungen
reren Kopien vor; einige dieser Familien bilden dichte Cluster. AZFa, AZFb
und AZFc (Azoospermie-Faktoren) markieren drei Regionen, die bei un- Wie wir bereits in 7 Abschn. 5.1.4 gesehen haben, verfügen die
fruchtbaren Männern häufig deletiert sind. Bereiche auf dem Chromosom: Mitochondrien über ein eigenes ringförmiges Genom von
gelb: euchromatische Region der nicht rekombinierenden Region (NRY);
16.569 bp, das für 37 Gene codiert (13 Gene für die Atmungs-
schwarz: heterochromatischer Anteil des NRY; grau: Centromer; rot: pseudo-
autosomale Regionen (die Gene wurden aus Gründen der Vereinfachung kette, 2 rRNA-Gene, 22 tRNA-Gene). Die meisten Proteine der
weggelassen). (Nach Lahn et al. 2001, mit freundlicher Genehmigung der Mitochondrien werden zwar im Kerngenom codiert (etwa 1500
Nature Publishing Group) Gene), dennoch wollen wir uns wegen einiger Besonderheiten
der mitochondrialen Vererbung in diesem Kapitel auf die Gene
schlechtsbestimmung (7 Abschn. 12.6.5) und wirkt offenbar mit des mitochondrialen Genoms beschränken. Da die Mitochon-
einer Reihe autosomaler Gene (z. B. SOX9 und DAX1) zusam- drien nur über die Eizellen vererbt werden (und die Samenzellen
men. Mehrere weitere Y-chromosomale Gene, die AZF-Gene bei der Befruchtung keine Mitochondrien weitergeben), spre-
(engl. azoospermic factor), sind für die männliche Fertilität von chen wir von einem matrilinearen Erbgang. Wie wir in . Abb.
Bedeutung. Wir unterscheiden drei Cluster von AZF-Genen 13.39a sehen, unterscheidet sich dieser Erbgang von den bisher
(a–c; . Abb. 13.38). Zu ihnen gehören auch RBMY (abgeleitet besprochenen: Ähnlich wie bei einem X-gekoppelten Erbgang
von engl. RNA-binding motif on Y) und DAZ (engl. deleted in wird die Erkrankung immer über die Mutter vererbt, aber es sind
azoospermia). Beide Gene enthalten Sequenzmotive in den abge- in der Regel Männer und Frauen in gleicher Weise betroffen. Da
leiteten Proteinsequenzen, wie sie für Proteine charakteristisch eine Zelle aber über Hunderte oder 1000 Mitochondrien verfügt,
sind, die an RNA binden. DAZ gehört allerdings zur zweiten tragen nicht alle Mitochondrien die Mutation; in diesem Fall
Gruppe von Genen, die keinerlei Homologie zu Bereichen des sprechen wir von Heteroplasmie (die DNA der Mitochondrien
X-Chromosoms aufweisen. einer Zelle unterscheidet sich). Eine homoplasmische Zelle da-
Zwei Krankheiten korrespondieren mit zwei Genklassen auf gegen enthält nur Mitochondrien einer einheitlichen DNA-Se-
dem Y-Chromosom, das Turner-Syndrom und die männliche quenz. Ein Beispiel für das unterschiedliche Ausmaß der Hetero-
Unfruchtbarkeit. Das Turner-Syndrom haben wir im 7 Abschn. plasmie in einer Familie zeigt . Abb. 13.39b: Bei der gesunden
13.3 · Monogene Erbkrankheiten
637 13

a b
. Abb. 13.39 Stammbaum einer mitochondrialen Erkrankung. a Ein Stammbaum einer chinesischen Familie über vier Generationen zeigt die matrilineare
Form der Vererbung einer nicht-syndromischen Hörschädigung. Es sind Männer und Frauen betroffen; die Penetranz der Erkrankung ist unvollständig. Die
mit Stern gekennzeichneten Kinder wurden mit einem Aminoglykosid-haltigen Antibiotikum behandelt, das bei vorhandener Mutation in der mitochon-
drialen DNA zu Taubheit führt. Die Pfeilspitze kennzeichnet den ursprünglichen Probanden der Studie. b Stammbaum einer kleinen heteroplasmatischen
Familie über drei Generationen mit einer Mutation in der mitochondrialen DNA, die zur Leber’schen Opticusneuropathie führt (. Abb. 13.42). Die Prozent-
zahlen geben den Anteil der mutierten mitochondrialen DNA im Blut an. (a nach Liao et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier; b nach
Huoponen 2001, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

Mutter des Patienten tragen nur etwa 0,5 % der Mitochondrien glieder einer Familie erkranken, als man bei der formalen An-
die Mutation; eine ungünstige Verteilung der betroffenen Mito- wendung Mendel’scher Regeln erwarten würde; wir sprechen
chondrien bei der Entwicklung der Oocyten führt aber dazu, deswegen von einer verminderten (oder unvollständigen) Pe-
dass etwa 50 % der Mitochondrien ihres Sohnes die Mutation netranz (was die Analyse dieses Erbgangs schwierig macht).
tragen und es deswegen zum Ausbruch der Erkrankung kommt. Mitochondriale Mutationen betreffen in besonderer Weise
Diese unterschiedliche Verteilung führt dazu, dass weniger Mit- den Energiestoffwechsel der Zellen (. Abb. 13.40). Sie machen

. Abb. 13.40 Drei Kennzeichen des mitochondrialen Metabolismus mit besonderer Bedeutung für die Pathophysiologie von Erkrankungen. 1. Die Ener-
gieproduktion durch oxidative Phosphorylierung, 2. die Entstehung reaktiver Sauerstoffmoleküle (Superoxid-Anion, OH-Radikale) als Nebenprodukt der
oxidativen Phosphorylierung und 3. die Regulation der Apoptose. Erklärung der wichtigsten Abkürzungen: I, II, III, IV und V: Komplexe I–V der oxidativen
Phosphorylierung; AIF: Apoptose-induzierender Faktor; ANT: Adeninnukleotid-Translokator; BD: Benzodiazepin-Rezeptor; CD: Cyclophilin D; CoQ: Ubiqui-
non; CytC: Cytochrom c; EndoG: Endonuklease G; GPx: Glutathion-Peroxidase; LDH, Lactatdehydrogenase; MnSOD: Mangan-abhängige Superoxiddismuta-
se; PDH: Pyruvatdehydrogenase; TCA: Tricarbonsäure-Zyklus; VDAC: spannungsabhängiger Anionenkanal. (Nach Wallace 2005, mit freundlicher Genehmi-
gung von Elsevier)
638 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

DEAF 1555 F T
D-Loop
V 12S-
rRNA P Cyt b
LHON 14484
0
Amerika A LDYS 14459
E ND6
16S-
rRNA
MELAS 3243
L
LHON 3460 ND5
Amerika C
ND1 Afrika L L
S
I Q H
ADPD 4336 M Amerika D
ND4
ND2
AN Asien F
C Europa H LHON 11778
W Y ND4L
Amerika B,
Asien B ND3
R LHON 10663
PC 6252 COI S
COIII G
COII ATPase6
PC 6261
D
PC 6340 K
PC 6663 ATPase8
NARP 8993 / Leig‘s 8993
MERRF 8344

. Abb. 13.41 Erbkrankheiten durch Mutationen in der mitochondrialen DNA. Die zirkuläre Anordnung der mitochondrialen DNA und die Darstellung der
Gene bzw. Kontrollregionen (sowie deren Abkürzungen) entsprechen weitgehend der . Abb. 5.7. Die Buchstaben innen und außen deuten die tRNA-Gene
für die jeweiligen Aminosäuren an (im Ein-Buchstaben-Code; siehe Einband-Innenseite). Die Pfeile im Inneren, gefolgt von Kontinentbezeichnungen mit
13 Buchstaben, zeigen die Positionen von Polymorphismen an, die in der jeweiligen geographischen Region vorherrschend sind. Die Pfeile außerhalb des
Kreises deuten die Positionen repräsentativer pathogener Mutationen an (Zahl: Nukleotidposition der Mutation). DEAF: Taubheit; MELAS: mitochondriale
Encephalomyopathie, Lactat-Acidose und Schlaganfall-ähnliche Episoden; LHON: Leber’sche erbliche Opticusneuropathie; ADPD: Alzheimer’sche und
Parkinson’sche Erkrankungen; MERRF: Myoklonische Epilepsie mit zottigen roten Muskelfasern (engl. ragged red fibers); NARP: Neuropathie, Ataxie und Reti-
nitis pigmentosa; LDYS: LHON mit Dystonie; PC: Prostatakrebs. (Nach Wallace 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

sich daher besonders in solchen Geweben zuerst bemerkbar, die tig). Typischerweise sind Männer im Alter von 23 bis 26 Jahren
einen hohen Energiebedarf haben. Dazu zählen das Gehirn (ein- betroffen. Die molekularen Ursachen sind in den meisten Fällen
schließlich der Retina), das periphere Nervensystem, die Musku- eine von drei Mutationen (11778G→A im ND4-Gen [56 %],
latur (Skelett- und Herzmuskel), Leber und Nieren. Eine reprä- 3460G→A im ND1-Gen [31 %] oder 14484T→C im ND6-Gen
sentative Übersicht über Mutationen und dazugehörige Krank- [6,3 %]); es sind 15 weitere Mutationen in der mtDNA beschrie-
heitsbilder gibt . Abb. 13.41. ben. Ein Beispiel für die Degeneration der Ganglienzellschicht in
Das MELAS-Syndrom (OMIM 540000) umfasst eine mito- der Retina eines LHON-Patienten ist in . Abb. 13.42 gezeigt.
chondriale Encephalomyopathie, Lactat-Acidose und Schlagan-
fall-ähnliche Episoden, die schon im Alter von 4 bis 15 Jahren be-
ginnen. Das Krankheitsbild kann auch verbunden sein mit Klein-
*Mutationen im Mitochondriengenom somatischer Zellen
haben vielfältige Auswirkungen auf altersabhängige Prozes-
wuchs, Diabetes und Migräne; die Expressivität ist innerhalb einer se und neurodegenerative Erkrankungen. Durch die Aktivi-
Familie sehr variabel. Die molekulare Ursache ist eine Punkt- tät der Atmungskette ergibt sich eine relativ hohe Konzen-
mutation (3243A→G) im tRNALeu-Gen. Das MERRF-Syndrom tration reaktiver Sauerstoffspezies, die zu Strangbrüchen an
(engl. myoclonic epilepsy with red-ragged fibers; OMIM 545000) ist der mitochondrialen DNA führen kann. Es gibt zunehmend
charakterisiert durch Myoklonusepilepsien (kurze ruckartige Hinweise darauf, dass Störungen in der oxidativen Phospho-
Muskelzuckungen), Demenz, Taubheit, Ataxie und Neuropa- rylierung, besonders im Komplex I, mit der Alzheimer’schen
thien. Die molekulare Ursache ist eine Punktmutation (8344G→A) und Parkinson’schen Erkrankung (7 Abschn. 14.5.2 und
im tRNALys-Gen. Die erbliche Leber’sche Opticusneuropathie 7 Abschn. 14.5.3) in Verbindung stehen. Das betrifft sowohl
(engl. Leber hereditary optic neuropathy, LHON; Häufigkeit: mögliche Mutationen in der mitochondrialen DNA als auch
1:10.000; OMIM 535000) betrifft nur den Sehnerv und führt zu in Genen, die für Proteine codieren, die mit Mitochondrien
einem plötzlichen Visusverlust (zuerst einseitig, später beidsei- bzw. mitochondrialen Proteinen in Wechselwirkung treten.
13.4 · Komplexe Erkrankungen
639 13

a b

. Abb. 13.42 Horizontalschnitt einer Retina (Färbung mit Hämatoxylin und Eosin). a Kontroll-Retina mit retinalen Ganglienzellen und Nervenfaserschich-
ten zwischen den Pfeilen. b Die Retina eines Patienten mit Leber’scher Opticusneuropathie (LHON/3460) zeigt einen deutlichen Verlust an retinalen Gang-
lienzellen und Nervenfaserschichten (zwischen den Pfeilen). (Nach Carelli et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Diese Untersuchungen sind aber noch nicht so weit fortge- einigen Fällen schon klar herausgearbeitet worden sind. Eine
schritten, dass allgemeingültige Schlüsse und therapeuti- wichtige Methode in diesem Kontext ist die genomweite Asso-
sche Ansätze abgeleitet werden können (Morán et al. 2012). ziationsstudie (GWAS), die wir allgemein bereits im einführen-
den Abschnitt über genetische Epidemiologie besprochen haben
> Mutationen in der mitochondrialen DNA werden matri- (7 Abschn. 13.1.4). Dabei haben wir auch verschiedene Modelle
linear vererbt und führen zu Erkrankungen, die überwie- diskutiert, wie viele Gene zum Entstehen von Volkskrankheiten
gend Gewebe mit hohem Energiebedarf betreffen (Gehirn beitragen. Ein entscheidendes Argument dabei ist die Häufigkeit
einschließlich der Retina, das periphere Nervensystem, der Risiko-Allele in der untersuchten Population, sodass der je-
die Muskulatur, Leber und Nieren). Wegen des heteroplas- weilige ethnische Hintergrund oft einen wichtigen Faktor dar-
mischen Zustands vieler Zellen zeigen diese Erkrankun- stellt. Wir werden im Folgenden sehen, dass es kein einheitliches
gen häufig verminderte Penetranz. Erklärungsmuster gibt, sondern in vielen Fällen Mischformen,
wobei ein oder zwei Gene mit ihren Allelen einen hohen Anteil
zur Krankheit beitragen, andere Gene einen mittleren und wie-
13.4 Komplexe Erkrankungen der andere Gene nur einen geringen Beitrag leisten. Und abhän-
gig von verschiedenen Kultur-, Umwelt- und Lebensstilfaktoren
Viele Krankheiten lassen sich nicht dem klassischen Muster kann sich dieses Muster selbstverständlich verschieben. In die-
»mendelnder« Erbgänge zuordnen. Man beobachtet zwar eine sem Kontext spielen dann häufig auch epigenetische Aspekte
familiäre Häufung, die aber nicht den Erwartungen einfacher eine wichtige Rolle (7 Kap. 8).
rezessiver oder dominanter Erbgänge entspricht. Diese komple-
xen Erkrankungen umfassen multifaktorielle Merkmale (Inter-
aktion zwischen Genen und Umwelt, z. B. Körperhöhe, Gewicht, 13.4.1 Gene und Krebs
Intelligenz, Hautfarbe, Fruchtbarkeit) und polygene Merkmale
(Zusammenspiel vieler Gene, z. B. Brustkrebs, Asthma, Hyper- Eine Krebszelle unterscheidet sich von einer gesunden Zelle
tonie [15–20 %], Diabetes mellitus [4–5 %], Alkoholismus). durch ihre unbegrenzte Teilungsfähigkeit (unabhängig von
Diese Erkrankungen zeigen eine kontinuierliche Variabilität. Die Wachstumsfaktoren; Fehlen von Wachstumsbegrenzungen wie
genetische Prädisposition bildet den Rahmen für ein Gesamt- z. B. Kontaktinhibition). Krebsgewebe hat die Fähigkeit, in ge-
bild, das durch Umwelteinflüsse mitgestaltet wird. Pathologische sundes Gewebe einzuwandern und eine neue Kolonie außerhalb
Abweichungen vom Normbereich werden durch Festlegung em- des ursprünglichen Gewebeverbands zu gründen (Metastasie-
pirischer Grenzwerte definiert. rung). Ursachen dafür sind Mutationen, die bestimmte Signal-
Wir haben im Kapitel über die formalen Aspekte der Genetik wege an- oder ausschalten. Mutationen können die Körperzellen
(7 Abschn. 11.3.4) bereits einen Eindruck von der Schwierigkeit und die Keimzellen betreffen; die entsprechenden Tumoren un-
erhalten, die Einzelkomponenten solcher Krankheiten zu cha- terscheiden sich im Zeitpunkt ihres Auftretens und ihrer Organ-
rakterisieren. In diesem Abschnitt wollen wir von der Seite der spezifität. Wir können zunächst drei Gruppen von Genen unter-
Krankheit her einige Beispiele vorstellen (Krebs, Asthma und scheiden: Onkogene, Tumorsuppressorgene und Mutator-
Diabetes). Dabei wird deutlich, dass die genetischen Aspekte in gene. In jeder dieser drei Gruppen finden wir eine Vielzahl von
640 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Genen, die in unterschiedlichem Ausmaß zu den verschiedenen diese Krebserkrankung bei Jungfrauen und Nonnen selten
Krebserkrankungen beitragen, sodass wir allein dadurch ein re- vorkam. Eine Vielzahl von Untersuchungen kulminierte
lativ hohes Maß an Komplexität vorfinden. Die hier vorgenom- schließlich Anfang der 1980er-Jahre in molekulargeneti-
mene Gliederung stellt daher in vielen Fällen eine Vereinfachung schen Befunden, dass bestimmte Typen von Papillomviren
dar, wie sie im Rahmen eines allgemeinen Lehrbuches vorge- (HPV) eine wesentliche Ursache dieser Krebserkrankung
nommen werden muss; für weitere Details sei deshalb auf die sind. Heute wissen wir, dass etwa 70 % der Fälle von Gebär-
entsprechende Spezialliteratur verwiesen. mutterhalskrebs durch Papillomviren der Typen 16 und 18
hervorgerufen werden; weltweit betrachtet ist Gebärmutter-
Onkogene halskrebs die zweithäufigste Krebserkrankung bei Frauen. Es
Onkogene wurden in den 1960er-Jahren zunächst in Viren ent- wurden deshalb Impfstoffe gegen diese Papillomviren ent-
deckt, die Tumoren induzieren (DNA-Tumorviren und Retro- wickelt, die eine hohe Wirksamkeit (über 93 %) zeigen, wenn
viren, 7 Abschn. 9.2). Dazu gehören unter anderem zwei Mitglie- Frauen vor dem ersten Sexualkontakt geimpft werden. Die
der der Familie der Herpesviren (das Epstein-Barr-Virus und das Wirksamkeit nimmt mit zunehmendem Alter ab, da dann
humane Herpesvirus Typ 8), humane Papillomviren (HPV), bereits häufig Infektionen mit HPV vorliegen. Die Weltge-
Hepatitis-B- und -C-Viren (HBV, HCV), das humane T-lympho- sundheitsorganisation hat deswegen 2009 empfohlen, mit
trope Retrovirus (HTLV-1) und das humane Immunschwäche- höchster Priorität Mädchen in einem Alter zu impfen, das
Virus (HIV). Es soll in diesem Zusammenhang aber nicht uner- üblicherweise vor dem ersten Sexualkontakt liegt. Für die
wähnt bleiben, dass auch Bakterien und Parasiten bei der Untersuchungen zu Virus-induzierten Krebserkrankungen
Krebsentstehung eine wichtige Rolle spielen können; dazu ge- haben Harald zur Hausen, Luc Montagnier und Françoise
hören Helicobacter pylori beim Magenkrebs bzw. Schistosoma Barré-Sinoussi 2008 den Nobelpreis für Medizin erhalten.
haematobium beim Blasenkrebs (in Ägypten). Weitere Details findet man bei zur Hausen (2009) und
Noronha et al. (2014).
C Der italienische Mediziner Rigoni-Stern untersuchte Mitte
des 19. Jahrhunderts die Totenscheine von Frauen, die in Ve- Die viralen Onkogene sind häufig endogene Retroviren oder de-
rona zwischen 1760 und 1839 verstorben waren. Er stellte ren evolutionäre Nachfahren: Zelluläre Gene, die die Zellprolife-
dabei eine große Zahl von Gebärmutterhalskrebs bei verhei- ration aktiv fördern, wurden im Laufe der Evolution von Viren
rateten Frauen, Witwen und Prostituierten fest, wohingegen aufgenommen, wobei die Virus-codierte Reverse Transkriptase

. Tab. 13.5 Beispiele für virale Onkogene


13
Onkogen Virus Spezies Tumor Biochemische Funktion

sis Simian-Sarkom-Virus Affe Sarkom Wachstumsfaktor

erbB Erythroblastosis-Virus der Vögel Huhn Leukämie Tyrosinkinase

fms Felines Sarkom-Virus Katze Leukämie Tyrosinkinase

kit Felines Sarkom-Virus Katze Sarkom Tyrosinkinase

src Rous-Sarkom-Virus Huhn Sarkom Tyrosinkinase

abl Abelson-Leukämie-Virus der Maus Maus Leukämie Tyrosinkinase

raf Murines Sarkom-Virus Maus Sarkom Tyrosinkinase

Ha-ras Harvey-Sarkom-Virus Ratte Sarkom GTP-Bindungsprotein

Ki-ras Kirsten-Sarkom-Virus Ratte Sarkom GTP-Bindungsprotein

akt AKT8-Virus Maus Thymuskarzinom Serinkinase

myc Myelocytomatosis-Virus der Vögel Huhn Leukämie Transkriptionsfaktor

myb Myeloblastosis-Virus der Vögel Huhn Leukämie Transkriptionsfaktor

rel Reticuloendotheliosis-Virus der Vögel Truthahn Leukämie Transkriptionsfaktor

fos Murines Osteosarkom-Virus Maus Osteosarkom Transkriptionsfaktor

jun Sarkom-Virus der Vögel Huhn Sarkom Transkriptionsfaktor

erbA Erythroblastosis-Virus der Vögel Huhn Leukämie Transkriptionsfaktor

tax HTLV1 Mensch Leukämie, Transkriptionsregulator


Lymphom

Nach Schulz (2005)


13.4 · Komplexe Erkrankungen
641 13

. Abb. 13.43 Die RAS-Signalkette. Aktivierende Mutationen, die zur


Krebsentstehung führen, wurden in den drei RAS-Isoformen und einigen ih-
rer nachfolgenden Effektorgenen beschrieben (rot); inaktivierende Muta-
tionen in den Gegenspielern (Tumorsuppressorgene) sind grün dargestellt;
zusätzliche Komponenten, von denen im Mausmodell bekannt ist, dass sie
zur Tumorauslösung benötigt werden, sind blau dargestellt. Die Aktivierung
der Rezeptor-Tyrosinkinasen (RTKs; z. B. EGF-Rezeptor) führt zur Aktivierung
der Signalkaskade durch viele Schritte, die in der Evolution konserviert sind.
GRB2: growth factor receptor bound protein; SOS: son of sevenless; NF1: Neu-
rofibromin 1; Ras: Onkogen des Ratten-Sarkom-Virus; RBD: RAS-Bindedomä-
ne; Rassf1: Ras association domain family member 1; PLC-ε: Phospholipase
C-ε; RalGDS: Ras-like guanine nucleotide dissociation stimulator; Raf: regula-
tor of α-fetoprotein; PI(3)K: Phosphatidylinositol-3-hydroxykinase; Tiam1:
T-cell lymphoma invasion and metastasis-1; MEK: MAPK (Mitogen-aktivierte
Proteinkinase)/ERK (extracellular signal-regulated kinase); AKT: Onkogen aus
einer Thymom-Zelllinie des Mausstamms AKR; RSK: Ribosomales-Prote-
in-S6-Kinase; TSC2: Tuberous sclerosis 2; mTOR: mammalian target of rapamy-
cin. (Nach Shaw und Cantley 2006, mit freundlicher Genehmigung der
Nature Publishing Group)

eine entscheidende Rolle gespielt hat (7 Abschn. 9.2.1). Ein ein- ser Anteil dagegen auf 50 % an. RAS-Proteine sind an der inne-
ziges mutiertes Allel kann den Phänotyp der Zellen beeinträch- ren Seite der Zellmembran lokalisiert, wo sie eine wichtige Rolle
tigen (dominant); die nicht mutierten Formen dieser Gene be- als GTPase-Schalter in verschiedenen Signalketten spielen;
zeichnete man früher häufig als Proto-Onkogene; heute spre- . Abb. 13.43 zeigt dazu einen Überblick. RAS-Proteine werden
chen wir eher von aktivierten Onkogenen. Die viralen Onkogene durch verschiedene extrazelluläre Signale (Wachstumsfaktoren
wurden vielfach als mutierte Versionen zellulärer Gene klassifi- wie EGF oder PDGF) aktiviert.
ziert, die an der Regulation wichtiger zellulärer Funktionen be- Die RAS-Signalkaskade ist in allen menschlichen Tumoren
teiligt sind: Wachstumsfaktoren (z. B. SIS), Zelloberflächenre- ein wichtiger Stoffwechselweg, denn in ca. 30 % aller Fälle wird
zeptoren (z. B. ERBB, FMS), Teile von Signalkaskaden (RAS-Fa- sie falsch reguliert: Mutationen in den RAS-Genen sind die häu-
milie), DNA-bindende Kernproteine (Transkriptionsfaktoren, figsten Mutationen, die man in menschlichen Tumoren entdeckt.
z. B. MYC, JUN), Regulatoren des Zellzyklus (Cycline, Cyclin- Allerdings ist die Frequenz gewebe- und tumorspezifisch: RAS-
abhängige Kinasen und ihre Inhibitoren). Eine Übersicht über Mutationen kommen in fast allen Pankreas-Adenokarzinomen
virale Onkogene gibt . Tab. 13.5. vor, zu 50 % bei Dickdarmkrebs, in 25–50 % der Lungen-Adeno-
Onkogene können durch verschiedene Mechanismen akti- karzinome, aber so gut wie nicht bei Brust- und Gebärmutter-
viert werden: Eine Amplifikation von Genen wie ERBB und MYC krebs. Außerdem sind diese Mutationen im RAS-Gen offensicht-
wird in vielen Brustkrebsformen gefunden und führt zu einer lich nicht zufällig auf die verschiedenen Isoformen verteilt, son-
Erhöhung der Genexpression. Punktmutationen führen zu Akti- dern betreffen überwiegend das KRAS (vor allem bei Dickdarm-
vierungen von Genen in Signalkaskaden, z. B. RAS, wie es bei ei- krebs); Mutationen in NRAS findet man bei Leukämien und
ner Reihe von Tumoren (Dickdarmkrebs, Lungenkrebs, Brust- Mutationen in HRAS bei Blasenkrebs.
krebs, Blasenkrebs) gefunden wird. Translokationen können Insgesamt werden vier verschiedene RAS-Proteine gebildet,
neuartige, chimäre Gene schaffen, z. B. das ABL-BCR-Produkt, da durch differenzielles Spleißen zwei Transkripte des KRAS-
das zu einer konstitutionell aktiven Tyrosinkinase führt. Ein be- Gens entstehen, die für zwei unterschiedliche Proteine codieren.
kanntes Beispiel dafür ist das sogenannte »Philadelphia-Chromo- Das HRAS-Onkogen codiert ein 189 Aminosäuren langes Prote-
som«, das bei einer chronisch-myeloischen Leukämie gefunden in mit einem Molekulargewicht von Mr = 21.000, das p21RAS-
wurde. Einige zelluläre Onkogene sind in . Tab. 13.6 aufgeführt. Protein. In vielen Krebszellen ist dieses Protein in einer einzigen
Ein wichtiges Beispiel für Onkogene ist RAS. Bei Menschen Aminosäure in der Position 12 verändert: An der Stelle eines
sind drei verschiedene Typen des RAS-Gens bekannt (HRAS, Glycins ist ein Valin zu finden (G12V). Diese Aminosäureverän-
OMIM 190020; KRAS, OMIM 190070; und NRAS, OMIM derung wird durch eine Basenveränderung (Transversion) im
164790). Sie codieren für kleine Proteine (21 kDa; daher auch die Codon 12 von GGC nach GTC verursacht. Durch die Expression
Bezeichnung »p21-Proteine«), die zur Superfamilie der Guanin- zellulärer Gene aus Karzinomzellen in Zellkulturen (von soge-
nukleotid-bindenden Proteine gehören (kurz: G-Proteine). Sie nannten präneoblastischen Zellen, also Zellen, die nicht von ei-
oszillieren alle zwischen einer aktiven Form (GTP-Bindung) und nem Tumor abstammen) konnten Robert Weinberg und Mitar-
einer inaktiven Form (GDP-Bindung). Die aktive Konformation beiter (McCoy et al. 1984) zeigen, dass das zelluläre RAS-Onko-
wird durch die im RAS-Protein enthaltene GTPase-Aktivität protein (mit einem Valin in der Aminosäureposition 12) eine
wieder in die inaktive Form umgewandelt. Unter normalen Be- karzinogene Wirkung besitzt. Erwartungsgemäß war das Proto-
dingungen haben ruhende Zellen nur 5 % des gesamten RAS- RAS-Gen, welches in den gesunden Zellen desselben Krebspa-
Proteins im aktiven Zustand – im aktivierten Zustand steigt die- tienten vorhanden war, in einem solchen Test nicht karzinogen.
642 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

. Tab. 13.6 Beispiele für zelluläre Onkogene

Onkogen Chromosomenpositiona Tumor Aktivierungsmechanismus Biochemische Funktion

TGFA 2p13 Karzinome Überexpression Wachstumsfaktor

FGF1 5q31 Solide Tumoren Überexpression Wachstumsfaktor

WNT1 12q12 Karzinome Überexpression Wachstumsfaktor

IGF2 11p15.5 Versch. Krebserkrankungen Überexpression Wachstumsfaktor

ERBB1 7p12 Karzinome Überexpression, Mutation Tyrosinkinase

ERBB2 17q21.1 Karzinome Überexpression Tyrosinkinase

KIT 4q12 Krebserkrankungen (Hoden, Mutation Tyrosinkinase


Darm, Bindegewebe)

RET 10q11.2 Krebserkrankungen (Schilddrüse Mutation, Inversion Tyrosinkinase


und andere endogene Drüsen)

MET 7q31 Karzinome (bes. Niere) Überexpression, Mutation Tyrosinkinase

IGF1R 15q25 Karzinome (bes. Leber) Überexpression Tyrosinkinase

SMO 7q32 Krebserkrankungen (Haut, Mutation G-Protein-gekoppelter Rezeptor


Gehirn)

HRAS 11p15.5 Versch. Krebserkrankungen Mutation GTP-bindendes Protein

NRAS 1p13.2 Versch. Krebserkrankungen Mutation GTP-bindendes Protein

KRAS 12p12.1 Karzinome Mutation GTP-bindendes Protein

BRAF 7q34 Melanome, Krebserkrankungen Mutation Tyrosinkinase


(bes. Dickdarm)

CTNNB1 3p22 Karzinome (bes. Dickdarm, Mutation Cytoskelett, Transkriptions-


Leber) aktivator
13
MYC 8q24.12 Versch. Krebserkrankungen Translokation, Über- Transkriptionsfaktor
expression, Mutation

MYCN 2p24.1 Krebserkrankungen Überexpression Transkriptionsfaktor

MYCL1 1p34.3 Karzinome Überexpression Transkriptionsfaktor

RELA 11q12 Leukämie Translokation Transkriptionsfaktor

MDM2 12q14.3 Sarkome und andere solide Überexpression Transkriptionsregulator,


Tumoren Ubiquitin-Ligase

SKP2 5p13 Krebserkrankungen Überexpression Ubiquitin-Ligase

CCND1 11q13 Versch. Krebserkrankungen Überexpression Zellzyklus-Regulation

CCDN2 12p13 Krebserkrankungen Überexpression Zellzyklus-Regulation

CDK4 12q14 Krebserkrankungen Überexpression, Mutation Zellzyklus-Regulation

BCL2 18q21.3 Lymphome und versch. Krebs- Translokation, Über- Apoptose-Regulation


erkrankungen expression

a nach OMIM, nach Schulz (2005)

Wir müssen daraus schließen, dass zelluläre Onkogene, d. h. tionssignale in das Zellinnere zu übertragen. Dabei wird es durch
mutierte Allele der Proto-Onkogene, zur Entstehung bösartiger extrazelluläre Signale von einer GDP-bindenden inaktiven Kon-
(maligner) Tumoren beitragen. formation in eine signalübertragende GTP-bindende Konforma-
Das RAS-Protein ist membrangebunden und besitzt sowohl tion überführt. Diese Autotermination der Signaltransduktion
GTP/GDP-Bindungsaktivität als auch GTPase-Aktivität. Die wird durch die Mutation der Aminosäure 12 gestört, sodass RAS-
Membranbindung wird durch posttranslationale Modifikatio- Onkoproteine (mit Valin in Aminosäureposition 12) eine gestei-
nen erreicht (Farnesylierung). Die Aufgabe von RAS ist es, durch gerte Signaltransduktions-Eigenschaft aufweisen. Das erklärt
Wachstumsfaktoren an der Zelloberfläche ausgelöste Prolifera- die hohe Proliferationsrate der betroffenen Zellen.
13.4 · Komplexe Erkrankungen
643 13

*Aufgrund des hohen Anteils an RAS-Mutationen in verschie-


denen Krebsarten versucht man, die so daueraktivierte Form
des RAS-Proteins zu blockieren. Das Abschalten der RAS-
Aktivität kann auf vielen Wegen erfolgen: Hemmung der
RAS-Proteinsynthese durch antisense-Oligonukleotide oder
RNA-Interferenz, Hemmung der Verankerung in der Mem-
bran durch Hemmung der Farnesyltransferase; Blockade der
Wechselwirkung von RAS mit seinen Kooperationspartnern a
durch den Einsatz spezifischer Antikörper gegen die mutier-
te Form des RAS-Proteins. Diese Strategien waren bisher in
vitro erfolgreich – eine interessante Zusammenstellung fin-
det sich bei Friday und Adjei (2005). Klinische Tests der Pha-
se II mit Reovirus, einem Replikations-kompetenten RNA-
Virus, waren Erfolg versprechend (Galanis et al. 2012).

> Die Analyse von Virus-induzierten Krebserkrankungen hat


gezeigt, dass Viren Gene enthalten können, die homolog
zu Wachstumsfaktoren, ihren Rezeptoren oder zu Tran- b
skriptionsfaktoren sind; gemeinsam mit ihren entspre-
. Abb. 13.44 Retinoblastom. a Rechtes Auge eines Patienten: Das Retino-
chenden zellulären Homologen fassen wir sie unter dem
blastom wird häufig zuerst als weißer Reflex (Leukokorie) auf Fotografien
Begriff »Onkogene« zusammen. Wenn sie aufgrund von erkennbar – das linke Auge zeigt das bekannte Phänomen des »roten Au-
Mutationen dauerhaft angeschaltet sind, führt das zu ges«. Die Überlebenswahrscheinlichkeit beträgt in entwickelten Ländern
Krebserkrankungen in den entsprechenden Geweben. 95–97 %, aber die Prognose für den Augapfel selbst ist schlecht. b Die Re-
tina zeigt den sich ausbreitenden Tumor (Schweregrad C mit mittlerem
Tumorsuppressorgene Risiko). (Nach Balmer et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group)
Das Retinoblastom (OMIM 180200) ist bei Kindern die häufigs-
te Krebserkrankung am Auge; die Erkrankung wird durch Muta-
tionen im RB1-Gen verursacht (engl. retinoblastoma gene, RB1; eine gemischte Heterozygotie vorliegt (engl. compound heterozy-
Chromosom 13q14). Das Retinoblastom repräsentiert den Proto- gosity). Da bei etwa 90 % der Träger Tumoren entstehen, lässt
typ einer erblichen Krebserkrankung mit autosomal-dominan- sich die Anwendung des Dominanzbegriffs aus der medizini-
tem Erbgang. Es tritt mit einer Häufigkeit von 1:20.000 Geburten schen Praxis rechtfertigen. Diese Patienten haben außerdem ein
auf; davon sind 40 % erblich, und alle somatischen Zellen sind erhöhtes Risiko, später im Leben an weiteren primären Tumoren
heterozygot für die Mutation. Unter diesen erblichen Fällen sind zu erkranken (u. a. Sarkome, Melanome, Lungen- und Blasen-
nur 25 % familiär bedingt, aber 75 % der erblichen Fälle entste- krebs); diese Prädisposition wird durch eine vorausgehende
hen durch Neumutationen in der Keimbahn. 60 % der Retino- Strahlentherapie signifikant erhöht.
blastomerkrankungen sind allerdings nicht erblich und beruhen Die Untersuchungen des erblichen Retinoblastoms waren in
ausschließlich auf somatischen Mutationen in der Retina. Dabei zweierlei Hinsicht bahnbrechend: In der nicht-erblichen Form
gibt es keinen signifikanten Einfluss des Geschlechts, ethnischer bedarf es zweier somatischer Mutationen, bis das Retinoblastom
Zugehörigkeiten, Umwelt- oder sozioökonomischer Faktoren. ausbricht. Daher tritt die erbliche Form bereits im Kindesalter
Der Tumor befällt die Retina des menschlichen Auges (. Abb. auf und täuscht einen dominanten Erbgang vor, während die
13.44). Die einseitige Erkrankung wird in der Regel durch soma- nicht-erbliche Form erst später im Leben zu Krebs führt. Dies
tische Mutationen in einer Retina hervorgerufen und im Alter führte 1971 zur Formulierung der »Zwei-Treffer-Theorie« durch
zwischen 27 Monaten (in entwickelten Ländern, z. B. Kanada) Alfred Knudson (Übersicht in Knudson 2001): Erst wenn beide
und 36 Monaten (in Entwicklungsländern, z. B. Kenia) diagnos- Allele des Retinoblastom-Gens ausgeschaltet sind, kommt es zur
tiziert. Bei den erblichen Fällen sind in der Regel beide Augen unkontrollierten Teilung der Zellen. Bei sporadischen Krebser-
betroffen und die Diagnose erfolgt deutlich früher. Bei rechtzei- krankungen werden im Laufe des Lebens zufällig beide Allele
tiger Diagnose kann das betroffene Auge operiert werden, die ausgeschaltet, und die Erkrankung tritt spät auf. Wenn dagegen
Überlebensrate beträgt 95–97 %. Das Retinoblastom bleibt für schon ein Allel in der Keimbahn ausgeschaltet ist, bedarf es nur
etwa 3 bis 6 Monate nach dem ersten Auftreten der Leukokorie noch einer spontanen somatischen Mutation, und die Erkran-
(. Abb. 13.44a) auf das Auge beschränkt und damit heilbar; spä- kung tritt früher auf; in diesem Fall sprechen wir von einer gene-
ter greift der Tumor auf das Gehirn über, und die Überlebensrate tischen Disposition.
sinkt auf etwa 30 %. Der zweite Aspekt betrifft die Tatsache, dass beide Allele
Das erbliche Retinoblastom tritt bei einer heterozygoten Mu- mutiert sein müssen, damit es zu einer Krebserkrankung kom-
tation im RB1-Gen auf, weshalb der Erbgang als dominant be- men kann. Offensichtlich handelt es sich also nicht um eine Funk-
zeichnet wird. Es kommt jedoch nur dann zur Ausprägung des tionsgewinn-Mutation (wie bei den Onkogenen), sondern um
Tumors, wenn eine zweite (somatische) Mutation in dem ande- eine Funktionsverlust-Mutation, nämlich um den Verlust der
ren Allel des Gens in einer retinalen Zelle auftritt, sodass somit Fähigkeit, die Bildung von Tumoren zu verhindern. Daher ist das
644 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Bindetasche
. Tab. 13.7 Beispiele für Tumorsuppressorgene und die entspre-
chenden Erkrankungen

Erkrankung Chromosomale Gen


a Cyclin-Faltungen
Lokalisation

Ataxia telangiectasia 11q22–q23 ATM


(Luis-Bahr-Syndrom) Stillstand
Brust- und Ovarialkrebs 13q12–q13 BRCA1

Brustkrebs 17q13 BRCA2 mitogene Signale


Wilms-Tumor (Nephroblastom) 11p13 WT1
Cycline
Li-Fraumeni-Syndrom 17p13 TP53
Mitose
Neurofibromatose I 17q12–q22 NF1
(v. Recklinghausen’sche Krankheit)

Neurofibromatose II 22q12.2 NF2 CDK-


Aktivität
Polyposis intestinalis I (familiäre 5q21 APS
Cycline, pRb
adenomatöse Polypose, FAP)

Malignes Melanom 9p21 CDKN2


b Proliferation

Retionoblastom-Gen zum Paradigma eines Tumorsuppressor- . Abb. 13.45 Das Rb-Protein und seine Funktionen im Zellzyklus. a Das
gens geworden. Inzwischen kennen wir eine Reihe solcher Gene, Rb-Protein besteht aus 928 Aminosäuren; zu seinen wichtigen strukturellen
und funktionellen Elementen gehören die Bindetasche (zur Bindung von
von denen einige in . Tab. 13.7 genannt sind. Im Allgemeinen
Zielmolekülen wie den Transkriptionsfaktor E2F und viralen Onkogenen),
hemmen die Produkte von Tumorsuppressorgenen die Zellproli- die beiden Cyclin-Faltungsdomänen (A1 und B1 sowie A2 und B2) und der
feration. Ein wichtiges Charakteristikum für die Funktion von unstrukturierte C-terminale Bereich (C). Die farbigen Bereiche markieren die
Tumorsuppressorgenen ist außerdem der Verlust der Heterozygo- Positionen der α-Helices, die für die Cyclin-Faltungsdomänen charakteris-
tie im Krebsgewebe (meist durch Deletion eines größeren DNA- tisch sind. Die Striche über den Proteindomänen deuten die vielen Serin-
und Threonin-Phosphorylierungsstellen an (Serin an Positionen 230, 249,
13 Abschnitts einschließlich des Tumorsuppressorgens selbst).
567, 608, 612, 780, 788, 795, 807 und 811 sowie Threonin an Positionen 5,
Das RB1-Gen ist ein besonders großes Gen, das sich über 252, 356, 373, 821 und 826). b Eine besonders wichtige Aufgabe des Rb-
150 kb erstreckt und 27 Exons enthält. Es codiert für ein Protein Proteins ist die Regulation des Zellzyklus durch die Bindung des Transkrip-
(pRb) mit einem Molekulargewicht von Mr = 110.000 (928 Ami- tionsfaktors E2F. In der nicht-phosphorylierten Form bindet pRb an E2F und
nosäuren). Das pRb ist heute als ein negativer Regulator des Zell- unterdrückt die Expression der entsprechenden Zielgene, indem es Histon-
Deacetylasen (HDACs), weitere Co-Repressoren und Chromatin-modifizie-
zyklus charakterisiert und an Differenzierungsprozessen und
rende Enzyme bindet (DP: Heterodimerisierungs-Partner). Dadurch wird
Apoptose beteiligt. Es bindet an die E2F-Transkriptionsfaktoren das Chromatin in einen eher kondensierten Zustand überführt. Mitogene
und unterbindet dadurch die Transkription vieler Gene, die für Signale, Cycline und Cyclin-abhängige Kinasen (CDKs) führen zu einer
die S-Phase benötigt werden (. Abb. 13.45). Diese E2F-Proteine starken Phosphorylierung des Rb-Proteins, das dadurch nicht mehr an E2F
besitzen auch eine CDK-Bindedomäne und aktivieren solche binden kann: Die Expression der entsprechenden Zielgene wird nicht mehr
unterdrückt (z. B. Histon-Acetyltransferasen, HAT) und das Chromatin in ei-
Gene, die für den Übergang der G1- in die S-Phase verantwort-
nen eher offenen Zustand überführt. Zu diesen Zielgenen gehören auch
lich sind. Eine zweite Gruppe von E2F-Proteinen besitzt nur eine Regulatoren des Übergangs von der G1- in die S-Phase, Enzyme der DNA-
Bindungsdomäne für pRb; sie werden in der G0- und G1-Phase Synthese, Proto-Onkogene und Regulatoren der Apoptose. Das Schema
in den Zellkern transportiert. Die Aktivität des pRb wird durch deutet auch an, dass das Rb-Protein im Zentrum verschiedener positiver
das Ausmaß seiner Phosphorylierung gesteuert: Der Phosphory- und negativer Rückkopplungsschleifen steht. (Nach Chinnam und Goodrich
2011, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
lierungszustand des Proteins ist während der G1-Phase und in
G0-Zellen niedrig, in der späten G1- und der S-Phase dagegen
> Tumoren können genetisch prädisponiert sein und durch
erhöht. Dieses Verhalten erinnert uns stark an das Zellzyklus-
somatische Mutation zur Ausbildung kommen. Ein klassi-
regulierender Proteine. Wie bereits zuvor besprochen, spielt in
sches Beispiel ist die heterozygote Konstitution des
der Regulation des Zellzyklus insbesondere der Übergang zur
Retinoblastom-Gens. Weitere (somatische) Mutationen im
S-Phase (. Abb. 5.18) eine Rolle. Dieser Zeitpunkt wird durch eine
Wildtyp-Allel erfolgen mit so großer Häufigkeit, dass 90 %
Phosphokinase, das p34CDC2-Protein, kontrolliert (. Abb. 5.20).
der Heterozygoten ein Retinoblastom entwickeln.
Die Zellzyklus-regulierende Funktion von pRb ist plausibel, wenn
man annimmt, dass dieses Protein im funktionellen Zustand ein Ein zweites wichtiges Beispiel eines Tumorsuppressorgens co-
Festhalten der Zelle in der G1- (oder G0-)Phase zur Aufgabe hat. diert für das p53-Protein. Das zugehörige Gen, TP53, liegt auf
Eine Mutation zur Funktionsunfähigkeit würde damit den Über- dem Chromosom 17p13. Homozygote Mutationen führen zum
gang in die S-Phase und damit die Proliferationsfähigkeit der Zelle Li-Fraumeni-Syndrom (OMIM 151623). In den betroffenen Fa-
freigeben und zur Tumorentstehung führen. milien treten bereits in einem niedrigen Lebensalter mehrfache
13.4 · Komplexe Erkrankungen
645 13

DNA-
Schaden

Onkogener
DSBs SSBs Stress

. Abb. 13.46 p53 wird am Ende der Signalkette aktiviert, die durch DNA-
Schäden ausgelöst wird. Die dargestellten Komplexe der einzelnen Kon-
trollpunkte beinhalten die DNA-abhängige Proteinkinase (DNA-PK), zwei
Proteine, die an der Ausbildung der Ataxia telangiectasia beteiligt sind
(ATM: ataxia telangiectasia mutated; ATR: ATM and rad-3 related), zwei Kon-
trollpunkt-Kinasen (CHK1, CHK2: checkpoint kinase 1 bzw. 2) und die MAPK-
aktivierte Proteinkinase 2 (MK2). Nach seiner Aktivierung induziert p53 die
Transkription von Zielgenen, die zu einem vorübergehenden Anhalten des
Zellzyklus führen, um Zeit zur DNA-Reparatur zu gewinnen. Die Proteine,
die am Stopp des Zellzyklus beteiligt sind, sind ein Cyclin-abhängiger Kina-
se-Inhibitor (CDKN1A) sowie die Proteine 14-3-3σ und GADD45α (engl.
growth arrest and DNA damage-inducible gene). Falls die DNA-Reparatur
nicht erfolgreich ist, beginnen die Zellen zu altern und werden apoptotisch
abgebaut; daran sind die Proteine PUMA (engl. p53 upregulated modulator
Vorübergehender of apoptosis) sowie das Bcl2-assoziierte Protein X (BAX) und der Bcl2-Anta-
Stopp des Alterungs- Apoptose gonist/Killer (BAK) beteiligt. Die Balance zwischen diesen verschiedenen
Zellzyklus prozesse
p53-vermittelten Antworten entscheidet über die physiologischen Konse-
quenzen zwischen einem Schutz vor Krebserkrankungen und Altern. ARF:
p19 alternative reading frame protein; DSB: Doppelstrangbruch; SSB: Einzel-
Tumorsuppression Gewebedegeneration strangbruch. (Nach Reinhardt und Schumacher 2012, mit freundlicher Ge-
nehmigung von Elsevier)

primäre Tumoren auf, so unter anderem Brustkrebs, Gehirntu- Protein ist eines der wichtigen Kontrollproteine, die normaler-
moren, Osteosarkome und Leukämie. Die molekulare Analyse weise dafür sorgen, dass defekte Zellen einem kontrollierten
hat gezeigt, dass bereits eine Veränderung der Dosis von p53- Zelltod unterliegen. Bei seiner Abwesenheit entfällt dieser Kon-
Protein zur Tumorbildung führen kann. trollmechanismus, und die Zellen können sich durch den Ausfall
Bei dem p53-Protein handelt es sich um einen Transkrip- der Replikationskontrolle zu Tumorzellen entwickeln. Eine Zu-
tionsfaktor, der als Homotetramer an DNA bindet und die Tran- sammenfassung der wichtigsten Funktionen von p53 findet sich
skription von Genen induzieren kann, die unter seiner Kontrolle in . Abb. 13.46.
stehen. Das 393 Aminosäuren lange Protein hat aber – ähnlich Die Therapie von p53-induzierten Tumoren erweist sich als
wie pRb – eine Schlüsselfunktion in der Zellzykluskontrolle am besonders problematisch, da herkömmliche Chemotherapien
Übergang von der G1- zur S-Phase (. Abb. 5.20). Eine der Funk- im Allgemeinen auch mutagene Effekte haben. Durch Ausfall der
tionen des p53-Proteins liegt in der Aufgabe, die DNA-Replika- DNA-Reparaturkontrolle bei p53-Mutation werden daher die
tion zu verhindern, wenn die DNA Schäden aufweist; das p53- Auswirkungen von Mutationen noch verstärkt und können da-
Protein wird daher auch als »Wächter des Genoms« bezeichnet. mit erst recht zu Tumor-induzierenden Neumutationen führen.
Die Replikation wird erst nach Reparatur dieser Schäden freige- Es zeigt sich in diesem Fall, dass die Kenntnis der molekularen
geben, oder es kommt – bei zu großen Schäden – zur Apoptose. Bedeutung eines Genproduktes Hinweise auf die Zweckmäßig-
Bei Deletion des TP53-Gens (oder einer loss-of-function-Muta- keit oder Unzweckmäßigkeit von Therapieansätzen geben kann.
tion) wird die DNA jedoch ungehindert repliziert. Als Folge da- Beim Li-Fraumeni-Syndrom ist der Einsatz einer Chemothera-
von kommt es zu Mutationen, die unter anderem wiederum on- pie offensichtlich unzweckmäßig. Auch präventive Röntgenun-
kogenen Charakter haben können. tersuchungen (z. B. durch Mammographie) sollten vermieden
Es ist in den letzten Jahren erkannt worden, dass genetisch werden, da sie durch die hohe Mutationsfähigkeit durch Ausfall
programmierter Zelltod (Apoptose) eine wichtige Rolle beim des DNA-Reparatursystems leicht zu Tumor-induzierenden Mu-
Schutz des Organismus vor Tumorerkrankungen spielt. Das p53- tationen führen können.
646 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

> Das Tumorsuppressorgen TP53 ist an der Kontrolle des 4 In den beiden Genorten wird bei den betroffenen Familien
Zellzyklus beteiligt. Bei Ausfall der normalen Funktion im Krebsgewebe ein Verlust der Heterozygotie festgestellt,
unterbleibt die Kontrolle auf DNA-Schäden, und es wobei das Krebs-prädisponierende Allel erhalten bleibt.
wird keine Apoptose eingeleitet, sodass es zur unkon-
trollierten Proliferation von Zellen und zur Tumorbildung Homologe Gene zu BRCA1 und BRCA2 gibt es auch bei anderen
kommt. Säugern; die Gene werden ubiquitär exprimiert. Wir gehen heu-
te davon aus, dass beide Proteine Teil eines Netzwerks sind, das
Ein weiteres Beispiel für genetische Prädisposition bei Krebser- für die irrtumsfreie Reparatur von DNA-Doppelstrangbrüchen
krankungen ist Brustkrebs (OMIM 114480), nach Hautkrebs die und damit die Integrität und Stabilität des Genoms insgesamt
bei Frauen zweithäufigste diagnostizierte Krebserkrankung. verantwortlich ist. Dies geschieht im Wesentlichen durch Wech-
Zwar tritt die überwiegende Mehrzahl (70–80 %) der Fälle spo- selwirkung mit Proteinen, die an der Rekombinationsreparatur
radisch auf, aber die restlichen 20–30 % zeigen doch Häufungen beteiligt sind (7 Abschn. 10.6); eine Übersicht vermittelt . Abb.
in Familien; das Auftreten von Brustkrebs in solchen Familien ist 13.47.
auch mit einem erhöhten Risiko für Eierstockkrebs verbunden.
Man nimmt an, dass etwa 5–10 % der erblichen Brustkrebser- C Außer den hier erwähnten Genen BRCA1 und BRCA2 tragen
krankungen mit Mutationen in den Genen BRCA1 und BRCA2 auch Mutationen in anderen Genen zu einem erhöhten
(engl. breast cancer) verbunden sind (auf den Chromosomen Brustkrebsrisiko bei; dazu gehören neben BRIP1 und PALB2
17q21 bzw. 13q12). Keimbahnmutationen in BRCA1 und BRCA2 (. Abb. 13.47) auch ATM (engl. ataxia telangiectasia muta-
führen zu einem Risiko für Brust- und Eierstockkrebs, das deut- ted) und CHEK2 (engl. checkpoint kinase 2). Kürzlich wurde
lich über dem Bevölkerungsdurchschnitt liegt; allerdings ist das dieser Reihe noch ein weiteres Gen hinzugefügt, RAD51C.
genaue Risiko nicht bekannt und vom Kontext abhängig (Stärke Dieses Gen wurde ursprünglich im Rahmen strahlenbiologi-
der familiären Belastung, Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen, scher Untersuchungen an Hefen (daher die Bezeichnung
Umweltfaktoren etc.). Frauen, die Mutationen im BRCA1-Gen »RAD«) identifiziert; das entsprechende Protein ist ebenfalls
tragen, haben ein Risiko von 51–85 % für Brustkrebs und 22– an der Rekombinationsreparatur beteiligt. Die Autoren
66 % für Eierstockkrebs; Mutationen im BRCA2-Gen führen zu konnten zeigen, dass Mutationen in RAD51C – wie BRCA1
einem geringeren Risiko (33–95 % für Brustkrebs und 4–47 % und BRCA2 – mit hoher Penetranz zu Brustkrebs und Krebs-
für Eierstockkrebs). Umgekehrt führen aber BRCA2-Keimbahn- erkrankungen der Eierstöcke führt; es ist zu etwa 1,5–4 % an
mutationen zu einem höheren Risiko für Krebserkrankungen an der Ausprägung familiärer Brustkrebserkrankungen betei-
Prostata, Pankreas, Galle und Magen sowie für maligne Melano- ligt. Neben den Mutationen mit hoher Penetranz gibt es
13 me und männlichen Brustkrebs. auch eine Reihe von Mutationen, die mit geringer Penetranz
Jedes der beiden BRCA-Gene wird als Tumorsuppressorgen zum Krebsrisiko beitragen; in diesen Fällen können wir er-
charakterisiert: warten, dass eine Kombination von mehreren Mutationen in
4 Der Erbgang innerhalb der betroffenen Familien folgt den oben genannten Genen zusammenwirken (müssen),
einem dominanten Muster. damit Brustkrebs entstehen kann (Meindl et al. 2011).

. Abb. 13.47 BRCA-Reparatur-Netzwerk. Eine aufgrund eines Doppelstrangsbruchs angehaltene Replikationsgabel führt zur Aktivierung des ATR-Prote-
ins. Diese Kinase phosphoryliert eine Variante des H2A-Histons (γH2AX), aber auch BRCA1 und BRCA2 (auch als FANCD1 bezeichnet). Durch diverse Protein-
Protein-Wechselwirkungen werden viele Reparaturkomplexe an die defekte Stelle herangeführt. Die Proteine der Komplementationsgruppe einer Fanconi-
Anämie (FANC) haben für die DNA-Reparatur weitere wichtige enzymatische Funktionen (FANCJ/BRIP1 ist eine DNA-Helikase; FANCN/PALB2 bindet und
stabilisiert BRCA2; FANCD2 [D2] und FANCI [I] werden bei einem DNA-Schaden phosphoryliert und ubiquitiniert). Der FA-core-Komplex enthält weitere
FANC-Proteine. ATR: ataxia telangiectasia/Rad3 related protein; BLM: Bloom syndrome protein; P: Phosphorylierung; Ub: Ubiquitinierung. (Nach Wang 2007,
mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
13.4 · Komplexe Erkrankungen
647 13

a c d

. Abb. 13.48 Klinische Symptome von Xeroderma pigmentosum (XP). a Trockene Haut mit verschiedenen Hauttumoren (hauptsächlich Strahlenkeratose
und großen squamösen Karzinomen an der linken Backe). b Relativ scharfe Abgrenzung von XP-Veränderungen der Haut an Sonnen-exponierten Flächen.
c Hautmelanom (Pfeil) mit Flecken. d Basalzellkarzinom (Pfeil) inmitten typischer unter- und überpigmentierter Haut. (Nach Leibeling et al. 2006, mit
freundlicher Genehmigung von Springer)

Mutatorgene chen Defekt im UV-Reparatursystem zurückzuführen. Vielmehr


Das aktuelle Konzept eines »Mutator-Phänotyps« in der Krebs- sind mittlerweile bereits acht verschiedene Gene (bezeichnet als
erkrankung gründet auf Beobachtungen, die Theodor Boveri vor Komplementationsgruppen XP-A bis XP-G sowie Komplemen-
über 100 Jahren (1902) publizierte. Er vermutete, dass die cha- tationsgruppe XP-V) bekannt, deren Mutation zu einem Xero-
rakteristischen Wachstumsmuster menschlicher Krebszellen von derma-Phänotyp führen kann. Der Xeroderma-Phänotyp lässt
chromosomaler Aneuploidie verursacht sein könnten. Hermann sich Mutationen in zwei unterschiedlichen Reparaturwegen
Josef Muller (1951) baute diese Hypothese dahingehend aus, dass zuordnen (. Abb. 10.39; 7 Abschn. 10.6.2): der Nukleotid-Exzi-
Krebs dann entsteht, wenn eine einzige Zelle viele verschiedene sionsreparatur (NER; auch globaler Genom-Reparaturmecha-
Mutationen enthält. Spätere Beobachtungen der »Mutator-DNA- nismus genannt, GGR; Gene XP-A bis XP-G) und der Transkrip-
Polymerasen« (Mutationen in DNA-Polymerasen, die dadurch tions-gekoppelten Nukleotid-Exzisionsreparatur (TCR; Gen XP-
eine geringere Genauigkeit haben; Kunkel 1992) und die Identi- V). Die Gene der Gruppe XP-A bis XP-G codieren für eine
fikation von Mutationen in DNA-Reparatur-Genen, die mit Gruppe von Helikasen, die für Einzelstrangschnitte in der DNA
Krebserkrankungen verbunden waren (siehe oben), haben die erforderlich sind, die schließlich zur Entfernung von Thymin-
Hypothese verstärkt, dass Krebszellen einen »Mutator-Phäno- Dimeren führt. Außer XP-C sind sie sowohl bei der GGR als auch
typ« aufweisen. Entsprechend bezeichnet man als Mutatorgene bei der TCR erforderlich. Das Gen XP-V codiert die DNA-Poly-
solche Gene, die zu Veränderungen in der DNA-Replikation merase η.
(7 Abschn. 2.2) oder der Reparatur der DNA (7 Abschn. 10.6) Es gibt darüber hinaus noch andere Erbkrankheiten, die ihre
führen können. Mutationen in Mutatorgenen sind rezessiv erb- Ursache ebenfalls in Defekten in DNA-Reparatursystemen ha-
lich, und es besteht ebenfalls ein »Zwei-Treffer-Mechanismus«. ben, beispielsweise das seltene Cockayne-Syndrom. Diese
Ein klassisches Beispiel ist die seltene autosomal-rezessive Krankheit zeigt einige Symptome, die auch bei Xeroderma sicht-
Hautkrebserkrankung Xeroderma pigmentosum (. Abb. 13.48). bar werden, z. B. Defekte im Nervensystem und mentale Retar-
Sie beruht auf erblichen Defekten im UV-Reparatursystem. Pa- dierung, aber auch Tremor, Trübungen der Augenlinsen und
tienten mit dieser Krankheit sind hochgradig empfindlich gegen Gehörstörungen. Für diese Krankheit hat man zwei Komple-
Sonnenlicht oder andere Formen von UV-Bestrahlung. Es ent- mentationsgruppen, CS-A und CS-B, identifiziert, die ebenfalls
stehen bei ihnen mit hoher Frequenz Hauttumoren an exponier- für Proteine mit Helikase-Funktionen codieren. Diese Enzyme
ten Körperregionen, besonders im Gesicht oder an den Händen. zeigen enge Verwandtschaft zu den von E. coli bekannten Repa-
Außerdem zeigen sie neben veränderter Pigmentierung weitere raturenzymen des Uvr-Systems.
Krankheitssymptome, wie etwa neurale Degeneration und men-
tale Retardierung, deren Bezug zu Defekten in den DNA-Repa- > Genetische Defekte in den UV-Reparatursystemen führen
ratursystemen weniger offensichtlich ist. Diese Krankheit ist bei unter anderem zur Entstehung von Hauttumoren in Kör-
verschiedenen Individuen nicht notwendigerweise auf den glei- perregionen, die einer UV-Bestrahlung ausgesetzt werden.
648 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Diese Beispiele lassen uns einige wesentliche Gesichtspunkte der Mit 10 % sind jedoch Kinder unter 10 Jahren – vorwiegend Jun-
Tumorbildung zusammenfassen: gen – besonders stark vertreten. Es ist die häufigste chronische
4 Tumoren sind auf die Fehlfunktion von Genen zurückzu- Erkrankung im Kindesalter. Bei erwachsenen Asthmakranken
führen, die wichtige zentrale Aufgaben im Zellstoffwechsel sind Frauen in der Überzahl. Die Gesamthäufigkeit in der Bevöl-
haben. Oft handelt es sich um Gene, deren Produkte für die kerung beträgt etwa 3,8 %; die Häufigkeit unter Verwandten ers-
Regulation des Zellzyklus, der Proliferationsfähigkeit oder ten Grades ist höher (9,8 %).
der Differenzierung von Zellen erforderlich sind. Bei einem Asthmaanfall schwillt die schon entzündlich ge-
4 Fehlfunktionen in Onkogenen oder Tumorsuppressorgenen reizte Bronchialschleimhaut an. Eine oftmals vermehrte, zähe
entstehen durch Mutation. Schleimproduktion verengt die Atemwege weiter. Zudem zieht
4 Als Tumor-verursachende Mutationen sind nicht nur der sich die Muskulatur der kleineren Atemwege (Bronchien und
Ausfall oder die strukturelle Veränderung eines Proteins Bronchiolen) krampfartig zusammen. Durch diese Vorgänge wird
anzusehen, sondern sie können auch durch fehlerhafte die Atmung, vor allem die Ausatmung, erschwert und damit die
Regulation (Überproduktion, konstitutive Proteinsynthese Sauerstoffversorgung der Lunge verschlechtert. Viele Asthmafäl-
in Zellen, in denen ein Gen normalerweise inaktiv ist), le werden durch spezifische äußere Reize wie Pollen, Staub, Tier-
durch überzählige Genkopien, die durch Retroviren in die haare, Schimmel und einige Lebensmittel (Allergene) hervorge-
Zelle eingeführt werden, oder auch durch Translokation in rufen. Auch Infektionen der Atemwege führen unter Umständen
den Funktionsbereich anderer Gene verursacht werden. zu Asthma. Ein großer Teil der Patienten leidet unter Belastungs-
asthma, das nach körperlicher Anstrengung auftritt und zusätz-
Generell kommen somit alle Arten von Mutationen als mögliche lich durch unspezifische Reize (z. B. kalte, trockene Atemluft,
Ursachen für die Tumorinduktion in Betracht. Die hohen spon- Rauch, Parfüm, Staub, Abgase) ausgelöst werden kann. Asthma
tanen Mutationsraten, denen jede einzelne Zelle unterworfen ist, ist damit ein klassisches Beispiel für eine komplexe Erkrankung.
erklären auch, warum mit steigendem Lebensalter die Gefahr Die Entzündung ist durch die Freisetzung von Mediatoren
der Tumorentstehung größer wird: Die Effektivität der Repara- gekennzeichnet (unter anderem Histamine, Proteasen, Leuko-
tursysteme sinkt mit steigendem Lebensalter, sodass damit die triene und Cytokine) und mit Verletzungen des Epithels, Verän-
Gefahr einer unkorrigiert verbleibenden Mutation essenzieller derungen der Permeabilität und Übersekretion von Schleim ver-
Gene erhöht wird. bunden. Sie führen schließlich zu einer erhöhten bronchospasti-
schen Antwort auf verschiedene chemische (Staub, Allergene)
> Es wurde eine Anzahl von Genen identifiziert, deren
oder physikalische Reize (Kälte). Asthma ist oft verbunden mit
Deletion oder Mutation zur Tumorbildung führt. Als Folge
erhöhtem IgE-Spiegel im Serum und der Prädisposition für an-
kann es zu erblicher Prädisposition für die Ausbildung
13 bestimmter Tumoren kommen. Diese entstehen jedoch in
dere atopische Erkrankungen (Heuschnupfen, Neurodermitis).
Die ersten systematischen Untersuchungen zur Genetik von
vielen Fällen erst in Kombination mit auslösenden
Asthmaerkrankungen wurden schon zu Beginn des 20. Jahrhun-
Umweltfaktoren.
derts publiziert (Cooke und van der Veer 1916). Die Erblichkeit
*Für die »richtige« Therapie des einzelnen Patienten ist es oft-
mals wichtig, zwei Aspekte in der Tumordiagnostik zu be-
wird nur innerhalb einer gewissen Bandbreite zwischen 36 und
72 % angegeben; auch die Konkordanz zwischen eineiigen Zwil-
achten: einmal die individuelle genetische Prädisposition lingen ist nicht 100 %. Dennoch haben genomweite Untersu-
und zum anderen die genetische Entwicklung, die das Tu- chungen für Asthma-Gene zunächst Kopplungen mit bestimm-
morgewebe selbst genommen hat, nämlich welche Gene ten Bereichen auf einigen Chromosomen ergeben. Durch kom-
zusätzlich mutiert sind. Diese Zahl schwankt zwischen 4 binierte Anstrengungen der genetischen Epidemiologie, dem
und 140 Genen pro Tumor – prädisponierende Keimbahn- Einsatz geeigneter Mausmodelle und der Anwendung verschie-
mutationen werden dagegen bei 3 % der untersuchten Pati- dener Hochdurchsatztechnologien ist es gelungen, einige Aspek-
enten identifiziert. Ohne diesen Vergleich zwischen Keim- te deutlich herauszuarbeiten. Unser grundlegendes Wissen über
bahnmutation und somatischen Mutationen im Tumorge- diese komplexe Erkrankung verdeutlicht . Abb. 13.49.
webe wäre also die Zahl möglicher falsch-positiver Sequenz-
ergebnisse deutlich höher. Diese Art der Tumordiagnostik C In einer Asthmastudie mit 460 Kaukasiern in Großbritannien
wird durch die vereinfachten und zunehmend kostengünsti- und den USA wurde das erste Gen direkt mit Asthma und
gen Sequenzierverfahren (next generation sequencing) in na- bronchialer Überreaktion assoziiert (van Eerdewegh et al.
her Zukunft deutlich zunehmen (Jones et al. 2015). 2002). Dazu wurden zunächst Geschwisterpaare untersucht,
die neben Asthma auch an bronchialer Überreaktion leiden
oder einen erhöhten Serumspiegel von IgE aufweisen. LOD-
13.4.2 Asthma Werte von knapp 4 deuteten auf die Region 20p13 hin – die
kritische Region umfasst aber immerhin 4,3 cM. Durch eine
Asthma (OMIM 600807) ist eine chronische Entzündung und Analyse von 135 Basenaustauschen (engl. single nucleotide
Überempfindlichkeit der (oberen) Atemwege mit wiederholten polymorphisms, SNPs) in 23 Genen (was 90 % der kritischen
Anfällen von Atemnot, Husten und Kurzatmigkeit. Ursache ist Region entsprach) wurde ADAM33 als das Gen mit dem
eine krankhafte Reaktion der Atemwegsschleimhaut auf ver- höchsten Assoziationsgrad identifiziert. Da möglicherweise
schiedene Reize. Asthma bronchiale betrifft alle Altersklassen. eine Kombination bestimmter SNPs das Risiko für eine
13.4 · Komplexe Erkrankungen
649 13
C5a
T-Zelle

Dendritische Zelle C5aR


MHCII TCR
CD80 CTLA4
CD86 CD28 PHF11?

TIM1
IL-12

TH1-Muster TH2-Muster

Cholinerge Nerven
Interferon-γ IL-2
IL-4, IL-13 IL-5

DPP10
IL-4Rα/ IL-4Rα/ IL-4Rα/ IL-4Rα/
IL-13Rα1 IL-13Rα1 IL-13Rα1 IL-13Rα1
C5aR
PHF11
IL-4Rα/
C5aR IL-13Rα1
ADAM33 ADAM33

Glatte Muskulatur Eosinophile


der Atemwege Fibroblasten B-Zellen Mastzellen Zellen

. Abb. 13.49 Asthma als komplexe Erkrankung. Asthma ist eine komplexe Erkrankung, die eine Überreaktion, verstärkte Schleimproduktion und Entzün-
dungen der Atemwege sowie erhöhte IgE-Werte im Serum beinhaltet. In genetisch prädisponierten Personen lösen anomale Reaktionen der T-Zellen auf
äußere Reize (z. B. virale Infektionen oder Allergene) diese Symptome aus. Kandidatengene, für die eine Assoziation mit Asthma gezeigt wurde, sind in Rot
dargestellt. ADAM33: Disintegrin und Metalloproteinase; C5a(R): Komplementfaktor 5a (Rezeptor); CD(Zahl): Oberflächenantigene; CTLA4: cytotoxic T lym-
phocyte associated protein 4; DPP10: Dipetidylpeptidase 10; IL-(Zahl/R): Interleukine (Rezeptoren); MCHII: major histocompatibility complex II; PHF11: plant
homeodomain (PHD) finger protein-11; TIM1: T-cell immunoglobulin and mucin-domain containing protein 1; TCR: T-Zell-Rezeptor. (Nach Wills-Karp und Ewart 2004,
mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Asthmaerkrankung erhöht, wurden entsprechende Haplo- experimentellen Ansatzes zeigt . Abb. 13.50). Interessant dabei
typen erstellt und mit einer Kontrolle von 2000 Gesunden ist, dass dieses Gen schon vorher als HAVCR1-Gen identifiziert
verglichen. Insgesamt 14 Haplotypen ergaben dabei eine wurde – weil es nämlich den zellulären Rezeptor für das Hepati-
hohe oder sehr hohe Signifikanz. tis-A-Virus codiert (engl. hepatitis A virus cellular receptor 1; das
Gen liegt auf dem Chromosom 11 des Menschen). Außerdem
ADAM33 gehört zur Familie von membrangebundenen Metal- wurde gezeigt, dass eine Variante des TIM1-Gens mit einem Ein-
loproteasen (engl. a disintegrin and metalloprotease domain). Die schub von sechs Aminosäuren (in der extrazellulären Mucindo-
ADAM-Proteine waren zunächst als Zelloberflächenproteine mäne) nach einer Hepatitis-A-Infektion in der Lage ist, vor Asth-
identifiziert worden. Sie haben aber auch Funktionen in der Zell- ma zu schützen. Das stimmt mit der Beobachtung überein, dass
adhäsion, in der Weitergabe zellulärer Signale und der Proteo- die stark rückläufigen Zahlen der Hepatitis-A-Infektionen in
lyse. Die Expression von ADAM33 in Fibroblasten der Lunge und westlichen Ländern seit den frühen 1970er-Jahren mit einer Ver-
Muskelzellen der Bronchien (aber nicht in Epithelzellen der doppelung der Asthma-Rate einhergehen. Dieser mögliche Zu-
Bronchien) unterstützen ebenfalls seine Rolle bei Asthma. Insbe- sammenhang unterstützt die »Hygiene-Hypothese«, die besagt,
sondere die Kombination einzelner Basenaustausche ist mit dass Allergien heute deshalb immer häufiger auftreten, weil
Asthma hoch signifikant assoziiert. Menschen weniger mit Keimen in Berührung kommen als frü-
In den Folgejahren wurden viele weitere Gene identifiziert, her. Die Untersuchung unterstreicht die Bedeutung von Gen-
die mit Asthma (und auch anderen allergischen Erkrankungen) Umwelt-Interaktionen für die menschliche Gesundheit.
assoziiert sind. Dabei müssen natürlich viele Methoden kom- In der Zwischenzeit wurden – entsprechend der weltweiten
biniert werden, um die Beteiligung einzelner Gene in einem Bedeutung der Erkrankung – viele verschiedene Studien durch-
komplexen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu identifizie- geführt, um die genetischen Ursachen von Asthma und aller-
ren. Ein besonders gelungenes Beispiel ist dabei die Entdeckung gischen Erkrankungen zu erkennen. Durch Assoziationsstu-
des Gens TIM1 (engl. T-cell immunoglobulin and mucin-domain dien mit funktionellen Kandidatengenen wurden über 30 Gene
containing protein 1). Die mögliche Beteiligung dieses Gens an identifiziert, deren Variationen mit Asthma assoziiert sind. Die
der Ausprägung von Asthma wurde durch einen Vergleich mit Grundlage dieses experimentellen Ansatzes beruht darauf,
entsprechenden Fragmenten der Maus ermöglicht (Details des dass die jeweiligen Kandidatengene aufgrund des vorhande-
650 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

BALB/c-Mäuse mit HBA-congene Mäuse . Abb. 13.50 Identifizierung von TIM1 als mögliches
hoher IL-4-Aktivität mit niedriger IL-4- Asthma-Empfindlichkeitsgen. In diesem Ansatz wurde die
und BHR Aktivität und BHR Aussagekraft congener Mausstämme verwendet, um
neue Kandidatengene zu identifizieren. Die Mäuse der ver-
schiedenen Stämme (BALB/c bzw. HBA) unterscheiden
Congene und
Rückkreu- sich in ihrer physiologischen Konstitution (hohe bzw. nied-
zungsstämme rige IL-4-Aktivität und bronchiale Überempfindlichkeit,
Fragment von DBA/2-
Mäusen, homolog zum BHR); genetisch sind die HBA-Mäuse durch ein Fragment
menschl. Chr. 5q23-35 des DBA/2-Stamms charakterisiert, das diese geringe
Aktivität auf einem BALB/c-Hintergrund vermittelt. Die
Chromosom 11 Chromosom 11 Asthmaanfälligkeit war gering wie bei den ursprünglichen
DBA-Mäusen und zeigt, dass es sich dabei um einen re-
zessiven Phänotyp handelt. Auskreuzung nach BALB/c und
(BALB/c x
HBA)F1 Rückkreuzung erlaubt die Aufspaltung der Phänotypen
Genetische und ermöglicht eine Kopplungsanalyse. Die Feinkartie-
Kopplungs- rung auf dem Chromosom 11 ergab Hinweise auf Mitglie-
analysen der der Tim-Genfamilie (engl. T-cell immunoglobulin and
deuten auf mucin-domain containing protein) in dem Fragment, das ur-
Kim1 Phänotypisierung der N2-Mäuse
sprünglich aus den DBA/2-Mäusen kam. Tim1 der Maus ist
homolog zu dem Gen HAVCR1 des Menschen, das für den
zellulären Rezeptor des Hepatitis-A-Virus codiert (die ältere
Kopplungsanalyse Bezeichnung Kim1 bezieht sich auf die Niere: kidney injury
molecule). Eine Insertion von sechs Aminosäuren in diesem
Gen ist offensichtlich in der Lage, nach einer Hepatitis-A-
Positions- Chromosom 11
Infektion das Ausbrechen von Asthma zu vermeiden – oder
klonierung
umgekehrt: Eine Deletion von sechs Aminosäuren führt
zu einer erhöhten Empfindlichkeit. (Nach Wills-Karp und
Tim3 Tim1 Ewart 2004, mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group)

Assoziations-
studie

13 Atopie-freie Kontrolle Atopische Fälle

Tim1-
Variante
TH2
Hemmung kein Asthma
T-Zelle
Validierung in
Patienten und HAV
Kontrollen
Tim
TH2
T-Zelle Asthma

nen Vorwissens in einem Hypothesen-getriebenen Ansatz auf Die ersten Hypothesen-freien, genomweiten Assoziations-
die Beteiligung an Asthma getestet wurden. Das hat natürlich studien (GWAS) wurden etwa ab 2007 durchgeführt. Das erste
dazu geführt, dass viele Gene charakterisiert wurden, die immu- Gen, das in diesem Kontext mit Asthma in Zusammenhang ge-
nologische Funktionen haben. Wie die Bezeichnung dieses bracht wurde, ist ORMDL3. Es ist mit dem ORM1-Gen aus Sac-
Ansatzes schon aussagt, können auf diese Weise keine neuen charomyces cerevisiae verwandt (ORM1: Orosomucoid 1) und
Gene oder Stoffwechselwege in Bezug auf Asthma identifiziert hemmt die Sphingolipid-Synthese; es wird auch mit der indirek-
werden. ten Regulation der Ca2+-Signalwirkung des endoplasmatischen
Der Ansatz über Kopplungsanalysen in Familien, die an Reticulums in Verbindung gebracht. Die Asthma-relevante Vari-
Asthma erkrankt waren, war aus anderen Gründen eher enttäu- ation von ORMDL3 besteht wahrscheinlich in der Veränderung
schend – in über 25 Studien wurden (bis 2011) nur neun Gene seiner Expressionsstärke, wobei allerdings nicht nur die Expres-
erfolgreich identifiziert, die an Asthma beteiligt waren. Davon sion von ORMDL3 beeinflusst wird, sondern auch benachbarte
war allerdings nur eines (IRAK3: Interleukin-1-Rezeptor-assozi- Gene (z. B. GSDMB, codiert für das Protein Gasdermin B; alter-
ierte Kinase 3) bis dahin bekannt, sodass der Neuigkeitswert der native Bezeichnung gasdermin-like protein, Gensymbol: GSDML;
anderen Gene bedeutend war. Zu diesen neuen Genen gehörte OMIM 611221). Insgesamt wurden durch verschiedene GWAS
auch das oben erwähnte Gen ADAM33. über 50 Gene identifiziert, die mit der Entstehung von Asthma
13.4 · Komplexe Erkrankungen
651 13

Kopplung

sehr stark
A
SPINK5

Effektstärke der Risiko-Allele


(Netherton-Syndrom)

STAT3
(Hyper-IgE-Syndrom) GWAS

FLG
(Atopische Dermatitis)

Sequenz
C
ORMDL3
(Asthma)
sehr gering

TSLP, IL33
(Asthma)

sehr selten sehr häufig


Häufigkeit der Risiko-Allele
. Abb. 13.51 Genetische Architektur von Asthma und allergischen Erkrankungen. Es sind Beispiele für monogene Erkrankungen mit allergischen Erschei-
nungsformen gezeigt (A), die durch seltene Mutationen (< 1 %) mit hoher Penetranz hervorgerufen werden. Diese Gene können durch Kopplungsuntersu-
chungen in Familien entdeckt werden, bei denen sich die Erkrankung entsprechend den Mendel’schen Gesetzen aufspaltet. In der Mitte (B) sind komplexe
Erkrankungsformen dargestellt, die durch eher seltene Risiko-Allele (Häufigkeit in der Population: 1–5 %) mit mittlerer Effektstärke verursacht werden.
Komplexe Erkrankungsformen mit häufigen Risiko-Allelen (> 5 %) mit kleinen Effektstärken und hohen Penetranzen können durch GWAS entdeckt werden
(C). (Nach Ober und Yao 2011, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

assoziiert sind. Eine detaillierte Übersicht findet sich bei Ober det man verschiedene Formen (OMIM zeigt über 370 Einträge
und Yao (2011). . Abb. 13.51 zeigt die fließenden Übergänge und zu diesem Stichwort!), die aber im Wesentlichen zwei Grund-
Zusammenhänge zwischen den Allelfrequenzen und den Effekt- typen zugeordnet werden können:
stärken einiger Gene aus dem Bereich Asthma und allergischer 4 Typ I ist Insulin-abhängig und tritt meist im Adoleszenz-
Erkrankungen; diese Überlegungen können aber auch auf andere alter auf (0,2–0,3 % der Gesamtbevölkerung, 5–10 % aller
komplexe Erkrankungen angewendet werden. Diabetesformen, OMIM 222100);
4 Typ II (2–5 % der Gesamtbevölkerung, 90–95 % aller Dia-
> Asthma ist eine chronische Entzündung und Überemp-
betesfälle, OMIM 125853) ist nicht von Insulin abhängig
findlichkeit der oberen Atemwege, die häufig durch äuße-
und tritt meist in späterem Alter auf.
re Reize hervorgerufen wird. Wie für komplexe Erkrankun-
gen typisch, werden mehrere chromosomale Regionen
Weiterhin können von diesen beiden Grundtypen noch weitere
für beteiligte Gene diskutiert.
Formen abgegrenzt werden. Die eine Form wird als »Schwanger-
schaftsdiabetes« bezeichnet: Etwa 1–3 % der Frauen zeigen wäh-
rend der Schwangerschaft eine Glucoseintoleranz; die meisten
13.4.3 Diabetes davon (90 %) entwickeln später Diabetes. Die andere Gruppe
beinhaltet monogene Diabetes-Formen, die innerhalb der ersten
Unter normalen physiologischen Bedingungen führt der Eintritt 6 Monate nach der Geburt (Neugeborenen-Diabetes) oder bei
von Glucose in die β-Zellen des Pankreas zur Sekretion von In- jungen Menschen unter 25 Jahren diagnostiziert werden (MODY-
sulin. Das abgegebene Insulin wird über das Blut zu den peri- Diabetes, engl. maturity-onset diabetes of the young; OMIM
pheren Geweben transportiert, wo es an die Insulin-Rezeptoren 125850). Der Neugeborenen-Diabetes ist sehr selten (1:200.000
bindet. Die Insulin-Rezeptoren gehören zur Klasse der Tyrosin- Geburten); für diese Erkrankung sind Mutationen im Gen für
kinasen und setzen eine Kaskade biochemischer Prozesse in Glucokinase (GCK), in Genen für Untereinheiten eines K+-Ka-
Gang, die am Ende die Aufnahme von Glucose durch die Zelle nals (KCNJ11 und ABCC8) und im Insulin-Gen selbst (INS) ver-
bewirken und seine Umwandlung in Energie oder in die Spei- antwortlich. Diese Krankheitsform ist üblicherweise mit ver-
cherform Glykogen. Die dauerhafte Erhöhung des Blutzucker- mindertem intrauterinem Wachstum und einem verringerten
spiegels ist dagegen eine Krankheitsform und wird als Diabetes Geburtsgewicht verbunden; wenn die Funktion des K+-Kanals
bezeichnet. Sie ist in der Bevölkerung der westlichen Welt eine betroffen ist, kommen häufig neurologische Symptome hinzu.
wichtige Ursache von Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenversagen, MODY folgt einem autosomal-dominanten Erbgang und ist
Gefäßschäden und Blindheit (. Abb. 13.52). Klinisch unterschei- für etwa 1–2 % der Fälle von Diabetes verantwortlich; die wich-
652 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

. Abb. 13.52 Genetische Determina-


tion und pathogene Stoffwechselwege
führen zu Diabetes mellitus. Genetische
Anfälligkeit (blau) in Verbindung mit
Umweltfaktoren kann zu einem Anstieg
des Blutzuckerspiegels führen (grün-
roter Gradient), der wiederum zu ver-
schiedenen weiteren klinischen Manife-
stationen führen kann. Die wichtigsten
sind Ketoacidose und Koma (dunkelrot),
aber auch Angiopathien, die schließlich
zu Erkrankungen verschiedener Organe
führen können (rot). Typ-I-Diabetes
(violett) führt über Autoimmunprozesse
zur Zerstörung des Pankreas und kann
durch Insulin behandelt werden. Dage-
gen ist Typ-II-Diabetes (blau) durch eine
Insulinresistenz gekennzeichnet. MODY
(braun; engl. mature onset diabetes of the
young) wird als autosomal-dominantes
Merkmal vererbt und durch Mutationen
in verschiedenen Genen hervorgerufen
(. Tab. 13.8). (Nach Vogel und Motulsky
1997, mit freundlicher Genehmigung
von Springer)

tigsten Gene sind in . Tab. 13.8 zusammengestellt. Durch den kung handelt, d. h. körpereigene Stoffe werden als »fremd« er-
13 amerikanischen Diabetes-Verband und die Weltgesundheitsor- kannt. Die Hinweise dazu kamen aus drei Quellen: die Anwesen-
ganisation wurde eine überarbeitete Klassifikation eingeführt, heit entzündlicher Infiltrate in den Langerhans’schen Inseln und
die eher auf den Krankheitsursachen beruht, und entsprechend die Anwesenheit von Autoantikörpern, die mit Autoantigenen
ist MODY jetzt in die Gruppe der »genetischen Defekte der der Langerhans’schen Inseln reagieren. Unter genetischen Ge-
β-Zellfunktion« eingeordnet, wobei die genauere Unterteilung sichtspunkten ist aber besonders die Kopplung an den Haupthis-
entsprechend den beteiligten Genen erfolgt. Dabei fällt auf, dass tokompatibilitäts-Komplex (engl. major histocompatibility com-
Mutationen in GCK und INS auch für MODY verantwortlich plex, MHC) von besonderem Interesse. Das relative Risiko für
sind – wir hatten sie oben auch schon als kausal für den Neuge- Geschwister, an Typ-I-Diabetes zu erkranken, ist in Bezug auf die
borenen-Diabetes kennengelernt. MHC-Genregion 3,5-fach erhöht (eine detaillierte Darstellung
Typ-I-Diabetes wird durch eine Unfähigkeit zur Insulin- der genetischen Assoziationen mit Typ-I-Diabetes findet sich bei
produktion aufgrund der Zerstörung der β-Zellen des Pankreas Polychronakos und Li 2011).
verursacht. Die genetische Analyse dieses Typs gestaltete sich lan- Der Haupthistokompatibilitäts-Komplex wird bei Men-
ge Zeit sehr schwierig und hat viel dazu beigetragen, Diabetes als schen als humaner Leukocyten-Antigen-Komplex bezeichnet
den »Alptraum der Genetiker« zu bezeichnen: Die Konkordanz (engl. human leucocyte antigen complex, HLA). Der Genort auf
unter eineiigen Zwillingen im Alter von 40 Jahren liegt über 50 %, dem Chromosom 6 enthält über 200 Gene, die die Proteine der
wohingegen dizygote Zwillinge eine Konkordanzrate haben, die HLA-Klassen I und II codieren. Die Hauptaufgabe der HLA-
sich von derjenigen anderer Geschwister nicht unterscheidet Proteine ist die Präsentation von Peptiden als Antigene für
(5–6 %) – Umweltfaktoren spielen neben genetischen Faktoren die entsprechenden Rezeptoren auf CD4+- und CD8+-T-Zellen.
also eine wichtige Rolle. In diesem Kontext ist auch die Beobach- Die Moleküle der Klasse I werden in den meisten kernhaltigen
tung von Interesse, dass bei verschiedenen ethnischen Gruppen Zellen exprimiert und von den Genorten HLA-A, -B oder -C
große Unterschiede in der Häufigkeit von Typ-I-Diabetes auftre- codiert. Die Klasse-II-Proteine werden meistens in Antigen-
ten: Am häufigsten finden wir Typ-I-Diabetes bei Europäern und präsentierenden Zellen gefunden (z. B. Makrophagen und den-
am seltensten in Ostasien; Afrikaner nehmen eine mittlere Posi- dritische Zellen) und von den Genorten HLA-DP, -DQ und -DR
tion ein. Aber sogar in Europa ist ein starkes Nord-Süd-Gefälle zu codiert. Die Gene für beide Klassen zeigen einen hohen Grad
beobachten: Im Norden ist das Risiko, an Typ-I-Diabetes zu er- an Polymorphismen und entsprechend viele Allele. Im Typ-I-
kranken, 7-mal größer als im Mittelmeerraum. Diabetes konnten nun ganz deutlich Risiko-Patienten von
In den letzten Jahren hat sich herausgestellt, dass es sich beim Nichtrisiko-Patienten aufgrund spezifischer HLA-Allel-Kombi-
Diabetes Typ I im Wesentlichen um eine Autoimmunerkran- nationen (Haplotypen) unterschieden werden. Die deutlichste
13.4 · Komplexe Erkrankungen
653 13

. Tab. 13.8 Gene für MODY-Diabetes

Krankheit Protein/Gen (OMIM) Chromosom

MODY 1 Hepatocyten-Kernfaktor 4α (HNF4A) 20q12

MODY 2 Glucokinase (GCK) 7p15

MODY 3 Hepatocyten-Kernfaktor 1α (HNF1A) 12q24

MODY 4 Pankreas/Duodenum-Homöobox-Protein-1 (PDX1) 13q12

MODY 5 Hepatocyten-Kernfaktor 2α (TCF2; alternatives Gensymbol: HNF1B) 17cen-q21.3

MODY 6 Neurogene Differenzierung (NeuroD1) 2q32

MODY 7 Krüppel-ähnlicher Transkriptionsfaktor 11 (KLF11) 2p25

MODY 8 Carboxylester-Lipase (CEL) 9q34

MODY 9 Paired-box Gen 4 (PAX4) 7q32

MODY 10 Insulin (INS) 11p15.5

MODY 11 B-lymphoide Tyrosinkinase (BLK) 8p23

MODY 13 K+-Kanal (KCNJ11) 11p15

Nach Ashcroft und Rorsman (2012) und OMIM 606391 (Stand: April 2015)

Kopplung ergab sich dabei zu den DQ- und DR-Gruppen der sichtlich der Ausbruchswahrscheinlichkeit von Diabetes. Bei
HLA-II-Klasse. Anwesenheit aller drei Autoantikörper besteht eine Wahrschein-
Unter den Autoantigenen ragen drei in besonderer Weise he- lichkeit von 60–80 %, dass die Krankheit auch ausbricht. Eine
raus: Das erste ist eine Isoform der Glutaminsäure-Decarboxyla- genetische Ursache für die Bildung der Autoantikörper liegt
se (GAD65). Dieses Enzym besteht aus 585 Aminosäuren und wahrscheinlich in verschiedenen Kombinationen von HLA-Ha-
hat ein Molekulargewicht von 65 kDa; das entsprechende Gen ist plotypen, die unter bestimmten Umweltbedingungen zu einer
auf dem Chromosom 10 (10p11) lokalisiert. Etwa 60–80 % der Autoimmunreaktion führen. Führende Kandidaten für die Her-
neu diagnostizierten Typ-I-Diabetiker besitzen Autoantikörper stellung dieser Bedingungen sind Virusinfektionen.
gegen dieses Enzym, die überwiegend gegen bestimmte Oberflä-
chenstrukturen (Epitope) des mittleren und C-terminalen Be-
reichs des Enzyms gerichtet sind.
*Patienten, die an Diabetes Typ I leiden, haben oft weitere
Autoimmunerkrankungen wie Schilddrüsenerkrankungen
Das zweite wichtige Autoantigen gehört zur Familie der (15–30 %) oder Zöliakie (4–9 %). Diese Erkrankungen haben
membrangebundenen Protein-Tyrosinphosphatasen und wird eine familiäre Häufung und zeigen organspezifische Auto-
als IA-2 oder ICA512 bezeichnet. Es besteht aus 979 Aminosäu- antikörper, die zu prognostischen Biomarkern entwickelt
ren, die zu einem Molekulargewicht von 106 kDa führen; das werden können. Gene, die für den Ausbruch dieser Erkran-
Gen ist auf dem Chromosom 2 (2q35) lokalisiert. Das Protein kungen diskutiert werden, sind wiederum bestimmte HLA-
kommt in sekretorischen Vesikeln endokriner und neuronaler Haplotypen sowie MIC-A (MHC-I-verwandtes Gen A), PTPN22
Zellen vor; Untersuchungen an Knock-out-Mäusen deuten dar- (codiert für eine Tyrosinphosphatase) und CTLA4 (codiert für
auf hin, dass es für die Sekretion von Insulin wichtig ist. Auch das cytotoxische T-Lymphocyten-assoziierte Antigen-4)
gegen dieses Enzym hat eine große Anzahl neu diagnostizierter (Barker 2007).
Diabetiker (60–70 %) Antikörper, die exklusiv die intrazelluläre
Domäne von IA-2 erkennen. Mutationen im Insulin-Gen (Gensymbol: INS) selbst verursa-
Das dritte wichtige Autoantigen ist das Insulin selbst. Es ist chen seltene Formen des Diabetes und zeigen ähnliche Verlaufs-
nur aus 51 Aminosäuren aufgebaut; das Gen ist auf dem Chro- formen wie MODY. Andere Variationen des Insulin-Gens (unter-
mosom 11 (11p15) lokalisiert. Die Mehrzahl der Autoantikörper schiedliche Zahl von Wiederholungssequenzen oder SNPs) spie-
erkennt Oberflächenstrukturen der B-Kette. Autoantikörper ge- len eine größere Rolle bei der Anfälligkeit gegenüber Typ-I- und
gen Insulin findet man schon bei sehr jungen Kindern in vor- Typ-II-Diabetes (. Abb. 13.53). Die unterschiedliche Anzahl der
diabetischen Stadien; allerdings ist die Zahl der jugendlichen Wiederholungselemente (VNTR, engl. variable number of tandem
Typ-I-Diabetiker mit Autoantikörpern gegen Insulin geringer repeats) beeinflusst die Expression von Insulin im Thymus und
(nur 30–50 %) als bei den oben genannten Gruppen. ist in unterschiedlicher Weise mit dem Risiko assoziiert, an Dia-
Der Nachweis dieser Autoantikörper ist schon lange vor dem betes zu erkranken: Homozygotie für eine niedrige Zahl von
Ausbruch der Erkrankung möglich, was deutlich macht, dass Wiederholungseinheiten (26–63 Wiederholungen: Klasse I) ist
Typ-I-Diabetes eine chronische Erkrankung darstellt. Anderer- mit einem hohen Risiko für Diabetes verbunden, wohingegen die
seits hat diese Untersuchung auch gewisse Vorhersagekraft hin- hohe Zahl von Wiederholungseinheiten (140–200 Wiederholun-
654 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

TH 99,8 % INS
IGF2
-2221 +1404
MspI Fnu4HI
+1140 +1428
-2733 -293 -23 +805 A/C FokI
TH-Mikrosatellit A/C HincII HphI DraIII
+1127
PstI

Intron 1 Exon Intron Intron


Exon 2 Exon 3 Exon 1
14 1 2

Wiederholungssequenz
Zahl der Wiederholungselemente beträgt ~ 26–209

. Abb. 13.53 Polymorphismen im Insulin-Gen. Variationen im Insulin-Gen (INS) spielen eine wichtige Rolle in der Anfälligkeit gegenüber Diabetes, beson-
ders die VNTR-Region (engl. variable number of tandem repeats) in seinem Promotor. Die Anzahl der Wiederholungen des 14-bp-Elementes korreliert mit der
Expression von Insulin im Pankreas und Thymus, aber auch mit der Expression des IGF2-Gens (Insulin-Wachstumsfaktor 2) in der Plazenta; dieses Gen liegt
unmittelbar unterhalb des Insulin-Gens. Eine niedrige Zahl der Wiederholungseinheiten (26–63) ist mit einem hohen Risiko für Diabetes verbunden, wo-
hingegen eine hohe Anzahl der Wiederholungseinheiten (140–200) als Schutz vor Diabetes betrachtet wird. Oberhalb des Insulin-Gens befindet sich das
13 Gen für die Tyrosinhydroxylase (TH), ein wichtiges Enzym bei der Herstellung von Dopamin. Weitere Polymorphismen sind durch ihre relative Lage zum
Transkriptionsstart (in bp) und die entsprechenden Restriktionsenzyme angegeben. UT (blau): nicht-translatierte Bereiche des Transkripts. (Nach Černá
2008, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

gen: Klasse III) eher eine dominante Schutzwirkung hat. Die größten Einzelbeitrag leistet das Gen TCF7L2 (frühere Bezeich-
Klasse-I-Wiederholungen kommen bei Europäern zu etwa 70 % nung TCF4; Chromosom 10q25; OMIM 602228), das für einen
vor; Klasse-III-Wiederholungen dagegen nur zu etwa 30 % (die Transkriptionsfaktor codiert und über die Proglucagon-Hem-
mittlere Häufigkeitsgruppe – Klasse II – spielt bei Europäern kei- mung und den Wnt-Signalweg die Insulin-Sekretion beeinflusst.
ne Rolle). Klasse-III-Allele führen zu höherer Expression von Das entsprechende Risiko-Allel trägt etwa ein Drittel der Bevöl-
Insulin im Thymus. kerung in Europa, aber nur 2 % in Ostasien; das TCF7L2-Risiko-
Typ-II-Diabetes ist eine komplexe Volkskrankheit, bei der Allel erhöht das Risiko einer Diabeteserkrankung um den Fak-
viele genetische Faktoren und Umwelteinflüsse eine Rolle spie- tor 1,7. TCF7L2 ist darüber hinaus auch an der Entstehung von
len. Menschen mit einer deutlichen Familiengeschichte (wenn Dickdarmkrebs beteiligt.
beispielsweise ein Elternteil an Typ-II-Diabetes leidet) haben ein Das zweite Gen, das in vielen GWAS eine signifikante Asso-
30–40 % höheres Risiko, während ihres Lebens ebenfalls an Typ- ziation zu Typ-II-Diabetes aufweist, ist FTO (engl. fat mass and
II-Diabetes zu erkranken, als Menschen ohne eine derartige Fa- obesity-associated); es erhöht in Populationen europäischen Ur-
miliengeschichte. Typ-II-Diabetes hat einen klaren Bezug zu sprungs zusätzlich das Risiko für allgemeine Fettleibigkeit um
Fettleibigkeit (gemessen als Körpermassenzahl, engl. body mass 22 %. Es scheint, dass das Risiko-Allel zu einer erhöhten Energie-
index; Risiko ab 30 kg/m2), und die klinischen Bilder zeigen ein aufnahme führt, indem es die Appetitkontrolle des Hypothala-
vermindertes Ansprechen in den peripheren Geweben auf Insu- mus verändert. Den Zusammenhang zwischen FTO-Allelen und
lin (»Insulin-Resistenz«). Fettleibigkeit konnte man allerdings in Untersuchungen ver-
Besonders die Anwendung der schon mehrfach erwähnten schiedener afrikanischer Populationen nicht bestätigen. Offen-
SNP-Technologie bei systematischen, genomweiten Assoziati- sichtlich ist FTO also nur in europäischen Bevölkerungsgruppen
onsstudien (GWAS) hat einige Hinweise auf bestimmte Chro- mit Fettleibigkeit assoziiert; der Bezug zu Diabetes verschwindet
mosomenabschnitte gebracht (. Abb. 13.54). Insgesamt haben übrigens, wenn die Statistik für Fettleibigkeit korrigiert wird. Es
diese Studien elf Regionen identifiziert, die das Risiko für Typ- handelt sich also wohl eher um einen indirekten Beitrag von FTO
II-Diabetes in der europäischen Bevölkerung beeinflussen. Den zur Entstehung von Typ-II-Diabetes.
13.5 · Genbasierte Therapieverfahren
655 13

. Abb. 13.54 Genomweite Assoziationsstudien für Diabetes-Typ-II-Gene. Die Abbildung gibt eine Übersicht über die chromosomalen Regionen, die
mögliche Kandidatengene für Diabetes Typ II enthalten. Die y-Achse repräsentiert die p-Werte in einer logarithmischen Skala (−log10) und die x-Achse
jeden der 400.000 untersuchten SNPs. Der Punkt an den Pfeilen gibt den Ort des am höchsten assoziierten SNPs in jeder der neun bekannten Diabetes-
Typ-II-Regionen an. CDKAL1: CDK5 regulatory subunit-associated protein 1-like 1; CDKN2A–2B: CDK-Inhibitor; FTO: fat mass and obesity-associated; HHEX:
haematopoietically expressed homeobox; IDE: Insulin-abbauendes Enzym; IGF2BP2: insulin-like growth factor 2 mRNA-binding protein 2; KCNJ11: K+ inwardly-
rectifying channel, subfamily J, member 11; PPARG: peroxisome proliferator-activated receptor-γ gene; TCF7L2: transcription factor 7-like 2 (spezifisch für
T-Zellen, HMG-Box); WFS1: Wolframin (Mutationen führen zum Wolfram-Syndrom). (Nach Frayling 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group)

> Diabetes führt zu einer dauerhaften Erhöhung des Blut- funktioneller Erklärungsmuster. Eine aktuelle Diskussion
glucosespiegels. Diabetes Typ I ist Insulin-abhängig und epigenetischer, generationenübergreifender Auswirkungen
im Wesentlichen eine Autoimmunerkrankung. Diabetes der Ernährungslage der Mütter während der Schwanger-
Typ II ist Insulin-unabhängig und beruht auf verschiede- schaft, aber auch der Väter vor der Zeugung findet sich bei
nen Störungen in der Insulin-Signalkette. Desai et al. (2015).

*Inaufdenhingewiesen,
letzten Jahren haben epidemiologische Studien dar-
dass ein deutlicher Zusammenhang be- 13.5 Genbasierte Therapieverfahren
steht zwischen (dauerhafter) Mangelernährung des Embryos
bzw. Kindern und einem erhöhten Risiko, an Diabetes zu 13.5.1 Gentechnische Aspekte bei
erkranken. Hierzu gibt es bemerkenswerte Untersuchungen der Herstellung von Medikamenten
in den Niederlanden, wobei die Auswirkungen der Hungers-
not in einigen Teilen des Landes im Winter 1944/45 am In den vergangenen Jahren wurden viele gentechnische Prozesse
Endes 2. Weltkrieges auf die Ausbildung von Diabetes unter- in Gang gesetzt, die zunächst nur als Verheißung gesehen wor-
sucht wurden. Die Analyse zeigte, dass Mädchen, die im den waren. Wie diese biotechnischen Herausforderungen reali-
Alter von 11 bis 14 Jahren unter schwerer Unterernährung zu siert werden könnten, war zunächst oft unklar. Meilensteine in
leiden hatten, im Alter (zwischen 60 und 76 Jahren) signifi- der biotechnischen Herstellung von Medikamenten waren
kant häufiger an Diabetes erkranken; dieser Zusammenhang einmal die Herstellung von Insulin zur Diabetesbehandlung
gilt übrigens nicht für Jungen (Portrait et al. 2011). Aus der (7 Abschn. 13.4.3) und zum anderen des Blutgerinnungsfak-
gleichen Zeit stammen Beobachtungen aus Norwegen, wo tors VIII zur Behandlung der Hämophilie A (7 Abschn. 13.3.3).
alle neuen Fälle von Diabetes bei Erwachsenen statistisch Durch regelmäßige Injektion von Insulin können viele Kompli-
erfasst werden. Dabei beobachtete man in den Jahren kationen des Diabetes vermieden werden. Insulin zur Therapie
1940–1945 während des 2. Weltkrieges ein Absinken der wurde lange aus dem Pankreas von Rindern oder Schweinen
neu diagnostizierten Fälle von Typ-II-Diabetes bei über gewonnen, was jedoch mit mehreren Problemen verbunden war.
60-jährigen Menschen von etwa 10–12 % der Gesamtbevöl- Erstens unterscheiden sich Schweine- und Rinderinsulin in einer
kerung auf ca. 2 % – in der Nachkriegszeit stieg diese Zahl bzw. drei Aminosäuren vom menschlichen Protein. Zweitens war
dann rasch wieder auf das frühere Niveau. Typ-I-Diabetes die Reinheit der Präparate nicht immer gesichert, sodass sich bei
zeigte übrigens keine besonderen Schwankungen in dieser langfristiger Applikation durch die mehrfache tägliche Injektion
Zeit (Ashcroft und Rorsman 2012). Obwohl beide Phänome- oft Komplikationen durch Immunreaktionen ergaben. Außer-
ne deutliche Hinweise auf die Ernährungslage als Teil einer dem können Kontaminationen des aus Tieren gewonnenen In-
Erklärungsstrategie für Diabetes liefern, bedürfen sie noch sulins, beispielsweise durch Viren, weitere Gesundheitsproble-
656 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

me auslösen. Die gentechnologische Herstellung von Insulin in Im Einzelnen muss die zukünftige Entwicklung von Pharma-
Bakterien oder Hefen vermeidet solche Probleme und gewähr- ka folgende Punkte berücksichtigen:
leistet prinzipiell, dass menschliches Insulin mit großer Reinheit 4 Wir haben bei den komplexen Erkrankungen gesehen, dass
in ausreichender Menge zur Verfügung steht. es oft eine Vielzahl genetischer Faktoren gibt, die zur Ent-
Einen ähnlichen Weg hat die Bluterbehandlung genommen: stehung von Krankheiten beitragen. Entsprechend vielfältig
Zunächst wurden in den 1970er-Jahren Präparate entwickelt, die müssen auch die eingesetzten Präparate sein – und für je-
darauf basierten, dass aus menschlichem Blut der Gerinnungs- den Patienten bzw. für jede Patientin muss unter Umstän-
faktor VIII in relativ guten Ausbeuten und guter Reinheit isoliert den das »richtige« Präparat durch entsprechende genetische
werden konnte. Allerdings deutete sich Ende der 1980er-Jahre Diagnostik herausgefunden werden.
eine Katastrophe an, als immer mehr Bluter an HIV erkrankten, 4 Wechselwirkung des Medikaments mit seinen entspre-
weil die Kontamination des Spenderblutes mit HIV zunächst chenden »Rezeptoren« bzw. Interaktionspartnern: Durch
nicht erkannt und später nicht ausreichend überwacht wurde. Mutationen der entsprechenden Bindestellen können diese
Dies hatte zur Folge, dass fast eine ganze Generation von Wechselwirkungen von der Medikamentenseite her ver-
Hämophilie-Patienten gestorben ist. Die gentechnische Alter- stärkt werden; umgekehrt können Patienten bei der An-
native beruht auf der Nutzung von tierischen Zellkulturen, die wesenheit von Polymorphismen auf den Reaktionspartner
allerdings zunächst Rinderserum zum optimalen Wachstum be- unterschiedlich reagieren. Die Entwicklung leistungsfähiger
nötigten. Aufgrund der BSE-Krise am Ende des 20. Jahrhunderts SNP-Hochdurchsatzverfahren kann diese Unterschiede
wurde dann die Herstellung rekombinanter Faktor-VIII-Prä- erkennen.
parate weitgehend auf eine serumfreie Produktion umgestellt. 4 Aufnahme und Verteilung des Medikaments im Körper:
Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie die gentechnischen Verfahren Daran sind in vielfacher Weise Transportprozesse beteiligt,
die Herstellung von Medikamenten nicht nur vereinfachen und die von entsprechenden Proteinen gesteuert werden. Es ist
standardisieren, sondern auch von äußeren Risikofaktoren ab- denkbar, dass SNPs in Transportergenen die pharmako-
koppeln können. Die Arbeiten bei vielen gentechnischen Prä- kinetischen Eigenschaften von Stoffen entscheidend beein-
paraten gehen jetzt dazu über, die Produkte in ihren Eigenschaf- flussen; diese müssen daher mit untersucht werden bzw.
ten zu verbessern (z. B. die Wirkungsdauer zu verlängern oder schon bei der Herstellung der Medikamente berücksichtigt
ihr antigenes Potenzial zu vermindern). werden.
4 Ausscheidung des Medikaments aus dem Körper:
> Durch gentechnologische Verfahren ist es in vielen Fällen
Dazu gehören aktive und passive Prozesse. Die vielfache
(z. B. Insulin, Faktor VIII) möglich, Medikamente in ihrer
Arzneimittelresistenz (engl. multiple drug resistance,
humanen Form und hochrein herzustellen. In weiteren
13 Schritten können die Präparate dann zusätzlich optimiert
MDS) ist ein Phänomen, das bei Krebspatienten bekannt
ist und das nicht nur bei der Therapie berücksichtigt wer-
werden (z. B. Verlängerung der Halbwertszeit). Dadurch
den muss, sondern auch schon bei der Entwicklung neuer
wird die Wirkungsweise dieser Medikamente standardi-
Medikamente. Pharmakogenetische Unterschiede von
siert und die Möglichkeit von Nebenwirkungen reduziert.
Patienten haben oft ihre Ursache in populationsbedingten
Unterschieden in Fremdstoff-metabolisierenden
Enzymen.
13.5.2 Pharmakogenetik, Pharmakogenomik
und personalisierte Medizin Daher werden zukünftig Medikamente nicht nur auf ihre mög-
lichen Einflüsse auf den Metabolismus am Computer getestet
Die unterschiedlichen Reaktionen von Patientengruppen auf werden (solche Vorhersage-Programme gibt es bereits), sondern
ihre Medikamente in der Form von Unwirksamkeit bzw. starken auch mit ihren zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandenen Varianten
Nebenwirkungen sind die Grundlagen einer noch jungen Diszi- verglichen werden. Umgekehrt wird sich auf der Patientenseite
plin: personalisierte Medizin und damit verbunden eine indivi- eine genomische Voruntersuchung entwickeln, wobei zunächst
dualisierte Behandlung. Ausgangspunkt dabei ist die Annahme, die molekulare Diagnostik der Erkrankung im Vordergrund
dass ein unterschiedlicher genetischer Hintergrund bei verschie- steht. Es werden sicherlich aber auch bestimmte Allele routine-
denen Gruppen von Patienten dafür verantwortlich ist, dass sie mäßig überprüft werden, von denen bekannt ist, dass sie bei der
auf dasselbe Medikament in unterschiedlicher Weise reagieren, Antwort des Körpers auf ein Medikament die Wirkung beein-
auch wenn Umwelteinflüsse und psychische Faktoren (»Placebo- flussen (siehe oben: Diagnostik, Aufnahme, Transport und
Effekte«) eine Rolle spielen mögen. Um die Beziehung zwischen Elimination). Damit wird sich das Bild der pharmazeutischen
Humangenetik und die Reaktion auf Medikamente besser zu Industrie in den nächsten Jahren deutlich ändern.
verstehen, hat sich die neue Disziplin der Pharmakogenetik als
ein Zweig der Pharmakologie entwickelt, um genetische Varian- C Ein Beispiel ist das nicht-kleinzellige Lungenkarzinom. Daran
ten von Kandidatengenen zu identifizieren, die mit dem Metabo- erkranken in Deutschland jährlich 32.000 Menschen. Die
lismus von Arzneistoffen, ihrem Transport und ihrem jeweiligen meisten Patienten sterben trotz Chemotherapie innerhalb
molekularen Ziel in Verbindung stehen. Wegen des genomweiten eines Jahres; in nur ca. 10 % der Fälle wird der Krebs mit
Ansatzes hat sich heute die Pharmakogenetik allmählich zu einer IressaTM erfolgreich therapiert. IressaTM (allgemeiner Name:
Pharmakogenomik weiterentwickelt. Gefitinib, ein Anilinchinazolin) hemmt die Kinase-Aktivität
13.5 · Genbasierte Therapieverfahren
657 13
des Rezeptors für den epidermalen Wachstumsfaktor (EGFR).
In den klinischen Studien wurde beobachtet, dass der Lun-
Onkologie
genkrebs bei Japanern besser auf Iressa ansprach als bei
Psychiatrie
Amerikanern. Es wurden daraufhin 58 Japaner und 61 Ame-
Herz-Kreislauf-
rikaner auf somatische Mutationen im EGFR-Gen untersucht.
In 15 japanischen und in einem amerikanischen Patienten
Erkrankungen
wurden Mutationen in der Kinasedomäne identifiziert, die Infektions-
zu einer erhöhten Aktivität führen. Die weiteren Untersu- krankheiten
chungen zeigten, dass nur die Patienten mit einer Mutation, andere
die die EGFR-Kinasedomäne betrifft, auf IressaTM anspre-
chen, und erklären damit die geringen Therapieerfolge. Um-
. Abb. 13.55 Arzneimittel mit personalisierter Information. Die Zahlen in
gekehrt können jetzt Untersuchungen auf Mutationen im jedem Sektor geben an, wie viele Arzneimittel durch die amerikanische
EGFR-Gen die Notwendigkeit einer Iressa-Therapie begrün- Lebens- und Arzneimittelbehörde (Food and Drug Administration, FDA) in
den (Lynch et al. 2004, Paez et al. 2004). der jeweiligen Krankheitskategorie zugelassen sind und entsprechende
Hinweise in ihrer Packungsbeilage enthalten. (Nach Weng et al. 2013, mit
freundlicher Genehmigung von Future Medicine Ltd.)
Die amerikanische Lebens- und Arzneimittelbehörde (Food and
Drug Administration, FDA) hat bei mehr als 120 Medikamenten
mit Beziehungen zu über 50 Genen empfohlen, bei den Pa-
ckungsbeilagen auf die pharmakogenetischen Aspekte hinzuwei- men dabei zunächst diejenigen Erkrankungen in Betracht, die als
sen. Die meisten Arzneimittel betreffen Krebserkrankungen, monogene Erbkrankheiten bekannt sind.
psychiatrische Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen
und Infektionserkrankungen (. Abb. 13.55). Das liegt zum einen C Einer der ersten vielversprechenden Ansätze einer somati-
schen Gentherapie gelang bei der Behandlung der X-gekop-
an dem schmalen therapeutischen Fenster bei den Stoffen, die in
pelten, angeborenen, schweren kombinierten Immun-
der Chemotherapie angewendet werden, denn viele dieser Stoffe
schwäche (engl. severe combined immunodeficiency, SCID;
haben oft sehr schwere Nebenwirkungen. Deswegen ist es wich-
OMIM 300400). Diese Krankheit wird durch eine Mutation im
tig und notwendig, vorher die Risiko-Patienten für diese schwe-
IL2RG-Gen hervorgerufen, das für die γ-Kette des Interleu-
ren Nebenwirkungen zu identifizieren. Und zum anderen müs-
kin-2-Rezeptors codiert. Bei zehn betroffenen Kindern wur-
sen bei der Chemotherapie von Krebserkrankungen nicht nur
de das Knochenmark entnommen und die Knochenmarks-
ein genetisches System, sondern zwei (verwandte) Systeme be-
zellen ex vivo mit einem Replikations-defizienten retrovira-
trachtet werden, nämlich mögliche Mutationen der Keimbahn
len Vektor behandelt, der die funktionelle γ-Kette expri-
und somatische Mutationen im Krebsgewebe selbst. Mutationen
miert. Die so behandelten Knochenmarkszellen wurden
in der Keimbahn stellen einerseits eine mögliche genetische Dis-
wieder reimplantiert, besiedelten das lymphoide System
position für die Krebserkrankung dar, enthalten aber auch mög-
und stellten die Funktion des Immunsystems wieder her.
liche Hinweise für Besonderheiten bei Aufnahme, Transport und
Allerdings hatte diese Methode bei vier Patienten eine uner-
Elimination der jeweiligen Arzneimittel.
wartete Nebenwirkung, nämlich eine unkontrollierte Prolife-
> Bei manchen Erkrankungen reagieren Patienten auf ration der rekombinanten T-Zellen (ausgelöst durch eine In-
bestimmte Therapieformen nicht oder sehr unterschied- sertion in ein Onkogen in den behandelten Zellen), sodass
lich. »Personalisierte Medizin« versucht, die individuelle vier Patienten eine T-Zell-Leukämie entwickelten, die nur in
genetische Konstitution zu berücksichtigen und so eine drei Fällen durch Chemotherapie geheilt werden konnte;
»maßgeschneiderte« Therapie zu ermöglichen. der vierte Patient verstarb. Diese Arbeiten unterstreichen
die Notwendigkeit, die Expression der rekombinanten Gene
präzise zu regulieren und die Integrationsorte genau zu
überwachen, um solche Nebenreaktionen zu vermeiden
13.5.3 Somatische Gentherapie
(Zusammenfassung nach Humbert et al. 2012).

Somatische Gentherapien entwickeln sich zunehmend als eine Ein zentraler Aspekt jeder Art von Gentherapie ist die Notwen-
zwar technisch anspruchsvolle, aber dennoch praktisch durch- digkeit, DNA in eine Zelle zu bringen. Dies geschieht üblicher-
führbare Methode zur Behandlung menschlicher Erbkrankhei- weise mithilfe viraler Vektoren. Wir kennen heute weitgehend
ten. Dabei wird der Begriff »Gentherapie« breit genutzt, um sol- die Vor- und Nachteile bestimmter Vektorsysteme: So benötigen
che Veränderungen des Genoms zu beschreiben, bei denen die Viren spezifische Zelloberflächen für ihre Infektionen und kön-
Funktion eines defekten, aber wichtigen Gens wiederhergestellt nen deshalb nur bestimmte Zellen bzw. Gewebe infizieren (er-
oder die Fehlfunktion eines mutierten Gens beseitigt wird. Die wünschte Zell- bzw. Gewebespezifität). Andererseits ist ihre Pa-
ursprüngliche Strategie bestand darin, den Körperzellen eine ckungsgröße oft limitiert, sodass große Genfragmente nur
funktionelle Version eines mutierten Gens zur Verfügung zu stel- schwer übertragen werden können.
len. In jüngerer Zeit wurden darüber hinaus Strategien entwi- Vektoren auf der Basis von Retroviren und Lentiviren wur-
ckelt, die die zelleigenen Reparatursysteme benutzen, um mu- den häufig zum Gentransfer genutzt, weil sie mit hoher Effizienz
tierte Gene zu korrigieren. Als Ziele für eine Gentherapie kom- und Stabilität Gene übertragen; sie bergen aber ein deutliches
658 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Risiko einer Insertionsmutagenese (wegen der offenen Chroma- stelle benutzt wird. Diese Methode wird derzeit vor allem bei Mu-
tinstrukturen bevorzugt in der Nähe von aktiven Promotoren). tationen in großen Genen (z. B. dem Dystrophin-Gen) erprobt
Die effektive Größe von DNA, die übertragen werden kann, be- (Spitali und Aartsma-Rus 2012, Fairclough et al. 2013).
trägt 5–8 kb, da zwar die viralen gag-, pol- und env-Gene nicht Die Verwendung von RNAi basiert auf der Möglichkeit,
benötigt werden, dafür aber alle Gene, die für die Verpackung, dass durch antisense-RNA Gene ausgeschaltet werden können
Replikation und Integration der viralen DNA sowie für die Tran- (7 Abschn. 8.2.1). Dies ist natürlich besonders dann von großem
skription des Transgens notwendig sind. Um das Risiko der In- Interesse, wenn das mutierte Gen dominant-negative Wir-
sertionsmutagenese zu minimieren, wurden integrationsdefizi- kungen hat, wie wir das beispielsweise bei den expandierenden
ente Lentiviren entwickelt, die dadurch allerdings das Transgen Triplett-Mutationen kennengelernt haben (7 Abschn. 10.3.3;
nur transient exprimieren können (Retroviren wurden allgemein aber auch das Fragile-X-Syndrom im 7 Abschn. 13.3.3). Zur Be-
im 7 Abschn. 9.2 besprochen). handlung der Huntington’schen Erkrankung werden deshalb im
Adeno-assoziierte Viren (AAVs) verfügen nur über ein klei- Tierexperiment Methoden erprobt, mit denen kurze, nicht-
nes einzelsträngiges DNA-Genom (4,7 kb); für eine effiziente codierende RNA-Fragmente (7 Abschn. 8.2) über ein virales
Replikation benötigen AAVs in der Regel Helferviren. Um den- Vektorystem oder über Lipofektion in das Gehirn der Tiere
noch Mutationen in größeren Genen (z. B. im Dystrophin-Gen) übertragen werden können (Zhang und Friedlander 2011).
behandeln zu können, versucht man, entsprechende »Minigene« Zinkfinger-Nukleasen, TAL-Effektor-Nukleasen (TALENs)
zu entwickeln, die nur die absolut notwendigen Informationen und CRISPR/Cas9-Endonukleasen sind dagegen neue künstliche
enthalten. Es hat sich in der Anwendung gezeigt, dass Gentrans- Nukleasen, die sequenzspezifisch Doppelstrangbrüche in der
fers in immunprivilegierte Regionen mit teilungsinaktiven Zel- genomischen DNA induzieren, um auf diese Weise ein genomi-
len (Gehirn: Parkinson’sche Erkrankung; Retina: Leber’sche con- sches »Editieren« von DNA zu ermöglichen. Bei den Zinkfinger-
genitale Amaurose) erfolgreich durchgeführt werden können; Nukleasen erkennt jede Domäne (Zinkfinger) eine Region von
hier bleibt das rekombinante AAV-Genom wahrscheinlich als 3 bp – es müssen also mehrere Zinkfinger zusammenkommen,
Episom in den Zellen erhalten. Dagegen haben andere Therapie- um längere Sequenzabschnitte zu erkennen. Diese werden dann
versuche (z. B. gegen die Hämophilie B) Antikörper gegen virale mit der Nukleasedomäne des Restriktionsenzyms FokI fusio-
Proteine hervorgerufen. niert, um so eine Nuklease zu erhalten, die je nach Design jede
Vektor-freier Gentransfer ist in vielen Formen möglich: beliebige DNA-Sequenz spezifisch schneiden kann. TALENs ar-
durch Mikroinjektion, Elektroporation oder Lipofektion. Die beiten nach demselben Prinzip, sind aber leichter herzustellen,
Plasmid-DNA verfügt allerdings nur über eine begrenzte Über- da hier jede Domäne ein Basenpaar erkennt. Durch diese präzi-
lebenszeit im Zellkern, hat aber dafür ein geringeres Risiko für sere Herstellung der Sequenzspezifität werden gegenüber der
13 Integration. Zirkuläre Mini-DNA ist eine weitere, neue und Er- Zinkfingertechnologie Schnitte an der falschen Stelle (engl. off-
folg versprechende Methode: Sie basiert auf Plasmiden, bei de- target effects) vermieden. Die Doppelstrangbrüche werden dann
nen alle unnötigen Bestandteile entfernt wurden; sie sind nicht über zelluläre DNA-Reparatursysteme (homologe Rekombinati-
immunogen und werden offensichtlich durch die Wirtszelle onsreparatur, 7 Abschn. 10.6.4) oder nicht-homologe Verbin-
nicht abgeschaltet. dung von DNA-Enden (7 Abschn. 10.6.5) repariert. In einem
Für die Jahre 1989 bis 2014 wurden über 2100 klinische Unter- menschlichen Zellkultursystem wurde auf diese Weise gezeigt,
suchungen zur somatischen Gentherapie bereits begonnen oder dass die Mutation, die zur Sichelzellenanämie führt (7 Abschn.
sind abgeschlossen (siehe http://www.wiley.co.uk/genmed/clinical). 13.3.1) erfolgreich repariert werden konnte (Sun et al. 2012). Die
Davon wurden über 60 % in den USA durchgeführt, ca. 10 % in neueste Entwicklung beruht auf einem bakteriellen Immunsys-
Großbritannien und ca. 4 % in Deutschland. Obwohl in den tem (CRISPR: clustered regularly interspaced short palindromic
letzten Jahren große Fortschritte gemacht wurden, bleiben die repeats) und einer CRISPR-assoziierten Nuklease, Cas9. Dieses
bisherigen Ansätze zur Gentherapie noch weit hinter ihren ur- System ist einfacher in seiner Konstruktion als die beiden oben
sprünglichen Versprechungen zurück. Da im Zusammenhang genannten und scheint sich entsprechend durchzusetzen. Einen
mit einem allgemeinen Lehrbuch der Genetik nicht alle Aspekte Überblick über diese Methoden gibt 7 Technikbox 33.
detailliert dargestellt werden können, sei der interessierte Leser
> Somatische Gentherapie bietet eine realistische Zukunfts-
auf aktuelle Übersichtsartikel verwiesen (z. B. Humbert et al.
chance, viele erbliche Erkrankungen kausal und dauerhaft
2012).
bei Patienten zu behandeln.
Es sollen aber noch drei aktuelle Entwicklungslinien skizziert
werden:
Antisense-Oligonukleotide können verwendet werden, um
Spleißdefekte entweder zu reparieren oder große Deletionen mit 13.5.4 Genetik und Reproduktionsmedizin
einem vorzeitigen Stoppcodon wenigstens so zu modifizieren,
dass ein größerer Teil des jeweiligen Gens wieder translatiert wer- Im Unterschied zur somatischen Gentherapie ist die Keimbahn-
den kann. Dazu werden chemisch modifizierte Oligonukleotide therapie auf eine Veränderung der genetischen Konstitution der
(2’-O-Methylphosphorthioat- oder Phosphordiamidat-Morpho- Keimzellen gerichtet und beabsichtigt damit die Veränderung
linos) intravenös injiziert, um sich bei der unreifen mRNA der der Erbeigenschaften der zukünftigen Generationen. Experimen-
Zielgene so anzulagern, dass das Spleißen eines mutierten Exons te in dieser Richtung sind derzeit unter Wissenschaftlern geäch-
übersprungen wird (engl. exon skipping) oder eine neue Spleiß- tet und in Deutschland verboten. Allerdings sind Tendenzen im
13.5 · Genbasierte Therapieverfahren
659 13
Zusammenhang mit der modernen Reproduktionsmedizin zu kelt wurde. Das Experiment ist geglückt – es wurden Mäuse ge-
beobachten, die Veränderungen im allgemeinen ethischen Kon- boren, die sich normal entwickelten und auch auf »klassischem«
sens andeuten. Wege Nachwuchs erhalten haben.
Neben der Genetik haben in den letzten Jahren die Fort-
schritte in der Reproduktionsbiologie bzw. -medizin immer wie-
der für großes öffentliches Interesse gesorgt. Künstliche Befruch-
*Oregon/USA
Im Jahr 2007 berichtete dann erstmals ein Team aus
(Byrne et al. 2007) über die erfolgreiche Her-
tungen für Paare, die sonst keine Kinder bekommen können, stellung von Stammzellen von Rhesusaffen: Dazu verwen-
sind heute schon Routinemaßnahmen geworden. Dabei stellt deten die Forscher im Prinzip dieselbe Methode wie bei
sich immer wieder neu die Frage, wann individuelles mensch- dem ersten Klon-Schaf Dolly (. Abb. 12.56), nämlich den
liches Leben beginnt (und damit dem Schutz der allgemeinen somatischen Kerntransfer, hier allerdings aus Hautzellen
Menschenwürde unterliegt): mit der Befruchtung oder erst mit eines 9-jährigen männlichen Rhesusaffen. Der Zellkern aus
der Einnistung in die Gebärmutter einige Tage später? Diese diesen Hautzellen wurde in weibliche Eizellen übertragen,
Frage ist nicht rein akademischer, sondern von eminenter prak- denen der eigene Zellkern vorher entfernt wurde. Aus die-
tischer Bedeutung, weil nämlich für die künstliche Befruchtung sen Eizellen konnten Stammzellen gewonnen werden, die
durch Superovulation eine größere Zahl von Eizellen gewonnen sich unbegrenzt teilen und in jede Körperzelle differenzieren
und auch befruchtet wird – es wird aber nur ein Embryo jeweils können. Damit ist die Möglichkeit nähergerückt, dass auch
wieder zurückübertragen. Hier setzt dann auch die zweite Frage aus menschlichen Körperzellen Gewebe aller Art für The-
an: Soll man den Embryo vor der Rückübertragung auf mögliche rapiezwecke hergestellt werden kann, ohne den »Umweg«
Erbkrankheiten untersuchen und gegebenenfalls nur gesunde über ethisch problematische embryonale Stammzellen
Embryonen übertragen, oder soll man mit dieser Untersuchung gehen zu müssen.
einige Monate warten und dann den größeren Embryo aufgrund
einer medizinischen Indikation abtreiben? Wenn man die Allerdings ist es hiervon auch nicht weit, einen anderen Weg zu
Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens erst ab Einnistung defi- gehen, nämlich die so gewonnenen Stammzellen als embryonale
niert, gäbe es natürlich auch keinen Grund, die Verwendung Stammzellen zu verwenden, wachsen zu lassen und zu einem
»überzähliger Embryonen« für Forschungszwecke zu verbieten geeigneten Zeitpunkt in die Gebärmutter einzupflanzen. Und
und daraus z. B. embryonale Stammzellen herzustellen (das ist wenn es bei Schafen (Dolly) funktioniert, wird es auch bei Affen
derzeit in Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes gehen, und es gibt wahrscheinlich ähnliche technische Möglich-
verboten, und die überzähligen Embryonen müssen aufbewahrt keiten auch beim Menschen. Und man wird mit Sicherheit davon
werden). ausgehen können, dass dieses »Experiment« irgendwo auf der
Dazu kommt eine weitere neue Entwicklung, die wir im Welt auch durchgeführt werden wird.
7 Abschn. 12.7 über Stammzellen bereits angesprochen haben:
das Klonen von Organismen über somatische Zellen bzw. über > Die Verbindung molekulargenetischer Techniken mit ent-
entkernte Eizellen. Bereits im Jahr 2004 hatte ein japanisch-ko- sprechenden verbesserten Möglichkeiten der Reproduk-
reanisches Forscherteam (Kono et al. 2004) eine Eizelle der Maus tionsmedizin wird es erlauben, auch Menschen zu klonen.
hergestellt, in die zwei weibliche Chromosomensätze implantiert
wurden. Darüber hinaus wurden in den verwendeten weiblichen
Zellkernen die paternal bzw. maternal geprägten Gene Igf2 und
*Während der Drucklegung dieses Buches erschien ein Be-
richt über den (missglückten) Versuch chinesischer Forscher,
H19 (7 Abschn. 8.4) so verändert, dass der Eizelle und dem ge- eine Mutation des β-Globin-Gens (HBB) in befruchteten
samten Entwicklungsapparat die übliche Anwesenheit eines vä- menschlichen Eizellen mithilfe der CRISPR-Cas9-Technik zu
terlichen und eines mütterlichen Chromosomensatzes vorgegau- reparieren (Liang et al. 2015).

Kernaussagen
5 Die Methoden der klassischen Humangenetik beruhten im bei Verwandtenehen besonders hoch. Die häufigste autoso-
Wesentlichen auf der Stammbaum- und Zwillingsforschung. mal-rezessive Erkrankung in Mitteleuropa ist die Zystische
Dieser Ansatz wird heute ergänzt durch Geschwisterpaar- Fibrose (Mukoviszidose).
Analysen und Methoden der genetischen Epidemiologie. 5 Autosomal-dominante Erkrankungen haben eine Häufigkeit
5 Für Kopplungsanalysen steht eine Vielzahl von Mikrosatelliten- von ca. 1:10.000; die häufigste autosomal-dominante Erkran-
Markern und SNPs zur Verfügung; computergestützte Aus- kung ist die familiäre Hypercholesterinämie. X-chromosomal-
werteverfahren erlauben die Berechnung von LOD-Werten. dominante Erbkrankheiten sind selten; häufiger sind X-chro-
Kartierungen mit LOD-Werten > 3 sind statistisch signifikant. mosomal-rezessive Erkrankungen, die bei Männern immer
5 Fehlerhafte Chromosomenverteilungen während der meioti- zum Ausbruch kommen (Hemizygotie).
schen Teilungen sind häufig. Von den möglichen Aneuploidien 5 Eine besondere Gruppe von Krankheiten zeichnet sich durch
sind jedoch nur wenige lebensfähig (vor allem Trisomie 21 Triplettwiederholungen aus, die von einer Generation zur
und Monosomie X). Chromosomenaberrationen führen häufig nächsten massiv zunehmen können. Die Zunahme der Triplett-
zu spontanen Aborten. wiederholungen führt in vielen Fällen zu einem früheren Ein-
5 Die meisten Erbkrankheiten sind autosomal-rezessiv und da- trittsalter und einer schwereren Erkrankung. Beispiele sind die
mit schwer zu diagnostizieren; die Gefahr der Homozygotie ist Chorea Huntington und das Fragile-X-Syndrom.
660 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

5 Mitochondriale Erkrankungen mit Mutationen in der mito- geln für monogene Erkrankungen. Beispiele sind Asthma oder
chondrialen DNA werden matrilinear vererbt und weisen Diabetes.
häufig eine unvollständige Penetranz auf. 5 Bei manchen Erkrankungen reagieren Patienten auf bestimm-
5 Eine Vielzahl von Krebserkrankungen beruht auf Mutationen in te Therapieformen nicht oder sehr unterschiedlich. »Persona-
Keim- und Somazellen. Wir unterscheiden Onkogene (z. B. RAS, lisierte Medizin« versucht, die individuelle genetische Konsti-
FOS, MYC), Tumorsuppressorgene (z. B. TP53, RB1) und Mutator- tution zu berücksichtigen und so eine »maßgeschneiderte«
gene (z. B. XP-A bis XP-G). Therapie zu ermöglichen.
5 Viele Krankheiten haben »komplexe« Ursachen, d. h. an ihrer 5 Somatische Gentherapie bietet eine realistische Zukunfts-
Entstehung sind mehrere Gene und/oder Gen-Umwelt-Wechsel- chance, viele erbliche Erkrankungen kausal und dauerhaft bei
wirkungen beteiligt. Sie gehorchen nicht den Mendel’schen Re- Patienten zu behandeln.

Übungsfragen
1. Betrachten Sie den Stammbaum dieser erkrankt, und begründen Sie kurz Ihre Mei- Leber’schen congenitalen Amaurose er-
Familie: nung, wenn es ein Mädchen bzw. wenn es krankt sind. Zur molekularen Diagnostik
ein Junge wird. wenden Sie den funktionellen Kandidaten-
2. Was ist eine pseudoautosomale Region? gen-Ansatz an, dabei finden Sie in dem
Und was geschieht, wenn das SRY-Gen in Probanden eine Mutation, die in einem
die pseudoautosomale Region gerät? Gen zu einem Aminosäureaustausch führt.
3. Wie werden Mutationen im Mitochon- Nennen Sie vier allgemeine Kriterien, die
driengenom übertragen? Diskutieren Sie erfüllt sein müssen, um die Kausalität der
die Konsequenzen für die humangeneti- Mutation für das klinische Erscheinungs-
sche Beratung im Hinblick auf die Konse- bild zu beweisen.
quenzen für ein Kind, je nachdem ob der 5. Nennen Sie die wichtigsten Klassen krebs-
Vater oder die Mutter an einer Erkrankung erregender Viren. Welcher Virus ist für die
Um welchen Erbgang handelt es sich? leidet, die auf einer Mutation im Mitochon- Entstehung des Gebärmutterhalskrebses
Betrachten Sie das Kind mit dem Fragezei- driengenom basiert. verantwortlich? Und welche Konsequenz
chen, dessen Geschlecht nicht bekannt ist. 4. Angenommen, Sie betreuen eine kleine hat das für eine mögliche Prävention?
Beschreiben Sie das Risiko, dass das Kind Familie, in der einige Mitglieder an der

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13
Technikbox
663 13

Technikbox 32

Differenzielle Genexpression

Anwendung: Methode zur Untersuchung der mente dieser cDNA-Sequenzen (in der Regel mente mittels PCR erneut amplifiziert und
Genexpression in unterschiedlichen Geweben, so viele, wie auf einem Polyacrylamidgel sequenziert.
zu unterschiedlichen Zeiten oder zwischen nebeneinander charakterisiert werden kön- Durch den Vergleich der Bandenintensität der
Wildtypen und Mutanten. nen) mit einer Größe von einigen Hundert verschiedenen Proben können solche Gene er-
Voraussetzungen: Quantitativ und qualitativ Basenpaaren werden in einer PCR-Reaktion kannt werden, die unterschiedlich stark expri-
reproduzierbare RNA-Isolierung. mithilfe von Zufallsprimern amplifiziert. miert werden. Die differential display-Methode
Methoden: Die erste einfache Technik zur Ana- Die Bandenmuster werden ausgewertet, in- neigt allerdings zu einem großen Anteil falsch-
lyse von Genexpressionsprofilen war das diffe- dem die relativen Intensitäten von Banden positiver Kandidaten, sodass diese Ergebnisse
rential display. Dieses Verfahren vergleicht die aus verschiedenen experimentellen Proben durch unabhängige Experimente, etwa Hybri-
Genexpression von zwei oder mehreren Expe- verglichen werden. Nur in einer Probe exis- disierung mit Northern-Blotting (7 Technikbox
rimenten miteinander, die sich aus den Basis- tierende Banden oder mit unterschiedlicher 14) oder Real-Time-PCR (7 Technikbox 4) be-
techniken der reversen Transkription (7 Tech- relativer Intensität in mehreren Proben exis- stätigt werden müssen. Eine andere Möglich-
nikbox 8) und PCR (7 Technikbox 4) zusam- tierende Banden repräsentieren potenziell keit ist die Analyse differenzieller Genexpres-
mensetzen: unterschiedlich synthetisierte mRNA-Sequen- sion auf Chips (7 Technikbox 35) oder durch
Durch die Auswahl der Primer wird festgelegt, zen. Um diese zu identifizieren, werden die die moderne Methodik der RNA-Sequenzie-
welche Untermenge der mRNA-Proben in entsprechenden Gelstücke ausgeschnitten, rung (7 Technikbox 10).
cDNA-Kopien überführt wird. Zufällige Frag- gereinigt und die erhaltenen cDNA-Frag-
664 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

Technikbox 33

Gezieltes Editieren von Genomen


Anwendung: Veränderungen in Genomen aller loge Rekombinationsreparatur (engl. homolo- Bezug auf eine HIV-Therapie (Veränderung
Art. gy-directed repair, HDR; 7 Abschn. 10.6.4) und des CCR5-Locus) sogar schon in der klinischen
Voraussetzungen: Kenntnis der Zielsequen- die nicht-homologe Verbindung von DNA-En- Prüfung.
zen; embryonale Stammzellen oder befruch- den (engl. nonhomologous end joining, NHEJ;
tete Zygoten; Tierstallkapazitäten. 7 Abschn. 10.6.5). Es haben sich insbesondere Zinkfinger-Nukleasen
Methoden: Zinkfinger-Nukleasen, TAL-Effektor- drei Systeme herausgebildet: Zinkfinger-Nu- Die Cys2-His2-Zinkfinger-Domäne ist bei Euka-
Nukleasen (TALENs), CRISPR/Cas9. kleasen, TALENs und CRISPR/Cas9, die in ihren ryoten eine der am weitesten verbreiteten
Im vergangenen Jahrzehnt wurden neue Me- Grundlagen kurz vorgestellt werden. Ein DNA-Bindedomänen (7 Abschn. 7.3.2). Ein
thoden entwickelt, die es erlauben, nahezu grundsätzliches Problem, das bei der jeweili- individueller Zinkfinger besteht aus ca. 30
jedes Gen in jedem Organismus gezielt zu ver- gen Anwendung besonders beachtet werden Aminosäuren; drei davon binden spezifisch an
ändern; im englischen Schrifttum hat sich da- muss, ist die Möglichkeit der Nebenreaktion, die DNA. Durch einen modularen Aufbau von
bei der Begriff genome editing durchgesetzt. d. h. dass die Nukleasen die DNA auch an einer sechs Zinkfingern können Sequenzen von
Die Basis dieser neuen Technologie sind gen- anderen Stelle als der gewünschten schneiden 18 bp spezifisch erkannt werden. Zur Spaltung
technisch umgearbeitete Nukleasen, die mit können (engl. off-target cleavage). Die Systeme der DNA werden diese Zinkfinger mit der Re-
einer sequenzspezifischen DNA-Bindedomäne eignen sich zur Anwendung in verschiedenen striktionsendonuklease FokI gekoppelt. Die
fusioniert sind. Diese chimären Nukleasen er- zellulären Systemen, embryonalen Stammzel- optimale spezifische Spaltung wird erreicht,
möglichen eine effiziente und präzise geneti- len oder befruchteten Eizellen. Gegenüber wenn zwei unabhängige Zinkfinger so konst-
sche Modifikation durch die Einführung ge- den hier dargestellten Standardsystemen gibt ruiert werden, dass sie an beide Stränge der
zielter DNA-Doppelstrangbrüche (DSBs), die es für verschiedene Anwendungen viele Ab- DNA in einem geeigneten Abstand voneinan-
wiederum die zellulären DNA-Reparaturme- wandlungen im Detail; therapeutische Anwen- der binden. Durch die eingefügten Doppel-
chanismen stimulieren, besonders die homo- dungen sind in Aussicht und befinden sich in strangbrüche wird bevorzugt das NHEJ-DNA-

13

Spaltung durch ZFN

Zugabe von DNA

Nicht-homologe Verbindung
von DNA-Enden

Homologe
Rekombinationsreparatur

Unterbrechung des Gens Korrektur des Gens


Hinzufügen eines Gens

Eine Zinkfinger-Nuklease (ZFN), bestehend aus drei Zinkfingern (ZF), ist mit der katalytischen Domäne des FokI-Restriktionsenzyms fusioniert. Jede
Zinkfingerdomäne bindet an drei Nukleotide und kann so die ZFN insgesamt an eine spezifische Stelle im Genom heranführen. Zwei ZFN, die eine
spezifische Sequenz an beiden Strängen der DNA erkennen, sind nötig, damit eine Dimerisierung von zwei unspezifischen FokI-Nukleasen möglich
wird. Dadurch wird ein Doppelstrangbruch in der DNA erzeugt, der von der Zelle repariert werden kann. Die fehlerbehaftete NHEJ-Reparatur führt
dabei zur Unterbrechung des Gens; alternativ kann durch Zugabe einer DNA-Reparatur-Vorlage die HDR bevorzugt werden, sodass eine gezielte
Korrektur oder ein Hinzufügen eines Gens möglich wird. (Nach Wijshake et al. 2014, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
Technikbox
665 13

Reparatursystem aktiviert, sodass aufgrund einem pflanzenpathogenen Bakterium. TALE- Handhabung als Alternative zu Zinkfinger-Nu-
der Ungenauigkeiten bei der Reparatur ver- Proteine haben Domänen, die aus 33 bis 35 kleasen und TALENs entwickelt. Es basiert auf
schiedene Mutationen an der Bruchstelle ent- Aminosäuren bestehen und jeweils eine Base einem bakteriellen Immunsystem gegenüber
stehen können. Durch gleichzeitige Zugabe ei- spezifisch erkennen. Verantwortlich dafür ist fremder DNA, die durch einen RNA-gesteuer-
nes DNA-Fragments mit homologen Armen zu eine hypervariable Region aus zwei Amino- ten Mechanismus gespalten wird. Der CRISPR-
der Zielsequenz wird der HDR-Mechanismus säuren (engl. repeat variable di-residue) an der Genort ist durch eine Reihe von DNA-Wieder-
bevorzugt, sodass gezielte Mutationen mög- Position 12 und 13 der Domäne. Daraus ergibt holungseinheiten von 20–50 bp charakteri-
lich sind. sich ein einfacher »Code«: Asn–Asn für G, Asn– siert, die durch Zwischenstücke ähnlicher Grö-
Ile für A, His–Asp für C und Asn–Gly für T. ße voneinander getrennt sind (engl. clustered
TALENs Durch die Verbindung mit der FokI-Nuklease regularly interspaced short palindromic repeats,
Das TALEN-System (engl. transcription activa- ergibt sich eine ähnliche Anwendung wie bei CRISPR). Die Zwischenstücke entstehen durch
tor-like effector nuclease) arbeitet ähnlich wie den Zinkfinger-Nukleasen. Abbau von DNA aus einer Phageninfektion; sie
das Zinkfinger-Nukleasen-System mit einem werden entsprechend in den CRISPR-Locus
Hybrid aus einer DNA-bindenden Protein- CRISPR/Cas9 eingebaut und bei einer erneuten Infektion
domäne mit der FokI-Nuklease. In diesem Fall Das CRISPR/Cas9-System wurde aufgrund abgelesen. Die RNA wird so gespalten, dass je-
handelt es sich um Proteine von Xanthomonas, seiner besonders einfachen und effizienten weils ein Palindrom mit einem Zwischenstück

Wiederholungsdomäne NLS AD

variable Region

TALEN-induzierter
DSB

Nicht-homologe Verbindung Homologe


von DNA-Enden Rekombinationsreparatur

Unterbrechung des Gens Korrektur des Gens


Hinzufügen eines Gens

Ein TALE ist durch seine zentrale DNA-bindende Wiederholungsdomäne charakterisiert; der C-Terminus enthält außerdem eine Kernlokalisations-
sequenz (NLS) und eine Aktivierungsdomäne (AD). Die vergrößerte Sequenz einer DNA-bindenden Domäne enthält als variablen Bereich (rot) die
beiden Aminosäuren Asn und Gly (NG) und erkennt damit das T in der darunter dargestellten DNA-Sequenz. Durch die Fusion der DNA-bindenden
Wiederholungsdomäne mit der katalytischen Domäne des FokI-Restriktionsenzyms wird an diesem T ein Doppelstrangbruch (DSB) eingeführt. Die
DNA-bindende Wiederholungsdomäne ist farbcodiert: rot erkennt T, grün C, blau A und gelb G. Zwei TALENs, die eine spezifische Sequenz an beiden
Strängen der DNA erkennen, sind nötig, damit eine Dimerisierung von zwei unspezifischen FokI-Nukleasen möglich wird. Der DSB kann von der
Zelle repariert werden. Die fehlerbehaftete NHEJ-Reparatur führt dabei zur Unterbrechung des Gens; alternativ kann durch Zugabe einer DNA-
Reparatur-Vorlage die HDR bevorzugt werden, sodass eine gezielte Korrektur oder ein Hinzufügen eines Gens möglich wird. (Nach Wijshake et al.
2014, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
666 Kapitel 13 · Genetik menschlicher Erkrankungen

als CRISPR-RNA (crRNA) entsteht; die crRNA korrekte Spaltung werden noch zwei weitere tierung des Genoms hat sich das Cas-Protein 9
bildet zusammen mit dem CRISPR-assoziierten Elemente benötigt: eine trans-aktivierende aus Streptococcus pyogenes als besonders
Protein (Cas) einen Komplex, der die fremde crRNA (tracrRNA) und ein kurzes DNA-Motiv effizient erwiesen – daher hat sich CRISPR/
DNA aufgrund der Komplementarität mit dem (3 bp), das dem Vorläufer des Zwischenstücks Cas9 als Bezeichnung für das Gesamtsystem
Zwischenstück erkennt und durch die Nuk- benachbart ist (engl. protospacer adjacent eingebürgert.
lease-Aktivität von Cas schneidet. Für eine motiv, PAM). Für die Anwendung in der Edi-

Cas9

fremde DNA

PAM

crRNA
Zwischenstück-DNA

tracrRNA

Cas9

genomische DNA
13 PAM

spezifische gRNA-Sequenz

gRNA
(crRNA-tracrRNA-
Chimäre)

CRISPR/Cas9-
induzierte Spaltung

spezifischer DSB

Mechanismus des CRISPR/Cas9-Systems. Oben: Zerstörung fremder DNA-Sequenzen. Nach der Infektion durch Viren oder Plasmide erkennt die
crRNA die Zwischenstücksequenz der fremden DNA und bindet daran (zusammen mit der anhängenden PAM-Sequenz). Die trans-aktivierende
crRNA (tracrRNA) verstärkt die Bindung an die entsprechende DNA-Sequenz und leitet damit den crRNA-vermittelten Doppelstrangbruch durch die
Verbindung mit der Cas9-Nuklease ein. Der Doppelstrangbruch ist ortsspezifisch und entsteht 3 bp oberhalb der PAM-Sequenz (schwarze Pfeile).
Unten: Editieren des Genoms durch das CRISPR/Cas9-System. Eine konstruierte gRNA (Leit-RNA, engl. guide RNA), bestehend aus einem crRNA-Ele-
ment und tracrRNA, erkennt die Zielsequenz in der genomischen RNA mit der benachbarten PAM-Sequenz. Dadurch entsteht ein Komplex mit Cas9,
sodass in die Zielsequenz spezifisch ein Doppelstrangbruch (DSB) eingeführt werden kann. Dieser wird dann durch das zelluläre Reparatursystem
wieder repariert. (Nach Wijshake et al. 2014, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
667 14

Verhaltens- und Neurogenetik

Mönchsgrasmücken dienen zur Untersuchung der genetischen Grundlagen des Zugverhaltens der Vögel.
(Foto: Peter Berthold, Radolfszell)

14.1 Visuelles System und endogene Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669


14.1.1 Genetik des visuellen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669
14.1.2 Zugverhalten bei Vögeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672
14.1.3 Zirkadiane Rhythmik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
14.1.4 Schlafstörungen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683
14.2 Lernen und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
14.2.1 Lernverhalten von Drosophila . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
14.2.2 Lernverhalten bei Mäusen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
14.2.3 Kognitive Störungen bei Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691
14.3 Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . 693
14.3.1 Angst und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
14.3.2 Suchtkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699
14.3.3 Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
14.4 Neurologische Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
14.4.1 Rett-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
14.4.2 Migräne und Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713
14.4.3 Autismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716
14.5 Neurodegenerative Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 717
14.5.1 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718
14.5.2 Alzheimer’sche Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
14.5.3 Parkinson’sche Erkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
668 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Überblick

Sehen ist einer der wichtigsten Wege, um polygenen Regulationssystemen festgelegt; xeren Verhaltensweisen beigetragen. Dazu
Signale aus der Umwelt aufzunehmen und die individuelle Ausprägung von Verhaltens- gehören Angst und Depression genauso wie
sich in der Umwelt orientieren zu können. weisen wird jedoch in unterschiedlichem das Suchtverhalten, z. B. gegenüber Alkohol.
Wir diskutieren hier einige Aspekte der Seh- Ausmaß durch Umwelteinflüsse mitbestimmt. Die eher im Alter auftretenden neurodegene-
bahn und der genetischen Elemente, wie die Das macht es zunächst schwierig, festzustel- rativen Erkrankungen wie Alzheimer oder
Neurone des Sehnerven ihren Weg finden, um len, wie hoch die erblichen Komponenten Parkinson waren zwar als Krankheit schon
sich im Chiasma opticum zu kreuzen – oder solcher Verhaltensweisen sind. lange akzeptiert (im Gegensatz etwa zu Sucht-
auch nicht. Wir werden sehen, dass die Wahr- Vergleichende Untersuchungen an ver- erkrankungen), allerdings hat auch hier erst
nehmung von Licht für viele zyklisch ablau- schiedenen Modellorganismen und dem die Genetik wesentlich dazu beigetragen, die
fende Prozesse von entscheidender Bedeu- Menschen haben aber auch gezeigt, dass viele Entstehung der jeweiligen Krankheit besser zu
tung ist. genetische Elemente auch beim Menschen verstehen. Bei psychiatrischen Erkrankungen
Verhaltensgenetische Experimente, die in konserviert sind und so beispielsweise Einfluss wie der Schizophrenie steht man dagegen in
den letzten Jahren systematisch an verschie- auf unseren Schlaf haben (»innere Uhr« und diesem Punkt noch am Anfang. Aber auch hier
denen Modellorganismen durchgeführt wur- »zirkadiane Rhythmik«) oder unser Gedächtnis ist es so, dass es nicht nur bestimmte chromo-
den, zeigen, dass wesentliche Teile tierischen und Lernverhalten beeinflussen. Die Komplexi- somale Kandidatenregionen gibt, in denen wir
und menschlichen Verhaltens genetisch be- tät dieser Regelsysteme gestattet eine schnelle Empfindlichkeitsgene für Schizophrenie ver-
stimmt werden. Das gilt für verschiedene mikroevolutive Anpassung an geänderte Um- muten können, sondern dass bereits erste
rhythmische Verhaltensweisen bei Pflanzen, weltbedingungen. Gene mit ihren Mutationen identifiziert wur-
Pilzen, Insekten und Säugern genauso wie für Besonders der Vergleich von Mausmutan- den – ähnlich wie wir das bei anderen komple-
so schwer verständliche und komplexe Verhal- ten mit ähnlichen Erkrankungen des Men- xen Erkrankungen (Diabetes, Asthma) bereits
tensweisen wie z. B. das Zugverhalten von schen hat viel zum neuen Verständnis der kennengelernt haben.
Vögeln. Verhalten ist vielfach genetisch in genetischen Komponenten bei noch komple-

Auf der Grundlage der Untersuchungen von Verhaltensforschern Wenn es feststeht, dass wesentliche Teile tierischen (und da-
kann es keinen Zweifel geben, dass tierisches (und natürlich somit mit auch menschlichen) Verhaltens genetisch programmiert
auch menschliches) Verhalten auf einer genetischen Grundlage sind, ist die zentrale Frage, in welchem Ausmaß Verhaltenswei-
beruht. Man kann sich hierbei die Tatsache des artspezifischen sen unwiderruflich festgelegt bzw. in ihrer Ausprägung von Um-
Paarungsverhaltens von Tieren ebenso vor Augen halten wie das welteinflüssen abhängig sind. Die Frage muss ähnlich beantwor-
universelle Verständnis menschlicher Gestik in verschiedenen tet werden wie die nach der genetischen Grundlage von Krank-
Kulturkreisen – beides Verhaltensweisen, die offenbar genetisch heiten: Für unterschiedliche Verhaltensweisen ist das Ausmaß
weitgehend festgelegt sind. Dazu gehört auch das Verhalten von der genetisch festgelegten Programmierung unterschiedlich. In
Graugänsen, die nach dem Schlüpfen auf ein bestimmtes Bild als vielleicht noch größerem Ausmaß als Krankheiten sind Verhal-
14 »Muttertier« festgelegt werden. Zu den Charakteristika dieser ge- tensweisen polygen beeinflusst und daher bezüglich ihres gene-
netischen Festlegungen gehört aber auch, dass sie in begrenzter tischen und ihres umweltbedingten Anteils im Detail sehr schwer
Weise in ihrer spezifischen Ausprägung durch Wechselwirkungen analysierbar.
mit einer (variablen) Umwelt veränderbar sind (umweltbedingte Dazu kommt: Die Analyse von Verhalten und seiner geneti-
Variabilität, 7 Abschn. 1.2.1; komplexe Erkrankungen, 7 Abschn. schen Komponenten macht die Zusammenarbeit auf Gebieten
13.4): Genetisch sind bestimmte Muster programmiert, die aber notwendig, die bisher wenig miteinander zu tun hatten. Die Zu-
erst durch das Einwirken von spezifischen Umwelteinflüssen in sammenarbeit von Genetikern mit Biochemikern, mit Mathema-
der einen oder anderen Form zur Ausprägung kommen. Verhal- tikern, mit Anatomen und mit klinischen Medizinern aller Spe-
ten kann daher als ein Phänotyp von Tieren angesehen werden, zialgebiete ist etabliert. Kooperationen im Bereich der Verhal-
der den gleichen genetischen Regeln unterworfen ist wie alle üb- tensbiologie, Psychologie und gar Psychiatrie sind noch eher et-
rigen biologischen Funktionen. Wir wollen uns in diesem Kapitel was ungewohnt – allerdings ist es gerade die Genetik, die mit den
dabei zunächst der Modulation durch die Umwelt widmen – sie genomweiten Assoziationsstudien ein neues Instrument zur
wird im Wesentlichen durch die Sinnesorgane vermittelt: sehen, Verfügung gestellt hat, mit dessen Hilfe viele alte Fragen neu
riechen, hören, schmecken und alle Empfindungen über die Haut. gestellt werden können. Dazu kommt, dass die Maus als zentrales
Wir greifen dabei exemplarisch das Sehen heraus und betrachten Modellsystem auch bei Verhaltens- und Neurogenetikern große
uns dabei vor allem die genetischen Komponenten, die dazu bei- Bedeutung gewinnt: Die Kombination moderner molekularge-
tragen, dass die Signale aus der Retina an die »richtigen« Stellen netischer Methoden bei der Herstellung von Mutanten mit Ver-
im Gehirn kommen (und wir werden dabei feststellen, dass ver- haltenstests, die man früher an Ratten unternommen hatte, hat
schiedene Spezies diese »richtigen« Stellen durchaus unterschied- uns viele neue Erkenntnisse gebracht, die wir im Laufe des Kapi-
lich interpretieren). Wir wollen uns im Weiteren eher mit den tels immer wieder diskutieren werden. Damit wurde eine (rela-
endogenen Aspekten beschäftigen und dabei einen weiten Bogen tiv) schnelle funktionelle Charakterisierung von mutierten Ge-
spannen von einigen Verhaltensweisen, die durch die endogene nen möglich, die zu einem reproduzierbar unterschiedlichen
Rhythmik gesteuert werden, über die Fähigkeit zu lernen bis hin Verhalten führen. Im Vordergrund steht dabei, den Phänotyp so
zu einigen genetischen Aspekten des Suchtverhaltens, zu neuro- genau zu definieren, dass eine genetische Charakterisierung
logischen und zu neurodegenerativen Erkrankungen. möglich wird.
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
669 14
. Abb. 14.1 Regionale Zuordnung von Ver-
halten im Gehirn. Studien an Gehirnverlet-
zungen, pharmakologische Ansätze und die
Analyse genetisch veränderter Mäuse sowie
von Patienten mit Gehirnerkrankungen haben
zur funktionellen Definition verschiedener
Gehirnareale in Bezug auf Verhalten geführt:
Der Hippocampus ist wichtig für räumliches
und kontextabhängiges Lernen, wohingegen
die Amygdala (Mandelkern) bei Furcht und
Angst eine wichtige Rolle spielt. Der Hypo-
thalamus ist für die zirkadiane Rhythmik ver-
antwortlich und reguliert Schlaf-Wach-Zyklen
sowie die physiologische Homöostase. Das
Cerebellum (Kleinhirn) ist für das Lernen von
Bewegungsabläufen und ihre Koordination
bedeutsam. Durch geeignete Verhaltenstests
kann die Funktion einzelner neuraler Systeme
in mutanten Mäusen getestet werden. (Nach
Bućan und Abel 2002, mit freundlicher Geneh-
migung der Nature Publishing Group)

Ergänzt wird diese genetische Analyse durch einen enormen ohne diesen Zeitgeber ist dann die Periodizität oft verlängert
Fortschritt in der Auflösung der morphologischen Analyse der oder verkürzt. Zu diesen Licht-abhängigen Zyklen gehört der
Genexpression. Die regionale und zelltypspezifische Expression Tag/Nacht-Wechsel ebenso wie der jahreszeitliche Wechsel. Ein
von Genen im Gehirn – während der Embryonalentwicklung wesentliches Element ist dabei nicht nur die Fähigkeit, Hell und
und später – haben dazu geführt, dass bestimmte Gruppen von Dunkel zu unterscheiden, sondern auch, sich im Raum zu orien-
Verhaltensweisen einzelnen Regionen zugeordnet werden kön- tieren. Wir wollen daher zunächst mit der Darstellung einiger
nen (z. B. Angst und Furcht der Amygdala, zirkadiane Rhythmik beispielhafter genetischer Elemente zum Aufbau des visuellen
dem Hippocampus usw.; . Abb. 14.1). Im Folgenden sollen nun Systems beginnen und dann mit dem jahreszeitlichen Wechsel
einzelne Beispiele aus der Neuro- und Verhaltensgenetik im De- und seinem Einfluss auf das Verhalten der Zugvögel fortfahren.
tail betrachtet werden. Dabei werden wir auch immer wieder Im Weiteren werden wir uns der zirkadianen Rhythmik und den
genetische Aspekte von anderen Spezies heranziehen, um Hin- verschiedenen Bedingungen und Einflüssen auf das Schlafver-
weise auf entsprechende Verhaltsweisen bzw. Erkrankungen halten widmen.
beim Menschen zu gewinnen. Dabei handelt es sich um eine be-
wusste Beschränkung auf die Genetik – es ist vollkommen klar,
dass es auch andere Ansätz gibt, die wichtige Beiträge zu der je- 14.1.1 Genetik des visuellen Systems
weiligen Fragestellung leisten.
In früheren Kapiteln dieses Buches haben wir an verschie-
> Verhaltensweisen sind komplex und damit experimentell
denen  Stellen genetische Aspekte besprochen, die das Sehen
schwieriger zu analysieren als monogene Phänotypen.
beeinträchtigen können: die Familie der Kristallin-Gene der
Sie gehorchen aber prinzipiell den gleichen Gesetzen wie
Augenlinse (7 Abschn. 7.2.4) oder unter entwicklungsgeneti-
andere komplexe Phänotypen. Die aktuelle Kombination
schen Aspekten die Augenentwicklung in verschiedenen Spezies
präziser phänotypischer Charakterisierung mit genom-
(7 Abschn. 12.4.6, 7 Abschn. 12.5.3 und 7 Abschn. 12.6.4). Wir
orientierten Methoden der Genetik ermöglicht eine
wollen diesen Gedanken hier fortführen und am Beispiel der
rasante Zunahme unseres Wissens über genetische
Kreuzung der Sehbahn im Chiasma opticum zeigen, wie Gene
Grundlagen von Verhalten.
die Ausbildung komplexer Strukturen des Gehirns steuern
können.
Alle Wirbeltiere entwickeln aus einer zentralen Augenanlage
14.1 Visuelles System und endogene Rhythmik zwei Augen, deren Gesichtsfelder zumindest teilweise überlap-
pen. In . Abb. 14.2a ist die menschliche Situation dargestellt: Wir
Viele Verhaltensweisen weisen eine gewisse Periodizität auf – sie sehen, dass das Objekt auf beiden Retinae abgebildet wird, und
kehren also immer wieder. Die zeitliche Schwankungsbreite ist es muss dann natürlich eine Möglichkeit geben, diese Informa-
dabei sehr groß und reicht von Sekundenbruchteilen bis zu ei- tion im Gehirn zu einem Bild zusammenzuführen und auszu-
nem Jahr. Dabei stellen wir fest, dass zwar viele rhythmische Pro- werten. Dazu ist es sinnvoll, die entsprechenden retinalen Gan-
zesse ohne einen äußeren Impuls ablaufen können, aber es bedarf glienzellen wieder zusammenzuführen. Dies gelingt, indem sie
meistens eines äußeren Zeitgebers, der die Übereinstimmung des – jedenfalls teilweise – die Seite des Gehirns wechseln; beim
endogenen Rhythmus mit den Umweltbedingungen herstellt – Menschen verlaufen etwa 60 % der retinalen Ganglienzellen kon-
670 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Präfrontale
Rinde
Parietallappen
„Wo?”
Ort und Bewegung
von Objekten

V1 Primäre Sehrinde
V4 V3 V2
R
Temporallappen
CO Amygdala „Was?” – Eigenschaften
b Emotionale Bewertung von Objekten
CGL

V1
a

. Abb. 14.2 Die Sehbahn des Menschen. a Die Nervenzellen der Retina (R) werden im Sehnerv (Nervus opticus) gebündelt und erreichen zunächst die
Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum, CO). Dort kreuzt der nasale Teil des Sehnervs auf die andere Seite des Gehirns (kontralateral), während der tempo-
rale Teil auf derselben Seite (ipsilateral) verbleibt. Die erste Relaisstation ist in beiden Fällen das Corpus geniculatum laterale (CGL), der seitliche Kniehöcker
im Thalamus, wo sich die temporalen Axone des einen Auges mit den nasalen Axonen des anderen Auges treffen. In den Kniehöckern wird synaptisch auf
weiterführende Neurone umgeschaltet; einer der wichtigsten weiterführenden Stränge ist die retinotektale Projektion in die primäre Sehrinde (visueller
Cortex, V1-Region oder Cortex striatum – nicht zu verwechseln mit dem Corpus striatum der Basalganglien). Die räumliche Anordnung der Retina findet
sich auf diese Weise im Sehzentrum wieder (retinotope Abbildung): Das Objekt (der Pfeil) wird entsprechend von beiden Retinae wahrgenommen, und die
entsprechenden Informationen werden in einem Teil des primären Sehzentrums zusammengeführt. b Die anatomische Lage der verschiedenen visuellen
Auswerte- und Speichersysteme. (Nach Müller und Frings 2007, mit freundlicher Genehmigung durch Springer)

tralateral. Die übrigen verbleiben auf der gleichen Seite und Körperhaltung stattdessen von vorderen Hügeln. Bei Vögeln sind
werden als ipsilaterale Bahnen bezeichnet. Beide Bahnen enden nur diese vorderen Hügel ausgebildet und sehr stark entwickelt.
14 jeweils in den seitlichen Kniehöckern des Thalamus (Corpus Hier liegt das primäre Sehzentrum der Vögel, es wird auch als
geniculatum laterale). Die Axone der retinalen Ganglienzellen Tectum opticum bezeichnet.
werden bis zum Chiasma opticum als Sehnerv bezeichnet und Wir haben oben schon gesehen, dass sich im Bereich der
vom Chiasma opticum zu den seitlichen Kniehöckern als Tractus Sehbahnkreuzung (Chiasma opticum) ein Teil der Sehnerven
opticus. kreuzt und ein Teil auf der gleichen Seite des Gehirns weiterläuft.
In den seitlichen Kniehöckern erfolgt eine synaptische Um- Der Anteil der gekreuzten und nicht-gekreuzten Sehnerven ist
schaltung; die visuelle Information gelangt von dort als Sehstrah- in verschiedenen Spezies unterschiedlich (. Abb. 14.3a, b): Bei
lung (Radiatio optica) zum primären Sehzentrum in der Hirn- Primaten und Menschen liegt der Anteil der nicht-gekreuzten
rinde (V1; . Abb. 14.2b). Das primäre Sehzentrum stellt die Sehnerven bei ca. 40 %, bei Mäusen nur bei etwa 3–5 %, und bei
Repräsentation der Retina auf der Hirnrinde dar, wobei die Seh- Fischen und Vögeln erfolgt keine ipsilaterale Weiterleitung der
zellen von Punkt zu Punkt auf die entsprechenden Rindenareale Sehbahn (viele Albino-Wirbeltiere zeigen übrigens eine vermin-
projizieren (retinotope Abbildung bzw. retinotektale Projektion). derte ipsilaterale Projektion). Amphibien zeigen ein weiteres,
Im primären Sehzentrum werden vor allem Kontraste, Konturen interessantes Phänomen: Der Krallenfrosch Xenopus hat als
und Bewegungen herausgearbeitet; in den höheren Sehzentren Larve lateral lokalisierte Augen, kein binokulares Sehen und voll-
(V2–V5) werden diese Informationen weiterverarbeitet (z. B. ständig gekreuzte Axone der retinalen Ganglienzellen. In der
Bewegungsrichtungen, Objektanalysen nach Form, Größe und Metamorphose rotieren die Augen nach vorne, die adulten
Farbe etc.). Frösche erwerben binokulares Sehen, und es entwickelt sich eine
In den seitlichen Kniehöckern zweigen aber auch Bahnen zu neue Population ipsilateral projizierender retinaler Ganglien-
den Augenmuskelkernen, Akkomodationsmuskeln und Pupil- zellen. Daraus ergibt sich ein klarer Hinweis, dass der Weg der
lenmuskeln ab, um entsprechende Reflexe zu steuern (Augenbe- Sehnerven genetisch festgelegt ist und nicht durch Zufall dem
wegungen, Akkomodation und Pupillenreflex). Diese Fasern einen oder anderen Weg folgt. . Abb. 14.3d gibt einen Überblick
ziehen zu den oberen Hügeln (Colliculi superiores) der Vierhü- über die Situation bei der Maus.
gelplatte (Lamina quadrigemina oder auch Lamina tecti) im Mit-
telhirn. Die Colliculi superiores fungieren als optische Reflex- C Das erste Gen, dessen Bedeutung für die Kreuzung der
zentren. Bei Tieren sprechen wir aufgrund der nicht aufrechten Sehbahnen herausgearbeitet werden konnte, ist Zic2, das
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
671 14

a Maus b Zebrafisch c Fliege

Slit1 Slit2 Slit


Slit2 Slit3
kreuzende Axone
nicht-kreuzende Axone

D
d
T N
Ephrin-B2
ZIC2-positive RGCs V
ipsilaterale
EphB1-positives Axon Projektion
Chiasma opticum
frühe kontralaterale
Sehbahn Projektion
transiente kontralaterale
ipsilaterale Projektion
Projektion

e
Ephrin-B2 am Chiasma opticum
ZIC2 in VT RGCs
EphB1 in DC RGCs EphB1 in VT RGCs
E11 E12 E13 E14 E15 E16 E17 E18

Bildung von RGCs


Projektionen Projektionen
von DC RGCs von VT RGCs
. Abb. 14.3 Kreuzung der Sehbahnen am Chiasma opticum. Maus (a) und Zebrafisch (b) weisen unterschiedliche Formen der Kreuzung der Sehbahnen
auf; zum Vergleich dazu der ventrale Nervenstrang bei Drosophila (c). Im visuellen System der Vertebraten fungieren die Slit-Proteine als »Leitplanken« am
Chiasma opticum; wohingegen Slit am ventralen Nervenstrang von Drosophila als »Schrankenwärter« wirkt. d Ausbildung des Chiasma opticum während
der Embryonalentwicklung der Maus. ZIC2-exprimierende retinale Ganglienzellen (RGCs) bilden die ipsilateral-projizierenden Axone; sie exprimieren auch
den Ephrin-Rezeptor B1 (EphB1) und haben daher die Möglichkeit, die Ephrin-B2-Signale am Chiasma opticum zu empfangen. Axone, die EphB1 nicht ex-
primieren, kreuzen die Mittellinie und treffen dann auf die kontralaterale Sehbahn. e In der Zeitachse ist gezeigt, dass die ersten RGCs in der Maus in der
dorso-zentralen (DC) Retina am Tag 12 der Embryonalentwicklung (E12) gebildet werden. Die meisten davon projizieren kontralateral, aber einige wenige
auch vorübergehend ipsilateral. Die dauerhaft ipsilateral projizierenden Axone entstehen zwischen E14,5 und E17,5 in der ventrotemporalen (VT) Retina.
Diese Axone exprimieren ZIC2 und den Ephrin-Rezeptor B1; Ephrin-B2 wird am Chiasma opticum zwischen E13,5 und E17,5 beobachtet. D: dorsal, N: nasal;
V: ventral, T: temporal. (Nach Rasband et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

für einen Zinkfinger-Transkriptionsfaktor codiert. ZIC2 EphB1 reguliert. Umgekehrt sind der Transkriptionsfaktor
ist für die Herausbildung des ipsilateralen Weges wichtig: Islet2 und das neuronale Zelladhäsionsmolekül NrCam für
In Zic2-Knock-down-Mäusen ist der ipsilaterale Anteil deut- die kontralaterale Wegfindung verantwortlich, wie ent-
lich vermindert. Wenn dagegen umgekehrt die Expression sprechende Mausmutanten und die Analyse der entspre-
von Zic2 in dorso-temporalen Retina-Explantaten erhöht chenden Expressionsmuster in den retinalen Ganglienzellen
wird, werden mehr Axone von Chiasmazellen zurückge- zeigen (eine ausführliche Darstellung findet sich bei Petros
wiesen, und der Anteil der ipsilateralen Axone steigt. Dieser et al. 2008).
Mechanismus der Zic2-Wirkung ist offensichtlich evolutionär
konserviert, da dessen Expression in Xenopus-Fröschen > Der Verlauf der Sehbahn und insbesondere der Anteil der
und in Frettchen mit dem Anteil an ipsilateralen Axonen gekreuzten und nicht-gekreuzten Axone der retinalen
korreliert. Die Zurückweisung der Axone am Chiasma ist Ganglienzellen sind genetisch festgelegt. Eine besondere
auch wesentlich abhängig von der Expression von EphB1, Rolle spielen dabei der Transkriptionsfaktor ZIC2 und der
das für den Ephrin-Rezeptor B1 codiert. Offensichtlich arbei- Ephrin-Rezeptor B1 für die ipsilateralen Axone sowie der
ten ZIC2 und EphB1 im gleichen Signalweg, und man ver- Transkriptionsfaktor Islet2 und das Zelladhäsionsmolekül
mutet, dass der Transkriptionsfaktor ZIC2 die Expression von NrCam für die kontralateralen Axone.
672 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

14.1.2 Zugverhalten bei Vögeln 4 Ein zweites genetisch festgelegtes Element des Vogelzuges
ist die Wanderungsrichtung und -dauer.
Es gibt Verhaltensweisen, bei denen wir zunächst eher an einen
starken Umwelteinfluss denken würden, die aber tatsächlich Beide Parameter sind in einem – in seiner sinnesphysiologischen
strikt genetisch festgelegt sind. Als ein eindrucksvolles Beispiel Basis unbekannten – Navigationssystem genetisch festgelegt.
für eine solche Situation hat sich in letzter Zeit die genetische Die Genetik beider Merkmalskomplexe, die wahrscheinlich
Programmierung des Vogelzuges herausgestellt. Die Genetik eng miteinander verknüpft sind, wurde durch Peter Berthold
dieses Verhaltens soll im Folgenden in einigen Grundaspekten und Mitarbeiter (Pulido et al. 1996) vor allem am Zugverhalten
zusammengefasst werden, da sie bemerkenswerte Parallelen der Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla) und des Garten- und
zu anderen Erkenntnissen der Biologie aufweist; sie verspricht Hausrotschwanzes (Phoenicurus phoenicurus und P. ochruros)
neue Einsichten in bisher ganz unverstandene biologische Me- (. Abb. 14.4) untersucht. Während die Mönchsgrasmücke so-
chanismen. wohl als Zugvogel als auch als Standvogel und mit unterschied-
Die Existenz von Zugvögeln und Standvögeln ist ein biologi- lichen Zugrichtungen in Eurasien und Afrika vorkommt, ist der
sches Phänomen, das bereits seit Jahrtausenden Interesse gefun- Gartenrotschwanz ein Langstreckenzugvogel (Zugziel: Afrika
den hat. Nach heutiger Sicht ist die verfügbare Futtermenge ein südlich der Sahara), der Hausrotschwanz jedoch ein Kurz-
wesentliches Kriterium, das die Entscheidung zwischen Verbleib streckenzieher (in den Mittelmeerraum). Die Rotschwanzarten
am Brutort und der Wanderung in Winterquartiere bestimmt. sind miteinander kreuzbar, sodass Hybride untersucht werden
Bisher wurde es als nahezu selbstverständlich angesehen, dass können.
das Zugverhalten ein abgeleitetes, d. h. sekundäres erworbenes Die Versuche zur Erblichkeit des Zugverhaltens wurden an
Verhalten ist. Das würde zugleich auf eine polyphyletische (d. h. südfranzösischen Mönchsgrasmücken durchgeführt, deren Po-
mehrfache und voneinander unabhängige) Entstehung deuten. pulation etwa 25 % Standvögel enthielt. Die Ermittlung des Cha-
Diese Annahme wird durch die neuere genetische Analyse rakters (d. h. Stand- oder Zugvogel) kann durch Messung der
des Zugverhaltens und damit verbundener anderer Merkmale Migrationsaktivität der Individuen während der Zugperioden
infrage gestellt. Ähnlich wie es sich bereits für die entwicklungs- erfolgen, d. h. es werden die Bewegungshäufigkeiten des Vogels
genetischen Vorgänge der Augenentstehung von Insekten im Käfig registriert. Kreuzt man Individuen mit hoher Migra-
(. Abb. 12.36) und Säugern (. Abb. 12.48) gezeigt hatte, scheint tionsaktivität, so erhält man bereits in der F3 praktisch aus-
das Zugverhalten der Vögel evolutionär sehr alt und daher schließlich Individuen, die sich wie Zugvögel verhalten. Kreuzt
monophyletischen Ursprungs zu sein. man hingegen Individuen mit Standvogelcharakter (keine Mi-
Für das Vogelzugverhalten sind mindestens zwei genetische grationsaktivität), so besteht die F3 zu 80 % aus Standvögeln und
Merkmalskomplexe getrennt zu betrachten: nach sechs Generationen sind ausschließlich Nichtzieher vor-
4 Zum einen sind es die sich jährlich wiederholenden Zug- handen (. Abb. 14.5a). Dieses Ergebnis belegt einerseits, dass das
rhythmen, die genetisch programmiert sind. Dass es eine Zugverhalten genetisch festgelegt ist. Andererseits zeigt es, dass
14 genetisch festgelegte Verhaltensperiodizität gibt, ist für den genetisch bedingte Verhaltensänderungen in einer Population
Tagesrhythmus bereits seit Langem bekannt. Man bezeich- sehr schnell erfolgen können, d. h. dass eine Adaption an Milieu-
net sie als Tagesperiodizität (engl. circadian rhythm). Beim veränderungen durch Selektion mit großer Effektivität erreicht
Vogelzug zeigt sich nun eine genetisch bedingte Jahres- werden kann.
periodizität oder zirkannuale Rhythmik (engl. circannual Wie . Abb. 14.5b zeigt, betrifft das aber nicht nur die Zug-
rhythm). Bestimmend ist in beiden Fällen die Lichtperiodik aktivität an sich, sondern auch ihre Dauer. Aus den quantitativen
(Tageslichtdauer). Beziehungen zwischen Elterntieren und ihren Nachkommen in

. Abb. 14.4 Rotschwänze eignen sich für Artkreuzungen, sodass die genetischen Grundlagen des Zugverhaltens untersucht werden können: Der Garten-
rotschwanz (links) ist ein Langstreckenzieher, der Hausrotschwanz (2. von links) ein Kurzstreckenzieher. Hybride (3. und 4. von links) und der Rückkreuzungs-
hybrid mit einem Hausrotschwanz (rechts) gestatten ein detailliertes Studium der genetischen Komponenten des Zugverhaltens. (Foto: Peter Berthold,
Radolfszell)
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
673 14
a N
Nichtzieher

75:25%
267

Zieher
a P F1 F3 F6

b Altvögel von England F1-Nachkommen


Zugaktivität
Nachkommen

450
Zugaktivität

1500

90%
500 150 70%
50%
500 1500 5 15 25 Jungvögel aus Deutschland
b Eltern Generationen
. Abb. 14.5 Erblichkeit des Zugverhaltens. a Durch Selektion gelingt es,
aus teilziehenden Mönchsgrasmücken aus Südfrankreich innerhalb weni-
ger Generationen entweder ein Verhalten zum Nichtzieher oder zum aus-
schließlichen Zugverhalten zu erreichen. Die Mikroevolution verläuft mit
einer überraschenden Geschwindigkeit innerhalb von drei Generationen.
b Links ist die Beziehung der Zugaktivität der ersten Wegzugperiode von
Mönchsgrasmücken, die in Volieren gezüchtet wurden (»Nachkommen«) in
Beziehung zu der ihrer Elternvögel gezeigt. Die Steigung der Regressions- c
geraden der positiven Korrelation ergibt die Erblichkeit (Heritabilität); sie
beträgt etwa 0,4. Basierend auf diesen Daten wurde eine Modellrechnung
durchgeführt (rechts): Würde die Zugaktivität der ersten Wegzugperiode auf
niedrigere Werte selektiert, könnten die jetzigen Populationen der Mönchs-
grasmücken (450 h Zugaktivität) bereits nach etwa zehn Generationen aus W W E
Kurzstreckenziehern (150 h Zugaktivität) bestehen (gestrichelte Linie); das
gilt für die Voraussetzung, dass sich 70 % der Vögel erfolgreich fortpflanzen ad. juv.
(die Alternativen mit 50 und 90 % sind ebenfalls gezeigt). (Nach Berthold
2001, mit freundlicher Genehmigung der Max-Planck-Gesellschaft)
S S
. Abb. 14.6 Zugrichtung von Mönchsgrasmücken. a In Orientierungs-
Bezug auf die Zugaktivität kann man abschätzen, dass etwa 40 % käfigen können die Richtungspräferenzen bei Startversuchen von Mönchs-
erblich bedingt sind (Heritabilität = 0,4). In der Anwendung be- grasmücken und deren Hybriden durch Messungen zur Zugzeit ermittelt
werden. Der innere Kreis zeigt die Richtungspräferenzen von Mönchsgras-
deutet das, dass bei einer mittleren Fortpflanzungsrate von 70 % mücken aus Süddeutschland (grün, SW) und Österreich (rot, SO) sowie au-
bei Anwesenheit geeigneter Umweltbedingungen als Selektions- ßen die Richtungspräferenz von Hybriden aus beiden Populationen, die
faktoren innerhalb weniger Generationen eine vollständige Än- sich intermediär verhalten. Jedes Dreieck stellt ein Individuum dar; große
derung des Zugverhaltens möglich wäre. Dreiecke: Mittelwerte. b Der linke Kreis zeigt die Richtungspräferenz von
In ähnlichen Versuchen lässt sich die Richtungspräferenz Mönchsgrasmücken, die in England gefangen und in Süddeutschland getes-
tet wurden: Ihre Richtungspräferenz ist nicht standortgebunden, sondern
des Zugverhaltens ermitteln. Durch Messung der Richtungsprä- bleibt erhalten. Das bestätigt sich auch bei ihren Nachkommen (rechter
ferenz im Orientierungskäfig wurde gezeigt, dass sie ebenfalls Kreis). Unten: Kontrollvögel aus Süddeutschland. Jedes Dreieck stellt ein In-
genetisch fixiert ist. In den Experimenten wurden Mönchsgras- dividuum dar; Pfeile: Mittelwerte. c Ein kurzer, aber starker magnetischer
mücken aus Süddeutschland einerseits (Zugrichtung: Südwes- Puls kann bei adulten Zugvögeln (hier australische Silberaugen: Zosterops I.
ten) oder Österreich (Zugrichtung: Südosten) gepaart. Die lateralis; links) die Orientierung verändern, nicht aber bei juvenilen Tieren
(rechts). Die offenen Symbole zeigen die Kontrolldaten vor dem Magnetpuls,
Nachkommen zeigten eine Orientierung ihrer Zugpräferenz, die die schwarzen Symbole danach. (a, b nach Berthold 2001, mit freundlicher
etwa in der Mitte der Elternindividuen liegt (. Abb. 14.6a). Genehmigung der Max-Planck-Gesellschaft; c nach Wiltschko und Wiltschko
Dass sich die genetisch festgelegte Zugrichtung in relativ 2006, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)
kurzer Zeit ändern kann, wurde ebenfalls an Mönchsgrasmücken
festgestellt. Vögel aus Süddeutschland ziehen gewöhnlich in den
Mittelmeerraum. In den letzten 30 Jahren hat sich jedoch eine Südwesten starteten. Diese Vorzugshaltung wurde auch bei den
Teilpopulation entwickelt, die nach England zieht. Die bevorzug- Nachkommen der in England gefangenen Vögel beibehalten
te Wanderungsrichtung von Mönchsgrasmücken, die in England (. Abb. 14.6b). Der populationsgenetische Vorteil (7 Abschn. 11.5),
gefangen wurden, wurde mit denen aus Süddeutschland vergli- d. h. eine höhere Fitness, dürfte darin liegen, dass der Abstand
chen. Die englischen Vögel bevorzugten dabei eine westliche zum Winterquartier (England) kürzer und die Konkurrenz um
Richtung, wohingegen die süddeutschen Vögel eher in Richtung Futter geringer ist. Der kürzere Abstand ermöglicht eine frühere
674 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Rückkehr, die einen zeitigeren Brutbeginn zur Folge hat und da- Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Magnetfeldes und
durch günstigere Brutpflegebedingungen ergibt. Die daraus resul- seiner Änderungen sind natürlich entsprechende Strukturen in
tierende Auswahl mit gleichartigen Artgenossen (engl. assortative der Zelle, die dafür die physikalischen Voraussetzungen bieten.
mating) beschleunigt dabei solche Evolutionsprozesse (Bearhop Von Bakterien (z. B. Magnetospirillum gryphiswaldense aus Greifs-
et al. 2005). wald oder Magnetospirillum magneticum) wissen wir, dass sie ihre
Eine große – und noch immer im Prinzip ungelöste Frage – Bewegungsrichtung an einem Magnetfeld ausrichten können. Ge-
ist die, wie die Zugvögel sich über die weiten Strecken orien- meinsam ist diesen Bakterien, dass sie Eisen-reiche, Membran-
tieren  können. Infrage kommen dafür das magnetische Feld umschlossene Strukturen bilden, die als Magnetosomen bezeich-
der Erde, der Sonnenstand, Muster des Sternenhimmels und net werden und eine bakterielle Organelle darstellen. Die geneti-
Muster polarisierten Lichts. Viele Arbeiten deuten darauf hin, sche Grundlage dafür sind drei Operons, die als Insel von 35 kb im
dass in der Vorbereitungsphase die visuellen Eindrücke wichtig Genom angeordnet sind; da die Gene für den Aufbau des Magne-
sind, um ein magnetosensorisches System zu kalibrieren. Wäh- tosoms codieren, sprechen wir auch von einer Magnetosominsel.
rend des Zuges verwenden die Vögel wohl eher das magnetische Genominseln bei Bakterien enthalten viele IS-Elemente und sind
System zu ihrer Orientierung (für eine übersichtliche Darstel- flankiert von direkten Wiederholungselementen (7 Abschn. 9.1),
lung der verschiedenen Details sei der interessierte Leser auf sodass sie im Bakteriengenom beweglich sind; es ist aber auch
die Arbeit von Muheim et al. 2006 verwiesen). Dabei gibt es horizontaler Gentransfer möglich. Die Gene des mamAB-Gen-
zwei Formen: Die einfachste Form ist eine Richtungsinforma- clusters in der Magnetosominsel codieren für Proteine, die für die
tion, also wie bei einem Kompass die Nord-Süd-Richtung (oder Biogenese der Membran, den gezielten Einbau von Proteinen in
eine konstante Abweichung davon) zu erkennen. Die zweite das Kompartiment und für einige Schritte der Magnetitprodukti-
Form besteht im Erkennen einer magnetischen Karte – im Prin- on benötigt werden – und Deletionen dieser Gene führen dazu,
zip also ein GPS (engl. global positioning system), das den Tieren dass keine Magnetosomen aufgebaut werden können (Murat et al.
die Möglichkeit gibt, ihren Ort in Bezug auf ihr Ziel zu bestim- 2010).
men. Dazu benutzen die Tiere die Stärke des Magnetfeldes und Entsprechend wurde auch für Eukaryoten eine »Magnetit-
dessen Inklination (Neigungswinkel der Feldlinien zur Hori- Hypothese« entwickelt, die darauf beruht, dass mineralisches
zontalen). Magnetit (Fe3O4) die physikalischen Voraussetzungen für die

a b

14

. Abb. 14.7 Magnetische Eigenschaften von Magnetitkristallen. a Magnetitkristalle aus Einzeldomänen (SD) und superparamagnetischen Clustern (SP)
haben unterschiedliche magnetische Eigenschaften. Einzeldomänen haben ein permanentes Magnetmoment (roter Pfeil) auch in Abwesenheit eines exter-
nen Magnetfeldes (B = 0). Wenn ein externes Feld (schwarzer Pfeil) angelegt wird und sie frei rotieren können, werden sie sich nach dem Magnetfeld aus-
richten. Die superparamagnetischen Cluster können sich dagegen bei Anwesenheit eines äußeren Feldes auch ohne freie Rotationsmöglichkeit nach dem
äußeren Feld ausrichten. b Ein hypothetisches Modell eines Signalübertragungsmechanismus basiert auf dem Zusammenwirken von superparamagne-
tischen Clustern in den Membranen von Neuronen. In diesem Modell ziehen sich die Cluster in Abhängigkeit vom äußeren Feld an oder stoßen sich ab und
verändern dabei die Form der Membran, wobei sie möglicherweise Ionenkanäle öffnen oder schließen. Solche superparamagnetischen Cluster wurden in
Nervenenden von Tauben gefunden. (Nach Johnsen und Lohmann 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
675 14
Wahrnehmung des Magnetfeldes bietet. . Abb. 14.7 zeigt, wie
man sich ein solches System vorstellen kann. Dabei spielen a zum Gehirn
Magnetiteinschlüsse in Nervenzellen eine wichtige Rolle, da
sie sich in einem magnetischen Feld entsprechend anordnen
Nervus
können. ophthalmicus
Eine wichtige Rolle spielt bei der Verarbeitung offensichtlich
der Nervus ophthalmicus (. Abb. 14.8): Wenn er bei Tauben
durch ein Lokalanästhetikum (Lidocain) oder operativ ausge- 1 mm

schaltet wird, zeigen die behandelten Vögel keine Antwort auf Nervus mandibularis
Veränderungen im Magnetfeld. Elektrophysiologische Untersu-
chungen deuten außerdem darauf hin, dass spezifische Neurone Nervus maxillaris
im Trigeminal-Ganglion (in das der Nervus ophthalmicus pro- b
jiziert) auf kleine Veränderungen des Magnetfeldes reagieren.
1 4

*Auf der Suche nach dem Ort des Magnetsinns war lange Zeit
der Oberschnabel der Taube der Favorit – bis nachgewiesen
wurde, dass die Eisen-haltigen Zellen im Oberschnabel der
Taube (und anderer Vögel) keine magnetosensitiven Neuro- 2 5
ne sind, sondern Makrophagen (Treiber et al. 2012). Andere
Untersuchungen lokalisierten jetzt den Magnetsinn in den
Haarzellen im vestibulären System (Gleichgewichtssinn im
Innenohr) der Taube. Diese Haarzellen in den Epithelzellen
3 6
des Innenohrs vermitteln die Erkennung von Schall, Bewe-
gung und der Schwerkraft. Die Übertragung dieser Reize in
neuronale Impulse benötigt die Auslenkung der Haarzellen. 2 mV
Es konnte durch elektrophysiologische Untersuchungen 50 ms

gezeigt werden, dass das vestibuläre System der Taube auf . Abb. 14.8 Elektrophysiologie der Magnetorezeption. a Es ist der Trigemi-
Magnetreize reagiert, und durch Reaktionen mit Hexacyano- nus-Nerv des Bobolink (Dolichonyx oryzivorus, Reisstärling) mit seinen drei
ferraten wurden in diesen Zellen in vielen Vögeln (allerdings Hauptästen gezeigt. Die Neurone, die auf Veränderungen des Magnetfeldes
in der Umgebung mit veränderter elektrischer Aktivität reagieren, sind
nicht in Nagern und im Menschen) Eisen-reiche Organellen
durch Kreuze markiert. b Aufzeichnungen einer Ganglienzelle während un-
in einer klassischen Berliner-Blau-Reaktion nachgewiesen terschiedlicher Veränderungen in den Intensitäten des vertikalen Magnet-
(Berliner Blau wird international eher als Eisencyanblau feldes: (1) Spontanaktivität; (2) Antwort auf Veränderungen um 200 Nano-
bezeichnet; . Abb. 14.9). tesla (nT), (3) um 5000 nT, (4) um 15.000 nT, (5) um 25.000 nT, (6) um
100.000 nT. Zum Vergleich: Die Flussdichte des Magnetfeldes der Erde be-
trägt ungefähr 50.000 nT. Der Beginn des Reizes ist durch den Strich unter-
Ein weiteres Phänomen berichtete die Gruppe um Henrik halb der Messreihen angegeben. (Nach Johnsen und Lohmann 2005, mit
Mouritsen aus Oldenburg bei entsprechenden Untersuchungen freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
an Rotkehlchen (Mouritsen und Hore 2012). Bei Rotkehlchen
sind spezialisierte Photopigmente (Cryptochrome) in der Retina
dafür verantwortlich, dass in einem Licht-abhängigen Prozess phila für eine Licht-abhängige magnetosensitive Antwort
Radikale gebildet werden. Ungewöhnliche biochemische Reak- verantwortlich. In einem binären Verhaltenstest für den
tionen (»chemische Magnetorezeption«), die zur flüchtigen Magnetsinn (Auswahl zwischen zwei Armen in einem T-Sys-
Bildung von paarweisen Radikalen führen (engl. radical-pairs tem) zeigen Wildtyp-Fliegen signifikante Antworten auf ein
hypothesis), werden durch das Magnetfeld der Erde beeinflusst. Magnetfeld, wenn das volle Lichtspektrum (300–700 nm)
Daran sind Flavin-Semichinone als wichtige Reaktionspartner angeboten wird; sie reagieren jedoch nicht, wenn der UV-A-
beteiligt; da diese Reaktionsmechanismen seit den 1970er-Jah- bzw. Blaulichtanteil (unterhalb von 420 nm) ausgeblendet
ren im Prinzip bekannt sind, kann dieser Aspekt als gesichert wird. Bemerkenswerterweise reagieren Cry-defiziente Flie-
gelten (. Abb. 14.10; für die physikalisch-chemischen Details gen auch bei vollem Licht in keiner Weise auf ein magneti-
dieser Reaktionen, die den Rahmen eines Genetik-Lehrbuches sches Feld. Damit wurde zum ersten Mal ein magnetosensi-
bei Weitem sprengen würden, sei der interessierte Leser auf die tives System in Tieren gezeigt (Gegear et al. 2008). Im Folgen-
Arbeit von Rodgers und Hore 2009 verwiesen). Die entspre- den wurde dann beobachtet, dass das menschliche CRY2-Gen,
chenden magnetosensitiven Zellen der Retina projizieren bei wenn es in Cry-defizienten Drosophila-Mutanten exprimiert
Vögeln in die Region N im Vorderhirn; werden diese Projek- wird, die Funktion des fehlenden Drosophila-Gens übernehmen
tionsareale beidseitig ausgeschaltet, zeigen die Rotkehlchen kei- kann und ebenso als Licht-abhängiger Magnetsensor wirkt
ne Orientierung im Magnetfeld. (Foley et al. 2011). Dieses Experiment erinnert stark an den
Ansatz, der für die genetische Analyse der Augenentwicklung
C Die Cryptochrome (Gensymbol: Cry) sind für UV-A bzw. für gewählt wurde und zur Entdeckung der wichtigen Rolle des
blaues Licht empfindliche Photorezeptoren und in Droso- PAX6-Gens beigetragen hat (7 Abschn. 12.4.6, . Abb. 12.36b).
676 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Klasse Ordnung Art Haarzellen . Abb. 14.9 Eisencyanblau-positive


Haarzellen in verschiedenen Vogelspezies.
Die Bilder zeigen Schnitte mit Haarzellen
Sperlingsvögel
aus der Cochlea. Eisencyanblau-positive
(Passeriformes) Zebrafinken Strukturen (Pfeilspitzen) wurden in allen
(Taeniopygia guttata) untersuchten Vogelarten in Haarzellen der
Cochlea oder des Vestibularapparates
gefunden. Jede Eisencyanblau-positive
Struktur ist apikal zwischen den Stereo-
Papageienvögel cilien lokalisiert (Balken: 5 μm; Gegen-
(Psittaciformes) Wellensittich
färbung: Kernechtrot). (Nach Lauwers et al.
(Melopsittacus 2013, mit freundlicher Genehmigung von
undulatus) Elsevier)

Taubenvögel
(Columbiformes)
Taube
(Columbia livia)
Vögel

Gänsevögel
(Anseriformes) Ente
(Anas platyrhynchos
domesticus)

Hühnervögel
(Galliformes) Huhn
(Gallus gallus
domesticus)

Laufvögel
(Struthioniformes) Afrikanischer Strauß
(Struthio camelus)

14
Magnetrezeptor- Cryptochrome in Membranen . Abb. 14.10 Möglicher Magnetsinn in
zellen in der Retina Flavin- & Vögeln. Die meisten Experimente wurden
Tryptophan- dazu am Rotkehlchen durchgeführt. Die
Radikale
Bezugsrichtung, die durch das Erdmagnet-
feld bereitgestellt wird, wird von den
Augen der Vögel erkannt. Dort sind Cryp-
tochrome als Licht-abhängige Magnet-
sensoren vorhanden. Man vermutet, dass
die Lichtabsorption in den Cryptochrom-
Proteinen der Retina langlebige Flavin-
Tryptophan-Radikalpaare erzeugt, deren
Reaktionsausbeute durch die Orientierung
Licht der Moleküle in Bezug auf den Vektor des
Magnetfeldes bestimmt wird. Die Licht-
Visueller abhängige Information des magnetischen
Thalamus Rotkehlchen Kompasses wird von der Retina über den
Sehnerv zum visuellen Thalamus und von
dort zum Cluster N des Vorderhirns über-
tragen (thalamofugale Sehbahn). Wenn
der Cluster N zerstört wird, kann das Rot-
kehlchen seinen Magnetkompass nicht
mehr benutzen. (Nach Mouritsen und
Hore 2012, mit freundlicher Genehmigung
von Henrik Mouritsen [Rotkehlchen], der
Cluster N Nationalen Akademie der Wissenschaften
der USA [Reaktionsgleichung], der Biophy-
sikalischen Gesellschaft [Cryptochrome an
der Membran] und von Elsevier)
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
677 14
Neben Vögeln verfügen unter den Wirbeltieren auch Mäuse, von der Tageslänge hatten wir auch schon im 7 Kap. 12 über
Maulwürfe, Schildkröten, Fledermäuse, Hummer und Molche Entwicklungsgenetik besprochen (. Abb. 12.13).
über einen Magnetsinn. So können C57BL/6-Mäuse lernen, die Bei Tieren wurde die »innere Uhr« erst Ende der 1960er-
Richtung eines magnetischen Feldes zu erkennen, um eine Jahre entdeckt (Pittendrigh 1967). Pioniermodell war hier – wie
Unterwasserplattform zu finden (Phillips et al. 2013; siehe dazu oft in der Genetik – die Taufliege Drosophila, deren rhythmisches
. Abb. 14.20). Maulwürfe reagieren auf Wechseln des Magnet- Verhalten ab Beginn der 1970er-Jahre (Konopka und Benzer
feldes mit veränderter c-Fos-Expression in verschiedenen Gehirn- 1971) systematisch untersucht wurde. Diese Arbeiten wurden
regionen, darunter vor allem in den Colliculi superiores (die obe- durch Experimente an Algen (Bruce 1972), Pilzen (Feldman
ren zwei Hügel der Vierhügelplatte des Mittelhirndachs). Die Col- und Hoyle 1973) und schließlich an Mäusen ergänzt (Vitaterna
liculi superiores werden von der Retina über den Sehnerv und die et al. 1994).
Sehbahn innerviert; sie gehören zum retinotektalen System. Der Um einen Prozess als zirkadianes Verhalten zu bezeichnen,
Weg zu den Colliculi superiores zweigt am Corpus geniculatum muss er über drei Eigenschaften verfügen (. Abb. 14.11):
laterale (CGL), dem seitlichen Kniehöcker im Thalamus, ab. Es 4 einen Rhythmus, der Maxima und Minima hat sowie eine
bleibt zu zeigen, ob dieses System auch bei anderen Säugern Teil Periodizität von etwa 24 h (auch in Abwesenheit eines Um-
eines Magnetsinns ist (Němec et al. 2005, Burger et al. 2010). weltreizes: frei schwingende Periode);
4 die Phase der Maxima und Minima kann durch Umwelt-
> Das Zugverhalten von Vögeln hat eine ausgeprägte gene-
reize verschoben werden (Zurücksetzen der Phase);
tische Komponente, deren molekulare Basis noch unbe-
4 die Schwingungsdauer ist leicht von der Temperatur
kannt ist. Ein wesentlicher Bestandteil ist der Magnetsinn.
abhängig.
Es verdichten sich Hinweise aus vielen Experimenten an
verschiedenen Tieren, dass Eisen-reiche Organellen in den
In . Abb. 14.12 sind einige Modellorganismen gezeigt, bei denen
Haarzellen des Vestibularorgans bzw. der Cochlea sowie
zirkadiane Rhythmen nachgewiesen wurden und einfache,
die Cryptochrome in der Retina eine wichtige Rolle als
nicht-invasive Nachweisverfahren etabliert sind. So ähnlich die
Magnetsensoren spielen.
verschiedenen Systeme hinsichtlich ihres grundlegenden Ab-

*Zusätzlich zu den bisher bekannten Organismen mit Mag-


netsinn wurde kürzlich auch von den frei lebenden Rötel-
laufs sind, so können sie dennoch nicht (noch nicht?) als ein
einheitliches System betrachtet werden, das eine gemeinsame
Evolution durchlaufen hätte. Das zirkadiane System bei Eukary-
mäusen ein Verhalten berichtet, das mit der Wahrnehmung
oten beruht in erster Linie auf einer Serie von heterodimeren
magnetischer Signale erklärt wird: Sie bauen ihre Nester
Transkriptionsfaktoren, die ihre eigene Expression (direkt oder
und schlafen bevorzugt in Nord-Süd-Richtung. Allerdings
indirekt) stimulieren oder hemmen. Einige dieser Proteine be-
erscheint ihr Magnetsinn nicht in dem Maße ausgeprägt,
wegen sich innerhalb der Zelle, und ihre Lebensdauer wird durch
wie wir das von Mäusen und Hamstern kennen (Oliveriusová
chemische Modifikationen (Phosphorylierung oder Abbau) oder
et al. 2014). Bei Mäusen wurde außerdem über den Einfluss
durch Bindung an andere Partner so beeinflusst, dass eine Zu-
eines extrem schwachen magnetischen Wechselfeldes
oder Abnahme der aktiven Proteinkonzentrationen in einem
(44 μT bei einer Frequenz von 30 Hz) auf das Schmerzemp-
annähernden 24-h-Rhythmus bewirkt wird. Die meisten Kom-
finden berichtet (Prato et al. 2013). Es ist wohl zu erwarten,
ponenten in Drosophila haben eine Entsprechung bei Säugern,
dass wir in absehbarer Zukunft auch von der morphologi-
aber in einigen Fällen sehen wir Redundanz, in anderen Fällen
schen, physiologischen und genetischen Charakterisierung
sind die Funktionen der gleichen Proteine unterschiedlich. So
des Magnetsinns erfahren werden.
gibt es in der Maus drei Homologe des period-Gens von Droso-
phila mit ähnlichen Funktionen – andererseits sind die Crypto-
chrom-Proteine in Fliegen und Nagern von der Sequenz her sehr
14.1.3 Zirkadiane Rhythmik ähnlich, aber in ihren Funktionen unterschiedlich. Und für die
Schlüsselkomponenten der Uhr von Neurospora crassa gibt es
Die zirkadiane Rhythmik ist in vielerlei Hinsicht ein gutes Bei- keine Homologien in den sequenzierten Genomen von Säugern,
spiel, um die Verbindung zwischen Genen und Verhalten zu ver- Pflanzen und Cyanobakterien (Blaualgen). Und trotzdem regelt
deutlichen. Außerdem wird hier auch klar, wie Umwelteinflüsse der Pilz die Bildung von Konidien (Sporen) und die entsprechen-
die Expression von Genen beeinflussen, sodass wir am Ende se- de Genexpression mit ähnlichen Mechanismen, wie sie in Droso-
hen können, wie das Wechselspiel zwischen Genen und äußeren phila und Nagern charakterisiert wurden.
Einflüssen das sichtbare Verhalten beeinflusst. Wenn wir die Zentraleinheit der »inneren Uhr« genauer
Zirkadiane Rhythmik ist vielen Organismen eigen – von Bak- betrachten, können wir im Wesentlichen drei Komponenten er-
terien bis hin zu Menschen. Sie ist wahrscheinlich zunächst als kennen:
eine Konsequenz des ständigen Wechsels zwischen Tag und Nacht 4 einen Eingang für die Aufnahme umweltbedingter Signale;
entstanden. Allerdings folgen die endogenen Rhythmen einer 4 einen zentralen Oszillator;
24-h-Periodizität auch in Abwesenheit fluktuierender äußerer Ein- 4 eine physiologische Wirkung (»Ausgang«).
flüsse. Für Pflanzen wurde von Erwin Bünning schon 1935 dafür
eine genetische Grundlage beschrieben (für eine Übersichtsarbeit Der zentrale Oszillator wirkt dabei als ein endogener und autar-
siehe McWatters et al. 2001). Die Abhängigkeit der Blütenbildung ker Erzeuger eines Rhythmus mit einer ungefähr 24-stündigen
678 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

a . Abb. 14.11 Grundsätzliche Eigen-


schaften eines zirkadianen Rhythmus.
a Ein zirkadianer Rhythmus kann durch
externe Reize eingestellt werden (z. B.
Hell-Dunkel- oder Temperaturzyklen)
und behält diesen Rhythmus auch unter
konstanten Bedingungen bei. Eigen-
schaften der Kurven, die üblicherweise
bestimmt werden, sind die Schwin-
gungsdauer, die Amplitude und die
Phase. Die negativen Werte bezeichnen
den Zeitpunkt, zu dem die Uhr ein-
gestellt wurde; positive Werte kenn-
zeichnen die Zeit unter konstanten Be-
dingungen. b Die Phase des Rhythmus
kann durch denselben Reiz wieder zu-
rückgesetzt werden, durch den er ein-
gestellt wurde: Ein 5-stündiger Dunkel-
heitspuls, der Cyanobakterien während
ihres subjektiven Tages gegeben wird,
kann die Phase des Rhythmus um 10 h
verschieben, wohingegen derselbe Puls
b während der subjektiven Nacht nur
eine schwache Phasenverschiebung
hervorruft. c Bei Temperaturen inner-
halb der physiologischen Schwankungs-
breite des Organismus bleibt der Rhyth-
mus sehr nahe an einer Schwingungs-
dauer von 24 h. (Nach Golden und
Canales 2003, mit freundlicher Geneh-
migung der Nature Publishing Group)

14 c

Periode. Die Periodenlänge des Rhythmus, der durch zirkadiane die biochemischen, physiologischen oder Verhaltensaktivitäten
Uhren kontrolliert wird, ist bei verschiedenen Umgebungstem- zu den angemessenen Tageszeiten ablaufen können. Die fol-
peraturen nahezu gleich – das deutet darauf hin, dass es einen genden Merkmale sind die wichtigsten Charakteristika, die
Kompensationsmechanismus geben muss. Dieses Merkmal ist einen biologischen Rhythmus zu einem zirkadianen Rhythmus
für das Konzept der »inneren Uhr« besonders wichtig und unter- machen:
scheidet diesen Mechanismus von anderen biochemischen Zyk- 4 etwa 24-stündige Periode;
len, z. B. dem Zellzyklus. Allerdings sind »innere Uhren« nicht 4 Fortdauer auch in Abwesenheit der Umweltreize;
unempfänglich gegenüber der Temperatur; sie sind vielmehr 4 Kompensationsmechanismen, um die Periodenlänge auch
allgemein mit der Wahrnehmung von Licht- und Temperaturrei- unter unterschiedlichen Temperatur- und Ernährungs-
zen verbunden, die wichtige Zeitinformationen aus der Umwelt bedingungen aufrechtzuerhalten;
zur Verfügung stellen. Damit wird die innere Uhr in angemes- 4 die Fähigkeit, Umweltveränderungen als Zeitgeber zu
sener Weise mit der äußeren Zeit in Einklang gebracht, sodass nutzen.
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
679 14
a b c d e

. Abb. 14.12 Verschiedene Modellsysteme für die Erforschung zirkadianer Rhythmik. Jedes System bietet eine eigene Methode zur nicht-invasiven
oder automatischen Aufzeichnung des Tagesrhythmus an. a Die Tagesaktivität von Nagern wird im Laufrad bei konstanter Dunkelheit gemessen und in
der Form eines »Aktogramms« aufgezeichnet. Zeiten der Aktivität erscheinen in Schwarz und geben Informationen über die Schwingungsdauer und
Phase der inneren Uhr von Säugern. b Der Pilz Neurospora crassa bildet unter der Kontrolle einer biologischen Uhr asexuelle Sporen. Diese Konidienbildung
kann in speziellen Wachstumskammern gemessen werden (diese race tubes sind 30–40 cm lange Glasröhrchen mit nach oben gebogenen Enden und
einem Agarnährboden). c Pflanzen zeigen einen Tagesrhythmus der Blattbewegung. In Arabidopsis thaliana kann der Rhythmus der Biolumineszenz durch
Fusionsproteine mit der Luciferase für mehrere Tage bei konstanter Helligkeit sichtbar gemacht werden. d Im einzelligen Cyanobakterium Synecho-
coccus elongatus werden Fusionsprodukte mit Luciferase dazu benutzt, den Tagesrhythmus der Promotoraktivität im Hochdurchsatzverfahren zu testen.
Diese Methode erlaubt es, alle Komponenten des Oszillators sowie der Ein- und Ausgangssignale zu bestimmen. e Durch die Flugbewegungen von
Drosophila melanogaster wird ein Infrarotstrahl in einem speziellen Röhrchen unterbrochen; die Zahl der Unterbrechungen kann elektronisch aufgezeich-
net werden, um so ein zirkadianes Muster der Bewegungsaktivität zu erhalten. (Nach Golden und Canales 2003, mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group)

Und es kommt noch eine weitere Komponente hinzu, die wir (engl. white collar); diese Transkriptionsfaktoren bilden Heterodi-
bisher nicht besprochen haben: die Zeitverzögerung der negati- mere und werden dann als WC-Komplex (WCC) bezeichnet. In
ven Rückkopplungsschleife, die wir heute auch von den aller- der späten Nacht bindet WCC an den frq-Promotor, sodass die
meisten Systemen kennen. Innerhalb des zirkadianen Systems Expression des FRQ-Proteins am frühen Morgen seinen Höhe-
treiben die positiven Elemente die Aktivierung der negativen punkt erreicht (das ist der positive Arm der inneren Uhr). FRQ
Elemente an, die dann wieder auf das positive System so einwir- bildet Homodimere und gelangt in den Zellkern, wo es die Tran-
ken, dass ihre Aktivierung begrenzt wird. Entscheidend für die- skription der eigenen mRNA durch Wechselwirkungen mit WCC
se Autoregulation ist aber eine eingebaute Zeitverzögerung, die hemmt. Dabei wird WCC phosphoryliert und löst sich vom frq-
das System auf eine Periodizität von ca. 24 h einstellt. Eine Über- Promotor. Diese negative Rückkopplungsschleife ist etwa am
sicht über diese grundsätzlichen Regulationsmechanismen gibt Nachmittag vollständig ausgebildet, und die frq-Expression und
. Abb. 14.13a. FRQ-Synthese nehmen wieder ab. Um auch das vorhandene FRQ-
Einer der wichtigsten Modellorganismen der Genetik ist der Protein aus der Signalkette zu entfernen, muss es erheblich phos-
Pilz Neurospora crassa (7 Abschn. 5.3.2); wir haben die zirkadiane phoryliert werden – was den Prozess verzögert und das Protein
Konidienbildung schon in . Abb. 14.12b im Grundsatz kennen- erst später für den Abbau über den Ubiquitin-Weg vorbereitet; erst
gelernt und wollen uns jetzt die molekularen Aspekte etwas ge- danach kann der Zyklus in der Nacht erneut beginnen.
nauer ansehen (. Abb. 14.13b). Unter vielen Mutanten von Der entscheidende Anstoß für die zirkadiane Rhythmik
N. crassa mit verändertem Bandenmuster (. Abb. 14.12b) wurde kommt aber durch die Wirkung von WC1 als Photorezeptor.
ein Genort identifiziert, der als frequency (Gensymbol: frq) be- Durch die kovalente Bindung des Flavin-Adenin-Dinukleotids
zeichnet wurde und für Veränderungen in der Periodenlänge der kann WC-1 auf blaues Licht reagieren und insgesamt Hunderte
Bandenmuster und der Temperaturkompensation verantwortlich von Genen aktivieren – darunter auch frq. Über diesen Mecha-
ist. Sowohl die mRNA von frq als auch das FRQ-Protein oszillieren nismus erfolgt immer wieder die Synchronisation mit den tat-
unter konstanten Lichtbedingungen mit einer Periode von 22,5 h sächlichen Tageszeiten. Durch weitere lichtempfindliche Pro-
mit einer Phasenverschiebung von ca. 4 h; das FRQ-Protein wird teine kann das System verfeinert werden. Ebenso übt auch die
zeitabhängig zunehmend phosphoryliert. Die frq-Expression wird Temperatur ihren Einfluss aus, indem sie die Menge des FRQ-
durch die Transkriptionsfaktoren WC-1 und WC-2 reguliert Proteins erhöhen kann. Da die Höhe der FRQ-Menge anderer-
680 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

a Zentrale Uhr Parameter untersucht: die Laufaktivität und die Periodizität


des Schlüpfens der reifen Fliegen. Letzteres erfolgt in der Re-
Positiv gel in den frühen Morgenstunden (daher auch der Name
»Taufliege«). Beide Verhaltensweisen werden in einem Hell-
Dunkel-Rhythmus (12:12 h) untersucht und anschließend un-
Zeitverzögerte ter konstanten Bedingungen (Dauerdunkel) weitergeführt,
Eingabe negative Wirkung um so den Einfluss eines exogenen Zeitgebers auszuschalten.
Rückkopplung
Konopka und Benzer hatten Erfolg und beschrieben 1971 ihre
ersten drei Mutanten, die alle das period(per)-Gen betreffen:
ein Nullallel (per0), das zu einem vollständigen Verlust rhyth-
Negativ
mischen Verhaltens führt, und zwei Allele, die den Rhythmus
b Zentrale Uhr von Neurospora crassa zwar intakt lassen, aber zu einer verkürzten (19 h) bzw. verlän-
gerten (27 h) Schwingungsdauer im Dauerdunkel führen.

Eingabe Wirkung Die Arbeiten der vergangenen 45 Jahre machen deutlich, dass
WC-1 das Herzstück der »inneren Uhr« bei Drosophila aus zwei Rück-
Licht WC-2
ccgs kopplungsschleifen besteht. Wie wir das soeben schon bei Neu-
rospora gesehen haben, wird dabei die Aktivierung der Uhr-Gene
mRNA-Stabilität durch Proteine gehemmt, die durch eben diese Gene codiert
Temperatur FRQ
werden – so entsteht eine rhythmische Genexpression. In Droso-
P FRH
Phosphorylierung? phila sind es neun Gene, die zur zentralen Funktion der »inneren
Kinase
Uhr« beitragen: period (per), timeless (tim), Clock (Clk), cycle
Zeitverzögerung (cyc), cryptochrome (cry), shaggy (sgg), vrille (vri), double-time
(dbt) und das Gen für das PAR-Domänenprotein 1ε (Pdp1e). Die
. Abb. 14.13 Schwingungsmodell der zirkadianen Uhr. a Zirkadiane Sys- Proteine, die von Clk und cyc codiert werden, gehören zur Fami-
teme enthalten drei wichtige Elemente: einen endogenen, sich selbt erhal- lie der basischen Helix-Loop-Helix(bHLH)-Transkriptionsfak-
tenden Oszillator, die Möglichkeit, umweltbedingte Zeitgeber aufzuneh-
toren und binden als Heterodimere an spezifische Bindestellen
men (Eingabe), und physiologische Wirkungen, die an bestimmte Phasen
des Oszillators gebunden sind. Veränderliche Umweltfaktoren wie Licht und in den Promotoren der per- und tim-Gene, um deren Transkrip-
Temperatur können die zentrale Uhr über den Eingabeweg synchronisieren. tion zu aktivieren (. Abb. 14.14). Die Akkumulation der Proteine
Der zentrale Oszillator beruht auf dem Wechselspiel zwischen positiv wir- PER und TIM und ihre Translokation in den Zellkern wird durch
kenden Faktoren, die die Expression von negativen Faktoren antreiben, die die Funktion der durch dbt codierten Proteinkinase verzögert.
wiederum die positiven Faktoren hemmen. Eine entscheidende Komponen-
Als Ergebnis können CLK und CYC deren Transkription weiter-
14 te dieser Rückkopplung ist ein Mechanismus der Zeitverzögerung auf die
hin aktivieren, während PER und TIM zunächst im Cytoplasma
negativen Zustandsgrößen, die die Natur des physiologischen ~ 24-h-Rhyth-
mus widerspiegeln. b Die Organisation der molekularen Komponenten weiter akkumulieren. Erst wenn sie in den Zellkern gelangen,
der Rückkopplungsschleife bei Neurospora crassa. Die synchronisierenden stoppen sie die Transkription ihrer Gene dadurch, dass sie als
Variablen Licht und Temperatur beeinflussen verschiedene Teile des Oszilla- Heterodimere direkt an die CLK-CYC-Heterodimere binden.
tors: Licht wirkt über die Photorezeptor-Funktion von WC-1 (engl. white
Diese Abschaltung bleibt so lange bestehen, bis PER und TIM
collar) und induziert die Transkription von frq (Gensymbol für frequency);
die Temperatur moduliert die Menge an FRQ. WC-1 und WC-2 bilden den wiederum selbst abgebaut werden, woran die bereits erwähnte
WC-Komplex; FRQ und FRH (engl. FRQ-interacting RNA helicase) bilden den Proteinkinase DBT beteiligt ist. Damit wird eine neue Runde der
FF-Komplex. Die rhythmische Wirkung wird primär durch die rhythmische Transkription von per und tim ermöglicht. Dieser Rückkopp-
Expression der CC-Gene erzeugt (engl. clock-controlled genes, ccgs), kann lungsmechanismus wird durch einen zweiten verstärkt, der die
aber auch durch Veränderungen der mRNA-Stabilität und möglicherweise
Expression von Clk rhythmisch reprimiert; an diesem zweiten
durch Phosphorylierung hervorgerufen werden. Kinasen tragen zu der
Zeitverzögerung bei, indem sie die Stabilität von FRQ beeinflussen. (Nach Mechanismus ist vri (vrille) beteiligt, das für einen bZip-Tran-
Baker et al. 2011, mit freundlicher Genehmigung der Vereinigung Euro- skriptionsfaktor codiert.
päischer Mikrobiologischer Gesellschaften) Zwar läuft die innere Uhr bei Drosophila auch im Dauer-
dunkel, dennoch reagiert die Uhr auf äußere Zeitgeber, um sich
seits von der Tageszeit abhängig ist, wird damit auch indirekt eine an verändernde Umweltsituationen anzupassen. Dazu gehören
andere Zeit vorgegeben. Wir haben damit das Grundelement der im Wesentlichen drei Komponenten: Licht, Wärme und soziale
»inneren Uhr« von Neurospora crassa kennengelernt und wollen Signale. Das primäre Signal ist das Licht, das die Fliegen wäh-
im Weiteren sehen, ob und wie sich diese genetischen Grundele- rend des Tages aktiviert und während der Nacht schlafen lässt.
mente in höheren Organismen wiederfinden. Drosophila empfängt über zwei Wege Informationen über Licht:
durch den Blaulicht-Rezeptor Cryptochrom und über das Auge.
C Als Ronald Konopka und Seymour Benzer Ender der 1960er- Projektionen von den Photorezeptorzellen des Auges haben
Jahre begannen, Drosophila-Mutanten auf gestörte zirkadiane Kontakt mit den Lateralneuronen; der Rhythmus von Fliegen-
Rhythmen zu untersuchen, waren viele Kollegen skeptisch, mutanten, denen Photorezeptoren und CRY fehlen, kann durch
ob die Mutation in einem Gen ein so komplexes Verhalten so Licht nicht beeinflusst werden. Der am besten charakterisierte
massiv beeinflussen kann. Es wurden zunächst vor allem zwei Effekt von Licht auf die Uhr von Drosophila besteht im Abbau
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
681 14

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. Abb. 14.14 Die zwei Schleifen der molekularen Uhr bei Drosophila. In der ersten Schleife aktivieren CLK und CYK direkt die Transkription von per und
tim. Dabei vermittelt CRY den Licht-abhängigen Abbau von TIM und ist teilweise dafür verantwortlich, dass sich keine PER/TIM-Heterodimere während des
Tages anreichern. In der Nacht akkumulieren PER und TIM im Cytoplasma und gelangen in den Zellkern, wo PER die CLK/CYK-Aktivität hemmt. Der Zeit-
punkt des Eintritts in den Zellkern und die Stabilität von PER werden durch die SGG-abhängige Phosphorylierung von TIM und die DBT-abhängige Phos-
phorylierung von PER kontrolliert. In der zweiten Schleife wirkt PDP1ε als Aktivator und VRI als Repressor der Clk-Transkription. Da Pdp1ε und vri direkte
Zielgene von CLK/CYC sind, stellt das einen zweiten Rückkopplungskreis dar. (Nach Collins und Blau 2007, mit freundlicher Genehmigung von Springer)

von TIM, und dieser schnelle Abbau ermöglicht es der moleku- vermittelt, und NorpA-Mutanten sind nicht in der Lage, ihr Ver-
laren Uhr, auf die täglichen und saisonalen Schwankungen von halten an Temperaturänderungen anzupassen. Die Temperatur-
Licht zu reagieren. Auf der Verhaltensebene verzögert oder be- kompensation, d. h. die Unabhängigkeit der Rhythmik über einen
schleunigt ein Lichtpuls während der Nacht den Aktivitätsbe- engeren Temperaturbereich (. Abb. 14.11c), wird dagegen durch
ginn am nächsten Tag, abhängig davon, wann der Impuls gesetzt die Verwendung unterschiedlicher per-Allele erreicht, die sich in
wird: Ein Lichtpuls am frühen Abend degradiert das cytoplasma- der Zahl von Thr-Gly-Wiederholungen unterscheiden und zu
tische TIM, das die PER-Anhäufung verzögert und damit das unterschiedlichen Temperaturoptima des Per-Proteins führen:
Fortschreiten der molekularen Uhr. Folglich ist damit auch die Per-Proteine mit 20 Thr-Gly-Wiederholungseinheiten zeigen
Aktivität für den nächsten Tag verzögert. Umgekehrt führt ein eine Schwingungslänge von ungefähr 23,7 h über einen breiten
Lichtpuls spät in der Nacht zum Abbau von TIM im Zellkern und Temperaturbereich und sind eher in Nordeuropa verbreitet; Per-
»befreit« PER, sodass es die Aktivität von CLK/CYC früher am Proteine mit 17 Thr-Gly-Wiederholungseinheiten finden sich
Tag reprimieren kann als normal und damit den Aktivitätsbe- dagegen eher im Süden, da diese Variante ein höheres Tempera-
ginn am nächsten Tag beschleunigt. turoptimum hat.

*Am CRY-abhängigen Abbau von TIM ist auch das F-Box-Pro-


tein JETLAG (Gensymbol: jet) beteiligt: Hypomorphe jet - c
*Obwohl Drosophila im Allgemeinen nicht als ein soziales Tier
gilt, wird die molekulare Uhr offensichtlich auch durch
Mutanten haben eine veränderte Aminosäure in der Leucin- soziale Signale beeinflusst. Fliegen, die vor dem Test ge-
reichen Wiederholungseinheit; sie sind rhythmisch im meinsam gehalten wurden, zeigen im Einzeltest unter Frei-
Dauerlicht, haben aber ein normales Verhalten im Dauer- laufbedingungen eine größere Übereinstimmung als die
dunkel und zeigen verminderte Antworten auf Lichtpulse, Fliegen, die vorher schon getrennt gehalten wurden. Wenn
was auf einen Defekt im Licht-abhängigen Signalweg schlie- man beispielsweise arhythmische per0-Mutanten zu einer
ßen lässt. Der Effekt ist abhängig vom genetischen Hinter- Gruppe rhythmischer Fliegen gibt, wird die Synchronisation
grund der Fliegenmutanten: Er tritt nur dann auf, wenn die vermindert. Weitere Detailuntersuchungen zeigten schließ-
Fliegen das timls-Allel besitzen, das 23 andere Aminosäuren lich, dass die entsprechenden Signale über die Luft übertra-
am N-Terminus hat und weniger lichtempfindlich ist (L-Tim) gen und über das Geruchssystem verarbeitet werden.
(Peschel et al. 2009).
In Säugetieren ist dasselbe Prinzip wie bei Drosophila
Drosophila-Fliegen zeigen auch während des Tages ein interessan- verwirklicht, und auch die beteiligten Gene sind homolog
tes Phänomen: Sie halten in der heißen Mittagszeit des Sommers (. Abb. 14.15). In der entscheidenden morphologischen Struk-
Siesta. Bei kühleren Temperaturen und wenn die Tage kürzer wer- tur, den suprachiasmatischen Kernen des Hypothalamus, sind
den, ist auch die Siesta-Phase verkürzt. Diese Antwort wird durch auch mehrere Gene an der Wirkung der »inneren Uhr« beteiligt,
ein alternatives Spleißen von per reguliert; dieses alternative Splei- darunter mPer1, mPer2, die Cryptochrom-Gene mCry1 und
ßen eines Introns in der 3’-UTR wurde zunächst intensiv in Pho- mCry2, mClk, Bmal1 (oder Mop3 als das Homolog zu cyc) sowie
torezeptorzellen studiert. Die Regulation des alternativen Splei- Ck1e (homolog zu dbt; codiert für Caseinkinase 1ε). Dabei er-
ßens wird über die NorpA-Phospholipase-C vermittelt. NorpA ist füllen die mCRY-Proteine die repressive Funktion von tim: Wie
ein Faktor, der allgemein ein Temperatur-abhängiges Verhalten bei Drosophila aktivieren die Genprodukte von mClk und Bmal1
682 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

. Abb. 14.15 Rückkopplungsschleifen kontrollieren die Tagesuhr bei Säugern. Die Zentraleinheit der Tagesuhr bei Säugern ist eine negative Transkrip-
tions-Translationsrückkopplungsschleife mit einer Verzögerung zwischen der Transkription und der negativen Rückkopplung. Die Uhr wird durch einen
heterodimeren Transkriptionsfaktor gestartet, der aus CLOCK und BMAL1 besteht. Diese beiden Proteine treiben die Expression ihrer eigenen Repressoren,
der beiden »period«-Proteine Per1 und Per2 sowie der Crytochrome CRY1 und CRY2, an. Im Tagesverlauf häufen sich die PER- und CRY-Proteine an und
multimerisieren im Cytoplasma, wo sie durch die Caseinkinase 1ε (CKIε) und die Glykogensynthase-Kinase-3 (GSK3) phosphoryliert werden. In einer phos-
phorylierungsabhängigen Reaktion werden sie dann in den Zellkern transportiert, wo sie mit dem CLOCK-BMAL1-Komplex in Wechselwirkung treten und
ihren eigenen Aktivator reprimieren. Am Ende des Tageszyklus sind PER- und CRY-Proteine in einer CKI-abhängigen Reaktion abgebaut; damit wird die
Hemmung der Transkription aufgehoben und der Start der nächsten Runde ermöglicht. Eine zusätzliche, stabilisierende Rückkopplungsschleife bein-
haltet den Aktivator Rora und den Inhibitor Rev-Erbα; sie kontrolliert die BMAL1-Expression und verstärkt die Oszillation. RRE: Rev-responsive element.
(Nach Gallego und Virshup 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

die mPer-Promotoren, aber auch (im Gegensatz zu Drosophila)


die mCry-Promotoren selbst. Die Caseinkinase 1ε (CK1ε) wird
*Zwei Aspekte werden in den nächsten Jahren die Forschung
über die zirkadiane Rhythmik bei Säugern begleiten: Sind die
durch CK1δ unterstützt und destabilisiert die PER-Proteine der suprachiasmatischen Kerne die einzigen rhythmischen Zentren
Maus. Dadurch verzögert sich die Akkumulation dieser repri- oder gibt es noch weitere? In der Diskussion sind die Retina und
mierenden Proteine und ihre Translokation in den Zellkern. der Riechkolben als ebenso wichtige Oberzentren sowie die la-
Nach dem Eintritt des mCRY-mPER-CK1ε-CK1δ-Komplexes in teralen Nuclei habenulae, der dorsomediale Hypothalamus und
14 den Zellkern wird die Transkription durch die direkte Bindung der Nucleus arcuatus (infundibularis) des Hypothalamus als se-
an die mCLK-BMAL1-Heterodimere unterbunden. Wie bei den mi-autonome Oszillatoren (für eine Übersicht siehe Guilding
Fliegen existiert auch in der Maus ein zweiter, verstärkender und Piggins 2007). Der zweite Aspekt ist das Zusammenspiel der
Rückkopplungsmechanismus, wobei mPER2 die Bmal1-Tran- molekularen Uhr mit Veränderungen der Chromatinstruktur.
skription positiv beeinflusst. Dabei spielt auch ein Vrille-Homo- Neuere Arbeiten zeigen überraschende Zusammenhänge mit
log eine Rolle, das zur Gruppe der basischen Leucin-Zipper- Histon-Modifikationen, insbesondere durch die Histonacetyl-
Transkriptionsfaktoren gehört (Gensymbol: vri). Wesentlichen transferase-Aktivität des CLOCK-Proteins (für eine Übersicht die-
Einblick in die Funktion der Gene haben wir durch die Unter- ses Aspekts siehe Sassone-Corsi 2012).
suchung entsprechender Mutanten erhalten; einige davon wer-
den in der . Tab. 14.1 vorgestellt.
Auch wenn die Zusammenfassung insgesamt den Eindruck
*Außer der Sonne kann offensichtlich auch der Mond als Zeit-
geber wirken: Der Kaninchenfisch (Siganus guttatus) lebt über
vermitteln mag, dass die zentralen Bereiche der »inneren Uhr« Riffen des Indischen Ozeans und des westlichen Pazifiks und
klar und einfach geregelt sind, muss aber abschließend darauf hat einen Laich-Zyklus, der sich an den Mondphasen orientiert
hingewiesen werden, dass das Gesamtsystem wesentlich komple- (lunare Rhythmik). Sugama und seine Mitarbeiter haben 2008
xer ist. So wirkt z. B. auch die Rhythmik der Nahrungsaufnahme darüber berichtet, dass die Expression des Gens Period2 (Gen-
als Zeitgeber und beeinflusst entsprechend die Rhythmik der symbol: Per2) in der Zirbeldrüse (Epiphyse) des Kaninchen-
Leber und damit der Körpertemperatur. fisches deutlich ansteigt, wenn der Fisch während der Nacht
Licht ausgesetzt wird (erfolgt der Lichtreiz am Tag, hemmt er
> Zirkadiane Rhythmen werden bei Neurospora, Drosophila dagegen die Per2-Expression). Dabei ist die Per2-Expressions-
und der Maus durch autoregulatorische Rückkopplungs- stärke von der Stärke des Lichts in der Nacht abhängig und
schleifen gesteuert. Daran sind Transkriptionsfaktoren, Pro- kann somit Vollmond von Neumond unterscheiden. Dieser
teinkinasen und Repressoren von Transkriptionsfaktoren Effekt ist auf die Nachtphase beschränkt, denn Per2 wirkt
essenziell beteiligt. Die zentrale morphologische Struktur ansonsten als wichtiger Zeitgeber im zirkadianen System.
der Säugetiere sind die suprachiasmatischen Kerne des (Eine aktuelle Zusammenfassung über die »Chronobiologie
Hypothalamus. des Mondlichts« findet sich bei Kronfeld-Schor et al. 2013).
14.1 · Visuelles System und endogene Rhythmik
683 14

. Tab. 14.1 Rhythmus-Mutationen bei Säugern

Gen Organismus Molekulare Veränderung Phänotyp

Clock Maus Basenaustausch an einer Spleißstelle (Verlust Perioden von 26- bis 29-stündigen Bewegungen folgt
eines Exons und Deletion von 51 Aminosäuren) ein vollständiger Verlust der zirkadianen Rhythmik nach
14 Tagen

CLOCK Mensch C/T-Polymorphismus an Pos. 3111 in der 3’-UTR Verzögerung der morgendlichen Aktivitäten bzw. des
der CLK-cDNA abendlichen Schlafbeginns

Csnk1e Hamster Arg178Cys 20-h-Rhythmus des Verhaltens

Per1 Maus Null-Mutante (Knock-out) Verkürzung der Rhythmen um 0,6–1 h

Per2 Maus Null-Mutante (Knock-out) Arhythmie nach einigen Tagen im Dauerdunkel

PER2 Mensch Ser662Gly CKIε-Bindestelle; verlängerte Schlafphasen

Per3 Maus Null-Mutante (Knock-out) Verkürzung der Rhythmen um 0,5 h

PER3 Mensch Val647Gly Schwache Kopplung mit verlängerten Schlafphasen

Bmal1 (Mop3) Maus Null-Mutante (Knock-out) Arhythmie nach einigen Tagen im Dauerdunkel

Cry1 Maus Null-Mutante (Knock-out) Verkürzung der Rhythmen um 0,8–1,3 h

Cry2 Maus Null-Mutante (Knock-out) Verlängerung der Rhythmen um 0,6–0,9 h

dbp Maus Null-Mutante (Knock-out) Verkürzung der Rhythmen um 0,5 h

Nach Stanewsky (2003)

14.1.4 Schlafstörungen des Menschen dass sie bereits am frühen Abend einschlafen (engl. advanced
sleep phase syndrome). Modelle in bestimmten Hamster- bzw.
Ebenso wie bei Drosophila und der Maus ist bei Menschen eine Mausmutanten zeigen ähnliche Verhaltensmerkmale, sodass
Reihe physiologischer Funktionen durch endogene zirkadiane auch hier auf vergleichbare Funktionen der beteiligten Gene ge-
Rhythmik gesteuert. Dazu gehören nicht nur der Schlaf-Wach- schlossen werden kann.
Rhythmus, sondern auch kognitive Funktionen, die Körpertem- Ein klassisches Beispiel für eine erbliche Veranlagung zum
peratur und die Sekretion von Hormonen. Als Zeitgeber fungieren frühen Einschlafen ist ein Stammbaum über vier Generationen,
dabei verschiedene Umweltreize, vor allem Licht. Patienten mit von dem Toh et al. 2001 berichteten (OMIM 604348): Neben drei
Störungen ihrer zirkadianen Rhythmik sind nicht in der Lage, polymorphen Stellen im Exon 17 des PER2-Gens gibt es darüber
ihren Schlaf-Wach-Rhythmus an diese Umweltsignale anzupassen. hinaus eine Punktmutation (A2106G), die zu einem Austausch
Jeder 3. Erwachsene leidet gelegentlich unter Ein- und/oder
Durchschlafstörungen, allerdings liegt etwa bei jedem 10. Er-
wachsenen bereits eine chronische Schlafstörung vor, die die
Stimmung und Leistungsfähigkeit am Tage erheblich beeinträch-
tigt. Schlafstörungen zählen damit (neben Kopfschmerzen) zu
den häufigsten psychosomatischen Beschwerden. Offensichtlich
nimmt die Häufigkeit dieser Symptome mit dem Alter zu, denn
etwa 40 % der über 65-Jährigen klagen über unzureichenden
Schlaf bzw. Schlafprobleme.
Wir können verschiedene Formen der Schlafstörungen
unterscheiden:
4 Ein- und Durchschlafstörungen (Insomnien);
4 Störungen mit vermehrter Tagesschläfrigkeit (Hyper-
somnien); . Abb. 14.16 Schlafstörungen des Menschen. Die Phase des Tagesrhyth-
4 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus (wesentlich frühere mus wird durch Schlafunterbrechungen bestimmt; die schwarzen Balken
oder spätere Einschlafrhythmen); symbolisieren die Aktivitätsphasen. Links wird die anomale Frühphase einer
4 Schlafstörungen (Parasomnien, z. B. Schlafwandeln). Schlafstörung mit vorgezogener Einschlafphase (engl. advanced sleep phase
syndrome, ASPS) gezeigt, in der Mitte eine Kontrolle und rechts die verzö-
gerte Einschlafphase (engl. delayed sleep phase syndrome, DSPS). Mutationen
Einige der Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus treten familiär in den PER-Genen und den Genen für Caseinkinase-Inhibitoren (CKI) sind
gehäuft auf; . Abb. 14.16 zeigt Beispiele für eine derartige Situa- dafür verantwortlich. (Nach Gallego und Virshup 2007, mit freundlicher
tion bei einzelnen Probanden. Dabei leiden die Patienten daran, Genehmigung der Nature Publishing Group)
684 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

von Ser durch Gly an Position 662 führt (S662G). Diese Mutation 14.2 Lernen und Gedächtnis
wurde außerhalb der Familie nicht beobachtet und führt zu einer
verringerten Phosphorylierung durch Caseinkinase 1ε. Erinnerung ist ein Prozess, durch den aufgenommene Informa-
tionen verarbeitet und gespeichert werden. Das kann nur für
C Größere epidemiologische Untersuchungen konnten für zwei Minuten (Kurzzeitgedächtnis) oder für Stunden, Tage, Monate
Polymorphismen eine Assoziation mit Veränderungen im
oder ein ganzes Leben sein (Langzeitgedächtnis). Unser Gehirn
Schlaf-Wach-Rhythmus zeigen: In der 3’-flankierenden Region
ist in der Lage, verschiedene Arten von Informationen zu spei-
des menschlichen Clock-Gens CLK gibt es einen Polymorphis-
chern und verschiedene Formen von Gedächtnis zu bilden, die
mus (T3111C; . Tab. 14.1), der offensichtlich mit verschiede-
in zwei grundsätzliche Kategorien fallen: implizit und deklarativ.
nen Schlaf-Wach-Rhythmen assoziiert ist. Homozygote Träger
Das implizite Gedächtnis beinhaltet die einfache klassische
des C-Allels schlafen demnach später ein bzw. haben ein ge-
Konditionierung, nicht-assoziatives Lernen, Wahrnehmungs-
ringeres Schlafbedürfnis. Dabei sind diese Daten offensicht-
vermögen und motorische Geschicklichkeit. Fahrradfahren und
lich unabhängig von demographischen Größen wie Alter, Ge-
Klavierspielen erfordern ebenso die Entwicklung eines implizi-
schlecht und ethnischer Herkunft (Serretti et al. 2003).
ten Gedächtnisses. Das deklarative Gedächtnis dagegen spei-
Ein zweiter Polymorphismus ist im menschlichen PER3-Gen
chert Informationen über spezielle Ereignisse und dazugehören-
beschrieben. Dieses Gen besteht aus 21 Exons; Exon 18 ent-
de zeitliche und persönliche Assoziationen. Diese Art von Ge-
hält eine repetitive Sequenz von 54 bp, die entweder vier-
dächtnis benutzen wir täglich, um Leute, Gesichter und Plätze
oder fünfmal hintereinander vorkommt. Dabei ist offensicht-
wiederzuerkennen und um uns an Geschehnisse aus unserer
lich das längere Allel mit einem »Morgentyp« und das kürzere
Vergangenheit zu erinnern. Diese Art von Erinnerung beinhaltet
mit einem »Abendtyp« assoziiert; Homozygotie für das kürze-
auch unsere sensorische Wahrnehmung, unsere Gefühle und
re Allel ist darüber hinaus bei Patienten mit Einschlafstörun-
Motivationen. Wenn wir uns an eine Erfahrung erinnern, rufen
gen (engl. delayed sleep phase syndrome) deutlich überreprä-
wir auch alles ab, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt,
sentiert (Archer et al. 2003).
gefühlt und erfühlt haben. In diesem Abschnitt werden in groben
Eine weitere Mutation, die zu familiär gehäuftem frühem Ein- Zügen die genetischen Grundlagen unserer Erinnerung, des Ge-
schlafen führt, wurde im Gen für die Caseinkinase 1δ beschrie- dächtnisses und auch des Lernens dargestellt. Auch hier kommen
ben. Der Aminosäureaustausch T44A im CSNK1D-Gen führt in die grundlegenden Erkenntnisse zunächst von niederen Tieren
vitro zu einer verminderten enzymatischen Aktivität. Transgene wie der Schnecke Aplysia oder der Fliege Drosophila, und erst
Drosophila-Fliegen, die diese Mutation tragen, zeigen eine ver- später konnten entsprechende Mausmutanten identifiziert und
längerte zirkadiane Rhythmik. Im Gegensatz dazu zeigen trans- charakterisiert werden. Damit lassen sich jetzt auch kognitive
gene Mäuse mit derselben Mutation eine verkürzte Periode, was Störungen beim Menschen besser verstehen.
eher der Situation beim Menschen entspricht. Dieses Ergebnis
zeigt nicht nur, dass die Caseinkinase 1 eine zentrale Komponen-
14 te der »inneren Uhr« ist – offensichtlich haben wir hier ein inte- 14.2.1 Lernverhalten von Drosophila
ressantes Beispiel für unterschiedliche regulatorische Mechanis-
men bei den verschiedenen Klassen des Tierreiches vor uns (Xu Systematische Untersuchungen zum Lernverhalten an Droso-
et al. 2005). phila begannen zu Beginn der 1970er-Jahre, als Seymour Benzer
Diese Beispiele zeigen, dass die moderne Genetik schrittwei- mit seiner Gruppe (Quinn et al. 1974) Fliegen mithilfe eines
se durch die Kombination verschiedener methodischer Ansätze Elektroschocks trainierte, bestimmte Gerüche zu meiden (klas-
(Populationsgenetik bzw. genetische Epidemiologie, funktionelle sische Konditionierung; . Abb. 14.17). Eine andere Gruppe
Speziesvergleiche, Hochdurchsatzverfahren in der Sequenzana- (Lofdahl et al. 1992) züchtete aus einer homogen erscheinenden
lyse) in der Lage ist, auch komplexe Verhaltensweisen wie Schlaf- Population von Fliegen nach über 20 Generationen zwei Grup-
Wach-Rhythmen beim Menschen aufzuklären und die Einzel- pen heraus, die sich in ihrer Antwort auf konditionales Lernen
komponenten zu identifizieren und zu charakterisieren. signifikant unterscheiden: Hatte die Ausgangspopulation etwa
19 % Fliegen, die gut konditioniert werden konnten, so hatte die
> Zirkadiane Rhythmen des Menschen sind in ähnlicher
Gruppe der »guten Lerner« am Ende 77 %, die der »schlechten
Weise wie bei anderen Säugetieren genetisch kontrolliert.
Lerner« dagegen nur 0–4 %. Die lange Dauer, bis diese Züch-
Polymorphismen in CLK- oder PER-Genen können mit un-
tungsergebnisse erreicht wurden, deutet darauf hin, dass hier
terschiedlichen Schlaf-Wach-Rhythmen assoziiert werden.
keine einfachen Mendel’schen Zusammenhänge vorliegen, son-
*Zunehmend wird auch der Beitrag der molekularen Uhr zu
psychiatrischen Erkrankungen diskutiert. So geben gene-
dern komplexe Gen-Gen-Wechselwirkungen für den Phänotyp
verantwortlich sind (Epistasie; . Abb. 14.18).
tisch-epidemiologische Untersuchungen Hinweise darauf, Benzers Experimente der klassischen Konditionierung führ-
dass Polymorphismen der Gene CLOCK, PER1, PER3 und TIM ten schnell zur Identifikation und Charakterisierung von Genen,
(Timeless) mit Schizophrenie assoziiert sind. Viele Untersu- die zu einem erfolgreichen Lernverhalten beitragen. Die ersten
chungen an bipolaren Erkrankungen zeigen außerdem Mutanten, die nicht in der Lage waren zu lernen, dass dem Wohl-
ebenfalls Assoziationen mit dem CLOCK-Gen. Diese Arbeiten geruch ein Elektroschock folgt, wurden als dunce (das Gen wurde
stehen gerade erst am Anfang, zeigen aber eine interessante später auf dem X-Chromosom von Drosophila lokalisiert) bzw. als
neue Forschungsrichtung auf (Lamont et al. 2010). rutabaga bezeichnet. Weitere biochemische und molekulare Ana-
14.2 · Lernen und Gedächtnis
685 14

a b

. Abb. 14.17 Geruchsvermeidungslernen bei Drosophila. a Während des Trainings erfahren die Fliegen einen Geruch im Zusammenhang mit einer Bestra-
fung durch einen elektrischen Schock. Durch wiederholtes Testen vermeiden die Fliegen vorzugsweise den mit Schock verbundenen Geruch. Eine Gruppe
von ca. 100 Fliegen wird in der Kammer trainiert, wobei die innere Oberfläche mit einem elektrifizierbaren Metallgitter ausgekleidet ist. Die Gerüche werden
mit dem Luftstrom eingeblasen, wobei die Tiere zunächst einem Geruch (z. B. OCT: 3-Oktanol) und einem Elektroschock ausgesetzt werden. Danach erfahren
sie einen zweiten Geruch (z. B. MCH: 4-Methylcyclohexanol) ohne Schock. b Die Fliegen werden dann auf ihre Lern- oder Gedächtnisleistung getestet. Dazu
werden sie in eine Position gebracht, an der sie zwischen den beiden einströmenden Gerüchen wählen können. Nach 2 min werden die Fliegen gefangen
und gezählt, die zu dem jeweiligen Geruch gelaufen sind. Die jeweiligen Quotienten entsprechen der Lernleistung, wenn der Abstand zwischen Training und
Test kurz war (2 min). Gedächtnisleistungen können im Prinzip auf die gleiche Weise gemessen werden, nur wird dabei der zeitliche Abstand zum Training
verlängert. (Nach Waddell und Quinn 2001, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

a b

. Abb. 14.18 Bidirektionale Züchtung von Lernverhalten bei Drosophila. a Hungrige Fliegen wurden klassisch konditioniert, wobei einer von zwei chemo-
sensorischen Reizen (Wasser oder Salzlösung; konditionierter Reiz) am Fuß mit einem Zucker-Reiz (unkonditioniertem Reiz) an den Rüssel verbunden
wurde. Normalerweise bewirkt der Zucker-Reiz eine deutliche Verlängerung des Rüssels. Nach einigen paarweisen konditionierten/unkonditionierten Ver-
suchen begann der konditionierte Reiz allein eine entsprechende Verlängerung des Rüssels hervorzulocken. Der Lerneffekt (»Lernwert«) bestimmt sich
aus der Zahl der Rüsselverlängerungen, die in den letzten acht Trainingseinheiten durch den konditionierten Reiz hervorgerufen wurde. Acht Paare mit den
höchsten bzw. niedrigsten Lernwerten wurden verpaart. Nach etwa zwölf Generationen nähern sich die Lernwerte einer Asymptote, und die Mittelwerte
der lebhaften und trägen Tiere unterscheiden sich signifikant voneinander sowie jeweils von der Ausgangspopulation. Diese lange Dauer spricht für eine
polygene Grundlage der Verhaltensunterschiede. b Hungrige Fliegen (aber mit ausreichend Wasser) wurden am Fuß zunächst mit Wasser vorgetestet
und unmittelbar darauf mit Zucker stimuliert. Nach 15, 30, 45 oder 60 s wurden sie erneut mit Wasser getestet und die Rüsselverlängerung bestimmt
(»Empfindlichkeitswert«). Jede Fliege wurde insgesamt dreimal getestet. Acht Paare mit den höchsten bzw. niedrigsten Empfindlichkeitswerten wurden
verpaart. Nach nur einer Generation nähern sich die Lernwerte einer Asymptote, und die Mittelwerte der hoch- und niedrigempfindlichen Tiere unter-
scheiden sich signifikant voneinander sowie jeweils von der Ausgangspopulation. Diese kurze Dauer spricht für die Beteiligung nur eines einzigen Gens.
(Nach Tully 1996, mit freundlicher Genehmigung der Nationalen Akademie der Wissenschaften, USA)

lysen zeigten, dass dunce für eine cAMP-abhängige Phosphodi- cAMP-abhängigen Proteinkinase A (PKA) stören die olfaktori-
esterase und rutabaga für eine Adenylatcyclase codieren. In der schen Lernerfolge. Ein Substrat der PKA-abhängigen Phosphory-
Folgezeit wurden mit diesem System noch weitere Drosophila- lierung ist CREB, ein Transkriptionsfaktor, der an cAMP-Ant-
Mutanten mit Lerndefekten isoliert (z. B. radish, amnesiac, cab- wortelemente (engl. cAMP-responsive elements) bindet, die in
bage und turnip). Ihre molekulare Charakterisierung zeigte ein Promotoren entsprechender Zielgene vorhanden sind. Eine
gemeinsames Grundmuster: Sie alle betreffen – auf unterschied- Übersicht über die biochemische Signalkaskade, die durch Lern-
liche Weise – die cAMP-Signalkaskade. Auch Mutationen in der mutanten definiert wird, vermittelt . Abb. 14.19. In . Tab. 14.2
686 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

14
. Abb. 14.19 Operante Konditionierung und cAMP-Kaskade bei Drosophila. a Die Fruchtfliege Drosophila auf einer britischen Penny-Münze. b 3D-Rekon-
struktion des Drosophila-Gehirns. Die paarigen grünen Strukturen stellen die Pilzkörper dar. c Schematische Darstellung des Lernens in der Hitzekammer.
15 bis 30 solcher Kammern können gleichzeitig und parallel betrieben werden. Die Fliegen laufen dabei in einer kleinen, rechteckigen, geschlossenen
Kammer in vollständiger Dunkelheit hin und her. Die obere und untere Oberfläche sind mit Peltier-Elementen zur schnellen Heizung und Kühlung ausge-
stattet. Die Position der Fliege wird automatisch bestimmt, und ein Thermosensor hält die Temperatur auf dem gewünschten Stand. Wenn die Fliege die
»verbotene Zone« erreicht, wird die ganze Kammer auf 40 °C aufgeheizt; wenn die Fliege diesen Bereich verlässt, wird die Kammer wieder auf 20 °C herun-
tergekühlt. Innerhalb von Minuten lernen die Fliegen, die verbotene Zone zu meiden. Sie behalten die Präferenz für die erlaubte Zone sogar dann bei,
wenn die Bestrafung durch Hitze abgeschaltet wird. d Modell der postsynaptischen cAMP-Kaskade. Einige ausgewählte Drosophila-Mutanten sind dabei
herausgegriffen. Ein Rezeptor-gekoppeltes, cGMP-bindendes Protein (»G-Protein«) und der Einstrom von Ca2+ aktivieren die rutabaga-Adenylatcyclase, die
cAMP produziert. Das Ca2+- und cAMP-Signal vereinigen sich möglicherweise bei Raf, das durch das leonardo-codierte 14-3-3-Protein moduliert wird. Nach
einem weiteren Phosphorylierungsschritt aktiviert die Mitogen-aktivierte Proteinkinase (MAPK) das CREB-Protein (engl. cAMP-responsive element binding
protein) über P90, die ribosomale S6-Kinase (Rsk), die durch ignorant codiert wird. Durch die Bindung von CREB an Promotoren verschiedener Gene werden
neue Proteine synthetisiert, die für das Langzeitgedächtnis wichtig sind (LTM; engl. long-term memory). Die dunce-Phosphodiesterase (PDE) vermindert
dann die cAMP-Konzentration wieder. Diese Kaskade führt zu Veränderungen an vielen zellulären Strukturen wie z. B. den Zelladhäsionsmolekülen (CAM)
oder an Ionenkanälen (wie dem K+-Kanal, der durch ether-a-go-go codiert wird). (Nach Brembs 2003, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

sind Ergebnisse verschiedener genetischer Ansätze zur Charakte- Kurzzeitgedächtnis verantwortlich sind. Umgekehrt sind die
risierung von Lern- und Gedächtnisprozessen bei Drosophila zu- Pilzkörper nicht notwendig, wenn Fliegen lernen, auf einfache
sammengefasst. visuelle Berührungs- oder Bewegungsreize zu reagieren. Aller-
Die anatomische Lokalisation des olfaktorischen Lernverhal- dings gibt es auch Hinweise, dass komplexeres Lernverhalten die
tens führte aufgrund verschiedener Experimente, nicht nur ge- Beteiligung der Pilzkörper auch bei visuellen Stimuli erforderlich
netischer Untersuchungen, zu den Pilzkörpern (engl. mushroom macht (z. B. beim Ausfiltern von Hintergrundrauschen). Offen-
bodies) im Gehirn von Drosophila (. Abb. 14.19b). Die Pilzkör- sichtlich sind die Pilzkörper nicht nur für die Integration des
per haben eine enge Verbindung zu den Riechorganen, und so ist olfaktorischen Lernens wichtig, sondern auch für integratives
es nicht verwunderlich, dass die Pilzkörper für das olfaktorische Lernverhalten insgesamt.
14.2 · Lernen und Gedächtnis
687 14

. Tab. 14.2 Genetische Untersuchungen zur Charakterisierung von Lern- und Gedächtnisleistungen bei Drosophila

Mutante (Gensymbol) Produkt Biochemischer Weg Expression Verhaltensdefizit

Vorwärts-Screen (EMS)

dunce (dnc) cAMP-PDE cAMP Pilzkörper Lernen

rutabaga (rut) Ca2+/Calmodulin-aktivierte Adenylatcyclase cAMP Pilzkörper Kurzzeitgedächtnis

amnesiac (amn) Neuropeptid cAMP Dorsale paarweise Kurzzeitgedächtnis


mediale Neurone

ala α-Lappen abwesend Pilzkörper-Entwicklung Langzeitgedächtnis

Screen mit P-Elementen

linotte (lio) Rezeptor-Tyrosinkinase Pilzkörper-Entwicklung Pilzkörper, Lernen


Zentralkomplex

latheo (lat) Bestandteil des Komplexes zur origin-Erkennung Pilzkörper-Entwicklung Pilzkörper, Lernen
neuromuskuläre
Verbindungen

milord (pum) Ribonukleoprotein RNA-Transport Pilzkörper Langzeitgedächtnis

norka (osk) Ribonukleoprotein RNA-Transport Pilzkörper Langzeitgedächtnis

krasavietz (eIf-5C) Translationsfaktor RNA-Transport Pilzkörper Langzeitgedächtnis

Enhancer-Screens

DC0 Katalytische Untereinheit der Proteinkinase A cAMP Pilzkörper Kurzzeitgedächtnis

leonardo (leo) 14-3-3 Ras/Raf/MAPK? Pilzkörper Lernen

volado (Vol) α-Integrin Zelladhäsion Pilzkörper Kurzzeitgedächtnis

fasciclinII (FasII) Fasciklin II Zelladhäsion Pilzkörper Kurzzeitgedächtnis

Mikroarray-Screens

pumillio (pum) Ribonukleoprotein RNA-Transport Pilzkörper Langzeitgedächtnis

oskar (osk) Ribonukleoprotein RNA-Transport Pilzkörper Langzeitgedächtnis

eIf-5C Translationsfaktor RNA-Transport Pilzkörper Langzeitgedächtnis

Kandidaten-Ansatz

CamKII Ca2+/Calmodulin-abhängige Kinase II CamKII Gehirn Lernen

PKA-RI Regulatorische Untereinheit der Proteinkinase A cAMP Pilzkörper Kurzzeitgedächtnis

synapsin (syn) Synapsin cAMP Gehirn Lernen

TH-Dopamin Dopamin-Rezeptoren cAMP Gehirn Lernen

Nach Skoulakis und Grammenoudi (2006) und Keene und Waddell (2007)

Dies wird deutlich, wenn bei Drosophila ein anderes Lernsys- C Die ursprüngliche Mutante (ignP1) enthält ein transposables
tem verwendet wird, das einen Hitzeschock ohne zusätzlichen P-Element im 1. Exon des Gens und zeigt in der Hitzekam-
vorherigen äußeren Reiz verwendet (operante Konditionie- mer geschlechtsabhängige Veränderungen, denn unter die-
rung): Dabei sitzt die Fliege in einer Kammer, deren zweite Hälf- sen Bedingungen können nur die Männchen nicht lernen.
te beim Betreten erhitzt wird (. Abb. 14.19c). Nach kurzer Zeit Allerdings sind im klassischen olfaktorischen Konditionie-
hat die Fliege gelernt, diese Hälfte der Kammer zu meiden. Die rungsexperiment beide Geschlechter dieser Linie von den
Mutanten, die wir oben mit Defekten in den Genen der cAMP- Kontrollen nicht zu unterscheiden. Die zweite Mutante ist
Signalkaskade bereits kennengelernt haben, zeigen auch in der eine Null-Mutante (ign58/1), der die Kinasedomäne fehlt. Die-
Hitzekammer deutliche Lerndefizite. Von besonderem Interesse ses Allel führt zu Lerndefiziten in der klassischen Konditio-
waren in diesem Testsystem aber verschiedene ignorant-Allele, da nierung, nicht aber in der Hitzekammer. Daraus lässt sich
sie unterschiedliche Phänotypen aufwiesen (das ignorant-Gen schließen, dass die Kinase-Aktivität und andere Domänen
codiert für eine phosphorylierbare, ribosomale S6-Kinase mit des Proteins für unterschiedliche Prozesse im Lernverhalten
einem Molekulargewicht von 90 kDa – daher »p90«). benötigt werden.
688 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

> Genetische Untersuchungen zum Lernverhalten an Droso-


phila haben eine Reihe von Genen identifiziert, deren mu-
tierte Allele die Lernfähigkeit deutlich vermindern. Diese
Gene codieren in vielen Fällen für Enzyme, Rezeptoren
oder Transkriptionsfaktoren in der cAMP-Signalkaskade.

14.2.2 Lernverhalten bei Mäusen

Wie wir in früheren Kapiteln immer wieder gesehen haben, ent-


wickelt sich die Maus in vielen Teilgebieten der modernen Gene-
tik zu einem der wichtigsten Modellorganismen. Dies gilt auch
für die Neurogenetik, wo sie zwischen Erkenntnissen an Inverte-
braten und den Fragestellungen vermittelt, die wir im Hinblick a
auf die Humangenetik haben. Die für Lernen und Gedächtnis
wichtige morphologische Struktur im Mausgehirn ist der Hippo-
campus (hier insbesondere der Gyrus dentatus und die Regionen
CA1–CA4). Der Hippocampus gehört zu den entwicklungsge-
schichtlich alten Teilen des Säugergehirns, den es auch im
menschlichen Gehirn gibt.
Um bei der Maus den am Lernvorgang beteiligten Mechanis-
men auf die Spur zu kommen, werden verschiedene Verhaltens-
tests angewendet; in . Abb. 14.20 werden dazu Beispiele vorge- b
stellt. Bei dem »Wasserlabyrinth« (engl. water maze) muss die . Abb. 14.20 Lern- und Gedächtnistraining bei Mäusen. a Ein »Wasserla-
Maus beispielsweise lernen, in einem großen Wasserbehälter byrinth« (engl. water maze) wird verwendet, um das Hippocampus-abhän-
eine Unterwasserplattform wiederzufinden. Derartige Untersu- gige räumliche Lernen zu testen. Dabei müssen Mäuse eine untergetauchte
chungen werden bei der Maus noch nicht sehr lange systematisch Plattform in einem kreisförmigen Pool lokalisieren. b Links: Kontextabhän-
giges Angsttraining wird verwendet, um assoziatives Lernen zu untersu-
durchgeführt, deshalb steht zunächst einmal die Erhebung von chen. Dabei wird ein Elektroschock am Fuß appliziert, und es muss gelernt
Basisdaten im Vordergrund, z. B. der Vergleich verschiedener werden, in welchem Zusammenhang der Elektroschock eintritt. Rechts:
Inzuchtstämme der Maus. Dabei zeigen sich interessante Unter- Die dreieckige Box stellt für die Maus eine neue Umgebung dar; sie wird
schiede: Beispielsweise sind C57BL/6J-Mäuse offensichtlich verwendet, um episodisches Gedächtnis zu testen (engl. cue memory).
14 »gute Lerner«, wohingegen CBA/J-Mäuse eher zu den »schlech- (Nach Crawley 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

teren Lernern« gehören (Nguyen und Gerlai 2002).


Da es bisher nur sehr wenige spontane oder Ethylnitroso-
harnstoff(ENU)-induzierte Lernmutanten der Maus gibt (zur wort »learning and memory«; ein Teil davon ist in . Tab. 14.3
chemischen Mutagenese vgl. 7 Abschn. 10.4.3), hat man sich im aufgeführt. Im Folgenden werden einige Beispiele vorgestellt
Wesentlichen zunächst einmal darauf beschränkt, einige Gene werden, wobei zunächst von den Signalrezeptoren (im Wesent-
auszuschalten, deren Produkte aufgrund von pharmakologi- lichen ein Glutamat-Rezeptor – NMDA) die Rede sein soll, dann
schen oder elektrophysiologischen Untersuchungen als wichtige von der Umschaltung des Signals via αCaMKII und PKA auf
Kandidaten infrage kamen. Dabei ergab sich auch schon eine CREB und die Synthese der Transkriptionsfaktoren Zif268 und
gewisse Übereinstimmung mit den Untersuchungen an Droso- C/EBP.
phila, sodass auch die genetische Lernforschung an der Maus
das cAMP-System in den Mittelpunkt stellt. Allerdings zeigt sich
hierbei ein wesentlicher Unterschied zu Drosophila in der Kom-
*Wir haben im 7 Abschn. 8.2 Dicer als ein Enzym kennenge-
lernt, das bei der Reifung der miRNAs (und anderer, kleiner
plexität des Säugerorganismus: Das cAMP-System ist ja an vie- regulatorischer RNAs) eine wichtige Rolle spielt, indem es
len zellulären Antworten auf verschiedene Reize als Signalüber- die ursprünglich längere dsRNA in kleine, doppelsträngige
träger beteiligt. So sind zunächst einmal viele Mutanten über- RNA von 20–25 bp zerschneidet. Wird nun das entsprechen-
haupt nicht lebensfähig, bei denen ein beteiligtes Gen ausge- de Gen durch ein induzierbares Cre/loxP-System (7 Technik-
schaltet wurde. Oder sie zeigen keinen auffälligen Phänotyp, box 27) im Vorderhirn adulter Mäuse ausgeschaltet, führt
weil ein anderes, ähnliches Gen die Funktion übernommen hat. das zu einer Verbesserung des Erinnerungsvermögens auch
Daher kommt bei diesen Untersuchungen in besonderem Maße noch nach vielen Wochen. Die veränderten Neurone hatten
die gewebespezifische Form der Knock-out-Technologie zum mehr lange, dünne Filipodien-ähnliche Dornenfortsätze an
Einsatz (Cre/lox-System oder induzierbare Mutationen über das den Dendriten. Diese morphologischen Veränderungen wer-
tTA-System; 7 Technikbox 27). Die aktuelle Datenbank des Jack- den als ein aktiver Umbau der Synapsen in diesen Modellen
son-Labors enthält zur Zeit der Drucklegung dieses Buches (Mai verstanden und als Mechanismus interpretiert, um die
2015) Hinweise auf 1037 verschiedene Phänotypen zum Stich- Gedächtnisleistung zu verbessern. Die Abwesenheit von
14.2 · Lernen und Gedächtnis
689 14

. Tab. 14.3 Auswahl einiger Lernmutanten bei der Maus

Allel Konstruktion und biochemische Folge Phänotyp

Aal Spontan (Gen unbekannt; Chromosom 1) Lerndefekt bei aktivem Vermeidungsverhalten

Camkk2tm1Kpg Entfernung von Exon 5 durch Cre/loxP; Verlust der katalytischen Verlust von LPT und Langzeitgedächtnis
Domäne in allen β-Isoformen der CaM-Kinase-Kinase

Creb1tm1Gsc Knock-out durch Neomycin-Kassette in Exon 2; Verlust der α- oder Verlust von Lernfähigkeit und Langzeitgedächtnis
δ-Isoform von CREB, aber Kompensation durch Erhöhung der
β-Isoform

Creb1tm2Gsc Knock-out durch Neomycin-Kassette in Exon 10; Verlust der DNA- Verlust von Lernfähigkeit und Langzeitgedächtnis
Bindedomäne und des Leucin-Zippers

CrebbpGt(U-san)112Imeg Genfallen-Mutation; Expression eines verkürzten CREB-Bindeproteins Verlust des Langzeitgedächtnisses (heterozygot)

Egr1tmLch Knock-out durch Neomycin-Kassette zwischen Promotor und Exon 1; Stimulation der Genexpression durch LTP; Verlust
Abwesenheit des Genproduktes des Langzeitgedächtnisses

Pde1btm1Cvv Knock-out durch PGK-HPRT-Kassette anstelle der Exons 6–9 Lerndefizit und Hyperaktivität

tmgc31 ENU-induziert, Gen unbekannt (Chromosom 7) Lern- und Gedächtnisanomalie

CaMKK: Ca2+/Calmodulin-Kinase-Kinase-β; CREB: cAMP responsive Element binding protein; CREBBP: CREB-bindendes Protein; Egr: early growth respon-
se; ENU: Ethylnitrosoharnstoff; HPRT: Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase; LTP: hippocampale Langzeitpotenzierung; Pde: Phospho-
diesterase; PGK: Phosphoglyceratkinase; tmgc: Tennessee Mouse Genome Consortium (http://www.tnmouse.org/).
Nach The Jackson-Laboratory: Mouse Genome Informatics (Datenbank Learning/memory; Stand: 1.5.2015; http://www.informatics.jax.org/allele)

miRNAs erleichtert die Translation von mRNAs, die bei An- C Um dennoch bestimmte Effekte des NMDA-Rezeptors
wesenheit von miRNA abgebaut würden; dazu gehören untersuchen zu können, haben Kew und seine Mitarbeiter
auch mRNAs, die für synaptische Proteine codieren. Ein Bei- (2000) eine Punktmutation eingefügt, die die Aminosäure
spiel für diese negative Wirkung von miRNAs ist miR-134: Asparagin (N) an der Position 481 des NMDA-Rezeptors 1
miR-134 hemmt die Translation des CREB-Proteins, und als anstelle von Asparaginsäure (D) in der Glycin-Bindestelle
Konsequenz ist die CREB-vermittelte Expression von BDNF enthält. Die entsprechenden Mutanten sind lebensfähig;
(engl. brain-derived neurotrophic factor) vermindert, was biochemisch bewirkt diese Mutation eine leichte Abnahme
schließlich zu einer Abschwächung der Lern- und Gedächt- der Bindung von Glycin an diese Untereinheit (aber nicht
nisleistung der Mäuse führt (Konopka et al. 2011). von Glutamat). Diese Mutanten zeigten keine Unterschiede
in ihren Reflexen und in ihrer Antwort auf Licht-Dunkel-Rei-
Die wichtige Rolle des NMDA-Rezeptors (N-Methyl-D-aspartat) ze. Allerdings konnte in diesen Mäusen elektrophysiologisch
ist in der Lern- und Gedächtnisforschung schon lange bekannt, keine Langzeitpotenzierung erzeugt werden – und der Ver-
vor allem durch Untersuchungen seiner Inhibitoren. Es handelt haltenstest mit der Unterwasserplattform ergab deutliche
sich um einen Ionenkanal für Na+, K+ und Ca2+, der allerdings Lerndefizite dieser Mutanten.
bei normalem Membranpotenzial durch Mg2+-Ionen »verstopft«
ist. Erst bei leichter Depolarisation verlassen mehr und mehr Es gibt eine ganze Reihe verschiedener Proteine, die mit dem
Mg2+-Ionen den Kanal, und er kann durch die Agonisten Gluta- NMDA-Rezeptor in Wechselwirkung treten können. Eine große
mat und Glycin geöffnet werden. Die Potenzial-abhängige Familie sind die Rezeptor-Tyrosinkinasen – Membran-assoziierte
Funktionsweise des NMDA-Rezeptors entspricht damit einer Proteine, die sich selbst phosphorylieren, wenn ihr jeweiliger
logischen »UND«-Verknüpfung und verleiht der Informations- Ligand gebunden hat. Wichtige Mitglieder dieser Familien, die
übertragung durch NMDA-Rezeptoren die Plastizität, die für im Hippocampus zusammen mit dem NMDA-Rezeptor expri-
Lernen und Gedächtnis wichtig ist. Glutamat wirkt dabei als miert werden, sind Ephrin-Rezeptoren A und B sowie der Tyro-
Neurotransmitter, da es von den präsynaptischen Membranen sinkinase-Rezeptor B (TrkB), der durch die Protease Presenilin 1
aktivitätsabhängig ausgeschüttet wird. Glycin dagegen ist ständig prozessiert wird (wir werden die wichtige Rolle der Preseniline
in geringen Konzentrationen in der extrazellulären und cerebro- bei der Alzheimer’schen Erkrankung später noch kennenlernen,
spinalen Flüssigkeit anwesend; diese Konzentration reicht zur 7 Abschn. 14.5.2). Mutationen in den Genen, die für diese Pro-
Sättigung des Rezeptors im Prinzip aus. Allerdings können teine codieren, ergeben in verschiedenen Tests Defizite im Lern-
Glycin-Transporter diese Konzentration lokal verändern. Der verhalten.
NMDA-Rezeptor besteht aus vier bis fünf Untereinheiten (Gen- Ein weiteres Enzym, das mit dem NMDA-Rezeptor inter-
symbole: Grin1, Grin2a–d), die zu unterschiedlichen Zeiten ex- agiert, ist die αCaMKII, eine Ca2+/Calmodulin-abhängige Kinase,
primiert werden. Das Ausschalten eines dieser Gene führt in der die im Hippocampus und im Cortex des Gehirns stark expri-
Regel zur Letalität der Maus. miert ist. Diese Kinase nimmt eine weitere zentrale Position beim
690 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Lernen ein. Der durch die Aktivierung des NMDA-Rezeptors noch deutlicher, wenn das Langzeitgedächtnis nach 8 Tagen un-
hervorgerufene Ca2+-Einstrom bewirkt auch eine Autophospho- tersucht wird. Durch Gabe von Forskolin, einem chemischen
rylierung der αCaMKII am Threonin der Position 286 – damit Aktivator aller Adenylatcyclasen, kann das Defizit der Ca2+-ab-
wird diese Kinase Ca2+/Calmodulin-unabhängig und aktiv. He- hängigen ACs ausgeglichen werden.
terozygote Null-Mutanten (also CaMK2a+/−) zeigen unter ver- Wie . Abb. 14.21 zeigt, münden alle Signalketten in eine Ak-
schiedenen Testbedingungen normales Lernverhalten im Hippo- tivierung von CREB, einem Transkriptionsfaktor, dessen phos-
campus. Allerdings sind diese Mäuse nicht in der Lage, sich das phorylierte Form spezifisch an Promotoren bindet, die über
Gelernte über einen längeren Zeitraum (hier 3 Tage) zu merken. cAMP-Antwortelemente verfügen (engl. cAMP responsive ele-
An diesem Langzeitgedächtnis sind offensichtlich noch zusätzli- ments, CRE). CREs sind in den Promotoren einer Vielzahl von
che Strukturen im Neocortex beteiligt; hier ist die Expression von Genen enthalten und spiegeln damit die Funktionsvielfalt des
αCaMKII geringer als im Hippocampus, und die Verminderung cAMP-Systems wider, das nicht nur auf Lernen und Gedächtnis
um ca. 50 % in den heterozygoten Null-Mutanten ist offensicht- beschränkt ist. Allerdings zeigen die Deletionen der α- und
lich nicht mehr ausreichend, um die Funktion im Neocortex auf- δ-Isoformen von Creb in der Maus deutliche Effekte auf das
rechtzuerhalten. Homozygote CaMK2a-Null-Mutanten dagegen Langzeitgedächtnis, jedoch nicht auf das Kurzzeitgedächtnis.
hatten auch deutliche Defizite in kurzzeitigen Lerntests: Sie ver- Gleichzeitig versucht der Organismus offensichtlich, den Ausfall
sagten völlig darin, die Unterwasserplattform (. Abb. 14.20a) dieser beiden Isoformen durch eine verstärkte Expression der
wiederzufinden (wenn die Plattform allerdings sichtbar blieb, β-Isoform und anderer Spleißvarianten zu kompensieren, sodass
hatten sie auch keine Probleme). Unterschiede der Wirkung dieser Deletionen in verschiedenen
Mausstämmen beobachtet werden können. Umgekehrt erleich-
C Einen interessanten Ansatz zur Untersuchung der αCaMKII- tert eine Erhöhung der CREB-Konzentrationen durch virale Ex-
Funktion wählten Ohno und Mitarbeiter (2001): Eine Maus, pressionssysteme die Trainingsbedingungen für die Bildung des
heterozygot für die T286A-Mutation in CaMK2a, unterschei- Langzeitgedächtnisses. Verfeinerte experimentelle Bedingungen
det sich im kurzzeitigen Lerntraining nur geringfügig von den deuten darauf hin, dass CREB insbesondere dafür benötigt wird,
Wildtyp-Geschwistern. Der Austausch von Threonin durch Wissen zu verfestigen.
Alanin verhindert die Autophosphorylierung an der Amino- Die Zielgene von CREB können, wie schon erwähnt, sehr
säure-Position 286. Wird dieser heterozygoten Maus nun vielfältig sein. In Bezug auf Lernen und Gedächtnis spielen
vor dem Lerntraining ein Antagonist des NMDA-Rezeptors in offensichtlich zwei Gene eine wichtige Rolle, die als Zif268
einer Konzentration verabreicht, der bei Wildtypen keine und Cebpa bezeichnet werden und ebenso für Transkrip-
veränderte Lernreaktion hervorruft, so ist bei den hetero- tionsfaktoren codieren. Cebpa codiert für das CCAA/enhancer
zygoten CaMK2a-Mutanten eine deutliche Verschlechterung binding protein α; das Protein wird daher als C/EBP abgekürzt.
der Lern- und Gedächtnisleistung zu beobachten. Dies ist Da das C/EBP-Protein an dieselben CREs bindet wie CREB
nicht der Fall, wenn der Antagonist später zugegeben wird. selbst, wird hier ein negativer Rückkopplungsmechanismus
14 Diese Kombination von pharmakologischen und genetischen vermutet. Diese Interpretation wird durch Untersuchungen an
Ansätzen erlaubt nicht nur, Einzelaspekte des Lern- und Cebpa−/−-Mäusen gestützt, die räumliche Informationen offen-
Gedächtnismechanismus voneinander zu trennen, sondern sichtlich schneller verarbeiten können als Wildtyp-Mäuse. Das
erklärt auch unterschiedliche Reaktionsprofile auf gleiche zweite Gen, dessen Expression durch CREB hochreguliert wird,
Umwelteinflüsse. codiert für den Transkriptionsfaktor Zif268 (auch bekannt
unter den Abkürzungen Egr-1, Krox-24, NGFI-A oder Zenk)
Der Einstrom von Ca2+-Ionen über den NMDA-Rezeptor kann und wurde ursprünglich als frühe Antwort (engl. immediate
aber auch die Signalkette aktivieren, in der die Proteinkinase A early gene, IEG) auf einen Nervenwachstumsfaktor in Zellkul-
(PKA) eine zentrale Rolle einnimmt. Hohe cAMP-Konzentra- turen identifiziert. Dieser Transkriptionsfaktor enthält drei
tionen (hervorgerufen beispielsweise durch Ca2+-abhängige Zinkfingermotive und erkennt GC-reiche Elemente in den Pro-
Adenylatcyclasen, AC) aktivieren die PKA, die dann wiederum motoren seiner Zielgene. Zif268 wird in verschiedenen Arealen
verschiedene Substrate phosphorylieren kann (z. B. den NMDA- des Neocortex, des Hippocampus, der Amygdala, des Striatum
Rezeptor oder CREB); verschiedene Phosphatasen (z. B. Protein- und des Cerebellum exprimiert. Deletionen von Zif268 führen
Phosphatase 1A oder Calcineurin) arbeiten entgegengesetzt, da in der Maus nicht zu offensichtlichen histologischen Verände-
sie die PKA-Substrate wieder dephosphorylieren können. Calci- rungen, aber diese Deletionsmutanten zeigen Defizite im Lang-
neurin ist eine Ca2+-sensitive Ser/Thr-Phosphatase und in hohen zeitgedächtnis, ohne dass das Kurzzeitgedächtnis betroffen ist.
Konzentrationen im Hippocampus vorhanden. Wir kennen etwa Wenn allerdings das Trainingsverhalten in längere Inter valle
zehn verschiedene Adenylatcyclasen, die in vielen Geweben unterteilt wird, führt diese Lernform bei den Zif268−/−-Mutan-
gleichzeitig exprimiert werden; im Hippocampus sind neun ACs ten zu Ergebnissen, wie wir sie vom Wildtyp her kennen. Ins-
vorhanden. Zwei davon, AC1 und AC8, werden durch Ca2+/Cal- gesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass Zif268 Teil
modulin stimuliert. Deletionen eines der beiden AC1- bzw. AC8- der Signalkette ist, die das Langzeitgedächtnis in Abhängigkeit
codierenden Gene haben keinen Einfluss auf das Lernverhalten von der Expression einiger spezifischer Zielgene ausbildet.
der Mäuse; werden aber beide Gene gemeinsam ausgeschaltet, so Zif268 ist dabei offensichtlich wichtig, um Erinnerungen zu
zeigen sich deutliche Auswirkungen auf die späte Phase der festigen und reaktivierte Erinnerungen erneut zu speichern
Langzeitpotenzierung. Der Unterschied zu den Wildtypen wird (Bozon et al. 2003).
14.2 · Lernen und Gedächtnis
691 14

. Abb. 14.21 CREB als zentraler Transkriptionsfaktor für Lernen und Gedächtnis bei Mäusen. Ausgehend von verschiedenen Rezeptoren (NMDAR, AMPAR,
EphB2, TrkB) werden über Ca2+-abhängige oder über G-Protein-abhängige Signalwege eine Reihe von Kinasen aktiviert (CaMKIV, CaMKK, MAPK, PKA, RSK),
die schließlich alle zur Phosphorylierung und damit Aktivierung des Transkriptionsfaktors CREB führen. Die anschließende Expression von C/EBP leitet eine
negative Rückkopplungsschleife ein, wohingegen die Aktivierung des Zinkfinger-Transkriptionsfaktors Zif268 für die Verfestigung des Gelernten wichtig
ist. ATF4: Aktivierender Transkriptionsfaktor 4; CaMKIV: Ca2+/Calmodulin-abhängige Kinase IV; CaMKK: Ca2+/Calmodulin-abhängige Kinase-Kinase; C/EBP:
CCAAT/Enhancer-bindendes Protein; CN: Calcineurin; CREB: cAMP-responsive element binding protein; GCN2: general control, non depressible-2; IEGs: unmittelbar
frühe Gene; PKA: Proteinkinase A; MAPK: Mitogen-aktivierte Proteinkinase; PP1: Proteinphosphatase 1; RSK: ribosomale S6-Kinase. (Nach Lee und Silva
2009, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

> Lernen und Gedächtnis sind vielschichtige Phänomene, die 14.2.3 Kognitive Störungen bei Menschen
zunehmend auf der genetischen Ebene untersucht werden
können. Ergebnisse mit Knock-out-Mutanten der Maus ma- Lernunfähigkeit bei Menschen ist ein deskriptives Konzept, mit
chen deutlich, dass die cAMP-Signalkette im Hippocampus dem Ursachen und Bedingungen menschlicher Lernschwierig-
dabei eine zentrale Rolle spielt. Wesentliche Komponenten keit beschrieben werden. Schwere Lernunfähigkeit wurde schon
dabei sind der NMDA-Rezeptor, αCaMKII, PKA und CREB länger als pathologisch charakterisiert, wohingegen milde For-
und schließlich die Synthese von Transkriptionsfaktoren men der Lernunfähigkeit weitgehend als soziokulturell und mul-
wie Zif268 und C/EBPs. Damit wurde bei der Maus ein ähnli- tifaktoriell bedingt betrachtet wurden. Im Gegensatz dazu meh-
ches System charakterisiert wie bei Drosophila. ren sich Berichte, die zeigen, dass auch Veränderungen bei ein-
zelnen Genen und kleinere chromosomale Rearrangements für
*Wie wir in 7 Abschn. 8.1 gesehen haben, wird die Bedeu-
tung epigenetischer Histon-Markierungen immer besser er-
Lernunfähigkeiten verantwortlich sind. Die Tatsache, dass mehr
Männer als Frauen von Lernunfähigkeiten betroffen sind, ist seit
kannt. Derartige Umorganisationen des Chromatins spielen über 100 Jahren bekannt und hat viel damit zu tun, dass auf dem
wahrscheinlich auch bei Lern- und Gedächtnisleistungen X-Chromosom eine Reihe von Genen liegt, deren Mutationen zu
eine wichtige Rolle. Das CREB-bindende Protein CBP stellt mentaler Retardierung führen (z. B. das Fragile-X-Syndrom;
eine Verbindung zwischen CREB und dem Transkriptions- 7 Abschn. 13.3.3).
startpunkt her; dabei wirkt es auch als Histon-Acetyltrans-
ferase und öffnet die Chromatinstruktur zumindest in die- C Ein Beispiel für Lernunfähigkeit, die durch ein einzelnes Gen
sem lokalen Rahmen. Darüber hinaus gibt es zunehmend verursacht wird, ist die Neurofibromatose I (NF1; früher auch
Spekulationen über einen epigenetischen »Code« für das als »von-Recklinghausen-Erkrankung« bezeichnet). NF1 ist eine
Gedächtnis (Roth und Sweatt 2009). Solche Spekulationen dominante Erkrankung (OMIM 162200, Chromosom 17q11,
werden unter anderem auch durch das konditionale Aus- Häufigkeit 1:3000 bis 1:4000), die zunächst durch gutartige und
schalten von HDAC4 (codiert für die Histon-Deacetylase 4) bösartige Tumoren des Nervensystems gekennzeichnet war.
im Vorderhirn von Mäusen genährt, was zu einer verminder- Es zeigte sich aber bald, dass der Phänotyp sehr variabel ist;
ten Lern- und Gedächtnisleistung führt – zumindest bei weitere häufige Merkmale sind Lisch-Knötchen in der Iris
Mäusen (Ronan et al. 2013). und Café-au-lait-Flecken auf der Haut, seltener dagegen ver-
schiedene Skelettanomalien. In unserem Zusammenhang hier
ist aber hervorzuheben, dass etwa 30–65 % der Kinder mit
692 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

NF1-Mutationen auch an Lerndefiziten leiden. Die im Kindes- (. Abb. 13.43). Costa et al. (2002) konnten in einem eleganten
alter beobachteten Einschränkungen werden in qualitativ iden- Experiment zeigen, dass durch Gabe eines pharmakologisch
tischer Form ins Erwachsenenalter tradiert (Uttner et al. 2003). wirksamen Ras-Inhibitors in den heterozygoten Nf1+/−-Mäusen
Verständlicherweise konzentrierten sich die früheren Arbeiten die Lerndefizite erfolgreich behandelt werden konnten.
vor allem auf das Verständnis der Tumorerkrankung. Neuere
Arbeiten zeigen aber, dass derselbe Signalweg, der zur Bildung Der Ras-Signalweg ist übrigens noch für weitere Erbkrankheiten
von Nerventumoren führt, auch bei Lernprozessen benötigt wichtig, die mit Syndromen geistiger Retardierung beim Men-
wird: Es ist der Ras-Signalweg (. Abb. 13.43). Neurofibromin, schen verbunden sind. Es handelt sich dabei um das Coffin-
das Protein, das durch NF1 codiert wird, ist für eine Reihe bio- Lowry-Syndrom (OMIM 303600; chromosomale Lokalisation:
chemischer Funktionen verantwortlich (z. B. GTPase-Aktivie- Xp22.2) und das Rubinstein-Taybi-Syndrom (OMIM 180849;
rung, Modulation der Adenylatcyclase und Bindung an Mikro- chromosomale Lokalisation: 16p13.3). Im ersten Fall ist das
tubuli) und in diesen Funktionen hochkonserviert bei Droso- RSK2-Gen mutiert (dessen Genprodukt CREB phosphoryliert)
phila, der Maus und dem Menschen. Der vollständige Verlust und im zweiten das CREBBP-Gen, dessen Genprodukt an CREB
des NF1-Gens in Homozygoten ist sowohl bei der Maus als auch bindet und mit CREB die Expression der Zielgene steuert (Sweatt
beim Menschen letal, und ältere, heterozygote Nf1+/−-Mäuse und Weeber 2003); eine Übersicht über verschiedene kognitive
weisen klinische Symptome auf, die wir von NF1-Patienten Erkrankungen des Menschen zeigt . Abb. 14.22.
kennen. Es zeigte sich nun, dass eine der verschiedenen Funk-
tionen des Nf1-Genproduktes für das Lernverhalten der Mäuse
wichtig ist. Es handelt sich dabei um die Regulation der
*Das Rubinstein-Taybi-Syndrom (OMIM 180849) ist durch men-
tale Retardierung (IQ von ~ 34 im Alter von 25 Jahren), breite
GTPase-aktivierenden Funktion von Nf1 durch die Wechsel- Daumen und Zehen sowie Gesichtsanomalien charakterisiert,
wirkung zwischen Nf1 und Ras. Der Verlust dieser Nf1-Funktion häufig verbunden mit einem Glaukom. Es ist eine seltene Er-
führt zur Überaktivierung von Ras und in Konsequenz dessen krankung, die mit einer Häufigkeit von 1:125.000 bis 1:720.000
zu einer unangemessenen Aktivierung der Erk-Kaskade Geburten vorkommt und auf dem Chromosom 16p13 lokali-

. Abb. 14.22 Unterbrechungen der moleku-


laren Signalkaskade der Gedächtnisbildung
führen zu kognitiven Störungen des Menschen.
Die Gedächtnisbildung beginnt mit der Aktivie-
rung der Signalwege an der Membran der
dendritischen Dornfortsätze. Die Signalkaskade
erreicht den Zellkern, wo die Aktivität der
Transkriptionsfaktoren moduliert wird und sich
14 dadurch die Genexpression ändert. Neu syn-
thetisierte Proteine bewirken lang dauernde
Veränderungen der Zellfunktion. Störungen
einzelner Schritte führen zu bestimmten
Erkrankungen. APP: amyloid precursor protein;
CBP: CREB-bindendes Protein (alternative
Abkürzung: CREBBP); CREB: cAMP-Antwortele-
ment-bindendes Protein; DMPK: Dystrophia-
Ubiquitin- myotonica-Proteinkinase; DYRK1A: dual specifi-
Ligase
city tyrosine phosphorylation-regulated kinase 1A;
ERK: extrazelluläre Signal-regulierte Kinase;
FMR: Fragiles-X-Chromosom/mentale Retardie-
rung; MEK: MAPK(Mitogen-aktivierte Protein-
kinase)/ERK-Kinase; Rac: GTPase-aktivierendes
Protein; Ras: Onkogen des Ratten-Sarkom-Virus
(G-Protein); RSK2: ribosomale S6-Kinase 2;
SOD1: Superoxiddismutase 1. (Nach Weeber
et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung
der American Society of Pharmacology and
Experimental Therapeutics)
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
693 14
siert ist. Etwa 3 % der Patienten, die wegen mentaler Retardie- gänge an den Übergängen von einer Nervenzelle auf die ande-
rung in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden, leiden re spielen: an den Synapsen. Je nach Transmittertyp werden
an dem Rubinstein-Taybi-Syndrom. Die molekulargenetische dopaminerge, adrenerge oder serotonerge Synapsen unter-
Analyse zeigt häufig chromosomale Brüche und Mikrodeletio- schieden (. Abb. 14.24). Mit der Untersuchung von Mutationen,
nen, aber auch heterozygote Funktionsverlust-Mutationen im die Synthese, Bindung, Transport und Abbau der Transmitter
CREBBP-Gen. Es gibt jedoch auch vereinzelt Mutationen in ei- beeinflussen, können wichtige Informationen über Krankheiten,
nem Gen, das für das Protein EP300 codiert und auf dem Chro- aber auch über veränderte Verhaltensweisen gewonnen werden.
mosom 22q13 lokalisiert ist; dieses Protein hat funktionelle Damit soll natürlich nicht einer genetischen Determination
und strukturelle Ähnlichkeiten mit CBP. Dieser Befund zeigt die das Wort geredet werden – aber es kann den Rahmen aufzeigen,
genetische Heterogenität des Rubinstein-Taybi-Syndroms; die innerhalb dessen wir uns bewegen – und welche Möglichkeiten
neuere Nomenklatur folgt diesem genetischen Befund und (aber auch Unmöglichkeiten) sich daraus für Therapien ab-
beschreibt es korrekt als Rubinstein-Taybi-Syndrom 2 (OMIM zeichnen. Für viele andere Aspekte dieser Thematik sei jedoch
613684; Hallam und Bourtchouladze 2006). auf Lehrbücher der Physiologie, Psychologie und Psychiatrie ver-
wiesen.
> Genetische Untersuchungen von Krankheiten, die mit
Lernstörungen und kognitiven Defiziten bei Menschen
verbunden sind, zeigen deutliche Parallelen zu den mole- 14.3.1 Angst und Depression
kularen Mechanismen, die von der Maus bekannt sind.
Detaillierte Analysen zeigen die Beteiligung des Ras- Angst ist ein Gefühl der Bedrängtheit, das von der Vorstellung
Signalweges. zukünftigen Übels verursacht wird. Im Gegensatz zur Furcht ist
die Angst auf keinen bestimmten Gegenstand bezogen und da-
mit anonym und unbestimmbar. Weil Angst auch in Situationen
14.3 Angst, Sucht und psychiatrische auftritt, in denen keine konkrete, objektive Bedrohung feststell-
Erkrankungen bar ist, wird sie von der Psychologie als krankhafte Störung auf-
gefasst (Angststörung), bei der körperliche Symptome wie Be-
Wir haben bis jetzt einige genetische Komponenten kennenge- schleunigung von Atmung und Herzfrequenz, Schweißausbruch
lernt, die für rhythmisches Verhalten, für Lernen und Gedächt- usw. mit einer Beeinträchtigung des problemlösenden Denkens
nis (mit)verantwortlich sind. Wie sieht das aber mit noch kom- einhergehen. Als Depression bezeichnet man eine Krankheit,
plexeren Verhaltensweisen aus, mit Stimmungen und Gefühlen? die mit Niedergeschlagenheit und vielen weiteren körperlichen
Beispielsweise macht man die Erfahrung, dass jeder mit Stress und psychischen Störungen einhergeht. Derzeit sind schätzungs-
anders umgeht oder dass verschiedene Menschen in vergleich- weise 5 % der Bevölkerung in Deutschland an einer behand-
baren Situationen ganz unterschiedlich reagieren. Es gibt aber lungsbedürftigen Depression erkrankt. Etwa dreimal so groß ist
einige Merkmale, die aus dem üblichen Verhaltensrepertoire die Zahl derjenigen, die irgendwann im Laufe ihres Lebens an
herausfallen und als psychiatrische Erkrankungen bezeichnet einer Depression erkranken. Hat man bereits einmal eine De-
werden. Sie leiten sich aus den Extremen üblicher Variationen pression durchlebt, so besteht ein erhöhtes Risiko für das erneu-
von Gemütslagen, Angst, kognitiver Verarbeitung und Volition te Auftreten dieser Krankheit. Wenn sich depressive Phasen mit
ab, die in einer Population vorkommen (der Begriff »Volition« Phasen gehobener Stimmung, Aggression, Reizbarkeit, gesteiger-
bezeichnet den Willen oder den Antrieb, etwas mit Energie und ter Impulsivität und Spontaneität abwechseln, spricht man von
Aktivität zu tun). Zu diesen psychiatrischen Erkrankungen ge- einer manischen Depression (auch bipolare affektive Störung).
hören unter anderem Angst- und Panikstörungen, Depressio- Diese Krankheit hat eine Häufigkeit von etwa 1 % in allen unter-
nen und Schizophrenie. Viele dieser Erkrankungen haben einen suchten Kulturkreisen. Beiden Krankheitsformen (Angst und
relativ hohen erblichen Anteil (schwere Depressionen: ~ 40 %; Depression) ist gemeinsam, dass sie sich durch Medikamente
Angststörungen: 40–50 %; Alkoholabhängigkeit: 50–60 %; bi- behandeln lassen, die mit der Funktion des Neurotransmitters
polare Erkrankungen: 60–85 %; Schizophrenie: 70–85 %). Trotz Serotonin zusammenhängen.
vielfältiger Bemühungen gelingt es aber nur in Ansätzen, diese Aufgrund früherer neuroanatomischer Untersuchungen und
genetischen Komponenten der komplexen psychiatrischen Er- Reizungen bestimmter Gehirnareale mit Stromstößen bei Tier-
krankungen im Detail zu beschreiben. Ein Problem ist die häu- versuchen konnte man davon ausgehen, dass »Angst« in der
fig schwierige diagnostische Abgrenzung der einzelnen Krank- Amygdala (Mandelkern), einer Gehirnregion unterhalb des
heitsbilder, die häufig durch graduelle Übergänge charakteri- Schläfenlappens, lokalisiert ist. Weitere Hinweise kamen aus
siert sind (. Abb. 14.23). Außerdem fehlen in den meisten Fällen pharmakologischen Erfahrungen, die zeigten, dass man mit
biochemische oder physiologische Korrelate bzw. Marker, die Hemmstoffen der Wiederaufnahme des Neurotransmitters Sero-
zur Diagnostik herangezogen werden könnten. tonin wirkungsvoll Ängste und Depression behandeln kann. In
Wir wollen im Folgenden versuchen, einen Teil der allge- . Abb. 14.24c sind einige Komponenten des serotonergen Sys-
mein akzeptierten genetischen Befunde zusammenzutragen, tems dargestellt, dabei spielt der Biosyntheseweg des Serotonins
um so eine Vorstellung davon zu bekommen, in welche (auch als 5-Hydroxytryptamin bezeichnet, Abk.: 5-HT) aus
Richtung sich eine genetische Psychiatrie entwickeln könnte. Tryptophan eine wichtige Rolle. Ergänzt wird das System durch
Eine wichtige Rolle bei diesen Überlegungen werden die Vor- Rezeptoren (5-HT1, 5-HT2 und 5-HT3), die postsynaptisch das
694 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

kognitive Verarbeitung
Gemütslage
Psychose

bipolare
Erkrankung

Schizophrenie

Depression

Panik- Volition
störung (Willenskraft)

Angst-
störung

Angst

. Abb. 14.23 Psychiatrische Erkrankungen überlappen und können Extrempositionen von Persönlichkeitsmerkmalen darstellen. Die Anfälligkeit für
psychiatrische Erkrankungen aufgrund genetischer Eigenschaften entwickelt sich aus den extremen Enden der üblichen Variationen in einer Population,
illustriert durch die unterschiedlichen Schattierungen des Hintergrundes für Gemütslagen, Angst, kognitive Verarbeitung und Volition. Genetische Faktoren,
die das Ausmaß beeinflussen, das diesen Merkmalen zugrunde liegt, können im Zusammenspiel mit zusätzlichen genetischen und Umweltfaktoren zum
Ausbruch psychiatrischer Erkrankungen führen. Hier sind bipolare Erkrankungen, Schizophrenie, Depressionen und Angststörungen dargestellt. Die jewei-
ligen Symptome und genetischen Risikofaktoren sind zum Teil einzigartig, zum Teil überlappen sie sich aber auch. Psychosen und Panikstörungen sind pa-
thologische Merkmale und keine formalen diagnostischen Kategorien, sie sind aber mit verschiedenen psychiatrischen Diagnosen verknüpft. Sicherlich
können nicht alle Erkrankungen in einer zweidimensionalen Form dargestellt werden – Wechselwirkungen und Überlappungen gibt es in viel mehr Dimen-
sionen als hier abgebildet werden können (so kommen z. B. Angst und Depressionen auch bei Schizophrenie-Erkrankungen vor). (Nach Burmeister et al.
14 2008, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Serotonin wieder aufnehmen, und die Transporter und Autore- Aufenthaltsdauer des Tieres in dem jeweiligen Bereich Rück-
zeptoren, die es aus der Synapse wieder wegfangen. Serotonerge schlüsse über dessen emotionalen Zustand erlaubt. Ähnlich ver-
Neurone entspringen den Raphe-Kernen in Mesencephalon, hält es sich bei dem Test auf erhöhten, kreuzweise angeordneten
Pons und Medulla oblongata. Aszendierende Bahnen verlaufen schmalen Plattformen (engl. elevated plus maze; . Abb. 14.25b).
zum Hypothalamus, Thalamus, Neostriatum, den Strukturen des
limbischen Systems und dem Neocortex. Eine cerebellare Bahn C Aus klinischen Untersuchungen ist bekannt, dass Agonisten
versorgt Kerne und den Cortex cerebelli. Deszendierende Bah- des Serotonin-Rezeptors 1A Angst auflösen können. René
nen versorgen die pontine und medulläre Formatio reticularis Hen und seine Mitarbeiter (Gross et al. 2002) haben das Gen
sowie den Locus coeruleus. Bulbospinale deszendierende Bah- für den Serotonin-Rezeptor 1A in der Maus mit dem Ergebnis
nen laufen zu den Vorder- und Hinterhörnern des Rückenmarks ausgeschaltet, dass die entsprechenden Knock-out-Mäuse er-
sowie zum Nucleus intermediolateralis. Serotonin wird außer- höhtes Angstverhalten zeigten. Durch gewebespezifisches
dem in der Retina als Transmittersubstanz verwendet. Wiedereinschalten des Gens konnten Hen und seine Mitarbei-
Wir haben uns bei unseren vorherigen Überlegungen oft von ter zeigen, dass das Ausschalten des Serotonin-Rezeptors 1A
Mutanten bei Drosophila und Mäusen leiten lassen, wenn wir nur im Hippocampus und im Cortex, nicht aber in den Raphe-
etwas über die genetischen Hintergründe von Krankheiten wis- Kernen für das Angstverhalten verantwortlich ist. Außerdem
sen wollten. Auch in diesem Fall hilft das weiter, da die moderne deuten die Ergebnisse darauf hin, dass eine kritische Phase
Verhaltensbiologie durchaus in der Lage ist, bei Tieren – z. B. bei (in der Maus zwischen dem 5. und 21. Tag nach der Geburt)
der Maus – Angstverhalten nachzuweisen. Ein Testverfahren be- darüber entscheidet, ob eine Maus als erwachsenes Tier
ruht auf dem Vermeidungsverhalten der Maus gegenüber unbe- ängstlich ist oder nicht. Wurde der Serotonin-Rezeptor hinge-
kannten und ungeschützten Arealen: Je ängstlicher eine Maus ist, gen erst bei erwachsenen Tieren inaktiviert, schien sich das
desto eher wird sie diese Bereiche vermeiden. In der Hell-Dun- nicht auf das Verhalten auszuwirken. Die Ergebnisse legen die
kel-Box (. Abb. 14.25a) kann die Maus zwischen einem hellen, Interpretation nahe, dass gängige Medikamente nicht unbe-
größeren und einem dunklen, kleineren Areal wählen, wobei die dingt die Ursache der Störung behandeln, sondern die Symp-
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
695 14

a Dopaminerge Neurone b Adrenerge Neurone c Serotonerge Neurone


Kokain Kokain
Tyrosin Amph Tyrosin Tryptophan Amph
GBR12935 Kokain Fluoxetin
MPP+ Amph MDMA Paroxetin
L-Dopa WN35.428 L-Dopa
Nisoxetin 5-Hydroxytryptophan
RTI-121 Reboxetin Sertralin
DA DA 5-HT

DA
DA 5-HT
NA
DAT NAT SERT

DA- Adrenerge 5-HT-


Autorezeptoren Autorezeptoren Autorezeptoren

DA-Rezeptoren Adrenerge Rezeptoren 5-HT-Rezeptoren

. Abb. 14.24 Neurotransmitter an Synapsen. a Dopaminerge Neurone. Aus Tyrosin entsteht zunächst Dihydroxyphenylalanin (Dopa) und dann Dopamin
(DA); DA wird von entsprechenden Rezeptoren postsynaptisch gebunden. Dopamin kann seine eigene Freisetzung über präsynaptische Autorezeptoren
hemmen. Über den Dopamin-Transporter (DAT) kann die Nervenzelle Amphetamine (Amph) und 1-Methyl-4-phenylpyridin (MPP+) aufnehmen; der DAT
wird durch Kokain und synthetische Inhibitoren gehemmt. Dopamin wird zu Dihydroxyphenylessigsäure, Methoxytyramin und Homovanillinsäure meta-
bolisiert. b In adrenergen Neuronen mit Noradrenalin (NA) als Transmitter wird NA aus Dopamin durch Hyxdroxylierung in der Seitenkette gebildet.
Postsynaptisch wird NA durch adrenerge Rezeptoren gebunden; NA kann seine eigene Freisetzung über präsynaptische Autorezeptoren hemmen. Über
den Noradrenalin-Transporter (NAT) kann die Nervenzelle Amphetamine aufnehmen; der NAT wird durch Kokain und synthetische Inhibitoren gehemmt.
c Serotonerge Transmission an Synapsen. Der erste wichtige Schritt in der Biosynthese von Serotonin (5-HT, 5-Hydroxytryptamin) ist die Aufnahme von
Tryptophan (Trp) in die präsynaptische Zelle. Die Umwandlung von Trp in 5-Hydroxytryptophan wird durch die Tryptophan-Hydroxylase katalysiert; der
letzte Schritt ist eine Decarboxylierung zu 5-Hydroxytryptamin (5-HT). 5-HT wird anschließend in den synaptischen Spalt freigesetzt und kann an die post-
synaptischen 5-HT-Rezeptoren oder an die präsynaptischen Autorezeptoren binden. Über den Serotonin-Transporter (SERT) kann die Nervenzelle Amphe-
tamine (Amph) und 3,4-Methylendioxymethamphetamin (MDMA) aufnehmen; der SERT wird durch Kokain und synthetische Inhibitoren gehemmt.
(Nach Torres et al. 2003, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

tome eines Ereignisses lindern, das vor langer Zeit eingetre- Gensymbol: HTR1A, engl. 5-Hydroxytryptamin-receptor 1A), ist
ten ist. Für eine Zusammenfassung dieser Überlegungen sei mit Persönlichkeitsmerkmalen verbunden, die mit Angst und
auf die Arbeit von Leonardo und Hen (2006) verwiesen. Depressionen verwandt sind. In-vitro-Experimente zeigten
dann, dass das G-Allel eine andere Bindungseffizienz für Regu-
Neben Mutationen im codierenden Bereich eines Gens können latoren der Transkriptionsaktivität hat und damit zu einer verän-
natürlich auch Veränderungen in Promotoren zu unterschiedli- derten Expression des Rezeptors führen kann.
chen Genaktivitäten führen. Ein funktioneller Polymorphismus Ein solcher funktioneller Polymorphismus wurde auch im
(C1019G) in der Kontrollregion des Gens, das für den Seroto- Falle des Serotonin-Transporter-Gens des Menschen (und Affen)
nin-Rezeptor 1A codiert (OMIM 109760; Chromosom 5q11; festgestellt (. Abb. 14.26). Dieses Gen ist auf dem Chromosom
17q11 lokalisiert und umfasst 14 Exons (OMIM 182138; Gensym-
bol: SCL6A4, engl. solute carrier family 6, member 4; alternativ
verwendete Gensymbole sind SERT [engl. serotonin transporter]
oder 5-HTT [engl. 5-hyxdroxytryptamine transporter]). Es gibt
zwei Allele, die sich in der Länge des Promotors unterscheiden;
die Häufigkeit des homozygoten kurzen Genotyps beträgt 19 %
(heterozygot lang/kurz: 49 %, homozygot lang: 32 %). Frühere
Studien deuten darauf hin, dass Menschen mit der kürzeren Ver-
sion ängstlicher sind. David Weinberger und seine Mitarbeiter
(Hariri et al. 2002) zeigten nun Probanden Bilder von erschreck-
ten Gesichtern. Dies gilt als Standardmethode, um im mensch-
lichen Gehirn unter experimentellen Bedingungen eine Reak-
a b tion  auf eine Angstsituation auszulösen. Mittels funktioneller
Magnetresonanztomographie wurde untersucht, wie energisch
. Abb. 14.25 Test auf Angstverhalten bei der Maus. a In der Hell-Dunkel- die Amygdala auf die verängstigten Gesichter reagiert. Es zeigte
Box kann die Maus zwischen einem hellen, größeren und einem dunklen, sich, dass Probanden, die für den kurzen Promotor hetero- oder
kleineren Areal wählen. Die Aufenthaltsdauer in dem jeweiligen Komparti-
ment erlaubt Rückschlüsse über den jeweiligen emotionalen Zustand. b Bei
homozygot waren, eine »hyperaktive« Amygdala hatten.
dem erhöhten Kreuz besteht ebenfalls die Wahl zwischen geschützten und Eine ähnliche Untersuchung hatten Psychologen und Gene-
ungeschützten Arealen. (Foto: Martin E. Keck, München) tiker an 847 Neuseeländern durchgeführt. Auch diese prospek-
696 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

. Abb. 14.26 Polymorphismus im Promotor des humanen 5HT-Transporter-Gens. Das Gen für den humanen Serotonin-Transporter (Gensymbole: 5-HTT,
SERT, SLC6A4) ist auf dem langen Arm des Chromosoms 17 lokalisiert und besteht aus 14 Exons. Eine 44-bp-Insertion bzw. -Deletion repetitiver Sequenzen
in seinem Promotor kennzeichnet das lange (L, rot) bzw. kurze (S, violett) Allel (5-HTTLPR: 5-HTT-linked polymorphic region). Die kurze Variante produziert
signifikant weniger 5-HTT-mRNA und führt damit auch zu einer geringeren Konzentration des Serotonin-Transporters als die lange Variante des Promotors.
Die kurze Variante ist mit Persönlichkeitsmerkmalen assoziiert, die mit Angstgefühlen verbunden sind und Risikofaktoren für Gemütskrankheiten darstel-
len. MAOA: Monoaminoxidase A. (Nach Canli und Lesch 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

tive Langzeitstudie zeigte, dass Individuen, die heterozygot oder In Rhesusaffen unterliegt die Metabolisierungsrate von Sero-
homozygot für die kurze Version des 5-HTT-Promotors waren, tonin im Gehirn einer starken erblichen Komponente und ver-
in Stresssituationen eher depressive Symptome entwickelten als hält sich wie ein Merkmal, das über die gesamte Lebensdauer
die Homozygoten der Langform. Diese Ergebnisse deuten darauf eines Individuums stabil ist. Allerdings haben frühe Erfahrungen
hin, dass auch beim Menschen eine genetische Variation inner- lang andauernde Konsequenzen für die Funktion des Serotonin-
14 halb des Serotonin-Systems mit Angst und Depressionen in Zu- Systems, wie aus der Metabolit-Analyse deutlich wird. Eine
sammenhang steht. Die Studien weisen aber darüber hinaus auch solche wichtige Erfahrung ist die Trennung des Affenbabys von
darauf hin, dass es offensichtlich Gen-Umwelt-Wechselwirkun- der Mutter nach der Geburt und das Aufwachsen unter Gleich-
gen gibt, wobei die Möglichkeiten der individuellen Reaktion altrigen. Diese frühe Erfahrung beeinflusst offensichtlich die
durch die genetische Konstitution des Individuums festgelegt Rate des Serotonin-Metabolismus und damit auch die Funktion
werden. des Serotonin-Systems. Wie oben bereits angedeutet, gibt es auch
bei den Rhesusaffen das lange und kurze Allel im Promotor des
*Außer dem schon erwähnten kurzen oder langen Polymor-
phismus im 5-HTT-Promotor gibt es noch eine Reihe weiterer
Serotonin-Transporters, und so ist es möglich, den Einfluss die-
ser beiden Allele auf die Reaktion der Affen gegenüber der früh-
Polymorphismen im 5-HTT-Gen: Dazu gehören zusätzliche kindlichen Trennung von der Mutter zu untersuchen. Dabei
SNPs im Promotor und eine unterschiedliche Anzahl von zeigten die Affen mit der kurzen Variante eine stärkere Stressant-
Wiederholungseinheiten im Intron 2. Aber auch auf der wort als die homozygoten Träger der langen Variante. Eine Zu-
RNA-Ebene gibt es vier verschiedene Spleißvarianten im sammenfassung dieser Ergebnisse zeigt . Abb. 14.28.
Exon 1 sowie zwei verschiedene Polyadenylierungsstellen, die Aus den bisher vorliegenden Untersuchungen an Knock-out-
die Stabilität der mRNA beeinflussen können (. Abb. 14.27a). Mäusen zeichnet sich aber neben dem Serotonin-System noch ein
Dennis Murphy und Klaus-Peter Lesch (2008) haben aus den ganz anderer Bereich ab, der mit Angstverhalten in Zusammen-
zugänglichen funktionellen Daten der verschiedenen Gen- hang steht, und zwar die Rezeptoren von Peptidhormonen. Als ein
varianten abgeschätzt, dass sich aus unterschiedlichen Kom- Beispiel soll hier der Rezeptor für das Gastrin-freisetzende Pep-
binationen der Polymorphismen ein vier- bis fünffacher tid (engl. gastrin-releasing peptide, Gensymbol: Grp; OMIM
Unterschied der Konzentration des Serotonin-Transporters er- 137260) vorgestellt werden. Grp ist auf dem Chromosom 18q21
geben kann (. Abb. 14.27b). Sie sehen darin eine Möglich- lokalisiert und wird stark im Seitenkern der Amygdala exprimiert,
keit, die Vielfalt der Krankheitssymptome zu erklären, die mit wo die Assoziationen für das erlernte Angstverhalten gebildet wer-
dem 5-HTT-Gen assoziiert sind. Außerdem kann man über die den, aber auch in den Regionen, die angstbesetzte akustische In-
Bedeutung solcher relativ präziser Regulationsmöglichkeiten formationen an den Seitenkern weiterleiten. GRP wirkt über die
unter evolutionären Gesichtspunkten nachdenken. Bindung an seinen Rezeptor; dieser GRP-Rezeptor (Gen: Grpr)
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
697 14

b c
. Abb. 14.27 Polymorphismen im humanen 5HT-Transporter-Gen. a Das 5-HTT-Gen enthält außer 5-HTTLPR (5-HTT-linked polymorphic region; . Abb. 14.26)
noch weitere einzelne Nukleotid-Polymorphismen (SNPs, mit Datenbank-Nummern), eine variable Anzahl von Wiederholungseinheiten (VNTR) im Intron 2
(zwischen 9 und 12 Wiederholungseinheiten; STin2) sowie verschiedene Spleißvarianten des ersten Exons. b Es sind relative, möglicherweise additive
Werte der 5-HTT-Expression für Kombinationen der wichtigsten 5-HTT-Polymorphismen angegeben. Dabei besteht theoretisch ein 4,65-facher Unterschied
in der SERT-Konzentration zwischen der Kombination der Varianten mit den geringsten Aktivitäten und den Varianten mit der höchsten Aktivität: Die bei-
den linken Balken zeigen die gemessenen Unterschiede der 5-HTT-Expression (. Abb. 14.26) für die homozygoten Situationen (SS: kurzes 5-HTTLPR-Ele-
ment, hellblau; LL: langes 5-HTTLPR-Element, gelb), verbunden jeweils mit dem SNP rs25531. Die folgenden sechs Balken kombinieren diese Information mit
funktionellen Konsequenzen zusätzlicher Varianten (G56A, I425V und den variablen Wiederholungseinheiten im Intron 2), die aus in-vitro-Untersuchungen
abgeleitet sind (dunkelblau). c Die Proteinstruktur des Serotonin-Transporters zeigt den N- und C-Terminus auf der intrazellulären Seite, die 12 Transmem-
brandomänen sowie die Schlaufen im extrazellulären Bereich. SNPs, die eine Aminosäure verändern, sind in Rot angegeben (Ausnahme: die funktionell be-
stätigten Austausche G56A und I425V sind gelb dargestellt); synonyme Austausche sind blau. (Nach Murphy und Lesch 2008, mit freundlicher Genehmi-
gung der Nature Publishing Group)

Trennung von Erwachsene


der Mutter
Stressantwort
Alkoholverbrauch
Psychosoziale Entwicklung

Heranwachsende

Aufgewachsen soziale Kompetenz


unter Gleichaltrigen Aggression

Veränderte Serotonin-
Funktion im Gehirn
Neugeborene

negative Emotionalität
Aktivität

. Abb. 14.28 Einfluss der Trennung von der Mutter und des Promotortyps des 5-HTT-Gens auf die psychosoziale Entwicklung einschließlich der Gehirn-
funktion, der Regulation der Emotion, sozialer Kompetenzen, der Stressantwort, des Verhaltens und der Psychopathologie. rh5-HTTLPR: 5-HTT-linked poly-
morphic region des Rhesusaffen; S: kurze Form der Wiederholungssequenz im Promotor (. Abb. 14.26). (Nach Lesch 2007, mit freundlicher Genehmigung
von Elsevier)
698 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Cholesterin

Pregnenolon
peripher entstandenes Progesteron Gliazelle
Progesteron
Cholesterin
5α-DHPROG
Pregnenolon
Progesteron
Mitochondrium 5α-DHPROG

tonisch
GABA-Neuron Bic
3α, 5α-THPROG

phasisch

Kontrolle
3α, 5α-THPROG
synaptischer GABA-
Rezeptor 3α, 5α-THPROG
extrasynaptischer
GABA-Rezeptor GABA

. Abb. 14.29 Synaptische Übertragung durch GABA. Der Neurotransmitter GABA (γ-Aminobuttersäure) wird aus Vesikeln freigesetzt und aktiviert post-
synaptisch GABAA-Rezeptoren (braun). Dadurch entsteht vorübergehend ein geringer inhibitorischer Stromfluss (phasische Antwort). Neurosteroide, die
lokal von Neuronen oder Gliazellen freigesetzt werden, verlängern und verstärken die inhibitorische Wirkung. Zusätzlich besitzen manche Neurone extra-
synaptische GABA-Rezeptoren (blau) und erzeugen dadurch einen »tonischen« Hintergrundstrom. Dies manifestiert sich bei Spannungsmessungen (engl.
voltage clamp) als eine unruhige Basislinie und wird bei der Zugabe des GABAA-Rezeptor-Agonisten Bicucullin (Bic) sichtbar, da Bicucullin diese extrasynap-
tischen Rezeptoren schließt. 3α,5α-THPROG: 3α,5α-Tetrahydroprogesteron; 5α-DHPROG: 5α-Dihydroprogesteron. (Nach Belelli und Lambert 2005, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

wird in Neuronen exprimiert, die GABA (γ-Aminobuttersäure) als versuchen, möglichst klar definierbare, aber auch häufige Krank-
Transmittersubstanz verwenden (man spricht daher auch von heitsformen zu finden. Eine der häufigsten Angsterkrankungen
GABAergen Neuronen; . Abb. 14.29). Beim Menschen ist GRPR ist die Panikstörung; sie hat eine Häufigkeit von 3–5 %, wobei
14 auf dem X-Chromosom lokalisiert (Xp22.3; OMIM 305670). Frauen zwei- bis dreimal häufiger betroffen sind als Männer. Die
Grpr−/−-Mäuse erinnern sich länger an erlernte Angst: Die Wissen- Krankheit tritt in einem Alter von etwa 25 Jahren auf; einzelne
schaftler brachten den Tieren bei, Angst vor einem bestimmten Panikattacken dauern oft nur kurz und werden von Herzklopfen,
Ton zu bekommen. Dazu spielten sie den Tieren einen Ton vor und Herzrasen, Schweißausbrüchen und ähnlichen Symptomen be-
lösten daraufhin mit einem unangenehmen Elektroschock Angst gleitet. Viele Patienten entwickeln auch eine Alkohol- oder
aus. Danach beobachteten sie, wie die Nager auf den Ton allein Drogenabhängigkeit und/oder Depression. Man geht heute da-
reagierten. Die Knock-out-Mäuse reagierten deutlich ängstlicher von aus, dass die Erblichkeit bei Panikstörungen etwa 50 % be-
auf den Ton als die Wildtyp-Tiere. Der Defekt betraf nur die er- trägt. Es gibt mehrere Familienanalysen, mit deren Hilfe einige
lernte Angst; weder die instinktive Angst noch die Schmerzfähig- Krankheitsgene auf verschiedenen Chromosomen kartiert wer-
keit der Tiere sind durch die Mutation beeinflusst. Diese Ergeb- den konnten: 4q32 (OMIM 609985), 9q31 (OMIM 607853),
nisse deuten darauf hin, dass es einen negativen Rückkopplungs- 13q32 (OMIM 167870); die relevanten Gene konnten jedoch
mechanismus gibt, der Angst reguliert und bei dem der Rezeptor bisher (Mai 2015) noch nicht identifiziert werden. Eine detail-
für GRP eine wichtige Rolle spielt (. Abb. 14.30). lierte Übersicht findet der interessierte Leser bei Schumacher
et al. (2011).
> Angststörungen und Depressionen lassen sich beide mit
Medikamenten behandeln, die mit der Funktion des Neu-
rotransmitters Serotonin zusammenhängen. Ursachen
*Mittels genomweiter Assoziationsstudien (GWAS) wurde
jedoch auf Chromosom 12q24 ein Kandidatengen für Panik-
sind unter anderem Mutationen in Genen, die für Rezep- störungen identifiziert: TMEM132D, das für ein Transmem-
toren bzw. Transporter des Serotonins codieren. branprotein codiert (OMIM 611257). Zwei SNPs im Intron 3
dieses Gens sind mit Panikstörungen assoziiert und mit ei-
Wenn wir uns der pathologischen Seite der Angst in der Human- ner höheren Expression dieses Gens im frontalen Cortex. Im
genetik nähern, wird man hingegen in der Regel von einem Mausmodell korreliert eine erhöhte Tmem132d-Expression
hypothesenfreien Ansatz ausgehen und entweder Familien im Gyrus cinguli positiv mit Angstverhalten; man vermutet,
untersuchen, die gehäuft Angststörungen zeigen, oder genetisch- dass TMEM132D als ein Oberflächenmarker für die Differen-
epidemiologische Untersuchungen beginnen. Dazu wird man zierung der Oligodendrocyten wirksam ist. Interessanter-
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
699 14

Wildtyp-Mäuse Grpr-Knock-out-Mäuse

. Abb. 14.30 Negative Rückkopplung für gelernte Angst. Das Gastrin-freisetzende Peptid (GRP) bindet an seinen Rezeptor (GRPR) und stimuliert dabei
das (inhibitorische) GABAerge Transmittersystem. Links ist das Modell der GRPR-abhängigen negativen Rückkopplung zu den Hauptneuronen in der Amyg-
dala im Wildtyp gezeigt, rechts hingegen die schwächere Wirkung in Grpr-Knock-out-Mäusen. (Nach Shumyatsky et al. 2002, mit freundlicher Genehmi-
gung von Elsevier)

weise konnte die ursprüngliche GWAS nur an Kohorten mit etwa 2 Mio.; Alkoholmissbrauch ist der Grund für etwa 30 % der
europäischer Abstammung bestätigt werden, nicht aber an Einweisungen in psychiatrische Kliniken. Während vor 50 Jah-
japanischen – offensichtlich spielt also auch der genetische ren Männer noch acht- bis zehnmal so häufig betroffen waren
Hintergrund eine wichtige Rolle für Panikstörungen (Erhardt wie Frauen, steigt der Anteil der alkoholabhängigen Frauen seit-
et al. 2012). Eine aktuelle Folgestudie (Haaker et al. 2014) her ständig an; 2014 ging man davon aus, dass doppelt so viele
zeigte, dass eines der beiden Risiko-Allele (rs11060369 AA) Männer an Alkoholismus erkrankt sind wie Frauen.
mit einem erhöhten Volumen der grauen Substanz der Die Diagnose Alkoholismus ist oft nicht leicht zu stellen,
Amygdala und einem Angst-ähnlichen (aber nicht panik- da auch verschiedene Formen des Alkoholismus unterschieden
spezifischen) Persönlichkeitsprofil in gesunden Trägern des werden. Bei abhängigen Alkoholikern treten bei einem erzwun-
rs11060369-AA-Genotyps assoziiert ist. genen Alkoholverzicht (z. B. durch einen Krankenhausauf-
enthalt  wegen einer anderen Erkrankung) sehr bald Entzugs-
erscheinungen auf. Das Robert-Koch-Institut (2003) gibt als
14.3.2 Suchtkrankheiten

Unter Sucht versteht man im Allgemeinen eine chronische Ab-


hängigkeit, die durch wiederholtes und zwanghaftes Begehren
und Aufnehmen von Stoffen wie Alkohol, Koffein, Opiaten, Ko-
kain etc. gekennzeichnet ist, und zwar unabhängig von negativen
physikalischen, psychologischen oder sozialen Konsequenzen. Zu
den Charakteristika von Sucht gehört auch die Schwierigkeit des
Entzugs (z. B. Unruhe, Schwitzen, Herzrasen). Sicherlich gibt es
auch noch weitere Definitionen, die auch zwanghafte Handlun-
gen anderer Art berücksichtigen (z. B. Spielsucht); diese sollen
hier jedoch nicht betrachtet werden. Es geht in diesem Abschnitt
auch nicht darum, die gesamte Bandbreite von Suchtproblemen
darzustellen, sondern nur um den Anteil, den die Genetik zur
Charakterisierung des Problems beitragen kann (und damit auch
Lösungsansätze aufzeigen kann). Dieser Anteil beträgt für ver-
schiedene Suchtkrankheiten etwa 50 % (. Abb. 14.31). Beispiel-
haft sollen hier Phänomene des Alkoholismus, des Kokain- und
Cannabismissbrauchs dargestellt werden.
Alkoholismus (OMIM 103780) kann man definieren als
Konsum von Alkohol, der über das sozial tolerierte, für Indivi-
duum und/oder Gesellschaft ungefährliche Maß hinausgeht. Da-
. Abb. 14.31 Erblichkeit von Suchtkrankheiten. Aufgrund verschiedener
bei wird sowohl der gewohnheitsmäßige, übermäßige Alkohol-
Daten nationaler Zwillingsstudien wurde die Erblichkeit von zehn wich-
konsum ohne Abhängigkeitsentwicklung als auch die echte Al- tigen Suchtkrankheiten mit den entsprechenden Schwankungsbreiten
koholabhängigkeit unter dem Begriff Alkoholismus zusammen- berechnet. (Nach Goldman et al. 2005, mit freundlicher Genehmigung der
gefasst. In Deutschland schätzt man die Zahl der Alkoholiker auf Nature Publishing Group)
700 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Wert der tolerierbaren oberen Alkoholzufuhrmenge (TOAM) kungen der Speiseröhre, zu einer Entzündung der Bauchspei-
für Männer 20–24 g Alkohol pro Tag an und für Frauen die cheldrüse (Pankreatitis) sowie zu Erkrankungen des Herzmus-
Hälfte; bei diesem Wert sind gesundheitsschädigende Konse- kels kommen.
quenzen für die Mehrheit der Bevölkerung unwahrscheinlich Der Hauptabbauweg von Alkohol besteht in seiner Oxidation
(Bier enthält etwa 5 % Alkohol; eine Flasche Bier mit 0,5 l enthält zu Acetaldehyd (durch Alkohol-Dehydrogenasen, ADHs) und
also etwa 25 g Alkohol; bei Wein mit 10 % Alkoholgehalt erreicht weiter zu Acetat (durch Aldehyd-Dehydrogenasen, ALDHs). Das
man diesen Wert beim Konsum von ¼ l). In Deutschland kon- Acetat kann in seiner aktivierten Form als Acetyl-CoA weiterver-
sumieren 31 % der Männer und 16 % der Frauen mehr. Dabei arbeitet werden; . Abb. 14.32 gibt dazu insgesamt eine Übersicht.
wird die gesundheitlich verträgliche Alkoholzufuhrmenge in Darüber hinaus gibt es weitere Stoffwechselwege, die zur Bildung
der Personengruppe mit hohem sozioökonomischen Status be- von Ketonkörpern, Fettsäuren, Aminosäuren oder Steroiden
sonders häufig überschritten. führen können. Bei hohen Alkoholkonzentrationen wird der
Als Folge eines chronischen Alkoholmissbrauchs können ne- Weg zur Bildung von Fettsäuren und damit zum Aufbau von
ben der Sucht zahlreiche weitere Komplikationen auftreten: So Fetten bevorzugt.
zeigen Alkoholiker im psychischen Bereich nicht selten zugleich Unter genetischen Gesichtspunkten von Alkoholismus ist an
Depressionen, eine übermäßige Aggressivität und eine allgemei- diesem Abbauweg des Alkohols besonders interessant, dass es
ne Veränderung ihrer Persönlichkeit; es kann zu optischen und mehrere Gene (und davon jeweils mehrere polymorphe Allele)
akustischen Halluzinationen kommen. Sehr ernste Komplika- gibt, die für ADHs und ALDHs codieren. Diese Gene und ihre
tionen des Alkoholismus sind das Korsakow-Syndrom und die Allele unterscheiden sich in ihrem Expressionsniveau und in den
Wernicke-Encephalopathie, die mit einem Verlust von Raum- enzymkinetischen Eigenschaften, d. h. der Geschwindigkeit, mit
und Zeitgefühl sowie Gedächtnislücken verbunden sind. Dane- der sie ihre Substrate (Alkohol bzw. Acetaldehyd) umsetzen. Im
ben kommt es außerdem zu Nervenschädigungen, die sich in Schnitt beträgt die Abbaurate von Alkohol 0,08–0,10 g pro Stun-
Gangunsicherheit (Ataxie), Empfindungsstörungen an Armen de und Kilogramm Körpergewicht (das entspricht etwa 0,15 ‰
und Beinen sowie Zittern und epileptischen Anfällen zeigen pro Stunde).
können. Außerdem sind oft Schädigungen der inneren Organe Wir kennen beim Menschen sieben Gene für Alkohol-Dehy-
Folge des Alkoholismus: Neben Fettleber oder Leberzirrhose drogenasen, die auf dem Chromosom 4q23 innerhalb von
kann es auch zu Magen- und Darmgeschwüren, zu Krebserkran- 400.000 bp in einer Gruppe angeordnet sind (ADH1A, ADH1B,

Energiespeicherung

Fettsäuren Ethanol
NADPH
Alkohol-
Alkohol-
14 Dehydrogenase
Dehydrogenase
Malonyl-CoA Acetaldehyd
Aldehyd-
Pyruvat Dehydrogenase
Malat-Enzym Acetyl-CoA Acetat

NADP
Oxalacetat Citrat

Malat Isocitrat
Tricarbonsäurezyklus
(Citratzyklus)

Fumarat α-Ketoglutarat

Succinat

Energiegewinnung

. Abb. 14.32 Schematische Darstellung der Auswirkungen von Alkohol auf den Intermediärstoffwechsel. Ethanol wird zunächst durch Alkohol-Dehydro-
genasen (ADHs) zu Acetaldehyd und weiter durch Aldehyd-Dehydrogenasen (ALDHs) zu Acetat abgebaut. Acetat verbindet sich mit dem Coenzym A zu
Acetyl-CoA und kann so entweder im Tricarbonsäurezyklus metabolisiert werden oder für den Aufbau von Fettsäuren verwendet werden. Die Reaktion des
Malat-Enzyms ist besonders hervorgehoben, da es bei hoher Alkoholkonzentration den Fluss des Energiestoffwechsels durch die Herstellung der Vorläufer
der Fettsäure-Biosynthese von der Energiegewinnung auf Energiespeicherung umstellt. Die zentralen Komponenten des Stoffwechselweges sind durch
rote Boxen gekennzeichnet. (Nach Morozova et al. 2014, mit freundlicher Genehmigung durch die Autoren)
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
701 14
ADH1C, ADH4, ADH5 und ADH6). Dabei ist das Allel ADH1B*2
von besonderem Interesse: Der Austausch Arg48His führt zu
einer ungefähr 100-fach höheren Enzymaktivität und damit
(bei gleichbleibender Abbaurate des gebildeten Acetaldehyds)
zu einer Erhöhung der Acetaldehydkonzentration. Die hohe
Konzentration von Acetaldehyd führt zu starker Rötung im Ge-
sicht, verbunden mit Bluthochdruck, Kopfschmerzen und Erbre-
chen (Flushing-Syndrom; OMIM 610251) – diese Alkoholunver-
träglichkeit führt zu einem deutlichen Vermeidungsverhalten
gegenüber Alkohol. Somit schwächt dieses Allel die Entwicklung
einer Toleranz ab, d. h. es hat eine Schutzwirkung gegenüber
einer Alkoholabhängigkeit. Die Frequenz des His48-Allels ist in
ostasiatischen Populationen besonders hoch (oftmals über 80 %)
– es ist aber in Populationen unterhalb der Sahara, in Europa und
unter den amerikanischen Ureinwohnern fast abwesend. Die
große Häufigkeit des abgeleiteten His48-Allels in Asien kann auf
zwei evolutionären Wegen zustande gekommen sein: entweder
durch einen selektiven Vorteil, der nur in Asien für dieses
Allel bestand, oder durch zufällige genetische Drift, die zu
einer Zunahme der Allelhäufigkeit nur in Ostasien geführt hat
(OMIM 103720). Eine ähnliche Wirkung hat das ADH1B*3-
Allel, der hier vorhandene Austausch Arg370Cys ist besonders
bei afrikanischen Ureinwohnern häufig.
Des Weiteren kennen wir beim Menschen verschiedene Gene
für Aldehyd-Dehydrogenasen (ALDHs): Der Hauptabbau läuft . Abb. 14.33 Alkoholtest bei Drosophila. Der Alkohol wird mit Luft ge-
mischt, um einen Ethanoldampf zu erzeugen (Kanister links). Das Ethanolge-
in der Leber ab und erfolgt durch die mitochondriale ALDH2 misch wird durch die Säule und über die Plastikablenkplatte geschickt. Un-
(Chromosom 12q24); daneben gibt es eine weitere mitochondri- behandelte Fliegen werden oben in die Säule hineingegeben und können
ale ALDH (Gensymbol: ALDH1B1; Chromosom 9p13) und eine auf den Platten bleiben, bis sie betäubt sind. Wenn sie betäubt sind, fallen
cytosolische ALDH (Gensymbol: ALDH1A1, Chromosom sie die Säule hinunter und auf den Boden. Die Zeit, die die Fliegen brau-
9q21). Unter diesen ALDH-Genen ist das Allel ALDH2*2 beson- chen, um aus der Säule herauszufallen, kann gemessen werden und variiert
erheblich zwischen Wildtypen und Mutanten (z. B. cheap date). (Nach Brow-
ders bedeutsam: Der Austausch Glu504Lys bewirkt eine Inakti- man und Crabbe 1999, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
vierung des Enzyms und dadurch eine Anreicherung des Acetal-
dehyds (Flushing-Syndrom, siehe oben). In verschiedenen
asiatischen Populationen wird das defiziente ALDH2-Allel in Dieses System ist uns von der Genetik der Lernvorgänge bereits
40–80 % der Bevölkerung gefunden, wohingegen es unter Euro- bekannt (. Tab. 14.2). Weitere Untersuchungen bestätigten den
päern nicht vorkommt. Zusammenhang zwischen dem cAMP-System und einer erhöh-
Für weiter gehende genetische Fragestellungen ist es zunächst ten Sensitivität gegenüber Alkohol.
wieder hilfreich, Modellorganismen wie Drosophila, die Maus Aber auch Nager zeigen genetische Unterschiede in ihrem
und die Ratte zu betrachten. Zu den natürlichen Habitaten von Verhalten gegenüber Alkohol. Wenn man verschiedene Maus-
Drosophila gehören fermentierende Pflanzen, die oft einen gewis- stämme hinsichtlich ihrer Alkoholpräferenz betrachtet, findet
sen Alkoholgehalt (~ 3 %) aufweisen. Daher ist die Fruchtfliege man große Unterschiede zwischen verschiedenen Inzuchtstäm-
resistent gegenüber den toxischen Wirkungen des Alkohols und men: So mögen DBA/2-Stämme keinen Alkohol, wohingegen
kann Alkohol effizient zur Energiegewinnung oder als Ausgangs- C57BL-Stämme Alkohol gegenüber Wasser deutlich bevorzugen
substanz zur Herstellung von Lipiden nutzen. Unter verschiede- (. Abb. 14.34). Auch bei Ratten kann man aus einer homogenen
nen experimentellen Bedingungen hat sich die Exposition von Population durch bidirektionale Selektion »starke« (HAD) und
Drosophila gegenüber Alkoholdampf (. Abb. 14.33) als diejenige »schwache Trinker« (LAD) herauszüchten, was zunächst nur auf
erwiesen, die der akuten Alkoholvergiftung von Säugetieren (z. B. das Vorhandensein genetischer Komponenten hindeutete. Eine
Verlust der motorischen Kontrolle oder sedierende Wirkung) am erste genetische Analyse zeigte, dass der Phänotyp des »starken
nächsten kommt. Auf diese Weise konnten verschiedene Mutan- Trinkers« bei diesen Ratten mit mehreren chromosomalen Re-
ten isoliert werden, die sich deutlich in der Menge Alkohol unter- gionen assoziiert ist; besonders mit Regionen auf den Chromo-
scheiden, die für eine sedierende Wirkung nötig ist: So brauchen somen 10 und 16, aber auch auf den Chromosomen 5 und 12
barfly-Mutanten größere und tipsy-Mutanten geringere Mengen (Carr et al. 2003).
an Alkohol als eine Wildtyp-Fliege. Eine interessante Mutante ist Die weitere Untersuchung der HAD-Ratten brachte zusätz-
cheap date: Diese Mutanten haben eine erhöhte Sensitivität gegen- lich das Neuropeptid Y (NPY) ins Spiel. Dabei handelt es sich
über Alkohol, und die Detailanalyse zeigte, dass dem Verhalten um ein kleines Protein, das aus 36 Aminosäuren besteht und
eine Mutation in dem Gen amnesiac zugrunde liegt; amnesiac offensichtlich neurobiologische Antworten auf Alkohol modu-
codiert für ein Neuropeptid, das die Adenylatcyclase aktiviert. liert. Seine Wirkung entfaltet es über die Bindung an verschiede-
702 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

P/NP-System der Ratte genetisch zu entschlüsseln und


einen weiteren Spieler im komplexen Geschehen des Alko-
holismus zu identifizieren: den metabotropen Glutamat-
Rezeptor 2 (Gensymbol: Grm2). Durch Exom-Sequenzierung
(7 Technikbox 7) identifizierten Zhou et al. (2013) zunächst
knapp 130.000 Einzelbasen-Unterschiede zwischen P- und
NP-Ratten; 25.000 davon zeigten einheitliche homozygote
Unterschiede zwischen beiden Linien. Zusätzlich haben die
Autoren nach längeren chromosomalen Abschnitten ge-
sucht, auf denen SNPs zwischen den beiden Linien in entge-
gengesetzter Weise fixiert waren. Als dann noch Computer-
programme zur Abschätzung der biochemischen Bedeu-
tung der verschiedenen Mutationen herangezogen wurden,
blieben zwei Stoppcodon-Mutationen übrig, die die Gene
Grm2 sowie Lcn2 (codiert für Lipocalin-2) betreffen. Die Au-
toren konnten schließlich durch pharmakologische Experi-
mente die Wirkung des GRM2-Proteins in Wildtyp-Ratten
hemmen und zeigen, dass dadurch eine erhöhte Bereit-
schaft zum Trinken von Alkohol wie in den P-Ratten hervor-
gerufen wird; dasselbe gilt für auch für Grm2-Knock-out-Mu-
tanten der Maus. Das Grm2-Gen ist bei Neurobiologen nicht
unbekannt: Die zwei beschriebenen Knock-out-Mutanten
des Grm2-Gens der Maus zeigen unter anderem Auswirkun-
gen auf das Angstverhalten, Bevorzugung von Kokain, Koor-
. Abb. 14.34 Unterschiede in der Alkoholpräferenz verschiedener Maus- dinationsstörungen, Hyperaktivität und erhöhte Dopamin-
stämme. Es ist das Verhältnis der aufgenommenen Alkoholmenge im Ver-
spiegel. GRM2 wird auch im Zusammenhang mit kognitiven
hältnis zur aufgenommenen Wassermenge über 14 Tage bei der angege-
benen Anzahl von Mäusen verschiedener Stämme dargestellt. Die horizon-
Störungen des Menschen bei Erkrankungen aus dem For-
talen Linien geben die Standardabweichung an. (Nach Vogel und Motulsky menkreis der Schizophrenie diskutiert. Das Beispiel zeigt
1997, mit freundlicher Genehmigung von Springer) aber auch, dass durch die neuen Sequenziertechniken viele
offene Fragen der Genetik lösbar werden, weil ihre Auflö-
sung und Interpretationsfähigkeit für komplexe genetische
ne Rezeptoren, die alle mit G-Proteinen gekoppelt sind und über Fragen oft erheblich besser ist als bei älteren Technologien.
14 das cAMP-System wirken. Die HAD-Ratten zeigen geringere
Spiegel des NPY in der Amygdala; wird aber NPY zentral infun- Ähnliche Untersuchungen wurden auch an der Maus durchge-
diert, sinkt die Alkoholaufnahme dieser Ratten (bei den LAD- führt. Auch hier konnten aus einem heterogenen Hintergrund
Ratten zeigt sich dagegen kein Effekt). Ergänzende Untersu- (d. h. keine Inzucht-Mäuse) Kolonien als »starke Trinker«
chungen wurden an Mäusen durchgeführt, bei denen die NPY- (HAP1) bzw. »schwache Trinker« (LAP1) gezüchtet werden. Eine
Rezeptoren ausgeschaltet wurden. Dabei führte das Ausschalten genomweite Kartierung zeigte eine Kopplung des »starken Trin-
des NPY-Rezeptors 1 zu einer Erhöhung, das Ausschalten des kers« vor allem mit Chromosom 9, aber auch mit Regionen auf
Rezeptors 2 dagegen zu einer Verminderung der Ethanolauf- den Chromosomen 1 und 3 (Bice et al. 2011). Weitere konkrete
nahme der Mäuse. Untersuchungen an Polymorphismen des Hinweise über die Beteiligung bestimmter Gene kommen aus
NPY-Gens bei Menschen ergänzen die Ergebnisse aus den Untersuchungen von Knock-out-Mäusen, bei denen Gene für
Tiermodellen zur Beteiligung von NPY und seinen Rezeptoren Dopamin-Rezeptoren bzw. für den GABAA-Rezeptor ausge-
an der Modulation der Alkoholantworten und deuten an, dass schaltet wurden. Diese Daten werden im Übrigen auch von
eine Substitution von Leucin an der Position 7 durch Prolin Kopplungsanalysen in betroffenen Familien durch Zwillingsstu-
(Leu7Pro) mit einer deutlich höheren durchschnittlichen Alko- dien und Geschwisterpaar-Analysen gestützt, die darauf hindeu-
holaufnahme korreliert ist (OMIM 162640). ten, dass Alkoholabhängigkeit mit Regionen auf den Chromoso-
men 11p und 4p gekoppelt ist. Dort kartieren auch die Gene für
*Untersuchungen, die an einem anderen Rattenstamm ge-
wonnen wurden, der dem oben erwähnten HAD/LAD-Sys-
einen Dopamin-Rezeptor (DRD4) und für die Tyrosin-Hydroxy-
lase (TH) bzw. für den GABA-β1-Rezeptor (GABRB1). Diese
tem ähnlich ist, führten jetzt zu der Entdeckung eines weite- Arbeiten zeigen insgesamt, dass wir uns schrittweise an die gene-
ren Gens, das mit Alkoholismus in engem Zusammenhang tischen Bedingungen zum Verständnis der Alkoholabhängigkeit
steht: Vor über 20 Jahren wurden aus einer Wildtyp-Kolonie herantasten.
von Wistar-Ratten durch selektive Zucht zwei extreme Linien Die dargestellten Beispiele machen deutlich, dass wir auch
gebildet: Die eine Linie »bevorzugt« Alkohol in hohem Maße anfangen können, genetische Aussagen über die Ursachen von
(engl. alcohol preferring rats, P), die andere Linie aber gar Alkoholismus zu machen. Andererseits handelt es sich aber um
nicht (engl. non preferring, NP). Jetzt ist es gelungen, dieses ein komplexes Krankheitsbild, wie wir es bei anderen Volks-
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
703 14

. Abb. 14.35 Genetisches Netzwerk für Alkohol-relevante Phänotypen. Die Darstellung des Netzwerks enthält Kandidatengene aus GWAS und differen-
ziell exprimierte Gene aus Expressionsprofilen von Patienten und Modellorganismen. Die großen Ovale fassen Gruppen von Metaboliten zusammen, die
verschiedene Genprodukte verbinden. Die zugrunde liegende Analyse umfasst ca. 4000 menschliche Gene und kombiniert signalgebende und metabo-
lische Reaktionswege verschiedener Datenbanken und berücksichtigt dabei bekannte Wechselwirkungen von Genen. Die Signifikanz wurde durch ver-
schiedene Computersimulationen getestet; das hier dargestellte Netzwerk besteht aus 58 Kandidatengenen, die in einer signifikanten Verbindung stehen
(p < 0,05). IP3: Inositol-3-phosphat. (Nach Morozova et al. 2014, mit freundlicher Genehmigung der Autoren)

krankheiten (7 Abschn. 13.4) schon gesehen haben – und die Hormon (engl. corticotropin-releasing hormon, CRH) steuert
anzuwendenen Methoden sind entsprechend ähnlich. Die Viel- normalerweise nicht nur die hormonelle Stressantwort, son-
fältigkeit und Komplexität der Daten erfordert deswegen auch dern koordiniert auch eine ganze Reihe von Verhaltenswei-
vermehrt den Einsatz von bioinformatischen Methoden und sen, die geeignet sind, eine Stresssituation zu bewältigen.
Netzwerkanalysen. Ein aktuelles Beispiel für alkoholabhängige Es beeinflusst auch Regionen, die für emotionales Verhalten
Phänotypen ist in . Abb. 14.35 dargestellt; es fasst die Elemente wie Angst relevant sind. Damit CRH wirken kann, muss es an
aus verschiedenen Bereichen zusammen: Wir hatten die Aspekte einen Rezeptor gebunden werden. Wenn man nun Mäusen,
des Alkohol-Stoffwechsels sowie der Neurotransmitter und ihrer bei denen das Gen für den CRH-Rezeptor 1 ausgeschaltet
Rezeptoren bereits angesprochen; weitere Aspekte umfassen die wurde, Alkohol anbietet, so unterscheiden sie sich in ihrem
Signaltransduktion durch GTPasen, Wachstumsfaktoren und Trinkverhalten nicht von den Wildtyp-Mäusen. Wurden die
Inositol-3-phosphat (IP3). In der Abbildung werden die wich- Knock-out-Mäuse jedoch durch die Anwesenheit einer frem-
tigsten Knotenpunkte durch eine höhere Liniendichte deutlich; den Maus im Käfig oder durch Schwimmen in einem Becken
hier sind sicherlich die primären Ansatzpunkte zukünftiger Al- gestresst, so reagierten die Tiere nach 3 Wochen mit einer
koholismusforschung zu suchen. vermehrten Aufnahme von Alkohol, die auch 5 Monate nach
der Stresseinwirkung noch erhalten blieb. Im Gehirn dieser
C Alkoholismus entwickelt sich oft als Reaktion auf bestimmte Crhr1−/−-Mäuse ist – vermutlich bedingt durch das Fehlen
Lebenssituationen, z. B. Stress. Um den Zusammenhang zwi- des CRH-Rezeptors – das Grin2b-Gen überexprimiert, und
schen Stress und der Entwicklung von Suchtverhalten zu zwar vor allem im Nucleus accumbens, einem Teil des Hip-
untersuchen, haben Inge Sillaber und ihre Kollegen (2002) pocampus, der für das Belohnungssystem beim Lernen ver-
bei Mäusen ein Gen aus der zentralen Schaltstelle für die antwortlich ist (das Grin2b-Gen codiert für den ionotropen
Stressreaktion ausgeschaltet: Das Corticotropin-freisetzende Glutamat-Rezeptor NMDA2B). Dadurch wird offensichtlich
704 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

das Verlangen der Mäuse nach Alkohol gesteigert. Dieser


neurogenetische Mechanismus erklärt ein spezifisches Er-
scheinungsbild von alkoholkranken Patienten, die beson-
ders anfällig für Stress sind und darauf mit dem Trinken von
Alkohol reagieren. Therapien zur Bewältigung von Stress-
situationen könnten eine Hilfe sein, die Anfälligkeit für Alko-
holismus in dieser Form zu verringern.

*Ein neuer Aspekt der Funktion dopaminerger Neurone wur-


de durch die Leipziger Gruppe um Markus Ullsperger in die
Diskussion eingeführt (Klein et al. 2007). Sie beobachteten,
dass Träger des DR2R-TAQ-1A-Allels, für die eine verminderte
Dichte von Dopamin-D2-Rezeptoren diskutiert wird, . Abb. 14.36 Modell für die relativen Beiträge der Blockade der Transpor-
schlechter lernen, Verhaltensweisen mit negativen Konse- ter für Dopamin (DAT), Serotonin (SERT) und Noradrenalin/Norepinephrin
quenzen zu vermeiden. Die Autoren bringen das auch in (NAT) auf die Kokain-Belohnung bzw. -Ablehnung in Wildtyp-Mäusen. DAT
Zusammenhang mit einem höheren Risiko, Suchtverhalten (oben): Die Blockade des Dopamin-Transporters trägt wesentlich zum Be-
lohnungsverhalten bei. SERT (Mitte): Die Serotonin-Transporter-Blockade
zu entwickeln. Der erwähnte Polymorphismus DR2R-TAQ
führt zu einer Kombination aus Belohnungs- und Ablehnungsverhalten; die
liegt aber nicht im Gen des Dopamin-Rezeptors selbst, son- ungleiche Verteilung der Einflüsse verdeutlicht die unterschiedlichen Bei-
dern ca. 10 kb unterhalb. Nähere Untersuchungen ergaben, träge einzelner Serotonin-Rezeptoren. NAT (unten): Die Blockade des Nor-
dass es sich um eine Region handelt, die für eine Protein- adrenalin/Norepinephrin-Transporters führt zunehmend zu ablehnendem
kinase codiert (Gensymbol: ANKK1, engl. ankyrin repeat and Verhalten. (Nach Uhl et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung der Nature
Publishing Group)
kinase domain containing 1). Der SNP (C→T) führt zu einem
Aminosäureaustausch (Glu713Lys), der wahrscheinlich nicht
die strukturelle Integrität, sondern die Substratbindung
beeinflusst (Neville et al. 2004) und auf diese Weise in die Ähnlich wie bei der Alkoholwirkung, können Fliegen auch
Signalkette zur Bildung dopaminerger Neurone eingreift. zur Untersuchung der Kokainwirkung herangezogen werden.
Wenn Fliegen geringen Dosen von (flüchtigem) Kokain ausge-
> Alkoholismus ist eine komplexe Erkrankung mit hoher setzt werden, so äußert sich das in einem exzessiven Putzverhal-
Prävalenz. Genetische Untersuchungen an Drosophila, ten; mittlere Dosen bewirken schnelle Drehungen sowie Seit-
Mäusen und Ratten deuten darauf hin, dass neben dem wärts- und Rückwärtslaufen; starke Dosen verursachen Zittern
cAMP-System auch Polymorphismen in verschiedenen (Tremor) und Lähmung (Paralyse). Diese Effekte können in der
Genen des Alkoholmetabolismus für eine Alkoholbevor- Fliege durch akute Gaben von Inhibitoren der Dopamin-Synthe-
14 zugung (oder Vermeidung) verantwortlich sind. Alkohol- se vermindert werden. Werden dagegen dopaminerge und sero-
abhängigkeit steht auch im Zusammenhang mit den tonerge Neurone chronisch während der Entwicklungsphase
dopaminergen, glutamatergen und GABAergen Neuro- gehemmt, so werden die Fliegen empfindlicher gegenüber Ko-
transmittersystemen sowie mit der Hypothalamus-Hypo- kain. Das gilt aber nicht für Fliegen, die eine verminderte Kon-
physe-Nebenniere-Achse. zentration von Tyramin aufweisen oder für Mutanten mit ver-
minderter cAMP-vermittelter PKA-Aktivität (für eine Übersicht
Kokain ist ein weit verbreitetes Rauschmittel mit hohem Ab- siehe Greenspan und Dierick 2004).
hängigkeitspotenzial. Es wurde Mitte des 19. Jahrhunderts in Weiterführende Informationen geben wieder Untersuchun-
verschiedenen Labors aus Cocasträuchern isoliert; 1923 publi- gen an Mäusen und Ratten. Wie bei der unterschiedlichen Präfe-
zierte der Chemie-Nobelpreisträger des Jahres 1915, Richard renz verschiedener Mausstämme gegenüber Alkohol finden wir
Willstätter, mit seinen Mitarbeitern die Reinsynthese des ähnliche stammspezifische Unterschiede auch gegenüber Ko-
Alkaloids. Kokain ist das älteste bekannte Lokalanästhetikum; kain. So zeigen im Allgemeinen die C57BL/6 und BALB/c ein
seine Verwendung als Rauschmittel basiert aber auf der Eigen- starkes Belohnungsverhalten gegenüber Kokain, wohingegen bei
schaft, Stimmungsaufhellungen, Euphorie und Gefühle gestei- DBA/2-Mäusen keine Reaktion beobachtet wird. Andere Stäm-
gerter Leistungsfähigkeit und Aktivität hervorzurufen – dabei me, wie AKR, C3H, CBA oder SJL, zeigen eher mittlere Antwor-
verschwinden Hunger- und Müdigkeitsgefühle. Nach dem Aus- ten (Crawley et al. 1997). Neuere Arbeiten deuten darauf hin,
klingen der Wirkung kommt es häufig zu depressionsartigen dass für diese Stammunterschiede die Expression des Pdyn-Gens
Zuständen. Kokain hemmt die Wiederaufnahme von Trans- eine wichtige Rolle spielt. Das Pdyn-Gen codiert für Prodynor-
mittern an dopaminergen, adrenergen und serotonergen Neu- phin, das bei seiner weiteren Verarbeitung in verschiedene Pep-
ronen (. Abb. 14.24). Der verhinderte Transport (und somit tide gespalten wird: Dynorphin A, Dynorphin B und α/β-
die Wiederaufnahme) von Dopamin, Noradrenalin und Sero- Neoendorphine. Der Rezeptor dieser »endogenen Opiate« ist der
tonin in die präsynaptische Zelle führt zu einer Erhöhung Opiat-Rezeptor κ; die Bindung der Dynorphine an ihren Rezep-
der Transmitterkonzentration im synaptischen Spalt und tor führt zu einem verringerten Schmerzempfinden und zu Se-
damit zu einem erhöhten Signalaufkommen am Rezeptor dierung – im Extremfall auch zu depressiven Verhaltensweisen.
(. Abb. 14.36). In DBA/2J-Mäusen findet man eine stärkere Pdyn-Expression als
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
705 14
in C57BL/6J-Mäusen und erklärt damit die geringere Anfällig- eine Erhöhung des Opiat-Rezeptors μ beobachtet. Interessanter-
keit gegenüber Kokain. Wenn die DBA/2J-Mäuse vorher aber mit weise ist der Dopamin-Regelkreis auf zweifache Weise mit Opiat-
einem Antagonisten des Opiat-Rezeptors κ behandelt wurden, Rezeptoren verbunden: Die Aktivierung des Opiat-Rezeptors μ
zeigen sie eine stärkere Anfälligkeit. Diese Experimente deuten führt ebenfalls zu einer Freisetzung von Dopamin, während um-
also auf eine wichtige Beteiligung dieses Opiat-Rezeptors bei der gekehrt die Aktivierung des Opiat-Rezeptors κ die extrazellulä-
Entstehung der Kokainabhängigkeit hin (Butelman et al. 2012). ren Dopaminspiegel vermindert – nach chronischer Kokainauf-

*Einige Aspekte können auch aus der Analyse unterschiedli-


cher Knock-out-Mutanten der Maus abgeleitet werden. Ins-
nahme findet man auch eine Verminderung des Opiat-Rezep-
tors κ im Nucleus caudatus und Putamen.
Dieser Zusammenhang lenkt natürlich den Blick auf geneti-
besondere das Ausschalten der Gene für die verschiedenen
sche Unterschiede im Dynorphin/Opiat-Rezeptor-System, wie
Rezeptoren und Transporter für Serotonin, Dopamin und
wir es oben schon für die DBA/2J- und C57BL/6J-Mäuse kurz
Noradrenalin eröffnete die Möglichkeit, die Beteiligung der
besprochen haben. Eine besonders auffallende Region im
jeweiligen Transmitter, ihrer Agonisten und der damit ver-
menschlichen PDYN-Gen liegt etwa 1250 bp oberhalb des ersten
bundenen Signalwege zu untersuchen. Für die Kokainab-
Exons und enthält 68 bp, die ein- bis fünfmal wiederholt werden
hängigkeit scheint – zumindest bei Mäusen – der Dopa-
können. Amerikaner afrikanischer Herkunft mit drei bis vier Ko-
min-D1-Rezeptor eine wichtige Rolle zu spielen: Mäusen,
pien dieser Wiederholungseinheit zeigen eine größere Tendenz
denen das Gen für den Dopamin-D1-Rezeptor (Drd1a) fehlt,
zur Kokainabhängigkeit – dies gilt aber nicht für andere Bevöl-
verzichten in entsprechenden Verhaltenstests darauf, sich
kerungsgruppen. Unter Japanern wurde ein signifikanter Zu-
Kokain selbst zu verabreichen (dies gilt aber nicht für Nah-
sammenhang zwischen der höheren Kopienzahl und einer Ab-
rung oder Opiate; Caine et al. 2007).
hängigkeit von Methamphetamin (»Crystal Meth«) beobachtet,
Die Hinweise auf die Bedeutung des Dopamin-Systems werden und unter Chinesen wurde ein Zusammenhang zwischen SNPs
auch in anderen Tiermodellen gefunden: Der hauptsächliche in der 3’-UTR des PDYN-Gens mit Heroinabhängigkeit gefun-
akute Effekt von Kokain ist ein Anstieg des extrazellulären Do- den. SNPs im PDYN-Gen wurden auch mit Alkoholismus in Ver-
paminspiegels; die wiederholte Aufnahme von Kokain (wie es bindung gebracht. Experimentelle Untersuchungen an Zellkultu-
üblicherweise bei Abhängigen vorkommt) führt zu aufeinander- ren, in Tierversuchen und an Gehirnen Verstorbener deuten
folgenden Spitzen von hohen Dopaminkonzentrationen in be- darauf hin, dass diese SNPs einen Einfluss auf die Regulation der
stimmten Regionen des Gehirns (vor allem im Nucleus accum- PDYN-Expression haben. Ähnliche Zusammenhänge lassen sich
bens). Dort wird nach chronischer Exposition mit Kokain auch auch zwischen Polymorphismen der Gene für die beiden Opiat-

a PDYN

68-bp-Wiederholung –301A>G

b OPRK1

830-bp-Indel 38G>T

c OPRM1

17C>T 118A>G
. Abb. 14.37 Genstruktur und ausgewählte Stellen genetischer Variabilität im menschlichen PDYN- (a), OPRK1- (b) und OPRM1-Gen (c). Polymorphismen
(Pfeile) stehen im Zusammenhang mit einer veränderten Anfälligkeit für eine Drogenabhängigkeit (z. B. Kokain, Heroin, Methamphetamin und Alkohol).
Die codierenden Regionen der Exons sind grün und die 5’- und 3’-nicht-translatierten Regionen (UTR) schwarz dargestellt. Die Positionsangabe des SNPs
»−301A>G« im PDYN-Gen bezieht sich auf den Transkriptionsstart; die Angabe aller anderen SNPs auf das Startcodon der Translation. (Nach Butelman et al.
2012, mit freundlicher Genehmigung durch Elsevier)
706 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Rezeptoren κ und μ (OPRK1 und OPRM1) und einer veränderten 15

Prozentsatz 26-jähriger Schizophreniepatienten


Anfälligkeit für eine Drogenabhängigkeit (Kokain, Heroin, Alko- Cannabis-Konsumenten
hol) feststellen. . Abb. 14.37 gibt einen Überblick über die Struk- Nicht-Konsumenten
tur der entsprechenden menschlichen Gene und die relative Lage
der einzelnen Polymorphismen.
> Kokain führt zur verstärkten Freisetzung von Dopamin aus 10
synaptischen Vesikeln und zur Hemmung seiner Wieder-
aufnahme aus der Synapse. Kokain ist durch ein starkes
Abhängigkeitspotenzial gekennzeichnet. Polymorphis-
men in den Genen PDYN, OPRK1 und OPRM1 haben einen
Einfluss auf die Anfälligkeit für Drogenabhängigkeit. 5
Cannabis, ein Rauschmittel der Hanfpflanze, ist seit über 4000
Jahren dafür bekannt, dass es massive Auswirkungen auf die Psy-
che hat. Es ist für Patienten mit chronischen Schmerzen oder
Multipler Sklerose (zur Kontrolle der Spasmen) von großer Be-
deutung – umgekehrt gibt es eine Reihe von Arbeiten, die darauf 0
hinweisen, dass der Genuss von Cannabis das Risiko für Psycho- Met/Met Val/Met Val/Val
sen vergrößert. Der wichtigste psychoaktive Bestandteil des Can- Genotyp
nabis ist Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC), dessen Struktur in . Abb. 14.38 Modulation der Entstehung von Schizophrenie bei Canna-
den 1960er-Jahren aufgeklärt wurde. THC wirkt über den Can- bis-Konsumenten durch einen Polymorphismus im COMT-Gen. Das Gen für
nabinoid-1(CB1)-Rezeptor, der 1988 identifiziert und 1990 klo- Catechol-O-Methyltransferase (Gensymbol: COMT) hat am Codon 158 einen
niert wurde. Der CB1-Rezeptor ist der häufigste mit einem G- Polymorphismus, der zum Austausch von Valin (Val) durch Methionin (Met)
führt (V158M). Der Aminosäureaustausch beeinflusst die Geschwindigkeit,
Protein gekoppelte Rezeptor im Gehirn; seine Expression ist mit der Dopamin abgebaut wird. Bei einer Untersuchung von 800 Canna-
besonders stark im Hippocampus, Kleinhirn, den Basalganglien bis-Konsumenten im Alter von 26 Jahren zeigte sich, dass die Träger des
und im Neocortex. Endogene Liganden des CB1-Rezeptors sind Val-Allels ein deutlich höheres Risiko haben, an Schizophrenie zu erkran-
Arachidonylethanolamid und 2-Arachidonylglycerol, die bei Be- ken, als die Nicht-Konsumenten. (Nach Murray et al. 2007, mit freundlicher
darf aus den Phospholipiden der Membranen hergestellt werden. Genehmigung der Nature Publishing Group)

Diese Endocannabinoide wirken als retrograde Signale an Sy-


napsen und hemmen die Ausschüttung von schnell wirkenden
Neurotransmittern. Sie werden in Nervenzellen synthetisiert, die Mittelhirn-Neuronen assoziiert, die zum ventralen Striatum pro-
Information übermitteln, wie den Purkinje-Zellen des Klein- jizieren. Den möglichen Zusammenhang zwischen der geneti-
14 hirns, den Pyramiden-Neuronen des Hippocampus und des schen Konstitution hinsichtlich des V158M-Polymorphismus im
Cortex oder den dopaminergen Neuronen des Mittelhirns. COMT-Gen und dem Risiko, bei Cannabis-Anwendungen an
In der Diskussion um Cannabis ist eine wichtige Frage, in- Schizophrenie zu erkranken, zeigt . Abb. 14.38; es sei an dieser
wieweit der fortdauernde Gebrauch zur Entwicklung von Psy- Stelle aber auch auf die Diskussion des V158M-Polymorphismus
chosen beiträgt. Epidemiologische Studien deuten sehr deutlich im Zusammenhang mit der allgemeinen Entstehung von Schizo-
darauf hin, wenngleich auch offensichtlich ist, dass es sich nicht phrenie verwiesen (7 Abschn. 14.3.3).
um ein grundsätzliches Phänomen handelt, sondern nur einen In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Frage nach
Teil der Population betrifft. In solchen Situationen ergibt sich der der Suchtwirkung von Cannabis wichtig. Epidemiologische Stu-
Verdacht auf eine genetische Prädisposition. Und tatsächlich dien zeigen, dass etwa einer von neun Anwendern von Cannabis
zeigte die Untersuchung der Catechol-O-Methyltransferase den klinischen Kriterien für eine Cannabisabhängigkeit genügt,
(COMT) einen Zusammenhang mit der Entwicklung von Psy- wobei diese Abhängigkeit eher mittelmäßig als schwer ist. Ande-
chosen durch Cannabis-Gebrauch auf: COMT ist am Abbau von rerseits scheinen die Entzugserscheinungen nicht so dramatisch
Dopamin beteiligt, und es gibt einen funktionellen Polymorphis- zu sein wie bei anderen Suchtmitteln, was aber möglicherweise
mus im COMT-Gen (OMIM 116790), der zu einem Austausch durch den langsamen Abbau von Cannabis begründet ist. Drogen,
von Valin durch Methionin im Codon 158 führt (V158M). Die die zur Abhängigkeit führen, haben eines gemeinsam: Sie erhöhen
COMT-Aktivitäten unterscheiden sich um das 3- bis 4-fache, die Freisetzung von Dopamin im Nucleus accumbens, und man
wenn sie in roten Blutkörperchen oder auch in der Leber gemes- glaubt, dass diese Eigenschaft zentral für die Entfaltung des Sucht-
sen werden, wobei drei Stufen unterschieden werden können prozesses ist. Die Fähigkeit von Alkohol, Nikotin und Opiaten,
(niedrig, mittel, hoch). Dieser stufenartige Unterschied lässt sich die Dopamin-Freisetzung im Nucleus accumbens zu erhöhen,
gut mit der Anwesenheit eines autosomalen co-dominanten Al- wird durch Agonisten des CB1-Rezeptors blockiert und fehlt voll-
lels erklären – nämlich der G→A-Transition im Codon 158 des ständig in Mausmutanten, denen der CB1-Rezeptor fehlt. So zei-
COMT-Gens, die zu dem oben erwähnten V158M-Austausch gen Mäuse ohne den CB1-Rezeptor keine konditionierte Platz-
führt. Die beiden Allele können übrigens leicht durch eine Be- präferenz und keine »Selbstbedienung« mit Alkohol, Nikotin und
handlung mit dem Restriktionsenzym NlaIII nachgewiesen wer- Opiaten. Eine ausführliche Darstellung der Genetik des Endo-
den; das Val-Allel ist mit einem höheren Dopaminspiegel in den cannabinoid-Systems findet sich bei López-Moreno et al. (2012).
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
707 14
> Cannabis ist ein Rausch- und Anästhesiemittel. Bei Vorlie- Im Gegensatz zu den später zu besprechenden Krankheiten
gen des Val/Val-Genotyps in Bezug auf den V158M-Poly- wie Alzheimer oder Parkinson (7 Abschn. 14.5.2 und 7 Abschn.
morphismus im COMT-Gen erhöht sich das Risiko deutlich, 14.5.3) gibt es bei der Schizophrenie keine diagnostische Neuro-
bei Cannabis-Gebrauch zusätzlich an Schizophrenie zu pathologie oder andere biologische Marker des Syndroms. Aller-
erkranken. Abhängigkeit wird über den CB1-Rezeptor dings erlauben moderne bildgebende Verfahren wie die funktio-
vermittelt. nelle Kernspintomographie (engl. functional magenetic resonance
imaging, fMRI) auch einen Einblick in die Gehirne schizophre-
ner Patienten. Die am besten übereinstimmenden strukturellen
14.3.3 Schizophrenie Veränderungen bei Schizophrenie beinhalten eine laterale Ver-
größerung des 3. Ventrikels, aber eine Volumenminderung des
Emil Kraepelin beschrieb 1899 ein Symptom, das er Dementia medialen Schläfenlappens (Formatio hippocampi, Subiculum,
praecox nannte und das heute als Schizophrenie (Gensymbol: Gyrus parahippocampalis) und des Gyrus temporalis superior.
SCZD, OMIM 181500) bezeichnet wird. Es ist durch Halluzina- Ein typisches Beispiel zeigt . Abb. 14.39.
tionen, Wahnvorstellungen, unorganisierte Sprache, Affekt- und Die genetisch-epidemiologischen Untersuchungen mit Ge-
Antriebsstörungen sowie kognitive Störungen (z. B. der Auf- schwisterpaar-Analysen zeigen eine Vielzahl möglicher Genorte
merksamkeit, des Gedächtnisses, allgemeiner intellektueller Fä- an, oft allerdings mit niedrigen LOD-Werten (7 Abschn. 13.1.4),
higkeiten) gekennzeichnet. Psychiatrische Erkrankungen wie und viele Studien fügen der langen Liste neue Kandidatenregio-
Schizophrenie wurden jedoch lange Zeit nicht unter genetischen nen hinzu, ohne dass frühere Arbeiten bestätigt werden können.
Gesichtspunkten betrachtet. Allerdings gab es am Ende des 20. Unter der Vielzahl dieser Kandidatenregionen (. Abb. 14.40)
Jahrhunderts zunehmend Berichte über familiäre Häufungen ragen aber einige heraus, bei denen die Ergebnisse mit früheren
psychiatrischer Erkrankungen, sodass eine starke genetische Kartierungsdaten übereinstimmen, die wiederholbar und biolo-
Komponente offensichtlich war. Heute gilt eine positive Fami- gisch plausibel sind und zu denen es einen vergleichbaren Phä-
liengeschichte als das größte Risiko für Schizophrenie: Beträgt notyp in einer transgenen Maus gibt. Die Untersuchungen bei
das Lebenszeitrisiko in der allgemeinen Bevölkerung etwa 1 %, der Maus werden dadurch erleichtert, dass es inzwischen einige
so steigt es auf 6,5 % bei Verwandten 1. Grades und auf 40–50 % objektivierbare Verhaltenstests gibt; dazu gehören die Messung
bei eineiigen Zwillingen betroffener Eltern. Die Erblichkeit (He- der sozialen Interaktion, Präimpulshemmung, Aggression und
ritabilität) der Schizophrenie wird heute mit ungefähr 80 % an- Bewegungsaktivität.
gegeben. Allerdings zeigte sich auch, dass diese genetische Kom-
ponente nicht den klassischen Mendel’schen Gesetzen folgt, C Große, isolierte Bevölkerungsgruppen sind für Humangene-
sondern eher den Gesetzen komplexer Erkrankungen, wie wir es tiker häufig eine wahre Fundgrube. Das trifft beispielsweise
vorher bereits bei Asthma und ähnlichen Erkrankungen mit viel- für die Bevölkerung Islands zu, deren Gene in vielerlei Hin-
fältigen genetischen Ursachen kennengelernt haben. sicht durch die Islandic deCODE Genetics Group analysiert

. Abb. 14.39 Strukturveränderungen bei der Schizophrenie. Die Voxel-basierte Morphometrie lokalisiert signifikante Volumenverminderungen im
medialen Schläfenlappen (einschließlich der Amygdala und des Hippocampus) in Schizophrenie-Patienten. Die oberen Bilder stellen 3D-Bilder von der rech-
ten bzw. linken Seite dar; das Bild links unten ist eine koronare Ansicht, das Bild rechts unten eine axiale Darstellung. Die Farbskala deutet die statistische
Stringenz der Studien an. (Nach Ross et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
708 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

. Abb. 14.40 Chromosomale Lokalisation von Schizophrenie-Genen. Chromosomale Regionen mit signifikanter Kopplung mit Schizophrenie sind durch
blaue Balken gekennzeichnet, Deletionen durch rote Balken. Die gelben Pfeile und Kreise geben die Regionen an, die durch Kopplungsanalysen und Assozia-
tionsstudien identifiziert wurden. Die roten Pfeile und Kreise deuten Gene an, die durch Translokationen identifiziert wurden. Einige Gensymbole sind ange-
geben. (Nach Ross et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

werden. Diese Gruppe führte zunächst eine genomweite


. Tab. 14.4 Genetische Heterogenität der Schizophrenie
Übersicht durch und fand das Chromosom 8p als eine Kan-
didatenregion für Schizophrenie. Sie identifizierten darauf- Bezeichnung OMIM Chromosom Gen
hin mehrere Marker im Gen Neuregulin-1 (NRG1), die den
SCZD1 181510 5q23–35 EPN4?, GABRA1?, GABRP?
harten Kern eines Haplotyps aufbauen, der mit Schizophrenie
14 assoziiert ist und das Risiko für Nachkommen, an Schizo- SCZD2 603342 11q14 FXYD6?

phrenie zu erkranken, um den Faktor 2,1 erhöht (Stefansson SCZD3 600511 6p23 DTNBP1
et al. 2002). Die gleiche Gruppe hat diese Ergebnisse später SCZD4 600850 22q11 PRODH
an schottischen (Stefansson et al. 2003) und chinesischen (Li SCZD5 603175 6q23 TRAR4?
et al. 2004) Patienten bestätigt. Neuregulin kommt in gluta-
SCZD6 603013 8p21 NRG1?, PPP3CC?
minergen synaptischen Vesikeln vor und wirkt auf die Ex-
SCZD7 603176 13q32 ?
pression der NMDA-Rezeptoren über ErbB-Rezeptoren. Eine
Neuregulin-hypomorphe Maus zeigt außerdem Verhaltens- SCZD8 603206 18p GNAL?
weisen, die der Schizophrenie ähnlich sind. SCZD9 604906 1q42 DISC1
SCZD10 605419 15q15 LAMA2?, DPYD?, TRRAP?,
Das zweite Gen, das den oben genannten Kriterien genügt, co- VPS39(?)
diert für die Catechol-O-Methyltransferase (Gensymbol: COMT; SCZD11 608078 10q22 NRG3?
Chromosom 22q11). Das Enzym ist am Abbau von Catecholami- SCZD12 608543 1p36 ?
nen beteiligt und spielt im Dopamin-Stoffwechsel eine wichtige
SCZD13 613025 15q13 CHRNA7?
Rolle (. Abb. 14.24). Ein SNP im COMT-Gen (V158M) beein-
flusst die Aktivität des Enzyms und die präsynaptische Dopa- SCZD14 612361 2q32 ?

minwirkung. Wir haben diesen Polymorphismus bereits in an- SCZD15 613950 22q13 SHANK3 (vgl. Autismus,
derem Zusammenhang kennengelernt, nämlich im Zusammen- 7 Abschn. 14.4.3)

hang mit Cannabis-Rauchern, die zugleich an Schizophrenie SCZD16 613959 7q36 Duplikation von 362 kb
erkranken (7 Abschn. 14.3.2, . Abb. 14.38). Weitere Gene, für die (inkl. VIPR2)

eine Beteiligung an Schizophrenie diskutiert wird, sind die SCZD17 614332 2p16 NRXN1 (vgl. Autismus,
Gene für Dysbindin (Chromosom 6p; Gensymbol: DTNBP1) 7 Abschn. 14.4.3)

und eine Prolin-Dehydrogenase (Gensymbol: PRODH; Chro- SCZD18 615232 9q24 SLC1A1
mosom 22q11). Eine Übersicht über die genetische Heterogeni-
Nach OMIM 181500 (Mai 2015)
tät der Schizophrenie gibt . Tab. 14.4.
14.3 · Angst, Sucht und psychiatrische Erkrankungen
709 14

*Durch Analyse einer balancierten Translokation zwischen


den Chromosomen 1 und 11 wurde in einer großen
aktionsmöglichkeiten mit anderen Proteinen; bestätigte
Interaktionspartner sind die Phosphodiesterase 4B (Gensym-
schottischen Familie auf dem Chromosom 1 das Gen DISC1 bol: PDE4B), eine Endooligopeptidase (engl. nuclear distribu-
identifiziert (engl. disrupted in schizophrenia 1) – das Gen tion element-like, Gensymbol: NUDEL), eine Acetylhydrolase
wird durch die Translokation zwischen den Exons 8 und 9 (engl. platelet-activating factor acetylhydrolase isoform 1B,
gespalten; auf dem Chromosom 11 gibt es kein Gen an Gensymbol: PAFAH1B1; auch bezeichnet als lissencephaly-1,
dieser Stelle, sodass es zu einem reinen Funktionsverlust Gensymbol: LIS1) und das Faszikulations- und Elongations-
kommt, ohne dass neue Hybridproteine gebildet werden, protein ζ1 (Gensymbol: FEZ1). Es wird vermutet, dass das
wie wir das bei vielen Translokationen gesehen haben, die DISC1-Protein sowohl eine wichtige Funktion während der
zur Aktivierung von Onkogenen führen (7 Abschn. 13.4.1). Entwicklung des Gehirns als auch im adulten Gehirn bei
In dieser Familie segregiert die Translokation mit einem Lern- und Gedächtnisprozessen hat; eine Übersicht über die
breiten Spektrum psychischer Erkrankungen (Schizophrenie, Mechanismen gibt . Abb. 14.41. DISC1 ist ein vielverspre-
bipolaren Erkrankungen und anderen schweren psychi- chendes Kandidatengen für Schizophrenie: Es ist sehr gut
schen Erkrankungen). Die Translokation selbst wurde bisher durch experimentelle Befunde abgesichert und hat daher ein
bei keiner anderen Familie gefunden. Eine Mausmutante großes »Potenzial« für tiefer gehende Untersuchungen.
mit einer Deletion im Exon 6 des Disc1-Gens zeigt Defizite
im Kurzzeitgedächtnis. DISC1 wird in mehreren Isoformen Eine interessante Verbindung zwischen DISC1 und dem oben
exprimiert; die stärkste Expression ist im Hippocampus zu erwähnten Neuregulin 1 stellten Seshadri et al. (2010) her: Sie
finden. Die Proteinsequenz gibt einige Hinweise auf die beobachteten in Nrg1-Knock-out-Mäusen eine Verminderung
Funktion: Die vielen coiled-coil-Proteindomänen (umeinan- der Disc1-Expression und haben damit einen funktionellen Zu-
der gewundene α-Helices) am C-Terminus bieten gute Inter- sammenhang zwischen diesen beiden Genen hergestellt.

Reelin
VLDLR Mikro-
tubulus
Dendrit
Kinase
Dab1
Dynactin-
Phospho- Komplex CITRON
Dab1
Aktin-
Stressfasern Lis1
DISC1 synaptische
DISC1 Vesikel
PSD95
DISC1 NUDEL

DISC1 Dynactin-
FEZ1 Komplex NUDEL Glutamat-Rezeptoren
Lis1 Neurotransmitter-
Rezeptor DISC1
Lis1
Wachstumskegel G-Protein Centrosom
NUDEL
Adenylat- cAMP Lis1
cyclase Gen-
DISC1 ATP Transkription
Centrosom PDE4B
Nukleokinese DNA
Mikrotubulus AMP NLS
ATF4
DISC1 ATF5
PDE4B DISC1
Zellkern
DISC1
Mitochondrium

Kernmembran
a b

. Abb. 14.41 Funktion von DISC1. a In der sich entwickelnden Nervenzelle ist DISC1 Teil eines Komplexes mit NUDEL und Lis1 und steht dabei in Wechsel-
wirkung mit dem Dynein/Dynactin-Motorkomplex, der am Transport der Mikrotubuli und ihrer Organisation am Centrosom beteiligt ist. Dieser Komplex ist
für die Nukleokinese und damit auch für die Wanderung der Neuronen verantwortlich; dieser Prozess ist dem Reelin-Signalweg über Dab1 (engl. disabled)
nachgeordnet. DISC1 hat auch eine Schlüsselfunktion beim Auswachsen der Neurite und ihrer Organisation über die Wechselwirkung mit FEZ1 und den
Aktin-haltigen Stressfasern. b In der erwachsenen Nervenzelle hat DISC1 weiterhin eine wichtige Funktion beim Transport über die Mikrotubuli; DISC1
interagiert auch mit CITRON (eine postsynaptische Serin-/Threoninkinase) und beeinflusst damit die synaptischen Antworten. DISC1 moduliert wahr-
scheinlich auch die Neurotransmission und Neuroplastizität durch seine Fähigkeit, die Hydrolyse von cAMP durch PDE4B zu regulieren (wahrscheinlich an
der äußeren Mitochondrienmembran). Im Zellkern interagiert DISC1 mit Transkriptionsfaktoren und beeinflusst auf diese Weise insbesondere die Stress-
induzierte Transkription. (Nach Ross et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
710 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

> Schizophrenie ist eine psychische Erkrankung, die durch 14.4 Neurologische Erkrankungen
Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Störungen in der
sozialen Interaktion und kognitive Störungen gekenn- Unter neurologischen Erkrankungen werden üblicherweise
zeichnet ist. Es gibt keine klare neuropathologische Erkrankungen des Nervensystems (Gehirn, Rückenmark und
Diagnostik. Kopplungsanalysen bei Familien von Pa- periphere Nerven) sowie der Muskulatur zusammengefasst;
tienten sowie transgene bzw. Knock-out-Mutanten der die Grenze zu psychiatrischen Erkrankungen (von denen wir
Maus deuten darauf hin, dass Mutationen in den Genen einige schon besprochen haben) ist fließend. Das Krankheits-
für DISC1, NRG1 und COMT das Risiko erhöhen, an spektrum ist entsprechend vielfältig und auch die genetischen
Schizophrenie zu erkranken. Es ist aber sicherlich noch Aspekte können nicht in ihrer ganzen Breite hier dargestellt wer-
eine Reihe weiterer Gene an dieser Erkrankung betei- den. Wir wollen uns in diesem Abschnitt auf das Rett-Syndrom,
ligt; Umweltfaktoren haben einen modulierenden Ein- Migräne und Epilepsie sowie einige Formen des Autismus be-
fluss. schränken. Die neurodegenerativen Erkrankungen (Alzheimer,
Parkinson und Creutzfeldt-Jakob) werden im 7 Abschn. 14.5
*Epigenetische Mechanismen werden immer wieder als eine
mögliche Ursache einer Schizophrenie-Erkrankung disku-
besprochen.

tiert. Experimentelle Hinweise gibt es bereits für DNA-


Methylierungen in den Promotoren des Reelin-Gens (Gen- 14.4.1 Rett-Syndrom
symbol: RELN) sowie der COMT- und SOX10-Gene: Eine ver-
minderte Expression von Reelin in GABAergen Synapsen Das Rett-Syndrom (OMIM 312750) wurde zuerst 1966 von dem
führt zu Fehlfunktionen in deren Schaltkreisen. In einer wei- Wiener Kinderarzt Andreas Rett als eine schwere neuronale Ent-
teren Studie konnten H.-S. Huang et al. (2007) zeigen, dass wicklungsstörung beschrieben, die fast ausschließlich Mädchen
die Histon-H3-Lys4-Methylierung am GAD1-Promotor (engl. betrifft. Es dauerte allerdings 17 Jahre, bis der deutschsprachige
glutamic acid decarboxylase-1) im präfrontalen Cortex mit Bericht in der englischen Fachliteratur bekannt wurde. Wir wis-
dem Alter zunimmt. Veränderungen bei Schizophrenie bein- sen heute, dass das Rett-Syndrom eine der häufigsten Erkran-
halten auch eine verminderte GAD1-Expression und H3K4- kungen mit mentaler Retardierung bei Frauen ist – die Häufig-
Methylierung, bevorzugt bei Frauen und in Verbindung mit keit beträgt 1:10.000. Die Krankheit zeichnet sich durch eine
einem Risiko-Allel im 5’-Bereich des GAD1-Gens. Es bleibt unauffällige Prä- und Perinatalperiode aus; ab dem Alter von
abzuwarten, ob sich derartige epigenetische Effekte bestäti- etwa 6 Monaten verlangsamt sich das Schädelwachstum (bis hin
gen und zur Ausgestaltung eines funktionellen Gesamtkon- zur Entwicklung einer Mikrocephalie) und sinnvolle Handbe-
zeptes der Schizophrenie beitragen können. wegungen gehen verloren; stattdessen zeigen die Patientinnen

14 . Abb. 14.42 Klinische Merkmale des


Rett-Syndroms. Nach einer unauffälligen
Entwicklungsphase stagniert die Entwick-
lung und führt schnell zu einer deutlichen
Verschlechterung des Zustands: Verlust
der bisher erworbenen Sprache und Ersatz
zielgerichteter Bewegungen der Hände
durch unablässige Stereotypien. Die Patien-
tinnen entwickeln außerdem soziale Ver-
haltensauffälligkeiten. Der Gesundheitszu-
stand verschlechtert sich mit dem Verlust
der motorischen Fähigkeiten und tief
greifenden kognitiven Beeinträchtigungen.
Zusätzlich haben die Patientinnen häufig
Angstgefühle und Schlaganfälle. (Nach
Chahrour und Zoghbi 2007, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)
14.4 · Neurologische Erkrankungen
711 14
typische waschende bzw. knetende Bewegungen. Es folgen ein tane Mutationen (bevorzugt in der männlichen Keimbahn), die
Verlust der Sprache und eine zunehmende soziale Isolierung. das MECP2-Gen betreffen, das für ein Methyl-CpG-bindendes
Später entwickeln sich weitere körperliche und geistige Behin- Protein codiert. Der Erbgang ist dominant, d. h. für Jungen
derungen, z. B. Skoliosen, vermindertes Wachstum und Epilep- ist eine Mutation im MECP2-Gen in der Regel letal. Wir ken-
sien. Das Endstadium der Erkrankung ist oft schon im Alter von nen heute über 600 verschiedene Mutationen, die das gesamte
10 Jahren erreicht und durch Mobilitätsverlust gekennzeichnet. Gen betreffen (RettBASE, http://mecp2.chw.edu.au/). Es ist
Obwohl manche Patientinnen ein Alter von 60 bis 70 Jahren allerdings auffallend, dass acht missense- oder nonsense-Muta-
erreichen, sterben viele plötzlich an Herzversagen oder At- tionen für ca. 70 % aller beobachteten Mutationen verantwort-
mungsstörungen; eine kausale Therapie für das Rett-Syndrom ist lich sind.
nicht bekannt. Eine Übersicht über den Krankheitsverlauf zeigt Klinische Unterschiede können unter Umständen darauf zu-
. Abb. 14.42. rückgeführt werden, dass das Protein verschiedene funktionelle
Das Gen, dessen Mutationen für die Erkrankung verant- Domänen besitzt (. Abb. 14.43). Es gibt verschiedene Genotyp-
wortlich sind, wurde auf dem langen Arm des X-Chromosoms Phänotyp-Korrelationen, die darauf hindeuten, dass Mutatio-
lokalisiert (Xq28). Krankheitsursache sind überwiegend spon- nen, die zu einem Translationsstopp im N-terminalen Bereich

Polyadenylierung

c
ATG ATG

Nicht-kodierende kodierende Sequenz


Sequenz
d

1 78 162 206 310 486

. Abb. 14.43 Das MECP2-Gen und seine Mutationen. a Das humane MECP2-Gen liegt auf dem X-Chromosom (Xq28) und wird von den Genen RCP (engl.
red cone pigment) und IRAK1 (engl. interleukin-1 receptor associated kinase) flankiert. b Das MECP2-Gen besteht (ebenso wie das Mecp2-Gen der Maus) aus
vier Exons und drei Introns; es hat drei Polyadenylierungsstellen an der 3’-UTR. Die Größe der Introns und Exons sind angegeben. c Es gibt zwei Spleiß-
varianten, die zu verschiedenen Proteinen führen (MeCP2E1: 498 Aminosäuren, MeCP2E2: 486 Aminosäuren); sie unterscheiden sich durch unterschied-
liche erste Exons mit den entsprechenden unterschiedlichen Promotoren. Die jeweiligen Translationsstarts (ATG) sind durch Pfeile angedeutet; rot sind
codierende Sequenzen und grün nicht-codierende. d Die beiden Proteine unterscheiden sich nur in der Länge der N-terminalen Domäne (NTD; rosa); hier
ist MeCP2E2 dargestellt. Weitere Domänen sind: eine C-terminale Domäne (CTD; violett), eine Methyl-CpG-bindende Domäne (MBD; blau) und eine Domä-
ne zur Hemmung der Transkription (TRD, engl. transcription repression domain; grün); die letzteren beiden sind durch Zwischendomänen getrennt (ID, engl.
inter-domain; schwarz). Die drei AT-Domänen (grau) erlauben eine Bindung an AT-reiche DNA. Es sind einige Mutationen, die zum Rett-Syndrom führen, zu-
sammen mit den entsprechenden funktionellen Konsequenzen angegeben. 5mC: 5-Methylcytosin; 5hmC: 5-Hydroxymethylcytosin; ATRX: ATP-abhängige
Helikase auf dem X-Chromosom; NCoR: nuclear receptor co-repressor 1; SMRT: silencing mediator for retinoid (or thyroid-hormone) receptors. (Nach Liyanage
und Rastegar 2014, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
712 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

. Abb. 14.44 Modell der MeCP2-Wirkungen. a In ruhenden Neuronen reguliert MeCP2 die Genexpression, indem es selbst an methylierte CpG-Dinukleo-
tide bindet und dadurch die weitere Bindung von Chromatin-modifizierenden Proteinen ermöglicht. Das bewirkt eine Verdichtung des Chromatins und
macht den Promotor für Transkriptionsfaktoren unzugänglich. Neuronale Aktivität führt dagegen zur Phosphorylierung des MeCP2-Proteins, zur Ablösung
von der Promotorregion der Zielgene und zur Freisetzung der Chromatin-modifizierenden Proteine. Das hyperacetylierte Chromatin erlaubt den Zugang
zur Transkriptionsmaschinerie und die Expression der Zielgene. b MeCP2 tritt in Wechselwirkung mit dem YB1-Protein (Y-Box-bindendes Protein 1) und
reguliert alternatives Spleißen der Zielgene. In Abwesenheit von MeCP2 (transparent) werden diese Transkripte falsch gespleißt. (Nach Chahrour und
Zoghbi 2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

des Proteins führen oder die Kernlokalisationssequenz be- (. Abb. 14.44). Das MeCP2-Protein gehört zur Familie der Me-
14 treffen, zu schwereren Krankheitsbildern führen als Mutatio- thyl-CpG-bindenden Proteine und führt im Zusammenspiel mit
nen, die zu Aminosäureaustauschen führen oder zu einem Ver- anderen, Chromatin-modifizierenden Enzymen (z. B. Histon-
lust der C-terminalen Domäne. Die R133C-Mutation bewirkt Deacetylasen) zu einer dichteren Verpackung des Chromatins.
einen allgemein milden Krankheitsverlauf, wohingegen die Weitere Daten von Mecp2-Mausmutanten deuten darauf hin,
R270X-Mutation mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate verbun- dass das MeCP2-Protein im Zusammenspiel mit dem Y-Box-
den ist. Es muss an dieser Stelle aber auch darauf hingewiesen Bindungsprotein YB1 auch an Spleißvorgängen beteiligt ist. Neu-
werden, dass es Mutationen im MECP2-Gen gibt, die zu ande- ere Daten zeigen, dass MeCP2 an eine Region des MET-Promo-
ren neurologischen Erkrankungen führen, z. B. die X-gekoppel- tors bindet (MET ist eine Rezeptor-Tyrosinkinase und wirkt als
te mentale Retardierung (XLMR; OMIM 300260), oder zu Er- Proto-Onkogen). Die Bindestelle enthält ein Risiko-Allel für
krankungen aus dem Spektrum des Autismus (7 Abschn. 14.4.3). Autismus (rs1858830C), und die MeCP2-Bindung erhöht die
Zusätzlich beeinflusst offensichtlich die väterliche oder müt- MET-Expression in der Anwesenheit des Risiko-Allels
terliche Herkunft des mutierten Gens das Ausmaß der X-Inak- rs1858830C; Rett-spezifische Mutationen in MECP2 führen aber
tivierung (7 Abschn. 8.3.2) des MECP2-Gens, sodass hierdurch zu einem Stopp der MET-Transkription. Wenn Regionen des
ein weiterer Komplexitätsgrad hinzugefügt wird. Außerdem temporalen Cortex nach dem Tod analysiert werden, stellt man
sind rund 10 % der Fälle, die als Rett-Syndrom diagnostiziert bei weiblichen Rett-Patientinnen eine deutliche Verminderung
werden, auf Mutationen in anderen Genen zurückzuführen der MET-Expression fest, die aber nicht auf das rs1858830C-Allel
(CDKL5, FOXG1). zurückzuführen ist. Außerdem wurde eine geschlechtsspezifi-
Das MECP2-Gen wird in vielen Organen exprimiert, vor al- sche Verminderung der MET-Expression in männlichen Autis-
lem im Gehirn, in der Lunge und in der Milz, aber auch in gerin- mus-Patienten beobachtet, nicht aber in weiblichen Autismus-
gerem Ausmaß in der Leber, im Herzen und in den Nieren. Wie Patientinnen (im Vergleich zu geschlechtsadjustierten Kon-
in . Abb. 14.43 dargestellt, gibt es zwei Spleißvarianten des trollen). Diese Daten zeigen eine deutliche Allel-spezifische
MECP2-Gens; dabei ist das MeCP2E2-Protein im Gehirn etwa Regulierung der MET-Transkription, wobei die Mechanismen
10-fach häufiger als die etwas längere Form MeCP2E1. Das Pro- bei Autismus und Rett offensichtlich unterschiedlich sind und
tein findet sich im Zellkern und hat vermutlich wichtige Funk- von zusätzlichen, geschlechtsspezifischen Faktoren abhängen
tionen in der Hemmung der Transkription sowie beim Spleißen (Plummer et al. 2013).
14.4 · Neurologische Erkrankungen
713 14
> Das Rett-Syndrom ist eine X-gekoppelte, dominante, Epilepsie bekannt, und umgekehrt haben Migräne-Patienten ein
schwere neurologische Erkrankung. Ursache sind über- höheres Risiko, an Epilepsie zu erkranken. Diese wechselseitige
wiegend spontane Mutationen im MECP2-Gen, das für ein Co-Morbidität geht weit über Zufallsbefunde hinaus und ist sta-
Methyl-CpG-bindendes Protein codiert. Das entsprechen- tistisch signifikant (Bianchin et al. 2010). Beide Erkrankungen
de Protein findet sich im Zellkern und hat vermutlich gehören zur größeren Gruppe der neurologischen Ionenkanal-
wichtige Funktionen bei der Hemmung der Transkription Erkrankungen (engl. channelopathy), d. h. die genetischen Ursa-
sowie beim Spleißen. chen liegen – soweit bekannt – in Mutationen von Genen, die für

*Esunterschiedlichen
gibt verschiedene Mausmodelle für das Rett-Syndrom mit
Mutationen im Mecp2-Gen. Knock-out-
Ionenkanäle der Nervenzellen codieren.
Migräne ist eine chronische neurovaskuläre Erkrankung, die
in jedem Alter auftreten kann; es sind in Europa etwa 17 % der
Mutanten bilden dabei wesentliche Elemente des Rett-Syn-
Frauen und 8 % der Männer betroffen. Migräne ist charakteri-
droms nach: Homozygote Weibchen oder hemizygote
siert durch wiederkehrende Anfälle von typischen pochenden,
Männchen sterben früh und zeigen verschiedene neurologi-
einseitigen schweren Kopfschmerzen mit Begleiterscheinungen
sche Auffälligkeiten und Verhaltensänderungen, Atmung
wie Erbrechen und Überempfindlichkeit gegen Geräusche und
und Hören sind gestört. Dabei wurde zunächst auch festge-
Licht. Wir unterscheiden Migräne ohne Aura (~ 80 %) und Mi-
stellt, dass die im Wildtyp MeCP2-positiven Neurone in der
gräne mit Aura (~ 20 %); die Aura ist dabei im Wesentlichen
Mutante nicht absterben, sondern erhalten bleiben. Das
durch sich verändernde visuelle Eindrücke charakterisiert, die
Rett-Syndrom erscheint also nicht als eine neurodegenerati-
allerdings nicht im Auge, sondern im Gehirn entstehen. Man
ve, sondern als eine neurologische Erkrankung. Wenn in sol-
schätzt die Erblichkeit von Migräne auf etwa 50 % mit einem
chen Mecp2-defizienten Mäusen, auch nach dem Auftreten
komplexen polygenen Erbgang. Aufgrund einiger seltener fami-
der Symptome, die Genfunktion durch viralen Gentransfer
liärer Formen mit dominantem Erbgang (familiäre hemiplegi-
teilweise wiederhergestellt wird, können sich auch die
sche Migräne) ist es gelungen, drei Gene zu identifizieren, deren
Krankheitssymptome bei der Maus verbessern. Dies er-
Mutationen für das Auftreten von Migräne verantwortlich sind:
scheint als ein hoffnungsvoller Ansatz für eine somatische
CACNA1A (Chromosom 19p13; OMIM 601011) codiert für ei-
Gentherapie (Gadalla et al. 2013).
nen Calciumkanal und ATP1A2 (Chromosom 1q21; OMIM
182340) für eine ATPase. Das dritte Gen ist das Gen SCN1A
14.4.2 Migräne und Epilepsie (Chromosom 2q24; OMIM 182389); es ist Teil eines Genclusters
von drei Genen (SCN1A-SCN2A-SCN3A) auf dem langen Arm
Migräne und Epilepsie gehören zu den häufigsten neurologi- des Chromosoms 2 (2q24; OMIM 182389) und codiert für die
schen Erkrankungen: Migräne betrifft – mit regionalen Unter- α-Untereinheit eines spannungsgesteuerten Natriumkanals
schieden – etwa 12 % der Erwachsenen weltweit, und Epilepsie (engl. sodium channel, neuronal type I, α subunit) und enthält 26
(Fallsucht, Krampfleiden) hat eine Prävalenz von 0,5–1 %; Epi- Exons in über 100 kb.
lepsie ist durch spontan auftretende Krampfanfälle gekennzeich- Wir wollen uns im Folgenden eines der Migräne-Gene,
net. Schon seit Langem ist Migräne als »Begleiterkrankung« der CACNA1A, etwas genauer ansehen. Es codiert für die Poren-

. Abb. 14.45 Der Cav2.1-Kanal besteht aus vier Arealen mit jeweils sechs Transmembrandomänen (gelb); der N- und C-Terminus liegen im Cytoplasma. In
dieser Sekundärstruktur des Cav2.1-Kanals ist die Lokalisation einiger Mutationen gezeigt, die zur Ausbildung einer familiären (rot) oder einer spontanen
(blau) Form der hemiplegischen Migräne führen. Die grün geschriebenen Mutationen wurden im Hinblick auf ihre biophysikalischen Eigenschaften in hete-
rologen Expressionssystemen untersucht; die unterstrichenen Mutationen sind auch in transfizierten Neuronen von Cacn1a−/−-Mutanten der Maus unter-
sucht worden. (Nach Pietrobom 2013, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
714 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

bildende α1-Untereinheit des spannungsgesteuerten Calciumka- in der Maus untersucht und führt dort zu einem Funktions-
nals Cav2.1. Diese Kanäle sind in den präsynaptischen Enden verlust.
und in den dendritischen Membranen des Gehirns und des Rü- Weitere Epilepsie-relevante Gene codieren ebenfalls für Io-
ckenmarks lokalisiert und spielen bei der Freisetzung der Neu- nenkanäle und sind teilweise zugleich Rezeptoren für Neuro-
rotransmitter bei einem Aktionspotenzial eine wichtige Rolle. transmitter; eine Übersicht dazu gibt . Tab. 14.5. Andere Formen
Das Protein besteht aus vier großen Arealen mit jeweils sechs der Epilepsie sind komplexer Natur und durch Mutationen in
Transmembrandomänen; der N- und C-Terminus sind jeweils mehreren Genen verursacht (Polygenie). Wir kennen auch mito-
intrazellulär (. Abb. 14.45). Die bekannten Mutationen, die zur chondriale Erkrankungen mit epileptischen Komponenten (z. B.
Ausbildung der Migräne führen, bewirken Austausche konser- das MERRF-Syndrom; 7 Abschn. 13.3.5).
vierter Aminosäuren in funktionell wichtigen Regionen (z. B. des
> Epilepsie ist eine häufige neurologische Erkrankung und
Spannungssensors).
durch spontan auftretende Krampfanfälle gekennzeich-
Unter Epilepsie sind klinische Manifestationen eines vorü-
net. Mutationen im SCN1A-Gen sind die häufigste bisher
bergehenden cortikalen neuronalen Ungleichgewichts zusam-
bekannte genetische Ursache von Epilepsien. Weitere Epi-
mengefasst; ihr Erscheinungsbild ist durch den Ausgangspunkt
lepsie-relevante Gene codieren für Ionenkanäle und sind
der Übererregbarkeit und deren Ausbreitungsgeschwindigkeit
teilweise zugleich Rezeptoren für Neurotransmitter.
festgelegt. Üblicherweise erfordert die Diagnose des Krankheits-
bildes »Epilepsie«, dass der Patient mindestens zwei nicht provo-
zierte Anfälle erlitten hat. Dabei können die Anfälle wenige Se-
kunden dauern, aber auch bis zu einigen Minuten anhalten. Wir
können dabei unterscheiden zwischen fokalen Anfällen, bei de- . Tab. 14.5 Wichtige Gene für Epilepsie-Erkrankungen des
nen das Anfallsgeschehen in einer umschriebenen Region der Menschen
Hirnrinde stattfindet, und generalisierten Anfällen, bei denen
Gen OMIM Chromosom Epilepsie-Typ
das gesamte Gehirn betroffen ist. Bei einem generalisierten An-
fall ist der Patient in der Regel deutlich bewusstseinsgetrübt oder ARX 300382 Xp21.3 EIEE1
bewusstlos; diese Anfälle können mit Muskelzuckungen verbun- CDKL5 300203 Xp22.13 EIEE2
den sein. Zu den generalisierten Anfällen rechnet man Absen-
CHRNA2 118502 8p21.2 ENFL4
cen, myoklonische Anfälle, klonische Anfälle, tonische Anfälle,
tonisch-klonische Anfälle und atonische Anfälle. CHRNA4 118504 20q13.33 ENFL1
Auch für Epilepsien gibt es deutliche Hinweise auf eine erb- CHRNB2 118507 1q21.3 ENFL3
liche Komponente: Die Konkordanzrate bei Epilepsien beträgt
GABRG2 137164 5q34 GEFS+3, ECA2, FSF8
bei eineiigen Zwillingen ungefähr 76 % und bei zweieiigen Zwil-
lingen ungefähr 33 %. Autosomal-rezessive Erbgänge sind häufig GABRA1 137160 5q34 EJM5, ECA4
14 bei Epilepsien mit einem frühen Eintrittsalter der Erkrankung KCNQ2 602235 20q13.33 BFNS1, EIEE7
und einem progressiven Verlauf. Dagegen folgen ca. 2 % der Epi-
KCNQ3 602232 8q24.22 BFNS2
lepsien einem dominanten Erbgang. Diese sind meist monoge-
nen Ursprungs und weisen mildere Verlaufsformen auf; aller- LGI1 604619 10q23.33 ADLTE, ADEAF

dings ist die Penetranz nicht immer 100 %, was auf modifizieren- PCDH19 300460 Xq22.1 EIEE9
de Faktoren hindeutet. Wir kennen aber auch autosomale und PLCB1 607120 20p12.3 EIEE12
X-chromosomale Formen, mitochondriale Erbgänge und kom-
SCN1A 182389 2q24.3 GEFS+2
plexe Vererbungsmuster der Epilepsie.
Mutationen im SCN1A-Gen sind die häufigste bisher be- SCN1B 600235 19q13.12 GEFS+1
kannte genetische Ursache von Epilepsien (. Abb. 14.46). Muta- SCN2A 182390 2q24.3 BFNIS3, EIEE11
tionen in diesem Gen sind uns oben schon als eine Ursache der
SLC2A1 138140 1p34.2 GLUT1-Defizienz-
familiären Migräne begegnet; wir kennen aber auch mehr als 700 Syndrom
Mutationen im SCN1A-Gen, die überwiegend zu einer generali-
STXBp1 602926 9q34.11 EIEE4
sierten Epilepsie mit fiebrigen Anfällen führen (engl. generalized
epilepsy with febrile seizurs plus, GEFS+). SCN1A-Mutationen ADLTE: autosomal-dominante Seitenlappenepilepsie; ADEAF: autoso-
führen aber auch zu epileptischen Gehirnerkrankungen bei Kin- mal-dominante Epilepsie mit auditorischen Auren; BFNS: benigne
dern mit unterschiedlichem Schweregrad. Des Weiteren sind familiäre Neugeborenenkrämpfe; BFNIS: benigne familiäre Krämpfe
auch einige Mutationen in SCN2A- und SCN9A-Genen bekannt, bei Neugeborenen und Kindern; ECA: kindliche Absence-Epilepsie;
EIEE: frühkindliche epileptische Encephalopathie; EJMS: juvenile
die zu Epilepsien führen (Meisler et al. 2010).
myoklonische Epilepsie; ENFL: nächtliche Frontallappenepilepsie;
Die Hälfte der SNC1A-Mutationen in Epilepsie-Patienten FSF: familiäre Fieberkrämpfe; GEFS+: generalisierte Epilepsie mit
führt zu einem verkürzten Protein; die andere Hälfte sind Fieberkrämpfen plus; GLUT: Glucose-Transporter; die Zahlen geben
Mutationen, die zu einem Aminosäureaustausch und damit zu jeweils verschiedene Untertypen an.
einem Funktionsgewinn oder zu einem Funktionsverlust führen Nach Hildebrand et al. (2013); vollständige und aktuelle Listen von
Epilepsie-relevanten Genen finden sich in öffentlichen Datenbanken:
können. Nur wenige sind tatsächlich auch funktionell unter-
http://www.epigad.org/ und http://www.carpedb.ua.edu/
sucht worden; die R1648H-Mutation wurde beispielsweise auch
14.4 · Neurologische Erkrankungen
715 14

. Abb. 14.46 Schematische Repräsentationen von Mutationen im SCN1A-Gen. Das Protein besteht aus vier Bereichen mit je sechs Transmembrandomä-
nen. Die veschiedenen Mutationstypen sind angegeben: Verkürzungen sind auf ein vorzeitiges Stoppcodon zurückzuführen und missense-Mutationen be-
wirken Aminosäureaustausche. a Es sind Mutationen dargestellt, die zu einer generalisierten Epilepsie mit Fieberkrämpfen führen (GEFS+). b Es sind Muta-
tionen gezeigt, die zu schwerer myoklonischer Epilepsie im Kindesalter führen (SMEI). c Es sind Mutationen dargestellt, die zu hartnäckiger Epilepsie im
Kindesalter mit generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (ICEGTC), grenzwertiger SMEI (SMEB) oder zu kindlichen Spasmen (IS) führen. (Nach Mulley et
al. 2005, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

*Neben der teilweisen genetischen Übereinstimmung (Muta-


tionen im SCN1A-Gen) gibt es auch im Krankheitsbild Über-
wohingegen die Ruhephase mit einer Verminderung des
cerebralen Blutflusses verbunden ist. Man vermutet, dass da-
einstimmungen, nämlich die cortikale Streudepolarisierung durch der Trigeminus-Nerv aktiviert wird und in der Folge
(engl. cortical spreading depression). Dabei wandern Kaska- Mediatoren einer neuronalen Entzündungsreaktion freige-
den der Depolarisation über die Großhirnrinde (Cortex) hin- setzt werden. Neben diesen mechanistischen Überlegungen
weg und initiieren dabei eine Vielzahl von zellulären und mo- deutet auch die erfolgreiche Anwendung einiger Antiepi-
lekularen Ereignissen, die in einen vorübergehenden Verlust leptika (z. B. Valproinsäure, Topiramat und Gabapentin) in der
der transmembranen Ionengradienten münden und zu einer Migräneprophylaxe auf Gemeinsamkeiten zwischen Migräne
Flut von extrazellulärem Kalium, intrazellulärem Calcium und und Epilepsie hin (Bianchin et al. 2010). Epidemiologische
Neurotransmittern führt, gefolgt von einer lang anhaltenden Studien, die in den letzten Jahren durchgeführt wurden, ver-
Unterdrückung neuronaler Aktivität. Die Depolarisationspha- stärken die Vorstellung einer bidirektionalen Assoziation
se ist mit einem Anstieg von cerebralem Blutfluss verknüpft, zwischen Migräne and Epilepsie (Bauer et al. 2013).
716 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

14.4.3 Autismus konnten schnell neue Mutationen in weiteren Genen identifiziert


werden. Durch Exom-Sequenzierung (7 Technikbox 7) von vie-
Autismus (OMIM 209850) ist eine häufige Entwicklungsstörung len »Trios« (Vater, Mutter, Kind – manchmal auch zum »Quar-
des Nervensystems (Prävalenz 0,2–0,6 %); es sind mehr Jungen tett« erweitert, wenn zwei Kinder eingeschlossen werden konn-
als Mädchen betroffen (3:1). Das Krankheitsbild ist vielseitig, ten) wurden mehrere de-novo-Mutationen identifiziert, also
sodass wir heute eher von »Krankheiten aus dem Autismus- solche Mutationen, die entweder in der väterlichen oder mütter-
Spektrum« sprechen. Dazu gehören stereotype Verhaltenswei- lichen Keimbahn neu entstanden waren und dann beim Kind zu
sen, Kommunikationseinschränkungen, verändertes Sozialver- der Erkrankung führen. In diesen Untersuchungen zum Autis-
halten, Kognitionsstörungen, Probleme in der Sprachentwick- mus-Krankheitsbild zeigte sich auch eine Zunahme der Muta-
lung, geistige Retardierung und auch Epilepsie. Eine Diagnose ist tionshäufigkeit mit steigendem Alter der Väter. Durch die Exom-
zwischen 14 Monaten und 3 Jahren möglich, vor allem aufgrund Sequenzierung (mit nachfolgender Bestätigung durch eine »klas-
des veränderten Wachstums des Gehirns: Zwar ist die Kopfgröße sische« Sequenzierung) wurden vor allem Punktmutationen
bei der Geburt vermindert, aber im Alter von etwa einem halben identifiziert, die einen Funktionsverlust zur Folge haben: mis-
Jahr zeigt das Gehirn plötzlich ein exzessives Wachstum. Später sense-Mutationen, Spleißmutationen oder Mutationen, die zu
(zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr) wachsen vor allem die einem vorzeitigen Stoppcodon führen. Dabei konzentrierten
Frontallappen, das Kleinhirn und das limbische System. Insge- sich die Befunde auf zehn Gene, in denen häufig Mutationen
samt gesehen zeigen verschiedene Untersuchungsverfahren, dass gefunden wurden (. Tab. 14.6).
die Krankheiten aus dem Autismus-Spektrum auf Fehlern der Die Zusammenstellung macht deutlich, dass die Krankheiten
neuronalen-cortikalen Organisation beruhen, die zu Verände- des Autismus-Spektrums nicht nur klinisch, sondern auch gene-
rungen der Informationsverarbeitung auf verschiedenen Stufen tisch äußerst heterogen sind und sich nicht ohne Weiteres in ein
des Nervensystems führen – dabei sind die synaptische und den- einfaches Schema bringen lassen: Die oben erwähnten Gene
dritische Organisation, die Verbindung der Signalübertragungs- (. Abb. 14.47) wirken ebenso an der Synapse wie auch RIMS1 –
wege und die Gehirnstruktur insgesamt betroffen. Mutationen in diesem Gen sind im Übrigen auch für Degene-
Die besondere Rolle der Genetik bei Autismus wurde zu- rationen von Photorezeptoren der Retina verantwortlich. Das
nächst durch Zwillingsuntersuchungen deutlich: Die Konkor- SCN2A-Gen codiert für einen Natriumkanal; wir haben dieses
danzrate beträgt bei eineiigen Zwillingen 60–90 %, bei dizygoten Gen bereits als Ursache einiger seltener Fälle der Epilepsie kennen-
Zwillingen dagegen nur 10 %. Die ersten Hinweise auf Kandida- gelernt (. Abb. 14.46). Das DYRK1A-Gen liegt auf dem Chromo-
tengene erhielt man allerdings durch Untersuchungen von Ge- som 21 in der Region, die bei der Trisomie 21 in besonderer
schwisterpaaren. So sind einige monogene Formen des Autis- Weise für die Ausbildung des Down-Syndroms verantwortlich
mus durch Mutationen in Genen verursacht, die für synaptische gemacht wird (7 Abschn. 13.2.1). Und das TBR1-Gen codiert für
Adhäsionsmoleküle codieren (. Abb. 14.47): Neuroligin-3 und einen Transkriptionsfaktor, der unter anderem für die Regula-
-4 (Gen: NLGN3, Chromosom Xq13, OMIM 300336; Gen: tion des Reelin-Gens (Gensymbol: RELN) verantwortlich ist –
14 NLGN4, Chromosom Xp22, OMIM 300427), SHANK3 (Chro- eine verminderte RELN-Expression findet man auch bei Patien-
mosom 22q13, OMIM 606230), Neurexin-1α und -1β (codiert ten, die an Schizophrenie erkrankt sind. Wir sehen also, dass
von einem Gen, NRXN1, Chromosom 2p16, OMIM 600565). Mutationen in den Genen, die mit der Ausprägung von Krank-
Es zeigte sich aber bald, dass diese zunächst gefundenen Mu- heiten aus dem Autismus-Spektrum assoziiert sind, oft auch an
tationen in einzelnen Genen nur die Spitze eines Eisbergs darstel- der Ausprägung anderer neurologischer oder psychiatrischer
len: Mithilfe der neuen genomweiten Sequenziertechniken Erkrankungen beteiligt sind.

extrazellulär intrazellulär

Esterase-Domäne CH PDZ-BM
Neuroligin-3/4

LNS(A) EGF LNS(B) LNS(A) EGF LNS(B) LNS(A) EGF LNS(B) CH PDZ-BM
Neurexin-1α

LNS(B) CH PDZ-BM
Neurexin-1β

ANK SH3 PDZ PRC ppl SAM


SHANK3

. Abb. 14.47 Domänenstrukturen von Neuroligin-3 und -4, Neurexin-1α und -1β sowie von SHANK3. Pfeile unter den jeweiligen Domänenstrukturen zei-
gen die Sequenzbereiche von Neuroligin-4 und SHANK3 an, in denen die in autistischen Patienten identifizierten Mutationen zu Abbrüchen führen. Die Po-
sition des Aminosäureaustauschs R451C, der durch die Mutation im NLGN-3-Gen entsteht, ist durch eine Pfeilspitze gekennzeichnet. ANK: Ankyrin-Wieder-
holungseinheiten; CH: O-Glykosylierungsstellen; EGF: EGF-ähnliche Domäne; LNS: laminin-A/neurexin/sex-hormone-binding-globulin repeats; PDZ: post-
synaptic-density-95/discs-large/zona-occludens-1-Domäne; PDZ-BM: PDZ-Domänen-Bindungsmotiv; ppI: Cortactin-Bindungsdomäne; PRC: Prolin-reiche
Region; SAM: sterile alpha motif; SH3: Src-Homologiedomäne 3. (Nach Brose 2007, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
14.5 · Neurodegenerative Erkrankungen
717 14

. Tab. 14.6 Gene mit häufigen de-novo-Funktionsverlust-Mutationen, die zu Autismus führen

Gensymbol Chromosom OMIM Gen-Name (engl.) Bemerkung

ADNP 20q12 611386 activity-dependent neuroprotector homeobox Transkriptionsfaktor;


Genexpression, Neurogenese

ARID1B 6q25.3 614556 AT-rich interactive domain 1B (SWI1-like) Chromatin-Umstrukturierung

CHD8 14q11 610528 chromodomain helicase DNA binding protein 8 Wnt-Signalweg

DYRK1A 21q22 600855 dual-specificity tyrosine-(Y)-phosphorylation regulated kinase 1A Kinase, Down-Syndrom

GRIN2B 12p13 138252 glutamate receptor, ionotropic, N-methyl D-aspartate 2B Mentale Retardierung

KATNAL2 18q21 614697 katanin p60 subunit A-like 2 ATPase

POGZ 1q21 614787 pogo transposable element with ZNF domain Zinkfinger-Transkriptionsfaktor

RIMS1 6q13 606629 regulating synaptic membrane exocytosis 1 Erblindung, Synapse

SCN2A 2q24 182390 sodium channel, voltage gated, type II, α-subunit Epilepsie

TBR1 2q24 604616 T-box, brain 1 Transkriptionsfaktor

Nach Murdoch und State (2013), Ronemus et al. (2014); OMIM (Mai 2015)

Einen weiteren Fortschritt gibt es auch bei der genetischen fikanten Risiko für Krankheiten aus dem Autismus-Spektrum
Charakterisierung von rezessiven Formen der Autismus-Erkran- assoziiert sind. Dazu gehören die Gene NRXN1 (Symbol für
kungen. Zwei blutsverwandte Familien mit Autismus und Epi- Neurexin-1; Chromosom 2p16.3; OMIM 600565), VIPR2
lepsie sind homozygote Träger einer Mutation in dem BCKDK- (engl. vasoactive intestinal peptide receptor 2; Chromosom
Gen (engl. branched chain ketoacid dehydrogenase kinase; Chro- 3q29; OMIM 601970) und CHRNA7 (engl. acetylcholine
mosom 16p11.2; OMIM 614901); die Mutation führt zu einem receptor, neuronal nicotinic, α7-subunit; Chromosom 15q13.3;
Funktionsverlust der Kinase und damit zu einer Verminderung OMIM 118511). Alle drei Gene sind auch mit Formen von
von verzweigtkettigen Aminosäuren im Plasma. Entsprechende Schizophrenie assoziiert. Es wird interessant sein, inwieweit
Mausmutanten zeigen zunächst auffällige Verhaltensweisen; es aus diesen genetischen Überschneidungen auch funktionell
gelingt aber durch entsprechende Umstellungen in der Ernäh- wichtige Überlappungen dieser verschiedenen Krank-
rung, den Verlust der verzweigtkettigen Aminosäuren zu kom- heitsbilder abgeleitet werden können (Heil und Schaaf
pensieren und die auffälligen Verhaltensweisen zu vermindern. 2013).
Diese Ergebnisse legen zweifelsohne einen möglichen Therapie-
weg für dieses spezielle Krankheitsbild aus dem Autismus-For-
menkreis nahe. 14.5 Neurodegenerative Erkrankungen
> Autismus ist eine häufige Entwicklungsstörung des
Neurodegenerative Erkrankungen zeichnen sich durch einen
Nervensystems, die sich im veränderten sozialen Umgang
schleichenden Verlust zentraler Funktionen des Gehirns aus, wo-
mit Mitmenschen und in sich stets wiederholenden Hand-
bei das Eintrittsalter der Erkrankung stark schwankt (oft auch
lungen äußert. Autismus betrifft mehr Jungen als Mäd-
unter eineiigen Zwillingen), sodass man lange Zeit nicht wusste,
chen (3:1). Monogene Formen des Autismus sind vor
welche genetischen Komponenten hier eine Rolle spielen könn-
allem durch Mutationen in Genen verursacht, die für die
ten. Dazu kommt, dass aufgrund des vielschichtigen Krank-
Funktion der Synapsen und Signalübertragung wichtig
heitsbildes einheitliche diagnostische Kriterien nicht immer klar
sind.
waren. Nach der vollständigen Analyse des menschlichen Ge-
*Neben den klassischen Punktmutationen, Insertionen und
Deletionen (»Indels«) treten immer mehr auch Variationen
noms und vieler Modellorganismen hat jedoch die molekulare
Analyse neurodegenerativer Erkrankungen einen Aufschwung
der Kopienzahl von Genen in den Vordergrund (CNV, copy erfahren, und es zeichnet sich ab, dass wir auch diese Erkran-
number variants). Ähnlich wie SNPs stellen sie zunächst Poly- kungstypen bald verstehen können und damit auch eine kausale
morphismen dar, in manchen Fällen können sie aber (wie Therapie möglich wird. Zu diesem Mosaikbild, das sich zurzeit
SNPs) mit Krankheiten assoziiert sein; Deletionen sind unter vor unseren Augen entwickelt und in seinen Details immer klarer
diesem Gesichtspunkt dann »Extremformen« der Variation wird, gehört aber auch, dass es nicht ein Gen gibt, das für die
der Kopienzahl. Im Zusammenhang mit solchen Untersu- jeweilige neurodegenerative Erkrankung verantwortlich ist, son-
chungen wurden bei Kohorten von Patienten Deletionen in dern dass Mutationen in verschiedenen Genen dazu beitragen
verschiedenen Genen beobachtet, die mit einem hoch signi- und damit die klinische Heterogenität begründen. Umgekehrt
718 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

werden wir auch sehen, dass Mutationen in einem Gen für un- nung »Scrapie« entwickelt, die seit 1853 verwendet wird.
terschiedliche Krankheitsbilder verantwortlich sind. Das kann Weitere klinische Zeichen sind vor allem charakteristische
mittelfristig auch dazu führen, dass die Krankheiten von den Veränderungen des Gangs, weshalb sich im deutschen
betroffenen Genen her definiert werden und nicht mehr über ihr Sprachgebrauch auch die Bezeichnung »Traberkrankheit«
klinisches Erscheinungsbild. eingebürgert hat. Da andere Tierbestände diese Krankheits-
Wir wollen hier jedoch der »alten« Nomenklatur folgen und zeichen nicht aufweisen, hat man lange geglaubt, dass sich
die Alzheimer’sche und Parkinson’sche Krankheit als klassische diese Erkrankung nur bei Schafen findet. Inzwischen wissen
Beispiele neurodegenerativer Erkrankungen besprechen. In die- wir, dass eine Reihe anderer Tierarten entsprechende Krank-
sem Zusammenhang muss auch die Chorea Huntington als pro- heiten entwickeln kann – dazu gehören auch Ziegen, Katzen
gressive neurodegenerative Erkrankung erwähnt werden: Dabei und Hirsche (Lee et al. 2013).
handelt es sich um expandierende Triplettmutationen, die wir
schon im Zusammenhang mit autosomal-dominanten Erkran- Lange Zeit war der Übertragungsweg der Erkrankung unklar.
kungen behandelt haben (7 Abschn. 13.3.2). Zu Beginn dieses Insbesondere eine Übertragung durch Viren wurde lange disku-
Abschnitts werden wir aber die genetischen Aspekte der Creutz- tiert. Heute wissen wir, dass es sich um ein besonderes Protein
feldt-Jakob-Erkrankung besprechen, weil das Paradigma der au- handelt, das Prion-Protein (PrP; Gensymbol bei Menschen:
tokatalytischen Konformationsänderung von Proteinen, das an PRNP), das in verschiedenen Konformationen vorkommen
dieser Erkrankung entwickelt wurde, beispielhaft für die anderen kann. Das PRNP-Gen liegt beim Menschen auf dem kurzen Arm
neurodegenerativen Erkrankungen sein könnte. des Chromosoms 20 (20p12; OMIM 176640) und codiert für ein
Protein aus 253 Aminosäuren mit einem Molekulargewicht von
etwa 28 kDa. Die menschliche Prionen-Erkrankung kommt
14.5.1 Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung spontan oder als erworbene Erkrankung vor; etwa 15 % sind aber
erblich und mit Mutationen im PRNP-Gen assoziiert. Diese erb-
Die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (engl. Creutzfeldt-Jakob dis- lichen Prionen-Erkrankungen werden als familiäre Creutzfeldt-
ease, CJD) gelangte in Deutschland Mitte der 1980er-Jahre in Jakob-Erkrankung (OMIM 123400), Gerstmann-Sträussler-Er-
das allgemeine Bewusstsein, als in Großbritannien plötzlich bei krankung (OMIM 137440) und tödliche familiäre Schlaflosigkeit
Kälbern und Rindern »Rinderwahnsinn« diagnostiziert wurde. (OMIM 600072) bezeichnet. Die oben erwähnte neue Variante
Die wissenschaftliche Bezeichnung ist bovine spongiforme En- der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung (vCJD) wird zu den erworbe-
cephalopathie; die entsprechende Abkürzung »BSE« ist sogar in nen Prionen-Erkrankungen gezählt.
die Alltagssprache eingegangen. Das wesentliche Charakteristi- In . Abb. 14.48 ist die genomische Organisation des mensch-
kum dieser Erkrankung ist eine schnell fortschreitende Neuro- lichen PRNP-Gens dargestellt. Das 1. Exon wird nicht translatiert
degeneration, die schließlich zu einem löchrigen, schwammarti- (5’-untranslatierte Region, 5’-UTR); das 2. Exon ist unüblich
gen (»spongiformen«) Gehirn und zum Tod führt. In Großbri- lang (2380 bp) und enthält 759 bp für 253 Aminosäuren, da-
14 tannien hat BSE epidemiologische Ausmaße angenommen, und durch ergibt sich eine lange 3’-UTR. Die N-terminale Region aus
es mussten ca. 3 Mio. Kälber wegen dieser Erkrankung notge- 22 Aminosäuren dirigiert das Protein zu dem Sekretionsweg
schlachtet und anschließend verbrannt werden. Der Höhepunkt über das endoplasmatische Reticulum, wo es an zwei Asn-Resten
war im Jahr 1992; danach konnte die Seuche eingedämmt werden (181 und 197) glykosyliert wird; die C-terminale Domäne (23
und ist heute auf Einzelfälle beschränkt. In anderen europäischen Aminosäuren) wird bei der Anheftung des Glykophosphatidyl-
Ländern hat BSE bei Weitem nicht das Ausmaß wie in Großbri- inositol-Restes abgespalten. Das reife Prion-Protein (PrP) befin-
tannien erreicht. BSE gehört zur Gruppe der übertragbaren det sich dann in dem äußeren Bereich der Zellmembran. Wir
spongiformen Encephalopathien und wurde vermutlich durch finden das PrP fast überall im Körper, es kommt allerdings am
Tierfutter übertragen. Ursache dafür waren verschiedene Locke- häufigsten in Neuronen des zentralen Nervensystems vor. Das
rungen im europäischen Tierfutterrecht; aufgrund der BSE-Seu- Protein bildet drei α-Helices sowie zwei kurze antiparallele
che wurde das Tierfutterrecht so verschärft, dass bei Einhaltung β-Faltblätter; die Struktur wird durch eine Disulfidbrücke zwi-
der Vorschriften eine neue BSE-Seuche vermieden werden kann. schen den Helices 2 und 3 stabilisiert.
In der Folge dieser Seuche starben (bis 2012) über 200 Menschen Das Prion-Protein kommt in zwei Konformationen vor: PrPc
an der humanen Form, die als neue Variante der Creutzfeldt-Ja- und PrPSc, wobei die Scrapie-Form (Sc) die neurotoxische Form
kob-Erkrankung (vCJD) bezeichnet wird (davon 176 Menschen darstellt. Der pathologische Mechanismus beruht im Wesentli-
in Großbritannien, 27 in Frankreich und Einzelfälle in einigen chen darauf, dass die PrPSc-Form in der Lage ist, die PrPc-Form
anderen Ländern). in die thermodynamisch stabilere PrPSc-Form zu überführen.
Wenn also PrPSc spontan entsteht oder in das Gehirn gelangt,
C Unter Tierärzten war die Traberkrankheit bei Schafen schon breitet es sich im Gehirn aus, indem immer mehr PrPc in PrPSc
lange bekannt: Die erste bekannte Darstellung kam im Jahr umgewandelt wird (der genaue biochemische Mechanismus ist
1732 aus der Wollindustrie in Großbritannien. Es wurde da- dabei noch Gegenstand intensiver Untersuchungen). Besonders
von berichtet, dass manche Schafe offensichtlich einen sol- hohe Konzentrationen an PrPSc findet man außer im Gehirn
chen Juckreiz haben, dass sie sich ihr Fell geradezu zwang- auch in den Augen, im Rückenmark, in den Mandeln und im
haft an Felsen, Bäumen oder Büschen abkratzen – aus dem Darm; bei Rindern und Schafen gelten diese Organe als »Risiko-
englischen Wort dafür (to scrape) hat sich dann die Bezeich- Organe« für den Verzehr. Die PrPSc-Form hat einen niedrigeren
14.5 · Neurodegenerative Erkrankungen
719 14

. Abb. 14.48 Mutationen und Polymorphismen, die das Prion-Protein betreffen. Das Prion-Protein umfasst 253 Aminosäuren (aa). Die grauen Bereiche
repräsentieren Signalsequenzen, die abgespalten werden können; die Region der Oktapeptid-Wiederholungsstelle befindet sich zwischen den Amino-
säuren 51 und 91 und ist in lila dargestellt (OPRD: Deletion im Bereich der Oktapeptid-Wiederholungseinheit; OPRI: Insertion im Bereich der Oktapeptid-
Region). Einige Polymorphismen (grün) und pathogene Mutationen (rot) sind unterhalb bzw. oberhalb des Schemas angegeben. (Nach Lloyd et al. 2013,
mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

α-Helix-Anteil (30 % statt 40 % in der PrPc-Form), dafür aber C Die Kuru-Krankheit wurde in den 1950er-Jahren bei Einwoh-
einen wesentlich höheren Anteil an β-Faltblattstrukturen (40 % nern entlegener Dörfer von Papua-Neuguinea beobachtet;
statt 3 % in der PrPc-Form). Das PrPSc-Protein ist weitgehend die Symptome entsprechen denen der neuen Variante von
stabil gegen Hitze und UV-Licht, sodass eine Sterilisation nur CJD. Als Ursache gilt heute, dass die Eingeborenen im Rah-
unter 3 atm Druck für 18 min bei 134–138 °C möglich ist (Lee et men von Beerdigungsritualen Fleisch (und vermutlich auch
al. 2013). das Gehirn) verstorbener Stammesgenossen gegessen und
Wie wir in . Abb. 14.48 gesehen haben, sind einige Mutatio- sich dabei infiziert haben. Ausgangspunkt war wahrschein-
nen im PRNP-Gen bekannt. Neben Insertionen in der Region lich ein spontaner Fall von CJD. Die Krankheit hat eine
der Oktamer-Wiederholungen gibt es einige Punktmutationen, durchschnittliche Inkubationszeit von 12 Jahren und gilt
von denen die E200K-Mutation weltweit am häufigsten vor- heute als ausgerottet. Eine retrospektive DNA-Analyse zeig-
kommt. Es lassen sich aber derzeit nur schwer Genotyp-Phäno- te, dass die Erkrankten mit der kürzesten Inkubationszeit
typ-Korrelationen herstellen, da die Zahl der Patienten relativ homozygot für den M129V-Polymorphismus waren, also
klein und die Variabilität der Erkrankung hoch ist. Eine gewisse entweder Met/Met oder Val/Val. Die Mehrheit der letzten
Ausnahme stellt die Mutation D178N dar, die mit der tödlichen Patienten, die über 40 Jahre später erkrankten, nachdem
familiären Schlaflosigkeit assoziiert ist. auch diese Form des Kannibalismus in Papua-Neuguinea
Anders ist es dagegen bei den verschiedenen Polymorphis- verboten wurde, waren dagegen heterozygot für den
men, die auch in . Abb. 14.48 dargestellt sind. Der M129V- M129V-Polymorphismus (Saba und Booth 2013).
Polymorphismus ist offensichtlich in sehr deutlichem Ausmaß
mit dem Risiko assoziiert, von der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit > Die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung wird durch eine Konfor-
betroffen zu werden. In der gesunden kaukasischen Bevölkerung mationsänderung des Prion-Proteins ausgelöst, die sich
sind 40 % homozygot für das Methionin-Allel, 50 % sind hetero- im Gehirn betroffener Personen ausbreitet und schließlich
zygot und 10 % homozygot für Valin. Von den untersuchten Fäl- zum Tod führt. Es gibt neben erblichen Fällen auch einen
len, die in Großbritannien von der neuen Variante der CJD be- Polymorphismus (M129V), der mit der Erhöhung des
troffen waren, waren aber fast alle homozygot für das Methionin- Erkrankungsrisikos assoziiert ist.
Allel. In Übertragungsexperimenten bei Mäusen zeigte sich
ein ähnliches Muster: Die homozygoten M129M-Mäuse waren C Wir haben oben gesehen, dass Scrapie bei Schafen die ältes-
am empfindlichsten, und die V129V-Mäuse zeigten die größte te bekannte Prionen-Krankheit ist und natürlich aufgrund
Barriere gegenüber einer Übertragung (die Heterozygoten wa- der großen Herden auch gut untersucht werden kann. So ist
ren  eher intermediär). Allerdings gibt es bislang keine über- es nicht verwunderlich, dass populationsgenetische Untersu-
zeugende biochemische oder biophysikalische Erklärung für das chungen an Schafen in Bezug auf Scrapie weit verbreitet
Phänomen. sind. Dabei zeigte sich, dass Schafe mit homozygoten Allelen
720 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

für Ala-136, Arg-154 und Arg-171 nahezu resistent gegen


Scrapie sind. Aufgrund der vielfältigen Allelkombinationen
wurden fünf Risikoklassen definiert – von G1 »extrem niedrig
(resistent)« bis G5 »sehr hohes Risiko«. Diese Risikoklassi-
fikation hat auch Eingang gefunden in Regularien der Euro-
päischen Union, wie im Falle einer Scrapie-Erkrankung in den
entsprechenden Herden zu verfahren ist (Hunter 2007).

14.5.2 Alzheimer’sche Erkrankung

Mehr als ein Jahrhundert ist vergangen, seit der bayerische Ner-
venarzt Alois Alzheimer 1906 die Beschreibung seiner Patientin
»Auguste« publizierte und damit die Grundlage für die
Alzheimer’sche Erkrankung (OMIM 104300) schuf: »Eine Frau
von 51 Jahren zeigte als erste auffällige Krankheitserscheinung
Eifersuchtsideen gegen den Mann. Bald machte sich eine rasch . Abb. 14.49 Altersabhängigkeit der Alzheimer’schen Erkrankung. Die
Abbildung zeigt die Prävalenz der Alzheimer’schen Erkrankung als Funktion
zunehmende Gedächtnisschwäche bemerkbar, sie fand sich in
des Alters bei Frauen und Männern. (Nach Nussbaum und Ellis 2003, mit
ihrer Wohnung nicht mehr zurecht, schleppte Gegenstände hin freundlicher Genehmigung der Massachusetts Medical Society)
und her, versteckte sie, zuweilen glaubte sie, man wolle sie um-
bringen und begann, laut zu schreien.«
Heute ist »Alzheimer« die häufigste neurodegenerative Er- deren neuropathologisches Bild mit der klassischen Alzheimer-
krankung. Die Häufigkeit nimmt mit dem Alter zu (. Abb. 14.49), Diagnostik übereinstimmt. Wir werden daher in diesem Fall
und die früh einsetzenden Formen unterscheiden sich nicht von einen anderen Weg beschreiten und zunächst einmal feststellen,
denen, die erst bei höherem Alter auftreten. Es wird angenommen, welche Erkenntnisse die Humangenetik zusammengetragen hat,
dass in der Gruppe der 60- bis 64-Jährigen etwa 1 % erkrankt sind. um dann zu sehen, dass sich über die Herstellung von transgenen
Die Häufigkeit nimmt dann bei steigendem Alter gleichmäßig zu und Knock-out-Mäusen hervorragende Modelle züchten lassen.
und bei den über 85-Jährigen sind etwa 35–40 % betroffen. Das wichtigste biochemische Charakteristikum ist die Bil-
Die alltägliche klinische Praxis zeigt, dass in etwa 40–60 % dung der amyloiden Fibrillen. Die auffälligen sternförmigen
der Fälle eine positive Familiengeschichte mit einer ähnlichen amyloiden Fibrillen in den extrazellulären Ablagerungen und die
Demenz bei Verwandten ersten Grades beobachtet werden kann. intrazellulären neurofibrillären Knäuel (engl. neurofibrillary
Da allerdings nur in wenigen Fällen eine Bestätigung der Diag- tangles, NFT) in den Gehirnen der Patienten enthielten offen-
14 nose über eine Autopsie vorliegt, kann man nur in etwa 10–15 % sichtlich den Schlüssel zum Verständnis des pathogenen Mecha-
der Fälle von einem bestätigten autosomal-dominanten Erbgang nismus. In den amyloiden Fibrillen wurden vor allem Fragmente
sprechen (Selkoe und Podlisny 2002). Die ersten klinischen An- des amyloiden Vorläuferproteins (engl. amyloid precursor pro-
zeichen sind Defizite im Kurzzeitgedächtnis, die sich zu Sprach- tein, Gensymbol: APP) identifiziert, die β-Amyloide (Abk. Aβ
problemen ausweiten und den Rückzug von sozialen Kontakten . Abb. 14.50a). Die neurofibrillären Knäuel enthalten dagegen
sowie Verfall geistiger Funktionen zur Folge haben. Obwohl die vor allem hyperphosphoryliertes Tau, ein Mikrotubuli-assozi-
Demenz im Allgemeinen erst ab einem Alter von 65 Jahren ein- iertes Protein (.  Abb. 14.50b). Tau ist am Aufbau der Mikro-
setzt, gibt es eine Untergruppe von Patienten, deren Erkrankung tubuli beteiligt und für ihre Stabilität mitverantwortlich. Das Gen
deutlich früher beginnt. Zwar schließt eine definitive Diagnose ist auf dem Chromosom 17q21 lokalisiert (OMIM 157140); im
die neuropathologische Diagnose post mortem ein (der linke Teil menschlichen Gehirn gibt es sechs Isoformen, die durch alterna-
der . Abb. 14.50a zeigt ein typisches immunhistochemisches tives Spleißen entstehen: Die Proteine enthalten 352 bis 441 Ami-
Bild), aber Neurologen und Neuropsychologen haben heute nosäuren. Die Isoformen unterscheiden sich durch die An- oder
klinische Kriterien entwickelt, die zu einer Trefferquote von Abwesenheit von Einschüben mit 29 bzw. 58 Aminosäuren in der
ca. 90 % in der Diagnose führen. Dazu tragen auch massive Nähe des N-Terminus und einer Wiederholungseinheit von 31
Verbesserungen nicht-invasiver, bildgebender diagnostischer Aminosäuren am C-Terminus. Filamentöse Tau-Ablagerungen
in-vivo-Verfahren bei. finden sich in vielen neurodegenerativen Erkrankungen; es ist
Die Genetik der Alzheimer’schen Erkrankung erscheint zu- unklar, ob Fehlfunktionen für die Entstehung der Alzheimer’schen
nächst nicht ganz klar. Wie oben bereits angedeutet, unterschei- Erkrankung (mit)verantwortlich sind. Mutationen im TAU-Gen
den viele Autoren zwischen »familiären« Formen von Alzheimer sind zwar beschrieben, sie führen aber nicht zu Alzheimer’schen
und »spontanen« Formen. Wenn eine Autopsie vorgenommen Erkrankungen, sondern zu einer weniger häufigen Demenz, die
wird, unterscheiden sich die beiden Typen allerdings nicht hin- einige klinische und neuropathologische Gemeinsamkeiten mit
sichtlich ihrer pathologischen Befunde. Dazu kommt: Wenn wir Alzheimer hat. Sie wird als frontotemporale Demenz mit Parkin-
wie in den früheren Kapiteln zunächst einmal nach Drosophila- sonismus (FTDP-17) bezeichnet (7 Abschn. 14.5.3); einzig die
oder Mausmutanten für dieses Krankheitsbild suchen, so werden R406W-Mutation im TAU-Gen kann ein klinisches Bild verur-
wir enttäuscht – Mäuse entwickeln spontan keine Erkrankungen, sachen, das stark an die Alzheimer’sche Krankheit erinnert.
14.5 · Neurodegenerative Erkrankungen
721 14

a Aβ

b Tau
. Abb. 14.50 Klassischer neuropathologischer Befund bei der Alzheimer’schen Erkrankung. Links sind jeweils die typischen neuropathologischen Schädi-
gungen der Krankheit zu sehen: Aβ-positive Plaques (a) und Tau-positive neurofibrilläre Knäuel (b). Rechts: Die Anhäufung der falsch gefalteten Proteine
folgt charakteristischen und vorhersagbaren Mustern: Querschnitte durch Gehirne verstorbener Patienten zeigen, dass Aβ-Plaques zuerst im Neocortex
auftreten, später im Allocortex und schließlich in subcortikalen Regionen (a). Die neurofibrillären Knäuel erscheinen zuerst im Locus caeruleus und der
transentorhinalen Region und breiten sich von dort zur Amygdala und damit verbundenen Regionen des Neocortex aus (b). Diese relativ stereotypen
Ausdehnungsmuster lassen darauf schließen, dass neuronale Transportmechanismen an der Ausbreitung dieser neurotoxischen Proteinformen beteiligt
sind. Die ansteigende Farbintensität deutet eine schwere Erkrankung an. (Nach Jucker und Walker 2011, mit freundlicher Genehmigung der Amerikanischen
Neurologischen Gesellschaft)

. Abb. 14.51 Generierung des β-Amyloid-Proteins durch proteolytische Spaltung des β-Amyloid-Vorläuferproteins. a Spaltung des β-Amyloid-Vorläufer-
proteins (APP) durch spezifische Spaltung durch β-Sekretase (BACE). APP (links) wird zuerst durch BACE geschnitten, und die große extrazelluläre Domäne
wird sezerniert. Der in der Membran verbleibende Stummel (CTFβ: carboxyterminales Fragment) bindet an die Oberfläche des β-Sekretase-Komplexes und
wird dann an das aktive Zentrum der Transmembrandomänen 6 und 7 von Presenilin 1 (PS1) oder 2 (PS2) transportiert. PS1 und PS2 werden vermutlich
durch autoproteolytische Spaltungen aktiviert, die ihre N- und C-terminalen Fragmente generieren (NTF und CTF). Beide Fragmente bilden den γ-Sekre-
tase-Komplex zusammen mit drei weiteren Proteinen: APH1a (oder APH1b; homolog zu den C. elegans-Proteinen anterior pharynx defective), PEN2 (Prese-
nilin-Verstärker 2; engl. presenilin enhancer; Achtung: Hier handelt es sich um keinen »Enhancer« der Transkriptionsaktivierung, sondern um ein Protein, das
die Wirkung der Preseniline verstärkt) und Nicastrin (NCT; ein Transmembran-Glykoprotein). Alle vier Proteine bilden das Herzstück des Komplexes, der für
die γ-Sekretase-Aktivität benötigt wird (gestrichelte Linie). Die beiden Aspartat-Reste in den Membrandomänen 6 und 7 (D) der beiden Presenilin-Frag-
mente NTF und CTF sind die entscheidenden Bestandteile des ungewöhnlichen katalytischen Zentrums dieser Protease. Die Spaltung durch die γ-Sekre-
tase geschieht innerhalb der Membran und setzt das Amyloid-β-Protein (Aβ) und die intrazelluläre Domäne des APP (AICD) frei. b Verschiedene vermut-
liche Schnittstellen der γ-Sekretase in der Membran. Es ist die Aminosäuresequenz in der Umgebung der Schnittstelle des APP gezeigt (die Zahlen entspre-
chen der Sequenz des Aβ; die dunkel hinterlegten Aminosäuren befinden sich in der Membran). Die γ-Sekretase schneidet ihr Substrat mehrere Male; die
verschiedenen Schnittstellen sind als ε, ζ, und γ bezeichnet (vom C- zum N-Terminus). Dabei ist die γ-Schnittstelle variabel und kann mindestens nach den
Aminosäuren 38, 40 und 42 auftreten. Diese Spaltung ist besonders bedeutsam für die folgende Aggregationsneigung von Aβ: Manche Arzneimittel, die
die γ-Sekretase beeinflussen, verschieben die Spaltung von Aβ42 zur Aminosäure 38, und das resultierende Peptid aggregiert in weitaus geringerem Aus-
maß. (Nach Haass und Selkoe 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
722 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Humangenetische Untersuchungen konzentrierten sich zu- auf den Chromosomen 14q24 (OMIM 104311) und 1q31 (OMIM
nächst auf die früh einsetzenden Formen der Alzheimer’schen 600759). Mutationen in diesen Genen, die für Membranproteine
Erkrankung. Außer im Zeitpunkt des Erkrankungsalters unter- mit mehreren Transmembrandomänen codieren, sind für etwa
scheidet sich der neuropathologische Befund nicht von dem 90 % der Fälle der früh einsetzenden Alzheimer-Erkrankungen
klassischen Bild. In einigen dieser Fälle wurden Punktmutatio- verantwortlich. Die Preseniline interagieren mit verschiedenen
nen im APP-Gen identifiziert, und in einigen großen Familien Proteinen und Enzymen, die mit der Membran assoziiert sind.
konnte gezeigt werden, dass diese Mutationen mit dem Krank- Dazu gehören vor allem Proteasen, die unterschiedliche Schnitt-
heitsbild co-segregieren. Es ist überraschend, dass diese Muta- stellen im APP-Protein haben und als α-, β- oder γ-Sekretase
tionen überwiegend in den Exons 16 und 17 des APP-Gens auf- bezeichnet werden. Da die Preseniline Bestandteil des γ-Sekre-
treten und durch Basenpaaraustausche charakterisiert sind. Das tase-Komplexes sind, beeinflussen Mutationen im PSEN1-Gen
APP-Gen ist auf dem Chromosom 21q21 lokalisiert (OMIM die γ-Sekretase-Aktivität, sodass APP nicht mehr richtig prozes-
104760) und codiert für drei Spleißvarianten des APP-Proteins siert werden kann und das Amyloidβ42-Protein (Aβ42) gegenüber
von jeweils ungefähr 700 Aminosäuren. In diesem Zusammen- dem Amyloidβ40-Protein (Aβ40) überrepräsentiert ist – eine der
hang soll auch darauf hingewiesen werden, dass schon seit der biochemischen Charakteristika der Alzheimer’schen Erkran-
Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt war, dass Patienten mit kung. Aufgrund der höheren Hydrophobizität des Aβ42-Peptids
Down-Syndrom (Trisomie 21; 7 Abschn. 13.2.1) unabwendbar kommt es damit schneller zur Bildung der amyloiden Fibrillen.
die klassischen neuropathologischen Befunde der Alzheimer’- Einen Überblick über die normale Spaltung von APP, die Lage
schen Erkrankung entwickeln, sodass schon damals das Chro- der verschiedenen Schnittstellen und die Entstehung unter-
mosom 21 als ein Kandidat für die genetische Lokalisation dieser schiedlicher Spaltprodukte gibt . Abb. 14.51.
Erkrankung diskutiert wurde. Heute wird das Auftreten der Wenn wir nun die oben erwähnte, auffällige Konzentration der
Alzheimer’schen Erkrankung bei Patienten mit Down-Syndrom Mutationen in den Exons 16 und 17 des APP-Gens genauer be-
über einen »Gendosis-Effekt« erklärt. trachten, so stellen wir fest, dass sie die Schnittstellen der β- oder
Ein weiterer Durchbruch gelang mit den Charakterisierun- γ-Sekretase entweder genau treffen oder zumindest dicht in der
gen von Mutationen in den Presenilin-Genen PSEN1 und PSEN2 Nähe liegen. So führt eine Doppelmutation, die die β-Sekretase-

. Abb. 14.52 Es ist ein Abschnitt des β-Amyloid-Vor-


läuferproteins (APP) gezeigt, der sich nahe der Transmem-
brandomäne befindet. Die α-, β- und γ-Sekretase-Schnitt-
stellen sind durch rote Pfeilspitzen gekennzeichnet. Die
Aminosäuresequenz ist im Ein-Buchstaben-Code ange-
geben. Die Positionen, an denen Aminosäureaustausche
zu einer früh einsetzenden Form der Alzheimer’schen
Erkrankung führen können, sind grün markiert, die mit
14 den pathologischen Zuständen assoziierten Aminosäuren
sind gelb. (Nach Nussbaum und Ellis 2003, mit freund-
licher  Genehmigung der Massachusetts Medical Society)
14.5 · Neurodegenerative Erkrankungen
723 14
Schnittstelle des APP-Proteins betrifft, zu einer effizienteren Spal- die Synthese und Ablagerung von Aβ und/oder hemmt dessen
tung, sodass die beiden kleinen Fragmente Aβ40 und Aβ42 verstärkt Beseitigung. 40–80 % der Alzheimer-Patienten besitzen mindes-
gebildet werden. Andere Mutationen, die das C-terminale Ende tens ein APOE4-Allel; epidemiologische Studien unter Alzhei-
des APP-Proteins betreffen, erhöhen das Verhältnis von Aβ42:Aβ40. mer-Patienten zeigen eine starke Assoziation zwischen Spätfor-
Eine Übersicht über die Aminosäureveränderungen einiger be- men der Alzheimer’schen Erkrankung und dem APOE4-Allel; das
kannter Mutationen im APP-Gen zeigt . Abb. 14.52. hat auch zur Bezeichnung »Alzheimer-2« oder »ApoE4-assoziier-
Weiter gehende biochemische Untersuchungen der amyloi- te Alzheimer-Erkrankung« geführt (OMIM 104310). Aufgrund
den Ablagerungen zeigten, dass das Apolipoprotein E (ApoE) an des vielfältigen Eingriffs in den Lipid-Stoffwechsel der Neuronen
das β-amyloide Protein gebunden ist. ApoE ist das wichtigste (. Abb. 14.53) ist es allerdings nicht verwunderlich, dass das
Apolipoprotein im Gehirn (LDL und ApoB werden im Gehirn APOE4-Allel auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankun-
nicht exprimiert); es ist an der Neuverteilung der Lipide und des gen eine wichtige Rolle spielt (z. B. Parkinson; 7 Abschn. 14.5.3).
Cholesterols beteiligt. Genetische Untersuchungen machten Neben APOE ergaben neuere genomweite Assoziationsstu-
dann deutlich, dass insbesondere die Allelvariante E4 zum Aus- dien weitere Hinweise auf Risiko-Gene. Dabei zeigte sich, dass
bruch der Alzheimer’schen Erkrankung prädisponiert. ApoE ist neben APOE noch weitere Gene des Lipid-Stoffwechsels eine
ein polymorphes Protein mit 299 Aminosäuren. Das Gen auf Rolle spielen: SORL1 codiert für ein Protein, dass nicht nur beim
dem Chromosom 19q13 (OMIM 107741) codiert für drei Haupt- Abbau des APP-Proteins eine wichtige Rolle spielt, sondern auch
allele: APOE2 (Frequenz in der Bevölkerung: 5–10 %), APOE3 an das ApoE-Protein bindet. CLU codiert für ApoJ und über-
(Frequenz in der Bevölkerung: 60–70 %) und APOE4 (Frequenz nimmt ähnliche Aufgaben beim Lipidtransport wie ApoE. Der
in der Bevölkerung: 15–20 %). Die verschiedenen Proteine un- ABC-Reporter ABCA7 gehört zur Familie von Transmembran-
terscheiden sich nur in den Aminosäuren 112 und 158: ApoE3 proteinen, die am ATP-abhängigen Transport von Substraten
hat an der Position 112 ein Cystein und an 158 ein Arginin, wo- über die Membran beteiligt sind, in diesem Fall von Cholesterol.
hingegen ApoE4 ein Arginin an beiden Positionen hat und Eine weitere Gruppe von Genen lässt sich unter der Überschrift
ApoE2 ein Cystein an beiden Positionen. Das Cys-158 in ApoE2 »angeborene und adaptive Immunität« zusammenfassen: CR1
führt zu einer verminderten Bindung an den Rezeptor und einer codiert für einen Zelloberflächenrezeptor des Komplementsys-
Hyperlipoproteinämie. Das Arg-112 in ApoE4 führt dagegen zu tems, und CD33 (ein Zelloberflächenantigen) ist mit einer ver-
einer starken Wechselwirkung mit dem C-terminalen Ende des minderten Internalisierung des Aβ42-Peptids assoziiert. Die Pro-
Proteins und damit zu einer kompakten Struktur. Außerdem bil- teine der MS4A-Familie weisen Sequenzähnlichkeiten zu einem
den sich stabile, reaktive Intermediate mit potenziell pathologi- anderen Zelloberflächenantigen auf (CD20); ihre Funktion ist
schen Aktivitäten. weitgehend unbekannt. Die Rolle von EPHA1 im Zusammenhang
Neurone bilden ApoE als Antwort auf Stressoren (wie z. B. mit der Alzheimer’schen Erkrankung ist noch unklar; das Gen
oxidativen Stress) oder Verletzungen, aber nur die ApoE4-Form codiert für eine Rezeptor-Tyrosinkinase, die Ephrin-A bindet und
wird dabei proteolytisch abgebaut; die sich bildenden bioaktiven an der Wegfindung von Axonen (engl. axon guidance) beteiligt
toxischen Fragmente gelangen ins Cytosol, verändern das Cyto- ist. Eine vierte Gruppe von Genen steht im Zusammenhang mit
skelett, stören die Energiebalance der Mitochondrien und be- Endocytose und intrazellulärem Vesikeltransport. Die Genpro-
wirken schließlich den Tod der Zelle. ApoE4 stimuliert auch dukte von BIN1 und PICALM sind beide an der Clathrin-vermit-

. Abb. 14.53 Die Rolle von ApoE in der


Lipidverteilung zwischen den Zellen des
Gehirns und Unterschiede in der Neuro-
pathologie zwischen den ApoE-Isofor-
men. ApoE wird von Astrocyten, aktivier-
ter Mikroglia und Neuronen syntheti-
siert. Es gibt drei schädliche Funktionen
von ApoE: (1) erhöhte Aβ-Produktion;
(2) Verstärkung der Aβ42-induzierten
lysosomalen Undichtigkeit und Apop-
tose; (3) verstärkte Neuronen-spezifische
Proteolyse, die zur Translokation von
neurotoxischen ApoE4-Fragmenten ins
Cytosol führt und dort zur Zersetzung
des Cytoskeletts und Fehlfunktion der
Mitochondrien beiträgt. (Nach Mahley
et al. 2006, mit freundlicher Genehmi-
gung der Nationalen Akademie der
Wissenschaften, USA)
724 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

. Tab. 14.7 Gene, die an der Pathogenese der Alzheimer’schen Erkrankung beteiligt sind

Gensymbol Chromosom OMIM Gen-Name (engl.) Bemerkung

Gene für dominante Formen der Alzheimer’schen Erkrankung

APP 21q21 104760 amyloid precursor protein β-Amyloid


PSEN1 14q24 104311 presenilin 1 Bestandteile des γ-Sekretase-
Komplexes
PSEN2 1q31 600759 presenilin 2
Gene mit erhöhtem Risiko für das Auftreten der Alzheimer’schen Erkrankung
ABCA7 19q13 605414 ATP-binding cassette, subfamily A, member 7 Lipid-Stoffwechsel
APOE 19q13 107741 apolipoprotein E Lipid-Stoffwechsel
BIN1 2q14 601248 bridging integrator 1 Endocytose
CD2AP 6p12 604241 CD2-associated protein Endocytose
CD33 19q13 159590 CD33 antigen Immunität
CLU 8p21 185430 clusterin Lipid-Stoffwechsel
CR1 1q32 120620 complement component receptor Immunität
EPHA1 7q32 179610 ephrin receptor EphA1 Zelladhäsion
MS4A4A* 11q12 606547 membrane-spanning 4-domains, subfamily A, member 4A Immunität
PICALM 11q14 603025 phosphatidylinositol-binding clathrin assembly protein Endocytose

SORL1 11q23 602005 sortilin-related receptor 1 Lipid-Stoffwechsel

*Die GWAS können nicht zwischen den benachbarten Genen MS4A4A, MS4A4E und MS4A6E unterscheiden.
Nach Schellenberg und Montine (2012); OMIM (Mai 2015)

telten Endocytose beteiligt. Das CD2-assoziierte Protein (Gen- sichtlich auf der Störung des axonalen Transports beruhen, an
symbol: CD2AP) bindet direkt an Aktin, Nephrin oder andere dem das Appl-Protein beteiligt ist. Auch für das oben erwähnte
Proteine des Cytoskeletts und ist dadurch am Umbau des Cyto- Tau-Protein, das in den neurofibrillären Knäueln gefunden wur-
skeletts während der Endocytose beteiligt. Eine zusammenfassen- de, gibt es entsprechende Drosophila-Gene.
14 de Darstellung der verschiedenen Gene, die an der Entstehung der Sowohl C. elegans als auch Drosophila codieren außerdem
Alzheimer’schen Erkrankung beteiligt sind, gibt . Tab. 14.7. Homologe zu Presenilin, die dazu beitragen, dass Mitglieder der
Aufgrund der Sequenzierung ganzer Genome verschiedener LIN-12/Notch-Transmembranrezeptorfamilie proteolytisch ge-
Modellorganismen einschließlich Drosophila und Caenorhab- spalten werden und sie so Informationen der Zell-Zell-Kom-
ditis elegans wurden auch in diesen Spezies Gene gefunden, munikation weitergeben können. Umgekehrt können die inver-
die den »Alzheimer-Genen« des Menschen entsprechen – ein- tebraten Preseniline die Amyloid-β42-Herstellung in Säuger-
schließlich ihrer mutierten Allele. So codieren die Genome von zellen beeinflussen. Ähnliches gilt auch für das C. elegans-Gen
Drosophila und C. elegans jeweils ein Gen, das mit dem mensch- sel-12, dessen Funktion durch Säuger-Preseniline komplemen-
lichen APP verwandt ist (C. elegans: apl-1; Drosophila: Appl). tiert werden kann. Und weiterhin konnten durch genaue Ana-
Ähnlich wie beim Menschen sind die invertebraten Mitglieder lyse der beteiligten Proteine in Drosophila neue Kandidaten für
der APP-Familie Transmembranproteine, die mit einer Domäne die humane Alzheimer’sche Erkrankung identifiziert werden.
in der Membran verankert sind und deren lange C-terminale Unter den üblichen Modellsystemen ist die Maus normaler-
Domäne sich im Cytoplasma befindet. Die kürzere N-terminale weise dem Menschen am ähnlichsten. Allerdings entwickelt sie
Domäne reicht in den intrazellulären Bereich, und durch Pro- spontan keine Neuropathie, die der Alzheimer’schen Erkran-
teasen werden Fragmente in den intrazellulären und extrazel- kung vergleichbar ist. Durch die Konstruktion von transgenen
lulären Bereich freigesetzt. Da die APP-ähnlichen Proteine der und Knock-out-Mäusen konnten jedoch interessante Modelle in
Invertebraten kein cytotoxisches Fragment wie Amyloid β42 ent- der Maus hergestellt werden, die dieselben neuropathologischen
halten, können sie nicht direkt als Modell für die Alzheimer’sche Charakteristika aufweisen wie betroffene Patienten. Amyloide
Erkrankung verwendet werden. Dennoch kann die Analyse des Ablagerungen waren – je nach der Art des Transgens – nach 3 bis
neuronal exprimierten Appl-Gens in Fliegen dazu dienen, die 13 Monaten zu sehen.
zugrunde liegenden Mechanismen besser zu verstehen. Droso-
phila-Mutanten, denen das Appl-Gen fehlt, zeigen Verhaltensän-
derungen gegenüber Schock, die durch die transgene Expression
*Die Untersuchungen dieser Mausmodelle ergaben dann
auch noch einen weiteren wichtigen Mechanismus, nämlich
des humanen APP-Gens wieder normalisiert werden können. die Beteiligung des APP an der Aufrechterhaltung der
Drosophila-Appl-Mutanten zeigen außerdem Defekte, die offen- Cu2+-Homöostase im Körper. Offensichtlich besteht eine in-
14.5 · Neurodegenerative Erkrankungen
725 14
verse Beziehung zwischen den Cu2+-Spiegeln und den β-amyloiden Plaques; dieser Effekt wurde in verschiedenen
amyloiden Ablagerungen. Dies ist insofern nicht weiter ver- Mausmodellen bestätigt. Aufgrund dieser vielversprechen-
wunderlich, da Aβ ein Metalloprotein ist und eine hohe den Ergebnisse in Tierversuchen wurden entsprechende kli-
Bindungsaffinität für Cu2+-, Zn2+- und Fe3+-Ionen besitzt. nische Tests begonnen. Nach einigen schwerwiegenden Ne-
Außerdem verfügt Aβ über ein starkes Reduktionspotenzial benwirkungen in der Phase II (einige Patienten erkrankten
und reduziert Cu2+ und Fe3+ schnell zu Cu+ und Fe2+, wobei an Meningoencephalitis) wurden die Untersuchungen zu-
reaktive Sauerstoffspezies entstehen. Obwohl sich die nächst abgebrochen und erst später unter veränderten Be-
wichtigsten Cu2+-Bindestellen am N-Terminus des APP be- dingungen fortgesetzt. Insgesamt gleichen die Ergebnisse
finden, zeigen auch die Aminosäuren 36 bis 40 des C-termi- der klinischen Untersuchungen einer Achterbahnfahrt aus
nalen Aβ-Peptids einen deutlichen Einfluss auf die Bindung einigen positiven und vielen negativen Ergebnissen. Die
von Cu2+ und damit auf die Konformation des Peptids Impfstoffe der 3. Generation wurden jetzt für alte Menschen
und seine Fähigkeit, Aggregate zu bilden. Möglicherweise optimiert und beschränken sich auf Patienten mit leichteren
liegt hier ein Schlüssel für die pathologischen Konforma- Erkrankungsformen; hier bestehen wohl gute Möglichkeiten
tionsänderungen (Huang et al. 2014). für eine effiziente Behandlung (Fettelschoss et al. 2014).

> Die Alzheimer’sche Erkrankung ist eine progressive Neu-


rodegeneration, die über Defizite im Kurzzeitgedächtnis 14.5.3 Parkinson’sche Erkrankung
schließlich zu Demenz führt. Neuropathologisch zeichnet
sie sich durch amyloide Ablagerungen und neurofibrilläre Die Parkinson’sche Erkrankung (OMIM 168600; benannt nach
Knäuel im Gehirn ab. Die amyloiden Ablagerungen ent- ihrem Entdecker James Parkinson 1817) ist nach der Alzhei-
halten in hoher Konzentration das Fragment Aβ42 des mer’schen Krankheit die zweithäufigste progressive neuro-
amyloiden Vorläuferproteins APP. Einige bekannte Ursa- degenerative Erkrankung und betrifft etwa 1–2 % der über
chen dafür sind Mutationen im APP-Gen oder in den Pre- 50-jährigen Bevölkerung und über 4 % der über 85-Jährigen.
senilin-codierenden Genen PSEN1 bzw. PSEN2, die mit Pro- Sie zeichnet sich durch eine Degeneration der dopaminergen
teasen in Wechselwirkung treten, die APP prozessieren. Neurone (. Abb. 14.24) aus und betrifft überwiegend die
Durch genomweite Assoziationsstudien wurden weitere Substantia nigra. Das klinische Charakteristikum ist eine Trias
Risiko-Gene identifiziert, von besonderer Bedeutung ist aus Zittern, Gesichtsstarre und einer Verlangsamung der Be-
dabei ein Polymorphismus im APOE-Gen. wegungen. Neuropathologische Befunde zeigen charakteristi-
sche cytoplasmatische Einschlüsse (Lewy-Körperchen) in den
*ImAlzheimer’sche
Jahr 1999 wurden zum ersten Mal Mausmodelle für die
Erkrankung mit Antikörpern gegen Aβ be-
Neuronen der Substantia nigra, die überwiegend durch Fibrillen
aus α-Synuklein (Gensymbol: SNCA) und Ubiquitin angefüllt sind
handelt. Die so behandelten Mäuse waren nahezu frei von (. Abb. 14.54).

a b c . Abb. 14.54 Immunhistochemische Analyse der Lewy-


Körperchen. Lewy-Körperchen sind mit Antikörpern gegen
Ubiquitin (a, grün) bzw. α-Synuklein (b, rot) angefärbt; die Über-
lagerung der beiden Aufnahmen (c) zeigt, dass die Ringe um
die Lewy-Körperchen im Zentrum überwiegend ubiquitinierte
Proteine enthalten, wohingegen die Peripherie überwiegend
α-Synuklein enthält (Vergrößerung 3000-fach). Die unteren
Bilder (d–f) zeigen Neurone aus der Substantia nigra eines Par-
kinson-Patienten, in dem die Neuriten aufgebläht erscheinen
d e f und mit Antikörpern gegen α-Synuklein (hier schwarz) ange-
färbt werden können; der weiße Balken entspricht 10 μm. (Nach
Nussbaum und Ellis 2003, mit freundlicher Genehmigung der
Massachusetts Medical Society)
726 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

*Wie bereits für die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und für


die Alzheimer’sche Erkrankung (7 Abschn. 14.5.1 und
. Tab. 14.8 Genetische Heterogenität der Parkinson’schen Erkran-
kung
7 Abschn. 14.5.2) wird heute auch für die Parkinson’sche
Erkrankung ein Mechanismus diskutiert, der darauf basiert, Bezeich- OMIM Art der Chromo- Gen
dass sich die Konformationsänderung eines Proteins über nung Vererbung som
weite Teile des Gehirns ausbreitet und dadurch die charak-
PARK1 168601 Dominant 4q21 SNCA
teristischen Krankheitsmerkmale hervorruft. In diesem
Fall ist es das α-Synuklein, das dafür verantwortlich sein PARK2 600116 Rezessiv 6q25 PARKIN
soll. Es ist üblicherweise unstrukturiert oder liegt in einer
PARK3 602404 Dominant 2p13 SPR?
α-helikalen Form vor, aber in den pathologischen Fibrillen
hat es überwiegend eine β-Faltblattstruktur. α-Synuklein PARK4 163890 Dominant 4q21 SNCA
in dieser β-Faltblattstruktur kann in vivo von Zellen zu Zel-
PARK5 191342 Dominant 4p14 UCHL1
len über tragen werden, und im Laufe der Zeit bilden sich
Aggregate. Der Auslöser der Aggregatbildung ist allerdings PARK6 605909 Rezessiv 1p36 PINK1
noch unbekannt (Dunning et al. 2013).
PARK7 606324 Rezessiv 1p36 DJ1

Bis vor wenigen Jahren galt die Parkinson’sche Erkrankung als PARK8 607060 Dominant 12q12 Dardarin
der Archetyp einer nicht genetischen Erkrankung; unter den um- (LRRK2)

weltbedingten Faktoren werden Pestizide besonders intensiv dis- PARK9 606693 Rezessiv 1p36 ATP13A2
kutiert. Allerdings hat die Genetik inzwischen mehrere Gene
PARK11 607688 Dominant 2q37 GIGYF2
identifiziert, deren Mutationen für den Ausbruch der Erkran-
kung verantwortlich sind. Die Charakterisierung verschiedener PARK12 300557 Modifizierend Xq21 ?
Gene und Kandidatenregionen erklärt auch in gewisser Weise
PARK13 610297 Dominant 2p12 HTRA2
die klinische Heterogenität der Erkrankung, insbesondere in Be-
zug auf den Zeitpunkt des Beginns der Erkrankung als auch in PARK14 612953 Rezessiv 18q11 PLA2G6
Bezug auf die Geschwindigkeit ihres Fortschreitens. Eine Über-
PARK15 260300 Rezessiv 22q12 FBOX7
sicht über die genetische Heterogenität der Parkinson’schen Er-
krankung vermittelt . Tab. 14.8. PARK16 613164 ? 1q32 ?
Die erste genetische Kopplung der Parkinson’schen Erkran-
PARK17 614203 Dominant 16q11 VPS35
kung wurde von Polymeropoulos und Mitarbeitern 1996 für das
Chromosom 4q berichtet und zunächst als PARK1 bezeichnet, PARK18 614251 Dominant 3q27 EIF4G1
eine dominante Form der Parkinson’schen Erkrankung. Diese
14 Region enthält das oben schon erwähnte Gen SNCA, das für
PARK19 615528 Rezessiv 1p31 DNAJC6

α-Synuklein codiert. In den beiden Folgejahren wurden dann die PARK20 615530 Rezessiv 21q22 SYNJ1
ersten beiden Mutationen als Punktmutationen im SNCA-Gen
Nach OMIM 168600 (Mai 2015); PARK10 wurde gestrichen, da die
molekular charakterisiert (A53T und A30P). Es gibt außerdem Kopplung mit Chromosom 1p32 nicht bestätigt werden konnte.
Hinweise, dass Mutationen im Promotor des SNCA-Gens, die
eine Erhöhung seiner Genexpression bewirken, ebenfalls für die
Parkinson’sche Erkrankung verantwortlich sind.
In diesem Zusammenhang soll ein transgenes Mausmodell
vorgestellt werden, das die humane A53T-α-Synuklein-Mutation Promotor enthält funktionelle Varianten (ähnlich dem des
trägt. Wenn in Neuronen des Zentralnervensystems nur die mu- SNCA-Gens): Diejenigen Menschen, deren PARKIN-Promotor
tierte Form exprimiert wird, entwickeln die Mäuse schwere und zu einer verminderten Transkriptionsaktivität führt, tragen ein
komplexe motorische Störungen, die zu Paralyse und Tod füh- erhöhtes Risiko, an Parkinsonismus zu erkranken. PARKIN
ren. Altersabhängig und parallel mit dem Einsetzen der Erkran- selbst ist ein großes Gen (> 1 Mb) und enthält 12 Exons, die in
kung entwickeln diese Mäuse außerdem Einschlusskörperchen ein 52-kDa-Protein (Parkin) translatiert werden. In Patienten
von α-Synuklein im Cytoplasma von Neuronen, die Fibrillen mit rezessivem, juvenilem Parkinsonismus wurden große Dele-
bilden, wie wir sie von der Situation bei Patienten kennen. Diese tionen gefunden; viele Patienten sind entweder hemizygot oder
Mausmutanten zeigen, dass die A53T-Mutation im SCNA-Gen repräsentieren Null-Mutationen und damit klassische Funk-
zur Bildung »toxischer« Filamente führt, die eine neuronale De- tionsverlust-Mutationen. Andererseits gibt es auch eine Reihe
generation verursacht. von Punktmutationen, die zu Aminosäureaustauschen und do-
PARK2, der zweite Genort, der für die Parkinson’sche Erkran- minanten Krankheitsbildern führen – sie werden als »dominant
kung verantwortlich ist, befindet sich auf dem Chromosom 6q. negative« Formen angesehen. Wir haben es hier also mit einer
Dieser Genort enthält das PARKIN-Gen, dessen Mutationen zu Allelserie zu tun, die zu unterschiedlichen Schweregraden der
juvenilen, rezessiven Formen des Parkinsonismus führen. Die Erkrankung führen kann (Ähnliches haben wir ja auch bereits
Beziehung zwischen den Mutationen im PARKIN-Gen und Par- bei anderen Krankheitsbildern gesehen, z. B. der Hämophilie;
kinsonismus sind allerdings etwas komplexer: Der PARKIN- 7 Abschn. 13.3.3).
14.5 · Neurodegenerative Erkrankungen
727 14

Dardarin
Dardar
Dar darin
darin (LR
((LRRK2)
RK2))
RK2

Kinase-Aktivität + ?

selten häufig, viele Mutationen

Tau α-Synuklein
α-Synu
α-Sy klei
ynu lein
lein
I2020T
und andere A30P, E46K, A53T Multiplikationen
fibrilläre Knäuel
viele Funktionsverlust-Mutationen

DJ-1
Proteinaggregation
„antioxidativ” ?
?

Lewy-
PINK1 Kinase-Aktivität Zellverlust Körper +
Neuriten

E3-Ligase-Funktion

Parkin
Substantia nigra Cortex
= Parkinsonismus = Demenz

. Abb. 14.55 Zusammenhang zwischen verschiedenen Proteinen, deren Gene im Falle einer Mutation zu einer Parkinson’schen Erkrankung führen, für die
es fünf genetische Ursachen gibt. Das Diagramm ist farbcodiert mit dominanten Genen (bzw. deren Proteine) in Rot, rezessiven in Grün und Proteinfunk-
tionen in Blau; die pathologischen Ergebnisse des Zellverlustes und der Bildung von Lewy-Körpern ist schwarz. Mutationen in LRRK2 (Dardarin) bewirken
einen Verlust von Neuronen; es erscheint wahrscheinlich, dass dafür die Kinase-Aktivität (und eine mögliche weitere Aktivität des Proteins) verantwortlich
ist. In vielen Fällen findet man Einschlusskörper mit α-Synuklein. Mutationen in dem α-Synuklein-codierenden Gen führen ebenfalls zum Zellverlust und
sind mit Proteinablagerungen in Lewy-Körpern verbunden. Zellverlust und Bildung von Lewy-Körpern kann in verschiedenen Regionen des Gehirns vor-
kommen: In der Substantia nigra führt er in erster Linie zur Parkinson’schen Erkrankung und im Cortex zu Demenz. Auf der linken Seite sind drei Proteine
dargestellt, von denen bekannt ist, dass rezessive Mutationen in ihren Genen an der Entstehung der Parkinson’schen Erkrankung beteiligt sind. Die Bezie-
hung der entsprechenden Proteine untereinander ist noch nicht vollständig verstanden; es sind einige Möglichkeiten angedeutet. (Nach Hardy et al. 2006,
mit freundlicher Genehmigung von Wiley)

Die biochemische Charakterisierung des PARKIN-Genpro- 4 PARKIN-Mutationen vermindern die Fähigkeit der Neu-
duktes als eine Ubiquitin-Ligase verbindet PARK2 funktionell ronen der Substantia nigra, zellulärem Stress zu widerste-
mit PARK5, die mit einer Mutation im Gen der carboxytermi- hen, vermutlich bedingt durch den Verlust der Parkin-
nalen Ubiquitin-Hydrolase L1 (Gensymbol: UCHL1; Chromo- Funktion als Protein-Ubiquitin-Ligase. Damit ist die Bil-
som 4p14) assoziiert ist. Offensichtlich ist also eine Störung der dung der fibrillären α-Synuklein-Einschlüsse nicht das
Proteasom-Funktion für die Akkumulation toxischer Proteine in hauptsächliche pathogene Ereignis, obwohl die Bildung die-
bestimmten Gehirnregionen (hier die Substantia nigra) von ent- ser Lewy-Körperchen im Verlauf der Krankheit erfolgt.
scheidender Bedeutung. Eine weitere rezessive, früh einsetzende
Form des Parkinsonismus (PARK7) ist auf dem Chromosom Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die post-mortem-Beobachtung
1p36 lokalisiert und mit Mutationen im Gen DJ1 verbunden, das von Veränderungen in der Substantia nigra, die als Anzeichen
ursprünglich als Onkogen charakterisiert wurde. eines oxidativen Stresses gedeutet werden können, wie die Er-
Die genetischen Defekte, die mit den familiären Formen der höhung der Konzentrationen von Eisen, Ferritin und Stickoxid
Parkinson’schen Erkrankung verbunden sind, erlauben uns, ei- (NO) sowie Markern allgemeiner oxidativer Schäden an Pro-
nige Aspekte der biochemischen Zusammenhänge zu verstehen, teinen, Lipiden und DNA (so liegt z. B. das α-Synuklein in den
die zum Absterben der Neurone führen. Eine detaillierte Über- Lewy-Körperchen in nitrierter Form vor). Umgekehrt sind die
sicht bietet . Abb. 14.55; die beiden wichtigsten Aspekte sind hier Konzentrationen der Marker eines Oxidationsschutzes vermin-
zusammengefasst: dert (z. B. reduziertes Glutathion, der mitochondriale Komplex I,
4 SNCA-Mutationen führen zu einer Anhäufung toxischer Calbindin oder Transferrin). Offensichtlich wird so der Apop-
Proteine mit pleiotropen Effekten, die auch die Hemmung tose-Weg initiiert.
der Proteasom-Funktion und die Permeabilisierung von Im Gegensatz zur Alzheimer’schen Erkrankung gibt es spon-
Vesikeln einschließen. Dabei sind offensichtlich zwei Me- tane Mausmutanten, die Symptome aufweisen, die mit Parkin-
chanismen betroffen: einmal die Entleerung der ATP-Vor- sonismus vergleichbar sind. Das ist einmal die weaver-Maus,
räte, die die Fehlfunktion der Proteasomen verstärken, und deren Mutation ein Gen betrifft, das für einen Kaliumkanal
zum anderen die Freisetzung von Dopamin in das Cytosol, codiert (Gensymbol: Kcnj6). Weaver-Mäuse zeigen in der Sub-
womit weitere Oligomerisierungen gefördert werden. stantia nigra einen deutlichen Verlust von Dopamin-D2-Rezep-
728 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

toren, weniger Dendriten und Synapsen sowie degenerative Ver- dass Mutationen in mehreren Genen die Krankheit verur-
änderungen. Dadurch wird die funktionelle Wirksamkeit der sachen, z. B. im SNCA-, PARKIN-, UCHL1-, PINK1-, LRRK2-
Basalganglien beeinflusst, und später treten Parkinson-ähnliche und DJ1-Gen. Eine Beteiligung von Umweltfaktoren (z. B.
Symptome in diesen Mutanten auf (Xu et al. 1999). Die zweite Pestizide) wird diskutiert. Im Anfangsstadium der Erkran-
Mutante wird als gad-Maus bezeichnet (engl. gracile axonal kung bewirkt eine Therapie mit Dopamin-Agonisten eine
dystrophy) und zeigt in frühen Stadien eine sensorische Ataxie, Verbesserung für die Patienten.
der in späteren Stadien eine motorische Ataxie folgt. Patholo-
gische Charakteristika sind axonale Degenerationen und sphä-
rische Körperchen an den Nervenendigungen. Biochemische
*Eine besondere Form der Parkinson’schen Erkrankung ist
auf dem Chromosom 17 lokalisiert, nämlich die erbliche
Untersuchungen zeigten eine retrograd-progressive Anhäufung frontotemporale Demenz mit Parkinsonismus (FTDP-17).
ubiquitinierter Proteinkonjugate und von β-Amyloid-Proteinen Es handelt sich hierbei um eine sehr variable Erkrankung,
entlang den sensorischen und motorischen Nervenbahnen. Ur- wobei der Schwerpunkt einmal eher auf der Demenz oder
sache dafür ist eine Deletion im Gen, das für die carboxyterminale eher auf der Parkinson’schen Form liegen kann. Als gene-
Ubiquitin-Hydrolase L1 codiert (Gensymbol: Uchl1) – wir haben tische Ursache wurden Mutationen im MAPT-Gen identifi-
oben gesehen, dass Mutationen im homologen Gen des Men- ziert, das für das Tau-Protein codiert (engl. microtubule-
schen für Parkinsonismus verantwortlich sind. Eine dritte spon- associated protein tau; Chromosom 17q21; OMIM 157140).
tane Mausmutante ist die aphakia-Maus, die zwei Deletionen im In Abhängigkeit von der Lokalisation der Mutation im Gen
Pitx3-Promotor aufweist, sodass dieser Transkriptionsfaktor werden die entsprechenden Ablagerungen in Nervenzel-
nicht exprimiert wird. Die Mutante wurde zunächst wegen ihrer len und/oder Gliazellen gefunden, da die sechs verschie-
massiven Entwicklungsstörung am Auge identifiziert (aphak: denen Spleißformen gewebespezifisch gebildet werden.
ohne Linse); weitere Untersuchungen zeigten, dass sie auch keine Die verschiedenen Isoformen der Tau-Proteine unterschei-
dopaminergen Neuronen im Striatum bildet, weil Pitx3 auch die den sich im Wesentlichen in der Zahl der Wiederholungs-
Tyrosin-Hydroxylase-Expression reguliert; heute ist die aphakia- einheiten, die für die Bindung an die Mikrotubuli verant-
Maus ein etabliertes Parkinson-Modell. Viele weitere Maus- wortlich sind (drei oder vier); das richtige Verhältnis dieser
modelle beruhen auf dem gezielten Ausschalten der Gene, die beiden Grundformen ist notwendig, um Neurodegenera-
für die Parkinson-Erkrankung im Menschen diskutiert werden tion und Demenz zu vermeiden. Die Mutationen in den bei-
(. Tab. 14.8). Eine detaillierte Übersicht würde den Rahmen die- den Introns um Exon 10 sowie die meisten Mutationen im
ses Buches sprengen, sodass hier nur auf entsprechende Review- Exon 10 selbst verändern jedoch das Spleißen und damit
Artikel (und die dort zitierte Literatur) verwiesen werden kann auch das relative Verhältnis der Proteine mit drei und vier
(z. B. Trinh und Farrer 2013). Wiederholungseinheiten und führen deshalb zur verstärk-
ten Bildung von filamentösen Tau-Ablagerungen. Die sechs
> Die Parkinson’sche Erkrankung ist eine progressive, verschiedenen Spleißvarianten von MAPT sowie eine Über-
14 neurodegenerative Erkrankung mit unterschiedlichen Ver- sicht über einige wichtige Mutationen sind in . Abb. 14.56
laufsformen. Aus genetischen Untersuchungen ist bekannt, dargestellt.

a b . Abb. 14.56 MAPT-Mutationen bei frontotemporaler


Demenz mit Parkinsonismus. a Es sind sechs Isoformen
von Tau dargestellt (Aminosäuren 352–441), die im adul-
ten menschlichen Gehirn vorkommen. Mutationen im co-
dierenden Bereich sind angegeben, wobei sich die Num-
merierung auf die 441-Aminosäure-Form bezieht. Es sind
20 Mutationen mit Aminosäureaustauschen gezeigt so-
wie zwei Deletionen und drei stille Mutationen. Die sechs
Tau-Isoformen entstehen durch alternatives Spleißen
eines einzigen Gens. Sie unterscheiden sich in der An-
oder Abwesenheit von drei Einschüben (rot: Exon 2; grün:
Exon 3; gelb: Exon 10). b Die Schlaufenstruktur der Vorläu-
fer-mRNA am Übergang zwischen Exon 10 und Intron 10
ist dargestellt. Neun Mutationen sind gezeigt, davon sind
zwei (S305N und S305S) im Exon 10 lokalisiert. Die Se-
quenzen des Exons befinden sich in Großbuchstaben in-
nerhalb des Kästchens; die Basen des Introns sind in klei-
ΔN296, N296N, N296H
P301L,P301S
S305N,S305S
L315R
S320F
Q336R
V337M
E342V
S352L
K369I
G389R
R406W
R5H,R5L

K257T
I260V
L266V
G272V
N279K
ΔK280
L284L

nen Buchstaben angegeben. (Nach Goedert und Jakes


2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
14.5 · Neurodegenerative Erkrankungen
729 14
Kernaussagen
5 Verhaltensweisen sind komplex und damit experimentell chungen an Mausmodellen deuten darauf hin, dass Mutatio-
schwieriger zu analysieren als monogene Phänotypen. nen in den Genen für DISC1, Neuregulin-1 und die Catechol-O-
Sie gehorchen aber prinzipiell den gleichen Gesetzen wie Methyltransferase ein erhöhtes Risiko darstellen, an Schizo-
andere komplexe Phänotypen. phrenie zu erkranken; Umweltfaktoren haben einen modulie-
5 Mikroevolutive Prozesse können zu schnellen Verhaltens- renden Einfluss.
änderungen ganzer Populationen führen. 5 Das Rett-Syndrom ist eine X-gekoppelte, dominante, schwere
5 Bei der Kreuzung der Sehbahn sind für die ipsilateralen Axone neurodegenerative Erkrankung. Ursache sind überwiegend
der Transkriptionsfaktor ZIC2 und der Ephrin-Rezeptor B1 spontane Mutationen im MeCP2-Gen, das für ein Methyl-CpG-
wichtig; für die kontralateralen Axone spielen der Transkrip- bindendes Protein codiert. Das entsprechende Protein findet
tionsfaktor Islet2 und das Zelladhäsionsmolekül NrCam eine sich im Zellkern und hat vermutlich wichtige Funktionen in der
wichtige Rolle. Hemmung der Transkription sowie beim Spleißen.
5 Das Zugverhalten von Vögeln hat eine ausgeprägte 5 Epilepsie ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen
genetische Komponente; ein wesentlicher Bestandteil ist der und durch spontan auftretende Krampfanfälle gekennzeich-
Magnetsinn. net. Mutationen im SCN1A-Gen sind die häufigste bisher be-
5 Zirkadiane Rhythmen werden bei Drosophila, der Maus kannte genetische Ursache von Epilepsien. Mutationen im
und dem Menschen durch autoregulatorische Rückkopplung- SCN1A-Gen sind auch verantwortlich für Migräne. Weitere
schleifen gesteuert. Daran sind Transkriptionsfaktoren, Epilepsie-relevante Gene codieren für Ionenkanäle und sind
Proteinkinasen und Repressoren von Transkriptionsfaktoren teilweise zugleich Rezeptoren für Neurotransmitter.
essenziell beteiligt. 5 Autismus ist eine häufige Entwicklungsstörung des Nerven-
5 Gedächtnisleistungen lassen sich auf cAMP-abhängige Sig- systems, die sich im veränderten sozialen Umgang mit Mit-
naltransduktionskaskaden zurückführen, die über Transkrip- menschen und in sich stets wiederholenden Handlungen
tionsfaktoren spezifische, an den Speichervorgängen beteilig- äußert. Autismus betrifft mehr Jungen als Mädchen (3:1).
te Gene aktivieren. Monogene Formen des Autismus sind durch Mutationen in
5 Angststörungen und Depressionen ist gemeinsam, dass sie Genen verursacht, die für synaptische Adhäsionsmoleküle
sich mit Medikamenten behandeln lassen, die mit der Funk- codieren.
tion des Neurotransmitters Serotonin zusammenhängen. Ursa- 5 Die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung wird durch eine Konforma-
chen sind unter anderem Mutationen in Genen, die für Rezep- tionsänderung des Prion-Proteins ausgelöst. Es gibt neben
toren bzw. Transporter des Serotonins und des Corticotropin- erblichen Fällen auch einen Polymorphismus (M129V), der mit
freisetzenden Hormons codieren. der Erhöhung des Erkrankungsrisikos assoziiert ist.
5 Alkoholismus ist eine komplexe Erkrankung mit hoher Präva- 5 Die Alzheimer’sche Erkrankung ist eine progressive Neuro-
lenz. Genetische Untersuchungen an Modellorganismen und degeneration, die sich neuropathologisch durch amyloide
dem Menschen zeigen, dass Alkoholbevorzugung im Wesentli- Ablagerungen und neurofibrilläre Knäuel im Gehirn auszeich-
chen auf Mutationen zurückzuführen ist, die die cAMP-Signal- net. Ursachen sind entweder Mutationen im APP-Gen oder in
kette beeinflussen, während die Alkoholabhängigkeit mit ge- den Presenilin-codierenden Genen PS1 bzw. PS2, die bei Droso-
netischen Veränderungen der dopaminergen und GABAergen phila am Notch-Signalweg beteiligt sind.
Signaltransduktion assoziiert ist. 5 Die Parkinson’sche Erkrankung ist eine progressive, neurode-
5 Schizophrenie ist eine psychische Erkrankung, die durch Hallu- generative Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen.
zinationen, Wahnvorstellungen, Störungen in der sozialen In- Aus genetischen Untersuchungen ist bekannt, dass Mutatio-
teraktion und durch kognitive Störungen gekennzeichnet ist. nen in mehreren Genen die Krankheit verursachen. Eine Betei-
Kopplungsanalysen bei Familien von Patienten sowie Untersu- ligung von Umweltfaktoren wird diskutiert.

Übungsfragen
1. Beschreiben Sie, wie man in der Maus ge- 3. Warum erkranken beim Rett-Syndrom nur gräne verantwortlich sind, und beschrei-
netische Modelle für Schlafstörungen im Mädchen? ben Sie kurz ihre wichtigsten Funktionen.
Menschen etablieren kann, und welches 4. Beschreiben Sie zwei charakteristische Welches dieser drei Gene spielt auch bei
Gen tatsächlich gefunden wurde. Merkmale von Migräne und geben Sie die Epilepsie eine Rolle?
2. Wozu können bei Modellorganismen (z. B. Häufigkeiten von Migräne für Frauen und 5. Welche Gene führen zu einem dominanten
Drosophila, Maus) Zuchten auf extreme Männer an. Nennen Sie drei Gene, deren Erbgang bei der Alzheimer’schen Erkran-
Phänotypen verwendet werden? Mutationen für monogene Formen der Mi- kung? Erläutern Sie kurz den Mechanismus.
730 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

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732 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

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Technikbox
733 14

Technikbox 34

In-vivo-Reportergen: das grün-fluoreszierende Protein (GFP)


Anwendung: Das grün-fluoreszierende Protein In letzter Zeit wurden Varianten von anderen transformierten Zellen zeigt die Funk-
(GFP) wird als Markermolekül verwendet. Das Organismen isoliert, und das ursprüngliche tion der Regulationselemente an, da
Protein ist von Cofaktoren zur Induktion von GFP wurde gentechnologisch umgeformt, so- diese nunmehr – statt der ursprüng-
Fluoreszenz unabhängig, da es autokatalytisch dass alternative Emissionswellenlängen bzw. lichen Gene – das GFP-Gen regulieren.
ein Chromatophor bildet, das in beliebigen erhöhte Fluoreszenz erzielt werden können 5 Viele Proteine bleiben funktionsfähig,
Zellen als fluoreszierender Marker dienen (z. B. rote oder gelbe Fluoreszenz). Für die Ent- wenn man den GFP-ORF an das C-termi-
kann. Daher wird es als Marker (Reportergen) deckung des GFP und die Etablierung seiner nale Ende eines Proteins anfügt. Auf die-
für Genexpression nach Transformationsexpe- Anwendungsmöglichkeiten bekam Roger se Weise lässt sich die intrazelluläre Lo-
rimenten, als Marker in Zelldifferenzierungs- Tsien im Jahr 2008 den Nobelpreis für Chemie. kalisation eines Proteins ermitteln, da
prozessen oder als Marker für die Lokalisation Methode: GFP kann in unterschiedlicher Weise sie nun durch das angehängte GFP
von Proteinen in der Zelle verwendet. Ein Bei- verwendet werden: sichtbar wird. Durch Kontrollen muss
spiel zeigt die Abbildung. 5 Es kann als Reportergen dienen, um sichergestellt werden, dass das GFP die
Voraussetzungen . Materialien: Durch post- Promotorregionen von Genen auf ihre Lokalisation eines anderen Proteins
translationale Modifikation, Zyklisierung und Funktion und Gewebespezifität zu tes- nicht beeinflusst.
Oxidation eines Tripeptids aus Ser-Tyr-Gly wird ten. So lässt sich z. B. ermitteln, zu wel- 5 Das GFP kann auch als reines Markergen
das Chromatophor im Inneren des Proteins au- chem Zeitpunkt in der Entwicklung ein für Transformationen dienen, wenn es
tokatalytisch gebildet. Diese Reaktion ist tem- Gen angeschaltet wird. In gleicher Weise z. B. anstelle des white-Gens in einen
peraturabhängig, und das Protein ist in seiner können Enhancer und andere Regula- P-Element-Transformationsvektor
gefalteten Form sehr stabil. Es hat Anregungs- tionselemente untersucht werden, in- (7 Technikbox 23) eingefügt wird. Man
wellenlängen von 395 und 475 nm und emit- dem man das GFP-Gen mit den zu unter- selektiert dann Fliegen unter dem Fluo-
tiert grünes Licht bei 509 nm (Name!). Das Pro- suchenden DNA-Sequenzen kombiniert reszenz-Stereomikroskop auf grüne
tein stammt von der Qualle Aequorea victoria. und transformiert. Fluoreszenz der Fluoreszenz.

GFP-Expression in der anterioren (obere Reihe) oder posterioren (untere Reihe) Hemisphäre der Linse einer Maus 2 bis 24 Wochen nach Aktivierung
des GFP-Reportergens. (Nach Shi und Bassnett 2007, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
734 Kapitel 14 · Verhaltens- und Neurogenetik

Technikbox 35

Mikroarrays und DNA-Chips


Anwendung: Mutationsanalyse (SNP-Analyse); Die Hybridisierungsproben werden meist mit lassen sich daher auch längere DNA-Sequen-
Untersuchung der Genexpression. fluoreszierenden Farbstoffen (z. B. CY5-dUTP zen testen (. Abb. a der SNP-Analyse). – In der
Voraussetzungen: Auftrag von sehr vielen oder CY3-dUTP) markiert. Die Auswertung er- routinemäßigen Diagnostik von Erbkrank-
DNA-Proben (Oligonukleotide oder cDNA) auf folgt photometrisch und gestattet die Quanti- heiten ist es dagegen wichtig, bestimmte (be-
Trägermaterial (Glas, Nylon); Bildanalyse. fizierung der Signale. reits bekannte) Mutationen festzustellen; die
Methoden: Auf Trägermaterialien wie Glas Als Beispiel sind zwei Einsatzbereiche darge- jeweiligen Allele sind durch entsprechende
oder Nylon wird DNA (10–150 pmol) punktför- stellt: Oligonukleotide auf dem Chip repräsentiert.
mig (Radius: 50–250 μm) aufgetragen (engl. to 5 Mutationsanalyse (Analyse einzelner . Abb. b zeigt ein Beispiel für eine hetero-
spot; Laborslang: »gespottet«; verwendeter Basenpaaraustausche; engl. single nuc- zygote DNA-Sequenz.
Laborroboter: Spotter). Durch diese kleine Auf- leotide polymorphism, SNP); Zur Untersuchung quantitativer Unterschiede
tragsfläche ist es möglich, auf einem Objekt- 5 Genexpressionsstudien. in der Genexpression verwendet man DNA-
träger (Chip) 5000 bis zu mehr als 1 Mio. Pro- Chips, auf denen sich Proben vieler oder aller
ben unterzubringen. Diese DNA kann für Hy- Die SNP-Analyse (siehe . Abb.) beruht darauf, Gene eines Genoms befinden (siehe . Abb.
bridisierungsexperimente verwendet werden. dass Hybridisierungseigenschaften von Oligo- DNA-Chips). Hybridisiert man diese Chips mit
Chips mit Oligonukleotiden können auch durch nukleotiden anders sind als diejenigen länge- fluoreszenzmarkierter RNA, so lässt sich ermit-
direkte Synthese der benötigten Sequenzen auf rer Nukleinsäuremoleküle. Unter geeigneten teln, welche Gene aktiv sind. Bei Verwendung
der Glasmatrix hergestellt werden. Die Synthese stringenten Hybridisierungsbedingungen unterschiedlich markierter RNA (z. B. grün und
erfolgt dabei über ortsspezifische Photoreakti- (Salzkonzentration, Temperatur) kann nur ein rot) aus verschiedenen Geweben (z. B. Leber
vierung des zuletzt eingebauten Nukleotids vollständig komplementäres Molekül hybridi- versus Niere; Krebsgewebe versus gesundes
unter Verwendung von Masken, die festlegen, sieren, wobei insbesondere die Positionen in Gewebe; Mutante versus Wildtyp) lässt sich die
welche Positionen in der Matrix beim nächsten der Mitte des Moleküls hierfür kritisch sind. Expressionsrate von Genen in beiden Zelltypen
Syntheseschritt aktiviert werden. Durch geeignete Serien von Oligonukleotiden direkt vergleichen.

14

SNP-Analyse. a Auf dem Mikroarray befinden sich untereinander angeordnet kurze Oligonukleotide, die sich in jeweils einer Base unterscheiden.
Bei Hybridisierung unter geeigneten Bedingungen mit einem fluoreszenzmarkierten Zielgenom kann dieses aufgrund der besonderen Hybridisie-
rungseigenschaften von kurzen Oligonukleotiden nur an das vollständig komplementäre Oligonukleotid binden, im oberen Beispiel also an das
T-enthaltende Oligonukleotid. Ordnet man nebeneinander verschiedene Oligonukleotidserien an, die jeweils ein anderes Nukleotid einer bekann-
ten Sequenz betreffen (orange), so lässt sich eine gegebene Sequenz verifizieren. b Auf der gleichen experimentellen Grundlage lassen sich
Homozygotien von Heterozygotien unterscheiden
Technikbox
735 14

Expressionsanalyse mit DNA-Chips. a Überblick über die Schritte bei


der Expressionsanalyse durch DNA-Chips. b So sieht ein DNA-Chip
aus: Auf einer Glasplatte (5,5 x 1,8 cm) befinden sich 21.168 DNA-
Proben. Jeder Auftragspunkt hat einen Durchmesser von ca. 100 μm.
Jeweils 21 × 21 Punkte sind in einem Block zusammengefasst; insge-
samt befinden sich auf dem Chip 4 × 12 solcher Blöcke. (a nach Be-
b ckers 2003; b Foto: Johannes Beckers, Neuherberg
737 15

Genetik und Anthropologie

In unserer Ahnengalerie befinden sich (oben, v. l. n. r.) Homo neanderthalensis, Homo habilis, Paranthropus boisei
und Australopithecus afarensis. In der unteren Reihe (v. l. n. r.) sind Homo rudolfensis, Australopithecus anamensis, Homo
erectus und Australopithecus africanus abgebildet. (Nach Schrenk et al. 2002, mit freundlicher Genehmigung
von Wiley)

15.1 Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen . . . . . . . . . . . . . 738


15.1.1 Menschen und Affen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739
15.1.2 Out of Africa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
15.1.3 Neandertaler: ausgerottet oder assimiliert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 752
15.1.4 Die Unterschiedlichkeit moderner Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
15.1.5 Die bunte Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764

15.2 Der Mensch und sein Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768


15.2.1 Evolution des menschlichen Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768
15.2.2 Genetische Aspekte zur Evolution der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773
15.2.3 Genetische Aspekte zu aggressivem Verhalten des Menschen . . . . . . . . . 777
15.2.4 Genetische Aspekte der Geruchswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
15.2.5 Genetische Aspekte des Bewusstseins am Beispiel der Sehbahn . . . . . . . . 783

15.3 Quo vadis, Homo sapiens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 789

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
738 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Überblick

Dieses Kapitel ist ein Versuch, sich der Frage knapp 3 % der unterschiedlichen DNA-Se- Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrach-
nach der conditio humana von der genetischen quenzen erfahren. tung des gesamten Genoms, dass einzelne
Seite zu nähern. Der Blick des Genetikers wird Die Aussage, dass die Wiege der Mensch- Bereiche des Genoms der Neandertaler –
dabei notwendigerweise etwas eingeschränkt heit in Afrika stand, findet sich heute in den unterstützt durch positive Selektion – sich bei
sein, da er sich im Wesentlichen auf das be- meisten Lehrbüchern. Allerdings häufig ver- modernen Menschen wiederfinden.
schränkt, was seine Thematik ist: die Beobach- knüpft mit der Hypothese, dass nur eine relativ Des Weiteren wollen wir uns mit der spezi-
tung der Veränderung des Erbmaterials in der kleine Population, die vor ungefähr 100.000 fischeren Frage nach der Evolution unseres
Zeit, aber auch in verschiedenen geographi- Jahren von dort ausgewandert ist, die Grund- Gehirns und mit der Evolution der Sprache
schen Bereichen und in verschiedenen Spezies. lage der modernen Menschen sei und diese (und dabei mit ihren genetischen Grundlagen)
Daraus lassen sich interessante Rückschlüsse alle anderen, vorher in verschiedenen Berei- beschäftigen. Die molekulare Verhaltensge-
ziehen, die anderen Disziplinen so nicht mög- chen der Welt bereits existierenden Menschen- netik, verbunden mit molekular-genetischen
lich sind – und so kann die Genetik viel dazu formen vollständig verdrängt habe. Die Aspekten aus Psychologie und Psychiatrie,
beitragen, Licht in die grauen Vorzeiten der Aussage lässt sich in dieser absoluten Form gibt uns auch einige Hinweise darauf, welche
Menschwerdung zu bringen und dadurch auch sicherlich nicht halten, sondern bedarf der genetischen Bedingungen unserem Verhalten
die Rahmenbedingungen zu zeigen, wie wir Nuancierung, da etliche Genvarianten des zugrunde liegen können. Es ist dann allerdings
geworden sind, was wir heute sind. modernen Menschen nicht in dieses starre nicht mehr die Aufgabe der Genetik, daraus
Die vergleichende Untersuchung des Schema passen. Konsequenzen zu ziehen.
mitochondrialen Genoms, aber auch einzelner Ähnlich aufregend verläuft zurzeit auch Verändert die Genetik damit unser Men-
Bereiche des Genoms der großen Affen mit die Diskussion über das Verhältnis des moder- schenbild? Die Würde des Menschen wird an
denen des Menschen macht klar, dass der nen Menschen zum Neandertaler. Hatten die ihrem Anfang und Ende infrage gestellt, und in
Schimpanse unser nächster Verwandter ist; die Ausgrabungen darauf hingedeutet, dass die zentralen Bereichen scheint die Kombination
Entwicklungslinien haben sich vor etwa 7 bis Neandertaler vor knapp 30.000 Jahren in Euro- der Polymorphismen die Individualität und
5 Mio. Jahren getrennt. Nachdem nun auch pa einfach verschwanden, so schien die Gene- Freiheit eines Menschen zu bestimmen. Ist
das Genom des Schimpansen sequenziert ist, tik auf der Basis der Untersuchungen des Mito- der Mensch mehr als das Ensemble seiner ge-
werden wir sicherlich bald Genaueres über die chondriengenoms diese These zu bestätigen. netischen Bedingungen?

Die vorangegangenen Kapitel dieses Buches haben uns gezeigt, nismen, die den Komplexitätsgrad der Information erhöhen
welche Entwicklung die moderne Genetik als Wissensgebiet in können. Die starken Übereinstimmungen der genomischen
nur etwas mehr als 150 Jahren durchlaufen hat: In der 2. Hälfte DNA-Sequenzen zwischen den Säugetieren im Allgemeinen,
des 19.  Jahrhunderts standen die »Mendel’schen Gesetze« im aber auch zwischen dem Menschen und seinen nächsten Ver-
Mittelpunkt – entdeckt an Erbsen im Klostergarten von Brünn. wandten, den Affen, wirft erneut die alte Frage auf, was denn den
Sie markierten den Beginn der modernen Genetik – und am Menschen zum Menschen macht und ihn von den Affen unter-
Anfang des 21. Jahrhunderts gelang die Entschlüsselung des scheidet (. Abb. 15.1). Die Genetik kann heute einige neue As-
menschlichen Genoms als bisheriger Höhepunkt. Die überra- pekte zur Antwort auf die Frage nach dem »Wesen des Men-
schend niedrige Zahl von »nur« ca. 21.000 Genen bei Menschen schen« beisteuern. In diesem Kapitel soll der Versuch gemacht
15 schärft allerdings den Blick auch für andere genetische Mecha- werden, wichtige Ergebnisse der Genetik zur Anthropologie zu-
sammenzutragen, wobei uns aber immer klar sein muss, dass die
genetische Sicht auf den Menschen nur ein Ausschnitt aus dem
Spektrum verschiedener Ansichten sein kann und die der Psy-
chologie, Soziologie, Philosophie oder der Theologie nicht er-
setzt, aber um interessante Facetten ergänzen kann.

15.1 Genetische Aspekte zur Evolution


des Menschen

Die Geschichte des Lebens zeigt, dass die Evolution von kom-
plexen Organismen wie Tieren und Pflanzen grundlegende Ver-
änderungen in der Morphologie und das Auftreten neuer Er-
scheinungsformen beinhaltet. Dennoch sind die evolutionären
Veränderungen nicht eine direkte Transformation der erwach-
senen Vorgängerformen in die erwachsenen Formen der Nach-
fahren. Häufig macht die Evolution scheinbar »Sprünge« –
erklärbar durch Veränderungen in einem Promotor, in ein oder
zwei Basen eines Gens oder in einer Verdopplung eines Gens.
Wir werden einige solcher kleinen Veränderungen mit großen
. Abb. 15.1 Warum bin ich nicht so wie er? (Foto: Knut Finstermeier, Wirkungen in diesem Kapitel kennenlernen. Wir werden viel-
Max-Planck-Institut für Molekulare Anthropologie, Leipzig) leicht aber auch etwas mehr über unsere nächsten Verwandten
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
739 15
und unsere Vorfahren erfahren – und über ihre Fähigkeiten es sich dabei um Kopf-zu-Kopf-Fusionen der Telomere der
staunen. beiden kurzen Arme handelt. Dabei wurde eines der beiden
Centromere stillgelegt, sodass die Verteilung der Chromosomen
auf die Tochterzellen bei der Zellteilung sichergestellt ist. Durch
15.1.1 Menschen und Affen Sequenzanalysen oder auch durch Fluoreszenz-in-situ-Hybridi-
sierung (7 Technikbox 19 und 7 Technikbox 30) findet man noch
In der zoologischen Ordnung gehört der Mensch zu den Prima- die »alten« Telomersequenzen sowie die Sequenzen der Centro-
ten. Zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen des Men- mer-nahen α-Satelliten.
schen von anderen Primaten gehören die Bipedie, das hoch ent- Die Dynamik der Chromosomenevolution zeigt sich auch
wickelte Gehirn, veränderte Lebenslaufparameter (z. B. lange in der Verschiebung von Centromeren innerhalb eines Chro-
Kindheits- und Jugendphase), der intensivere Gebrauch und die mosoms. Oft wurde dies in der Vergangenheit als perizentri-
Herstellung von Werkzeug, das Vorkommen entwickelter und sta- sche Inversion gedeutet; neuere Daten am Beispiel des Orang-
biler Sozialsysteme sowie die Sprache. Diese Parameter sind aber Utan-Chromosoms 9 machen aber deutlich, dass es sich hierbei
im Wesentlichen morphologischer oder soziobiologischer Natur tatsächlich um ein Verschieben des Centromers handelt
und daher einer genetischen Analyse nicht ohne Weiteres zugäng- (. Abb. 15.3). Obwohl sich die beiden Orang-Utan-Arten auf
lich. Um von der genetischen Seite her einen Zugang zu bekom- Borneo und Sumatra vor ungefähr 1 Mio. Jahren getrennt haben,
men, werden wir uns auf die Parameter konzentrieren, die die ist dieses Verschieben des Centromers innerhalb der beiden
Genetik im Fokus ihrer Untersuchungen hat, und das ist die DNA. Orang-Utan-Arten noch nicht fixiert. Es treten beide Formen
Der Mensch (Homo sapiens) bildet zusammen mit den großen wie ein Polymorphismus nebeneinander auf, wobei die neue
Affen, den Schimpansen (Pan), den Gorillas (Gorilla) und den Form jeweils zu etwa 25 % vorkommt. Erstaunlicherweise befin-
Orang-Utans (Pongo) die Familie der Menschenaffen (Homini- den sich darunter auch heterozygote Formen in nennenswertem
dae; deutsch auch Hominiden) innerhalb der Primaten. Auf der Umfang. Solche evolutionär neuen Centromere werden auch
cytogenetischen Ebene fällt zunächst auf, dass Schimpansen immer wieder bei der cytogenetischen pränatalen Diagnostik
(und alle großen Affen) einen Karyotyp mit 2n = 48 haben, wo- menschlicher Embryonen gefunden. Die meisten davon führen
hingegen der moderne Mensch einen Karyotyp von 2n = 46 hat. zu überzähligen Chromosomen und entsprechenden medizi-
In der Evolution des Menschen sind die ehemaligen akrozentri- nischen Problemen (7 Abschn. 13.2). Es gibt aber einige wenige
schen Chromosomen 2 und 3 der Affen miteinander verschmol- Fälle, die klinisch unauffällig sind und teilweise auch über meh-
zen und bilden jetzt das große metazentrische menschliche Chro- rere Generationen beobachtet werden können. Dabei erscheint
mosom 2. Einen Überblick über die wichtigsten cytogenetischen das »alte« Centromer unverändert, aber die centromerspezifi-
Veränderungen in der Primatenevolution gibt . Abb. 15.2. schen Proteine (vor allem CENP-A; 7 Abschn. 6.1.3) befinden
Die Fusion der beiden akrozentrischen Chromosomen zu sich an der neuen Stelle, sodass das »alte« Centromer funktionell
dem humanen Chromosom 2 wurde in der Vergangenheit inten- inaktiv ist. Solche Veränderungen an den Centromeren können
siv untersucht. Cytogenetische Untersuchungen ergaben, dass durch Sequenzierungen der DNA nicht erkannt werden.

. Abb. 15.2 Charakteristische Chromosomen-


Rearrangements in der Primatenentwicklung an je-
dem Verzweigungspunkt: (1) Nach der Trennung
der Halbaffen und Affen können drei größere Ver-
änderungen beobachtet werden, die alle höheren
Primaten phylogenetisch verbinden. Dazu gehören
eine reziproke Translokation, die die Homologen
der menschlichen Chromosomen 12 und 22 bildet,
eine Fusion, durch die das Homologe des mensch-
lichen Chromosoms 19 entsteht, und eine Spaltung,
die die »Vorläufer« der Chromosomen 7 und 16
bildet. (2) Nach der Trennung der Neuweltaffen und
der höheren Altweltprimaten entwickeln sich die
menschlichen Chromosomen 3 und 21 durch eine
Spaltung und die Chromosomen 7 und 16 durch
eine entsprechende Fusion. (3) Die Trennung der
höheren Altweltaffen von den Hominoiden ist ge-
kennzeichnet durch die Entstehung der Homologen
der Chromosomen 14 und 15. (4) Der einzige cyto-
genetische Unterschied, der Menschen von Affen
unterscheidet, ist die Fusion, die zur Bildung des
menschlichen Chromosoms 2 führt. (Nach Wienberg
2005, mit freundlicher Genehmigung von Karger)
740 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

wortlich ist, sowie viele Gene, die mit der Fertilität des Mannes
verbunden sind (7 Abschn. 6.4.4 und 7 Abschn. 13.3.4). Aufgrund
der fehlenden Rekombinationsmöglichkeiten wurde nun lange
darüber spekuliert, dass sich Mutationen anhäufen und das
Y-Chromosom langfristig degeneriert. Dies müsste natürlich für
alle Säugetiere gelten, aber ein Blick allein in die Gruppe der
Hominiden zeigt eine beträchtliche Heterogenität der Y-Chro-
mosomen (. Abb. 15.4). Zwar führen Mutationen in den einzel-
nen Genen häufig zu Störungen in der Geschlechtsdifferenzie-
rung oder der Fertilität und gehen dadurch evolutionär verloren
– Mutationen in den Bereichen zwischen den Genen oder auch
Amplifikationen von Bereichen, die Gene einschließen, ohne die
Fertilität zu beeinträchtigen, erhöhen aber die genetische Vielfalt
und können deswegen unter bestimmten Umwelteinflüssen von
Vorteil sein. Die in . Abb. 15.4 dargestellte hohe Variation unter
den Hominiden stellt außerdem eine wirksame Barriere gegen
Hybridisierungen dar; wir werden darauf später noch einmal
zurückkommen (. Abb. 15.7).
Da das Y-Chromosom (im Gegensatz zu allen anderen Chro-
mosomen) ausschließlich in der männlichen Linie vom Vater auf
. Abb. 15.3 Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung von Metaphasechromo- den Sohn weitergegeben wird, können hier evolutionär alle
somen eines Orang-Utans. Karyogramm eines Orang-Utans; die α-Satelliten- Veränderungen akkumulieren, die der erhöhten männlichen Fit-
DNA der Centromerregionen ist jeweils rot angefärbt. Das Chromosom 9
ness bei der Fortpflanzung dienen, ohne dass eine Gegenselek-
ist heterozygot für die konventionelle Lage des Centromers (PPY9), das evo-
lutionär neue Centromer trägt den Zusatz »neo« (das Chromosom 9 des tion durch mögliche Nachteile bei der weiblichen Fitness mög-
Orang-Utans entspricht dem Chromosom 12 des Menschen). (Nach Rocchi lich ist. Offensichtlich hat die Amplifikation vieler Bereiche des
et al. 2012, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group) menschlichen Y-Chromosoms einen solchen evolutionären Vor-
teil. Wir kennen heute acht große Palindrome (. Abb. 15.5), die
stabil in der menschlichen Population vorkommen. Viele dieser
In diesem Kontext wollen wir uns noch einem besonderen durch Amplifikation entstandenen Palindrome enthalten Ferti-
Phänomen zuwenden, dem Y-Chromosom. Wir wissen, dass das litätsgene, z.  B. DAZ (engl. deleted in azospermia). Aufgrund
Y-Chromosom nur an den Enden des kurzen bzw. langen Arms vieler routinemäßig durchgeführter cytogenetischer Untersu-
mit dem X-Chromosom rekombinieren kann; diese Bereiche chungen (vor allem in Zentren der Reproduktionsmedizin) wur-
werden deswegen auch als pseudoautosomale Regionen be- den weitere (seltene) Varianten in der Kopienzahl entdeckt; so
zeichnet. Die nicht-rekombinierende Region gilt dagegen als sind für DAZ zwischen zwei und zwölf Kopien auf den Y-Chro-
15 spezifisch männlich: Hier liegen das SRY-Gen, dessen Anwesen- mosomen fertiler Männer beschrieben. Insgesamt zeigen etwa
heit für die Ausprägung des männlichen Phänotyps verant- 5 % der Y-Chromosomen Variationen in ihrer Länge. Im Rah-

Borneo Sumatra
Mensch Y Schimpanse Y Bonobo Y Gorilla Y Orang-Utan Y Orang-Utan Y

11.32 13
12.3
11.31 13.2
12 12
12.2 13.1
11.2 12
11.2 11.2 12.1
11.2 11.2 12
11.1 11.1 11.1 11.1 11.1 11.1
11.1 11.1 11.1 11.1 11.1 11.1
11.21 11.2 11.2 11.2
12
11.221 12.1 11.2 12
11.3
11.222 12.2 11.4
11.223 12.3 12.1 13
11.23 12.1 13
12.2
12.2 14
12.3
14.1
12.3
12 14.2
12.4
14.3
12.5

. Abb. 15.4 Giemsa-Banden-Ideogramme der Y-Chromosomen von Menschen und Menschenaffen. (Nach Schempp 2011, mit freundlicher Genehmigung
von Springer)
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
741 15

DAZ

CDY BPY2
XKRY
RBMY
PRY
HSFY
RBMY DAZ

VCY
CDY

P8 P7 P6 P5 P4 IR4 P3 P2 P1
. Abb. 15.5 Sequenzanalysen des menschlichen Y-Chromosoms haben ergeben, dass ein großer Teil des Chromosoms aus großen Wiederholungseinheiten
(Amplikons) besteht, die nacheinander oder in gegenläufiger Orientierung (Palindrome) angeordnet sind. Im menschlichen Y-Chromosom gibt es acht große
(und mehrere kleine) Palindrome. Die großen Palindrome (P1–P8) sind hier gezeigt, und ein weiteres wird als IR4 bezeichnet (engl. inverted repeat); außer-
dem sind einige Gene angegeben. Die Palindrome ermöglichen vielfältige Rekombinationsmöglichkeiten innerhalb des Chromosoms, was einerseits zu Kor-
rekturen von Mutationen aufgrund von Genkonversion führen kann, andererseits aber auch zu einem hohen Maß evolutionärer Instabilität beiträgt. (Nach
Bachtrog 2013, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

men des Vergleichs mit den nächsten Verwandten des Menschen Gorillas (Scally et al. 2012). Diese Analysen zeigen, dass die afri-
fällt auf, dass nur die Schimpansen eine ähnliche Variabilität des kanischen Affen, besonders die Schimpansen und Bonobos
Y-Chromosoms zeigen, nicht aber die Bonobos, die Gorillas oder (Zwergschimpanse, Pan paniscus), aber auch die Gorillas, mit
die Orang-Utans. dem Menschen näher verwandt sind als die Orang-Utans in

*Wir haben im 7 Abschn. 11.6.1 verschiedene Methoden zur


Bestimmung des letzten gemeinsamen Vorfahren kennen-
Asien (. Abb. 15.6). Obwohl die Schimpansen die nächsten Ver-
wandten des Menschen sind, gibt es chromosomale Regionen,
die eine größere Verwandtschaft zwischen Mensch und Gorilla
gelernt. In Bezug auf die Evolution des Menschen gab es da-
(oder zwischen Gorilla und Schimpansen) zeigen. Vor diesem
bei Unterschiede hinsichtlich Adam und Eva: Aufgrund der
Hintergrund kann man den Menschen als einen afrikanischen
mitochondrialen Sequenzen (die matrilinear vererbt werden)
Affen bezeichnen (Pääbo 2003).
wird eine Zeitspanne zwischen 150.000 und 240.000 Jahren
bis zur letzten Urmutter (Eva) angenommen, wohingegen
die Daten aus den Sequenzen des Y-Chromosoms eine Span-
ne von nur 50.000 bis 115.000 Jahren bis zum letzten ge-
meinsamen Vorfahren (Adam) ergeben haben. Aufgrund
neuerer Sequenzdaten konnten nun auch diese Daten aktua-
lisiert werden und ergaben auch für die männliche Linie
eine Zeitspanne von 120.000 bis 165.000 Jahren bis zum letz-
ten gemeinsamen Vorfahren, sodass man annehmen kann,
dass sich Adam und Eva tatsächlich in der gleichen Zeit am
gleichen Ort getroffen haben können (Poznik et al. 2013).

> Der wichtigste cytogenetische Unterschied zwischen


Affen und Menschen besteht in der Fusion zweier
Chromosomen der Affen zum menschlichen Chromo-
som 2. Das Y-Chromosom des Menschen zeichnet sich
durch viele evolutionär junge Palindrome aus, die eine
intrachromosomale Rekombination ermöglichen.

Die Aufklärung der DNA-Struktur und die Entschlüsselung des


menschlichen Erbguts haben es möglich gemacht, die Evolution
des Menschen genauer nachzeichnen zu können. Wir haben
oben die cytogenetischen Unterschiede besprochen; inzwischen . Abb. 15.6 Gemeinsamer Stammbaum des Menschen und der großen
Affen. Der gemeinsame Stammbaum der Evolution von großen Affen und
sind auch viele Affengenome sequenziert: des Schimpansen
Menschen zeigt auch den ungefähren Zeitrahmen an, ab wann von einer
(Chimpanzee Sequencing and Analysis Consortium 2005), des getrennten Entwicklung der verschiedenen Spezies ausgegangen werden
Makaken (Rhesus Macaque Genome Sequencing and Analysis kann. V. l. n. r.: Orang-Utan, Gorilla, Mensch, Bonobo und Schimpanse. (Nach
Consortium 2007), des Orang-Utans (Locke et al. 2011) und des Pääbo 2003, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
742 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Darüber hinaus gibt es einige Duplikationen, Deletionen,


Insertionen und Inversionen, die natürlich auch in der Nukleo-
tidsequenz sichtbar sind. Diese Unterschiede auf der Nukleotid-
ebene verteilen sich natürlich über die verschiedenen Chromoso-
men, wobei auffällt, dass sich die beiden Geschlechtschromosomen
deutlich von den Autosomen unterscheiden: Das X-Chromosom
zeigt einen geringeren Unterschied zwischen Menschen und
Schimpanse als das Y-Chromosom (siehe auch oben die Betrach-
tungen über das Y-Chromosom). Wenn man aber alle Unter-
schiede zusammen nimmt (und sich nicht auf die Bereiche be-
schränkt, die nur in einer Kopie vorliegen), so addieren sich die
Differenzen auf 2,7 %: Das sind absolut ca. 5 Mio. Insertionen/
Deletionen und andere Chromosomenmutationen sowie
33,6 Mio. Nukleotidpaare.
Auf der Basis dieser Analysen beginnen wir auch zu verste-
hen, was uns – unter genetischen Gesichtspunkten – vom Affen
unterscheidet und welche Gene unterschiedlich sind. Im Durch-
schnitt unterscheiden sich die humanen DNA-Elemente, die in
nur einer Kopie vorliegen, nur zu 1,2 % von denen des Schimpan-
sen (die DNA-Sequenzen der Menschen sind dagegen zu 99,9 %
identisch – d. h. die Individualität hat ihre genetische Ursache in
0,1  % der DNA). Es zeichnet sich ab, dass diese Unterschiede . Abb. 15.7 Vermutliches Szenario zur Trennung der Entwicklungslinien
unter formalgenetischen Gesichtspunkten eher als quantitative von Schimpansen und Menschen. Der anfänglichen Trennung der beiden
Linien folgte eine Periode der Hybridisierung und schließlich die endgültige
oder komplexe Merkmale zu beschreiben sind, denn als Merk- Bildung der unabhängigen Spezies. (Nach Disotell 2006, mit freundlicher
male, die einem einzigen Gen zugeordnet werden können. Wenn Genehmigung des Autors)
man humane Sequenzen betrachtet, sind dies häufig Poly-
morphismen, die auf dem Austausch einzelner Nukleotide (engl.
single nucleotide polymorphisms; SNPs) oder der Insertion bzw. Ein wichtiges molekulares Maß für die Evolutionsge-
Deletion kurzer DNA-Fragmente beruhen (»Indels« – zusam- schwindigkeit ist das Verhältnis nicht-synonymer (KA) zu syno-
mengezogen aus »Insertion« und »Deletion«). Aufgrund dieser nymen Basenaustauschen (KS). Wenn in Protein-codierenden
geringen Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen Genen KA/KS signifikant kleiner als 1 ist, gibt es eine starke ne-
nimmt man an, dass Menschen und Schimpansen in den ersten gative Selektion gegen das fragliche Allel in der menschlichen
ca. 1,2 Mio. Jahren nach der Trennung der Entwicklungslinien Linie (siehe dazu auch frühere allgemeine Betrachtungen im
noch genetisches Material ausgetauscht haben (. Abb. 15.7). 7 Abschn. 11.6.1). Das Konsortium zur Sequenzierung des
15 Eine derartige »unordentliche« Trennung zwischen Schim- Schimpansengenoms hat nun 13.454 orthologe Genpaare von
pansen und Menschen ist nicht so überraschend, da es unter den Mensch und Schimpanse miteinander verglichen (das entspricht
Altweltaffen viele Beispiele für Kreuzungen zwischen verschie- etwa der Hälfte der Gene) und erhält in der gemeinsamen Linie
denen Spezies und daraus folgend entsprechende Hybride gibt. von Schimpansen und Menschen einen Wert von 0,23 – was im
So ist es möglich, dass sich die Art Macaca arctoides durch Hybri- Durchschnitt eine starke negative Selektion gegen Neumuta-
disierung aus den Arten Macaca fascicularis und M. assamensis tionen in codierenden Regionen bedeutet. Anders gesagt: 77 %
gebildet hat. Außerdem hybridisieren in der Wildnis die verschie- der Aminosäuresubstitutionen in menschlichen Peptiden haben
denen Spezies der Paviane, die sich vor ca. 2 Mio. Jahren getrennt negative Auswirkungen. Wenn man nun die menschliche Linie
haben. So sollte es nicht allzu schockierend sein, davon auszu- allein betrachtet, erhält man einen Wert von 0,208 und bei den
gehen, dass auch bei der Trennung der Schimpansen- und Men- Schimpansen 0,194 – was keinen signifikanten Unterschied
schenlinie ein gewisses Zeitfenster anzunehmen ist, innerhalb bedeutet. Dies ist aber deutlich höher als beispielsweise bei der
dessen es noch zu Kreuzungen kommen konnte. Maus, deren Wert mit 0,142 angegeben wird. Das bedeutet, dass
Wenn man verschiedene Datierungstechniken anwendet, die negative Selektion in der Mauslinie noch wesentlich stärker
sollen sich Menschen und Schimpansen frühestens vor etwa ist als bei Schimpansen und Menschen.
6,3 Mio. Jahren getrennt haben; der späteste Zeitpunkt liegt etwa Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist
5,4 Mio. Jahre zurück. Diese immer präzisere Datierung ist be- aber die Frage, welche Gene sich in der Evolution besonders
deutsam, weil nach der bisher am stärksten favorisierten Inter- schnell entwickelt haben, d. h. einer positiven Selektion unterlie-
pretation der fossile Fund des Sahelanthropus tchadensis (datiert gen. Dazu vergleicht man die KA-Werte der codierenden Regio-
in die Zeit von vor 7,4 bis 6,5 Mio. Jahren) als ein Hominide be- nen mit den entsprechenden Werten der nicht-codierenden Re-
trachtet wird; Ähnliches gilt für den Orrorin tugenensis (vor ca. gionen (KI); ein Wert über 1 deutet dabei eine positive Selektion
5,8 Mio. Jahren). Die bisherige Zuordnung basiert im Wesent- an. Unter den untersuchten 13.454 Genen gibt es 585 Gene, die
lichen auf morphologischen Kriterien, wie unterschiedliche eine deutliche positive Selektion zeigen – dies sind die Kandi-
Zahnformen und Bipedie, die für Schimpansen nicht zutreffen. daten, die das Spezifische der jeweiligen Spezies ausmachen
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
743 15
können. Interessante Kandidatengene für spezifische Entwick- davon aus, dass sich in der menschlichen Linie nach der Trennung
lungen im Menschen sind natürlich auch solche Gene, die spezi- von den Schimpansen etwa 60 Gene neu gebildet haben (Wu et al.
fisch beim Menschen dupliziert oder deletiert (bzw. als Pseudo- 2011). Diese »neuen Gene« weisen ihre höchsten Expressionsraten
gene inaktiviert) sind. Neben dem Vergleich codierender Regio- häufig in der Rindenregion des Gehirns und in den Hoden auf;
nen und ihrer adaptiven Veränderungen durch Selektionsme- sie markieren in gewisser Weise die entscheidenden Unterschiede
chanismen ist die Veränderung der Genexpression ein schneller zwischen den heute lebenden modernen Menschen und den
Weg, den die Evolution einschlagen kann, um zu relativ großen großen Affen. Funktionell sind die Gene noch nicht genau charak-
Veränderungen zu kommen (Portin 2007). terisiert; ein Gen (CLLU1) ist jedoch aufgefallen, weil es bei chro-
Gene, die an der Immunabwehr beteiligt sind, können uns nischer Leukämie verstärkt exprimiert wird.
erzählen, wie sich Affen unterschiedlich an Krankheiten adaptiert Es soll an dieser Stelle aber auch ein Beispiel aus dem Bereich
haben. Das Gen Trim5a (engl. tripartite motif-containing protein 5 der Immunabwehr erwähnt werden, von dem man schon länger
variant  Į) hat eine erhöhte nicht-synonyme Austauschrate bei wusste, dass sich darin Menschen und Affen unterscheiden:
den Hominiden; es ist offensichtlich für die Hemmung von Im humanen Gen CMAH (engl. CMP-N-acetylneuraminic acid
Lentiviren (7 Abschn. 9.2.2), inklusive SIV und HIV, und für hydroxylase; OMIM 603209) sind 92 bp deletiert, sodass es in-
die Unterdrückung endogener Retroviren wichtig. Außerdem aktiviert ist (Pseudogen, deswegen lautet das offizielle huma-
sind viele Primaten von Malaria betroffen (7 Abschn. 11.5.3 und ne  Gensymbol CMAHP) und die N-Glykolylneuraminsäure
7 Abschn. 13.3.1), aber nur die Menschen zeigen eine positive (Neu5Gc, eine Sialinsäure) nicht gebildet werden kann. Diese
Evolution im G6PD-Gen (codiert für das Enzym Glucose-6-phos- Deletion entstand vor rund 2  Mio. Jahren durch eine Rekom-
phat-Dehydrogenase), das mit Malaria-Resistenz assoziiert ist. bination zwischen zwei Alu-Elementen (7 Abschn. 9.2.3). In
Interessanterweise ist übrigens auch das α-Globin-Gen des Mäusen, in denen das Cmah-Gen ausgeschaltet wurde und die
Menschen (und wahrscheinlich des Orang-Utans) unter positiver deshalb wie Menschen keine Neu5Gc besitzen, proliferieren
Selektion für Malaria-Resistenz. die T-Zellen schneller als im Wildtyp; sie entwickeln daher eine

*Die vergleichende Genomforschung bietet dafür jetzt erste


Ansatzpunkte. Sequenzvergleiche zeigen Unterschiede bei
stärkere Antwort gegenüber einer viralen Infektion.
Gene können auch durch Duplikationen mit nachfolgenden
Deletionen neue Funktionen gewinnen. Ein Beispiel dafür ist das
den nicht-synonymen Austauschen vor allem bei solchen
Gen SRGAP2 (engl. SLIT-ROBO Rho GTPase activating protein 2;
Genen, die an der Immunabwehr, Reproduktion und sinn-
OMIM 606524). Dieses Gen codiert ein hochkonserviertes Pro-
lichen Wahrnehmung beteiligt sind, wohingegen Gene, die
tein, das bei der Entwicklung der Hirnrinde eine wichtige Rolle
an intrazellulärer Signalweitergabe, Metabolismus, Neuro-
spielt, indem es die neuronale Wanderung und Differenzierung
genese und synaptischer Transmission beteiligt sind, häufig
reguliert. Bei Menschen hat das SRGAP2-Gen drei Paraloge
hochkonserviert sind. Bei den olfaktorischen Genfamilien
(SRGAP2B [OMIM 614703], SRGAP2C [OMIM 614704] und
haben Menschen und Schimpansen einen höheren Anteil an
SRGAP2D [OMIM 614705]), die es in den großen Affen nicht
Pseudogenen (51 % bzw. 41 %) als andere Primaten. Aller-
gibt. Die humanspezifischen Duplikationen (SRGAP2B und
dings ist noch unklar, wie sich der Verlust der olfaktorischen
SRGAP2C) entstanden vor rund 4 Mio. Jahren und codieren für
Gene auswirkt. Im Gegensatz zu vielen anderen ist das Gen,
verkürzte Proteine, die an das ursprüngliche Protein binden
das für die Erkennung des Geschmacks »bitter« verantwort-
können. In neuronalen Vorläuferzellen der entsprechenden
lich ist, in der Evolution der Menschen und Schimpansen
transgenen Mäuse führt diese Bindung zu einer erhöhten Dichte
nicht verloren gegangen. Beide Spezies verfügen über
längerer dendritischer Fortsätze.
»Schmecker« und »Nicht-Schmecker«-Varianten im Gen
TAS2R38 (engl. taste receptor, type 2, member 38), das für die
Sensitivität gegenüber Phenylthiocarbamid verantwortlich
*Bei derartigen Vergleichen zwischen den Sequenzen des
Schimpansen und des Menschen wurden aber nicht nur Pro-
ist. Interessanterweise sind die Varianten bei Schimpansen tein-codierende Gene identifiziert, sondern auch eine neue
und Menschen unabhängig entstanden. miRNA: miR-941. Diese miRNA entstand in der menschlichen
Entwicklungslinie vor etwa 6 bis 1 Mio. Jahren aus einer Wie-
Die neuen Möglichkeiten genomweiter Sequenzvergleiche
derholungssequenz. Das Auftreten von miR-941 ist begleitet
rücken allerdings heute ein weiteres Szenario in den Vorder-
von einem zunehmenden Verlust von miR-941-Bindestellen,
grund, nämlich die Neuentstehung von Genen durch Mutatio-
um so in vielen Fällen der Regulation durch die neue miRNA
nen, die in einer scheinbar leeren Wüste der genomischen DNA
zu entgehen. Dabei ist miR-941 besonders stark in pluripo-
funktionelle Einheiten neu entstehen lassen: Promotoren, Exons
tenten Zellen exprimiert und wird nach deren Differenzie-
und Introns, einschließlich Spleißstellen, Start- und Stoppstellen
rung wieder abgeschaltet. Bindestellen liegen bevorzugt in
für die Transkription und Translation sowie Intron-Enhancer.
Genen des Hedgehog- und Insulin-Signalweges. Außerdem
Evolutionsgenetiker stellen dies bei vielen Organismen fest (eine
wird miR-941 im Gehirn exprimiert und beeinflusst dort
interessante aktuelle Zusammenfassung bieten Tautz und
Gene, die an der Signalübertragung durch Neurotransmitter
Domazet-Lošo 2011). Dies gilt natürlich auch für den Menschen.
beteiligt sind (Hu et al. 2012).
Nachdem ein Vergleich genomischer Sequenzen von Menschen,
Schimpansen, Gorillas, Gibbons und Makaken den zunächst über- Weitere Unterschiede zwischen den großen Menschenaffen und
raschenden Befund ergab, dass es insgesamt etwa 18 neue Gene im den Menschen liegen in ihrem Gruppen- und Sexualverhalten:
gesamten menschlichen Genom gibt, so gehen neuere Arbeiten Menschen leben heute überwiegend monogam; Gorillas leben in
744 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Gruppen mit einem dominierenden männlichen Tier und vielen die sich durch eine erhebliche Formenvielfalt auszeichnen. Sie
weiblichen Tieren; Orang-Utans sind dagegen eher Einzelgänger, lebten vor etwa 4 bis 3 Mio. Jahren und wurden bisher nur in
und Schimpansen leben in Gruppen mit vielen männlichen und Äthiopien, Ost- und Südafrika und im Tschad nachgewiesen
weiblichen Tieren. Daraus entsteht jeweils ein unterschiedlicher (. Abb. 15.8a).
Selektionsdruck in Bezug auf die Keimzellen. Wenn ein emp- Die ersten Angehörigen der Gattung Homo entstanden
fängnisbereites Schimpansen-Weibchen sich mit mehreren wohl vor 2,5 Mio. Jahren in Ostafrika; als Ursprungsart werden
männlichen Tieren paart (anders als weibliche Gorillas und Australopithecus garhi oder africanus angenommen. Eine mög-
Orang-Utans), bedeutet das einen höheren Selektionsdruck für liche Übergangsform, Australopithecus sediba, wurde kürzlich in
die Spermien der Schimpansen als in den anderen Spezies, Südafrika entdeckt; das Alter der beiden Skelettfragmente wurde
einschließlich des Menschen, sodass im Vergleich der entspre- auf etwa 1,78 bis 1,95 Mio. Jahre geschätzt (Berger et al. 2010).
chenden Gensequenzen auch deutliche Unterschiede beobachtet Die ältesten Formen der Gattung Homo sind der Homo
werden können. habilis (vor 2,3 bis 1,6 Mio. Jahren in Ostafrika) und der Homo
Auffallend sind auch die demographischen Unterschiede: ergaster (vor 1,9 bis 1 Mio. Jahren in Ost- und Südafrika). Die
Während die großen Menschenaffen mit abnehmender Popula- ersten Funde, die der Gattung Homo zugerechnet werden und die
tionsgröße nur noch in wenigen Gebieten des tropischen Regen- außerhalb Afrikas gefunden wurden, sind etwa 1,8 Mio. Jahre alt;
waldes überleben, bevölkert der moderne Mensch in großer Zahl nach ihrem Fundort im Kaukasus werden sie als Homo georgicus
die ganze Welt. Vergleicht man jedoch die genetische Variabilität bezeichnet. Auch in Asien (Java, China, Indien, Thailand) wur-
innerhalb der jeweiligen Spezies, stellt man überraschenderweise den Skelette und Skelettreste gefunden, denen ein Alter von etwa
fest, dass die Variabilität unter den Schimpansen größer ist als 85.000 bis 1,8 Mio. Jahren zugeschrieben wird; manche neueren
unter den Menschen. Diese höhere Variabilität fördert – verbun- Funde (Homo floresiensis) werden allerdings in noch jüngere
den mit regionaler Isolation – aber auch die Ausbildung neuer Zeiten datiert (12.000 bis 95.000 Jahre alt). Diese heute als Homo
Untergruppen: So kennen wir bei allen großen Menschenaffen erectus bezeichneten Menschen haben sich wahrscheinlich aus
zwei Arten, beim Menschen nur eine. Eine Ursache dafür liegt dem afrikanischen Homo ergaster entwickelt. Eine grobe Ab-
wahrscheinlich in der Anwesenheit eines dominanten Allels im schätzung ergibt, dass bei einer durchschnittlichen Wanderungs-
PRDM9-Gen (engl. PR-domain containing protein; OMIM geschwindigkeit von 1 km pro Jahr Homo ergaster in 15.000 Jah-
609760) in der menschlichen Evolutionslinie, das an der Regula- ren von Kenia nach Java gelangt sein könnte.
tion der Rekombination an den verschiedenen Schwerpunkten In Europa wurden die ältesten Überreste menschlicher
(engl. hot spots) beteiligt ist. Im Gegensatz dazu verfügen die Skelette bei Burgos in Spanien und bei Rom in Italien entdeckt;
Schimpansen über viele verschiedene PRDM9-Allele, die alle mit sie sind knapp 800.000 Jahre alt und werden als Homo antecessor
geringer Häufigkeit vorkommen. Man interpretiert die geringere bezeichnet. In Nordwestafrika (Tanger, Casablanca, Rabat) gibt
genetische Vielfalt unter den Menschen damit, dass Rekombina- es vergleichbare Funde, die etwa 400.000 Jahre alt sind. In dieses
tionen eben auf diese hot spots beschränkt bleiben, wohingegen Zeitfenster (200.000 bis 600.000 Jahre) fällt aber auch eine Reihe
bei Schimpansen mehr Möglichkeiten der Rekombination er- von Funden aus Europa, die dem Homo heidelbergensis zuge-
halten bleiben. Eine ausführliche Zusammenfassung mit ent- ordnet werden. Diese Art hat ihren Namen nach einem Unter-
15 sprechenden Hinweisen auf die Primärliteratur findet sich in der kieferknochen (. Abb. 15.8b), der 1907 in einem Steinbruch in
Übersicht von Wall (2013) und Pääbo (2014). Mauer bei Heidelberg entdeckt wurde. Morphologisch ähnliche
Funde gibt es auch aus dem Süden Afrikas (Homo rhodesiensis),
> Menschen und die anderen großen Menschenaffen sind
Indien, China und Indonesien. Vor etwa 200.000 bis 30.000 Jah-
durch eine lange gemeinsame Evolution verbunden;
ren lebte in Europa und im Nahen Osten der Neandertaler (Homo
die Schimpansen sind die nächsten Verwandten des Men-
neanderthalensis), benannt nach dem Ort Neanderthal in der
schen. Durch den Vergleich der Genome werden die gene-
Nähe von Düsseldorf, wo 1856 zwei Skelette gefunden wurden
tischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar; erste
(7 Abschn. 15.1.3).
Hinweise für unterschiedliche Entwicklungen gibt es vor
Die ältesten Funde, die dem Homo sapiens zugerechnet wer-
allem für Gene des Immunsystems und der Reproduktion.
den, sind etwa 160.000 Jahre alt und stammen aus Äthiopien. In
ganz Afrika wurden Überreste des Homo sapiens entdeckt, die
nur unwesentlich jünger sind (Alter: 80.000 bis 130.000 Jahre).
15.1.2 Out of Africa Der älteste Homo sapiens außerhalb Afrikas wurde am See Gene-
zareth in Israel gefunden und ist etwa 90.000 bis 100.000 Jahre
Die Entwicklung der Menschen nach der Abspaltung der Schim- alt; in Europa liegt die Fundstätte des ältesten Homo sapiens in
pansenlinie vor 7 bis 5 Mio. Jahren ist in vielen Bereichen noch Südwestfrankreich (Cro-Magnon-Mensch); sein Alter wird auf
unverstanden. Es gibt einige unvollständige fossile Funde, die als ca. 40.000 Jahre geschätzt. Relativ alte Funde (31.000 bis 36.000
die frühesten Vertreter der menschlichen Linie gelten: Dazu Jahre) stammen aber auch aus Rumänien, Kroatien, der Tsche-
gehören der Sahelanthropus tchadensis (Fundort: Tschad, Alter: chischen Republik, Bulgarien, England und Russland. In Asien
6 bis 7 Mio. Jahre), der Ardipithecus ramidus kadabba (Fundort: wurden Überreste des Homo sapiens gefunden, die 35.000 bis
Äthiopien, Alter: 4,4 bis 5,8 Mio. Jahre) und Orrorin tugenensis 50.000 Jahre alt sind.
(Fundort: Kenia, Alter: 6 Mio. Jahre). Auf der nächsten Stufe ste- Eine zusammenfassende Übersicht über die frühe Entwick-
hen dann die Australopithecinen (auch Vormenschen genannt), lung der Menschen zeigt . Abb. 15.9; es soll aber an dieser Stelle
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
745 15
a
b

. Abb. 15.8 Fossile Menschenfunde. a Fundstellen


von frühen Menschen befinden sich in Süd-, Ost-
und Nordwestafrika sowie im Nahen Osten. b Homo
heidelbergensis: Dieser Unterkiefer wurde in Mauer
(in der Nähe von Heidelberg) gefunden und gab
dieser Art ihren Namen. Er ist etwa 500.000 Jahre alt
und damit eines der ältesten menschlichen Fossilien
in Europa. (a nach Storch et al. 2007, mit freundlicher
Genehmigung von Springer; b Foto: K. Schacherl,
Archiv Homo heidelbergensis von Mauer e. V.)

H. neander- H. heidelber-
thalensis gensis Pan

Homo
sapiens
1 H. anteces- P. boisei
H. ergaster P. robustus
sor H. habilis

2 H. erectus Au.
garhi Au. africanus

3 H. rudolfensis Au. bahrel- Paranthropus aethiopicus


ghazali
Kenyan-
thropus
4 platyops Au. afarensis

Australopithecus Ardipithecus ramidus


anamensis
5
Ardipithecus kadabba
6
Orrorin
Sahelanthropus fugenensis
tchadensis
7
vor Mio. Jahren

. Abb. 15.9 Die Entwicklung der frühen Menschen. Die Kästen deuten die Perioden an, in denen die angegebenen Arten wahrscheinlich existierten.
Drei hypothetische Zeitfenster von jeweils ungefähr 1,5 Mio. Jahren, in denen möglicherweise Kreuzungen zwischen homininen Arten stattgefunden haben,
sind grau unterlegt. (Nach Disotell 2006, mit freundlicher Genehmigung des Autors)
746 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

betont werden, dass sowohl die Klassifikation als auch die Zeit- (vor 840.000 bis 420.000 Jahren) und dritte Welle (vor 150.000
angaben in verschiedenen Quellen variieren können – das ist bis 80.000 Jahren) aus Afrika nach Südasien folgte, bevor dann
Ausdruck der Unsicherheiten in der Interpretation der Daten Nordafrika und Südeuropa, später auch Nordasien, der pazifi-
aufgrund der oft fragmentarischen Funde und der schwierigen sche Raum und zuletzt Amerika von Menschen besiedelt wurde.
Altersbestimmung. Für viele Details sei auch auf einschlägige
Fachliteratur verwiesen (z. B. Storch et al. 2007); hervorragende C Von einer interessanten Korrelation zwischen einer Gen-
mutation und morphologischen Veränderungen bei der
Bilder und ausführliche Beschreibungen archäologischer Funde
Auseinanderentwicklung von Affen und Menschen haben
gibt es in Johanson und Edgar (2006).
Stedman und Mitarbeiter (2004) berichtet: Sie analysierten
Eine molekulargenetische Analyse der menschlichen Evolu-
die Sequenz des Gens MYH16, ein Mitglied der Genfamilie,
tion ist naturgemäß von hohem Interesse, aber wegen der großen
die für die schwere Kette des Myosins codiert (engl. myosin
Zeiträume nicht trivial; Antonio Amorim hat dafür 1999 den
heavy chain). Dabei stellten sie fest, dass das Gen beim
eleganten Begriff der Archäogenetik geprägt. Die direkte Unter-
Menschen im Exon 18 eine Deletion von zwei Basen hat, die
suchung von DNA aus Mumien wurde zum ersten Mal 1985 von
zu einer Rasterverschiebung und kurz darauf zu einem vor-
Svante Pääbo berichtet; inzwischen haben es neue technische
zeitigen Stoppcodon führt. Bei allen Affen läuft dagegen der
Methoden jedoch möglich gemacht, DNA aus Zähnen und
Leserahmen durch. Die Mutation ist wahrscheinlich vor
Knochen fossiler Funde so zu isolieren, dass daraus in einigen
ca. 2,4 Mio. Jahren entstanden, als sich die ersten Mitglieder
spezialisierten Laboren kurze DNA-Fragmente mithilfe der PCR
der Gattung Homo entwickelten. Die vorher existierenden
amplifiziert und danach sequenziert werden können.
Arten Australopithecus und Paranthropus zeichnen sich
Für die Untersuchung der früheren Abstammungsverhält-
dagegen alle noch durch einen mächtigen Kaumuskel aus –
nisse wird auch noch auf andere Verfahren zurückgegriffen. Dabei
und das ist genau der Muskel, in dem MYH16 exprimiert
werden die DNA-Sequenzen heute lebender Menschen in den ver-
wird. Im Gegensatz dazu ist dieser Muskel bei den moder-
schiedenen Regionen der Welt untersucht (7 Abschn. 15.1.4), und
nen und fossilen Menschen deutlich kleiner; der Verlust
man versucht zu ermitteln, wann der »letzte gemeinsame Vor-
dieses Muskelproteins ist also mit einer deutlichen Vermin-
fahre« (engl. most recent ancestor) gelebt hat bzw. wann die heute
derung der Größe der individuellen Muskelfasern und des
getrennten Entwicklungslinien in der Vergangenheit zusammen-
ganzen Kaumuskels verbunden.
laufen (engl. coalescence; 7 Abschn. 11.6.1).
Eine der Hauptfragen, die in der Literatur zurzeit diskutiert wer-
C Aufgrund seiner geringen Größe, aber der großen Anzahl den, ist, ob nur die letzte Auswanderungswelle des Homo erectus
von Mitochondrien in den Zellen, war das Mitochondrien-
schließlich zum modernen Menschen führte und alle anderen
genom (7 Abschn. 5.1.4 und 7 Abschn. 13.3.5) natürlich das
Formen sozusagen ersetzte (uniregionale oder replacement-
erste Untersuchungsobjekt. In einer klassischen Arbeit
Hypothese) oder ob es aufgrund der zeitlichen und räumlichen
berichteten Cann und Mitarbeiter 1987 von ihren Unter-
Nähe doch Durchmischungen der Menschen gab, die aus den
suchungen an 147 Personen, die aus fünf geographischen
verschiedenen Migrationswellen hervorgegangen sind (multi-
Populationen stammten. Sie isolierten die mitochondriale
regionale Hypothese). . Abb. 15.10 gibt eine Übersicht über
DNA (mtDNA) und untersuchten sie auf unterschiedliche
15 Restriktionsschnittstellen. Sie konnten zeigen, dass alle Mito-
die verschiedenen Szenarien, wobei . Abb. 15.10a und b die
beiden Hypothesen in ihrer Reinform darstellen. Beide Modelle
chondrien auf eine Frau zurückgehen, die vermutlich vor
sind wahrscheinlich zu stark vereinfacht, da sie verschiedenen
weniger als 200.000 Jahren in Afrika gelebt hat (»afrikani-
Aspekten im Detail nicht Rechnung tragen (z. B. Untergliede-
sche Eva«). Alle untersuchten Populationen – mit Ausnahme
rung innerhalb der Kontinente, mögliche klimatische Einflüsse
der afrikanischen – sind nur etwa 50.000 Jahre alt. Das
auf Wanderungsbewegungen, Populationsgrößen, technische,
bedeutet, dass alle archaischen Populationen in den Mito-
kulturelle und soziale Veränderungen einschließlich des Paa-
chondrien keine Spuren hinterlassen haben – jedenfalls
rungsverhaltens).
soweit man das mit dieser Methode damals nachweisen
In einer ausführlichen statistischen Untersuchung hat Tem-
konnte. Diese Arbeit bildete die Grundlage für die grund-
pleton (2002) gezeigt, dass die Menschwerdung komplex ver-
legende evolutionäre Nomenklatur der mtDNA, wie wir sie
laufen ist und dass ein permanenter, wenn auch nicht immer
auch heute noch kennen (. Abb. 15.21).
gleichmäßiger Genfluss zwischen den verschiedenen Populatio-
Aufgrund der genetischen Analysen ergab sich eine gute Über- nen stattgefunden hat. Dabei gibt es selbstverständlich zeitweise
einstimmung mit der oben grob skizzierten zeitlichen Abfolge isolierte Populationen, aber auch eine rasche Ausdehnung der
der fossilen Funde und ihrer Fundorte. Beide machen es wahr- Siedlungsgebiete. Die Hauptargumente gegen die Ablehnung der
scheinlich, dass der Mensch seinen Ursprung in Afrika hat (Out- reinen replacement-Hypothese und für eine deutlich ältere Ex-
of-Africa-Hypothese). Die genetischen Untersuchungen wurden pansion aus Afrika basiert im Wesentlichen auf drei Genorten,
in der Folgezeit verfeinert: Zunächst umfassten sie das gesamte dem Gen für β-Globin (HBB), MC1R (Melanocortin-Rezeptor 1)
Mitochondriengenom, später nicht-rekombinierende Stellen auf und dem Minisatellitenmarker MS205. Die Methode ist am Bei-
dem Y-Chromosom, variable Bereiche auf dem X-Chromosom spiel des MC1R-Gens erläutert (. Abb. 15.11). Insbesondere der
und einiger Autosomen; einen Überblick gibt . Tab. 15.1. Sie Haplotyp 92 des MC1R-Gens im Verhältnis zum älteren Haplo-
belegen im Kern den Ursprung des Menschen in Afrika und typ 942 zeigt eine Aufspaltung, die etwa 640.000 Jahre zurück-
seine Wanderung nach Asien (vor 1,7 Mio. Jahren). Eine zweite liegt. In ähnlicher Weise zeigen das HBB-Gen und vier weitere
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
747 15

. Tab. 15.1 Wichtige Evolutionsmarker

Ort Gen Länge (kb) da Nb Zeitc Dd


(1000 Jahre)

MtDNA Gesamtes Genom 16,5 – 53 170 −1,22 Af


−2,28 nAf

MtDNA HVRI (nicht-codierend) 0,4 62 2778 – −1,18

MtDNA Codierendes Genom 15,5 5 179 240 –

Yp11.3 ZFY 0,7 15 205 – −0,95

NRY SMCY 40 5 53 41–68 −2,31

NRY DBY 9 5 70 39–100 −2,04

NRY DFFRY 15 5 70 40–65 −1,79

Xp11.4-3 MAO-A (5 Segmente) 18,8 8 56 – 0,33

Xp21.3 GK (Intron 1) 1,9 8 10 410 0,02

Xp21.3 ZFX (Intron) 1,1 15 336 1090 −0,95

Xp22.2-1 PDHA1 (Inrons 9, 10) 1,7 8 10 1050 1,13

Xp22.2-1 PDHA1 (Inrons 7–10) 4,2 8 35 1780 0,78

Xq13.3 Nicht-codierende Region 10 – 69 540 −1,61

Xq21 DMD (Intron 7) 2,3 4 41 210 −1,79

Xq21 DMD (Intron 44) 1,4 8 10 1350 0,06

Xq21 DMD (Intron 44) 3 4 41 1560 −0,16

Xq21-22 PLP (Intron 5) 0,7 8 10 1280 0,12

Xq26.1 HPRT (Introns 2, 8) 2,7 8 10 530 −125

Xq27.2-1 F9 (Intron 4) 3,7 11 36 282 −171

1q24 Meist Introns 10 3 61 1376 −1,22

1q21 ψGBA 5,4 12 100 91–199 −0,76

8p22 LPL 10 3 71 – 0,91

11p15.5 HBB 3 9 326* 800 1,06

14q24 EDN 1,2 4 67 1150 −1,28

14q31 ECP 1,2 4 54 1090 0,04

16q24.3 MC1R 0,95 16 672* 1000 −0,28 Af


−0,07 As
−0,97 Eu

16q24.3 MC1R (Promotor) 6,7 3 54 1520 −1,64

16p13.3 MS205 (5’-Region, Intron) 11,7 5 50 1040 −1,54 Af


−2,18 nAf

17q23 ACE 24 2 11 1113 0,23

19q13.2 APOE 5,5 4 96 311 −0,62

22q11.2 Nicht-codierende Region 9,9 16 64 1288 −1,03

a Zahlder gesammelten Populationen; b Zahl der gesammelten Individuen; c Zeit bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren aller gesammelten Gene;
d TajimasD-Statistik, berechnet auf alle Proben, durchschnittliche D-Statistik für 62 Populationen; * Zahl der sequenzierten Chromosomen. Af: Afri-
kaner; nAf: Nicht-Afrikaner; As: Asiaten; Eu: Eurasier; NRY: nicht-rekombinierende Region auf dem Y-Chromosom
Nach Excoffier (2002)
748 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

AF AS EU NA

942

X 92

CON
X 84
X
X 151

X 67
X
163

a b
. Abb. 15.11 Haplotypbaum und relative Haplotyphäufigkeit des
MC1R-Gens (Melanocortin-1-Rezeptor) in Afrika (AF), Asien (AS), Europa (EU)
und Nordamerika (NA). Es sind sieben Haplotypen dargestellt, die als 942,
92, CON, 84, 151, 67 und 163 bezeichnet werden. Ein »X« im Baum markiert
einen Nukleotidaustausch. Die Ausdehnung außerhalb Afrikas und die
anschließende Ausbreitung von Ost- und Südostasien nach Europa in der
geschachtelten Stammanalyse sind jeweils mit den Haplotypen 92 und
942 bzw. CON und 163 assoziiert. Beachte, dass die Schlussfolgerung eine
Ausbreitung vorhersagt, wenn der ältere Haplotyp in einem Stamm auf
eine einzelne Population beschränkt ist, während der jüngere Haplotyp
geographisch weit verbreitet oder räumlich von dem ursprünglichen
Haplotyp weit entfernt ist. (Nach Satta und Takahata 2002, mit freundlicher
Genehmigung von Wiley)

c d
Es bleibt allerdings die Frage, wie der Effekt einer mehrfachen
Out-of-Africa-Expansion aussähe, wenn er in eine multiregionale
. Abb. 15.10 Verschiedene Modelle der menschlichen Evolution.
a Kürzlicher afrikanischer Ursprung; die grauen Pfeile deuten einen Genfluss
Hypothese eingefügt würde. Wenn einerseits jede Expansion zu
an, der zwischen verschiedenen Homo erectus-Populationen verschiede- einem vollständigen Ersatz der vorher bestehenden Populationen
ner Kontinente stattgefunden haben könnte. Seine Wirkung wurde jedoch führt, dann führen alle nichtafrikanischen Haplotypen letztlich
ausgelöscht durch die Verdrängung der alten europäischen und asiati- doch nach Afrika zurück, und diese Möglichkeit kann von der
schen Bevölkerung durch den modernen Menschen. Die schwarzen Pfeile uniregionalen Hypothese nicht unterschieden werden. Wenn
deuten weiter bestehenden Genfluss zwischen verschiedenen Popula-
tionen an. b Unter dem Modell der multiregionalen Evolution haben sich
aber andererseits der Ersatz unvollständig ist und Kreuzungen
die Populationen in Afrika, Europa und Asien im mittleren Pleistozän möglich sind, könnte eine unterschiedliche Situation entstehen.
15 auseinanderentwickelt; durch konstanten Genfluss haben sie sich jedoch Allerdings würde selbst ein großes Ausmaß von Kreuzungen
weiterhin gemeinsam entwickelt. Dieses Modell widerspricht diametral nicht den hohen Anteil afrikanischer Populationen erklären, der
dem Modell in a. c Schematische Darstellung von mehreren großen Aus- in dem letzten gemeinsamen Vorfahren enthalten ist.
wanderungen aus Afrika mit einem konstanten, aber räumlich und zeitlich
jeweils begrenzten Genfluss (siehe dazu auch . Abb. 15.12 für einige
Details). d Die Hypothese einer erst kürzlichen Auswanderung aus Afrika
(nach einem Flaschenhals) mit anschließend rascher Ausbreitung und
*Daniel Garrigan und Michael Hammer haben 2006 ein Mo-
dell vorgestellt, das zwischen verschiedenen Möglichkeiten
Untergliederung der Populationen in verschiedenen Kontinenten. Die unterscheiden kann (. Abb. 15.13). Dabei zeigt eine Version
Flammen deuten eine besonders dynamische Unterteilung in Subpopula- dieses Rechenmodells, das neben Phasen der Isolation
tionen an. Die Theorie beinhaltet ebenfalls eine vollständige Auslöschung
von Populationen auch Phasen der Vermischung von
des Homo erectus durch den modernen Menschen auf allen drei Kontinen-
ten; sie unterscheidet sich von a durch die Annahme besonders schnellen Populationen enthält (engl. isolation and admixture, IAA),
Wachstums der Bevölkerung. (Nach Excoffier 2002, mit freundlicher Geneh- eine bimodale Verteilung der Zeit, zu der der letzte gemein-
migung von Elsevier) same Vorfahre auftritt. Bei diesem Modell wurden der Ver-
mischungsgrad mit 5 % und eine Trennung der Populatio-
nen vor 2 Mio. Jahren angenommen; eine Veränderung des
Gene einen frühen und immer wiederkehrenden Genfluss. Da- Vermischungsgrades führt auch zu einer Veränderung der
mit hat die Expansion aus Afrika heraus, die durch die Untersu- relativen Verteilungsmaxima. Aufgrund der vorliegenden
chungen der mtDNA und des Y-Chromosoms schon in früheren Daten schließen die Autoren entweder auf einen Flaschen-
Arbeiten angedeutet wurde, die Signale einer früheren Expan- halseffekt oder auf häufiges Aussterben und Wiederbe-
sion und den wiederholten Genfluss zwischen afrikanischen und siedeln von Kleinbezirken, die als Fortpflanzungsgemein-
nichtafrikanischen Bevölkerungen nicht ausgelöscht. Es ist daher schaften wirkten. Die Autoren verweisen darauf, dass eine
vernünftig, anzunehmen, dass auch die jüngste Ausbreitung aus zunehmende Anzahl von Genen gegen ein Modell mit
Afrika mit Kreuzungen verbunden war. Für weitere Details siehe einem einzigen Ursprung spricht; sie schließen aus ihren
. Abb. 15.12. Daten eher, dass die Ablösung des archaischen Menschen
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
749 15
Afrika Südeuropa Nordeuropa Südasien Nordasien Pazifik Amerika

gezeigt durch mtDNA, Y-DNA, X-gekoppelte DNA


Wiederholter Genfluss mit räumlicher Isolierung:

und autosomale DNA

Ausdehnung des Bereichs:


gezeigt durch mtDNA, MX1,
MS205, MC1R, EDN

Expansion aus Asien:


gezeigt durch Y-DNA und HBB

Expansion aus Afrika:


gezeigt durch mt-DNA und Y-DNA
vor 80.000–
150.000
Jahren Wiederholter Genfluss mit räumlicher
Isolierung: gezeigt durch Xq13.3,
HBB, ECP, EDN, PDHA1

Expansion aus Afrika:


gezeigt durch HBB, MS205 und MC1R
vor 420.000–
840.000
Jahren Wiederholter Genfluss mit räumlicher
Isolierung: gezeigt durch Xq13.3,
HBB, ECP, EDN, PDHA1?

Wiederholter Genfluss mit räumlicher


Isolierung: gezeigt durch MX1?

Expansion des Homo erectus aus Afrika:


gezeigt durch fossile Daten

vor 1,7 Mio.


Jahren
Afrika Südeuropa Südasien
. Abb. 15.12 Ein neues Modell der menschlichen Evolution. Alle statistisch signifikanten Interferenzen sind in dieses eine Modell eingebaut. Die größeren
Ausdehnungen der menschlichen Populationen sind durch rote Pfeile gekennzeichnet. Genetische Abstammung ist durch vertikale Linien und Genfluss
durch diagonale Linien angedeutet. (Nach Templeton 2002, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

1000
Zahl der Loci

800
. Abb. 15.13 Genetische Vorhersagen verschiedener Modelle über die
600 Ursprünge der Menschen. Dabei wurde für vier Modelle (vgl. . Abb. 15.10)
die Zeit berechnet, bis ein letzter gemeinsamer Vorfahre ermittelt werden
400
kann. Alle Modelle mit einem einzigen Ursprung und mehr oder weniger
200 langen Wanderungszeiten zeigen einen unimodalen Verlauf; der letzte
gemeinsame Vorfahre ist bei etwa 800.000 Jahren erreicht. Allein das Iso-
0,0 0 lations- und Mischungsmodell (engl. isolation-and-admixture, IAA) zeigt
1,1 IAA
Zeit 2,1 hoh einen bimodalen Verlauf (die Annahmen hier sind 5 % Durchmischungsgrad
bis z 3,2 g e Mi
um
Vorf letzte 4,3 ein U eringe M grat
ion
und Trennung der Populationen vor ca. 2 Mio. Jahren). (Nach Garrigan und
ahre n ge 5,3 rspr i g ratio Hammer 2006, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)
n (M m u n gsor n
io. J e i n t
ahre samen
)
750 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

. Abb. 15.14 Illustration des Alters der letzten gemein-


samen Vorfahren für verschiedene genomische Regionen.
Ein Flaschenhals ist angegeben, wie er wahrscheinlich
mit der Entwicklung des modernen Menschen verbunden
ist. Danach beginnt die Ausbreitung der Populationen,
wie es sich in den Allelfrequenzen der verschiedenen
Marker widerspiegelt. Die neolithische Expansion wurde
durch die Entwicklung der Landwirtschaft im Nahen
Osten begünstigt. (Nach Kaessmann und Pääbo 2002, mit
freundlicher Genehmigung von Wiley)

durch Populationen anatomisch moderner Menschen von (2008) hat aus 624 vollständigen mitochondrialen Genomen ver-
einem gewissen Maß an genetischer Assimilation begleitet schiedener heute südlich der Sahara lebender Populationen
war. Man darf dabei nicht vergessen, dass die effektive Po- einen Stammbaum konstruiert. Dabei legten die Autoren beson-
pulationsgröße des Menschen außerhalb Afrikas in diesen deren Wert auf die Khoi- und San-Völker in Südafrika – zunächst
Zeiten in der Größenordnung von etwa 10.000 lag (Kaess- deshalb, weil diese als einzigartige Überreste einer Jäger-und-
mann und Pääbo 2002). Sammler-Kultur gelten. Die Daten zeigen aber auch, dass sich die
mitochondriale DNA dieser beiden Völker vor etwa 150.000 bis
Die Bestimmung des »letzten gemeinsamen Vorfahren« hängt 90.000 Jahren vom Rest des menschlichen Genpools abgespalten
von den Markern ab, die betrachtet werden. Die Marker weisen hat. In dieser Zeit bildeten sich offensichtlich ca. 40 verschiedene
ein unterschiedliches Maß an Heterogenität auf, wobei mittels Abstammungslinien im südafrikanischen Raum. Erst viel später,
Mitochondrien-DNA nur etwa 150.000 Jahre zurückgeschaut nämlich während der späten Steinzeit vor etwa 40.000 Jahren,
15 werden kann – autosomale Loci erlauben dagegen fast 1  Mio. wurden wieder Allele anderer Populationen durch wiederholte
Jahre. Der Flaschenhalseffekt (vermutlich durch die kleine Aus- Kreuzungen und Rückkreuzungen in den mitochondrialen Gen-
wanderergruppe aus Afrika) verschärft diese Schwierigkeit, weil pool eingefügt (engl. introgression); dieser Prozess hat sich durch
dadurch die Heterogenität der Ausgangspopulation stark einge- die jüngere Expansion der Bantu weiter beschleunigt. Diese Ar-
schränkt war. Einen Überblick dazu gibt . Abb. 15.14. beit gibt natürlich Anlass zu vielfältigen Spekulationen: Hätten
Die aktuellen Interpretationen der Daten lassen sich in sich zwei Menschheiten entwickeln können, wenn die Isolation
Modellen zusammenfassen, die in . Abb. 15.15 gezeigt sind. Hier der ursprünglichen Populationen im südlichen Afrika noch län-
gibt es im südlichen Zentralafrika verschiedene Populationen, ger angedauert hätte? Im Übrigen stimmen die Untersuchungen
die zwar unter sich im Austausch standen, aber von einer wei- der mitochondrialen DNA mit denen männlicher Y-Chromo-
teren Population in Nordostafrika weitgehend isoliert waren; somen überein: Der ursprünglichste Ast des Y-chromosomalen
Kreuzungsereignisse in Afrika waren also nicht zufällig, und die Stammbaums ist unter den Khoi-San-Völkern weit verbreitet,
südlicheren Populationen könnten alte Haplotyplinien erhalten kommt aber in anderen Populationen nur selten vor. Auch bei
haben. Populationen südlich der Sahara zeigen eine größere ge- linguistischen Merkmalen haben diese Völker eine größere Ähn-
netische Vielfalt als Nordostafrikaner oder Populationen außer- lichkeit untereinander als mit anderen Populationen in Afrika.
halb Afrikas. Daraus kann man schließen, dass nordostafrika- Diese Arbeiten wurden ergänzt durch vollständige Genom-
nische Populationen in regem Austausch mit den nach Asien sequenzierungen von einem Vertreter der Khoi-San und einem
und Europa auswandernden Populationen standen, sodass hier Vertreter der Bantus; bei drei weiteren Khoi-San-Männern wur-
immer ein gewisser Genfluss möglich war. Es kommt darauf an, den alle Exons sequenziert. Dabei zeigte sich, dass die genetische
die statistische Aussagekraft der bisherigen Untersuchungen wei- Heterogenität der Khoi-San untereinander größer ist als die
ter zu verbessern, um derartige Modelle zu überprüfen. Unterschiede zwischen anderen Populationen, z. B. zwischen
Die Phylogenie der mütterlich vererbten mitochondrialen Europäern und Asiaten (Schuster et al. 2010).
DNA spielt bei der Evolutionsanalyse der Menschheit eine zen- Die molekulare Analyse ermöglicht es auch, den Weg nach
trale Rolle. Ein großes internationales Team um Dahor Behar Asien nachzuzeichnen, den die Menschen bei ihrem (dritten)
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
751 15
. Abb. 15.15 Maternaler Genfluss in Afrika
vor 200.000 bis 100.000 Jahren. Die graduellen
maternalen Bewegungen in Afrika sind durch
aufsteigende Zahlen markiert. Ein Gradienten-
Modernisierung der farbsystem wird verwendet, um die zeitliche
späten Steinzeit;
Wanderungen Abfolge der Ereignisse zu illustrieren. Die Rich-
5 tung der Pfeile sowie die Zeitangaben sind all-
gemein und sollen nicht als genaue Wander-
4 routen verstanden werden. Für die Verwandt-
schaftsbeziehungen der verschiedenen mito-
chondrialen Haplotypen siehe auch . Abb. 15.21.
1 a Einer ersten längeren Kolonialisierung (grau)
Entwicklung durch den modernen Menschen (1) folgt eine
von L0 und L1 Ausbreitungswelle (grün) und ein Auseinander-
brechen der Population (2); die mitochondrialen
Haplotypen L0d und L0k befinden sich jetzt im
südlichen Afrika. b Eine frühe Aufspaltung des
Homo sapiens in einer hypothetischen Wande-
rungszone führt zu zwei Populationen, die
2 sich unabhängig voneinander entwickeln; der
6 mitochondriale Haplotyp L0 (grün) befindet
vor Jahren Bantu- Trennung von
Expansion L0d und L0k sich dann im südlichen Afrika und der Haplotyp
200.000 100.000 0
L1’5 (rot) im östlichen Afrika. Es wird vermutet,
dass darauf die Aufspaltung der L0abf-Unter-
vor Jahren gruppe aus der südlichen Population erfolgte
3 und eine Verschmelzung mit der östlichen
200.000 100.000 0
Lokalisierung von Population (grau; 3), sodass die erste Population
L0d und L0k nur noch aus den mitochondrialen Haplotypen
L0d und L0K besteht und die zweite aus L1’5
a und L0abf. Spätere Ausbreitungswellen vom
östlichen Afrika her erfolgen parallel mit der
späten Steinzeit in Afrika (vor ca. 70.000 Jahren).
Schnelle Wanderungen während der späten
Steinzeit (5) bringen Abkömmlinge der ostafri-
kanischen Population in wiederholten Kontakt
mit der südlichen Population (hauptsächlich
während der Bantu-Expansion). (Nach Behar
Modernisierung der et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung von
späten Steinzeit; Elsevier)
Wanderungen
5

2
Lokalisierung
Frühe von L1’5
Wanderungszone
des Homo sapiens
1

6 3
vor Jahren Bantu- Rückkehr
Expansion von L0abf
200.000 100.000 0

vor Jahren
200.000 100.000 0 2
Lokalisierung
von L0
b
752 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

. Abb. 15.16 Ein vereinfachtes Szenario der menschlichen Wanderungsrouten. In einer (dritten) Wanderungswelle verließen die modernen Menschen vor
etwa 200.000 Jahren Afrika. Es waren mehrere Wege möglich, aber die Zahl der beteiligten Individuen war begrenzt (etwa 600 Frauen). Die Wanderung er-
folgte wahrscheinlich entlang der Küste des Indischen Ozeans, und die modernen Menschen erreichten Indien vor etwa 70.000 Jahren und etwa 10.000 Jahre
später Südostasien. Von dort wandten sie sich nach Norden und besiedelten Nordostasien und Japan. KYA: vor 1000 Jahren. (Nach Stanyon et al. 2009, mit
freundlicher Genehmigung des Autors)

Auszug aus Afrika wohl genommen haben. Der Auszug aus männliche Populationsgröße (7 Abschn. 11.5.2) lange Zeit
Afrika fand vor ungefähr 85.000 bis 55.000 Jahren statt und die kleiner war als die der Frauen – offensichtlich haben in
»Wegbeschreibung« ergibt sich aus der Analyse von mtDNA jeder Generation wenige Männer einen relativ großen Anteil
(L2- und L3-Typen, vgl. . Abb. 15.21) sowie des Y-Chromosoms. zum Pool des Y-Chromosoms beigetragen. Die Autoren
Die Analyse isolierter, ursprünglicher Bevölkerungsgruppen in (Dupanloup et al. 2003) interpretieren ihre Daten dahin ge-
Südostasien unterstützt die Hypothese, dass es eine Route ent- hend, dass über weite Teile der menschlichen Entwicklung
lang der asiatischen Küste nach Indien gegeben hat und von dort Polygynie das vorherrschende Charakteristikum der Fortpflan-
nach Südostasien und Australien (. Abb. 15.16). Modellrech- zungsgemeinschaften war. Erst evolutionsgeschichtlich kurz
nungen zeigten außerdem, dass ursprünglich etwa 500 bis 2000 habe der Umschwung zu einer monogamen Form stattgefun-
Frauen an diesem Auszug aus Afrika beteiligt waren. Die Detail- den, was sich in einer Vergrößerung der effektiven männlichen
15 analyse der mitochondrialen Genome ergab auch, dass die Besie- Populationsgröße ausdrückt und von den Autoren mit dem
delung des Nahen Ostens und Europas durch den modernen Übergang von einer mobilen zu eher sesshaften Kulturformen
Menschen von Indien aus erfolgte (sozusagen auf dem »Rück- erklärt wird.
weg«); allerdings ging die Hauptrichtung vor ca. 65.000 Jahren
von Indien nach Australien und dauerte bei einer Wanderungs-
geschwindigkeit von 0,7–4 km pro Jahr wohl nur wenige Tausend 15.1.3 Neandertaler: ausgerottet oder assimiliert?
Jahre (Stanyon et al. 2009).
In Europa gibt es einige Funde, die sich sehr ursprünglichen For-
> Die Entwicklung des modernen Menschen begann wohl men des Menschen zuordnen lassen; die Homo antecessor-Funde
im südlichen zentralen Afrika: Danach hat sich der Mensch in Spanien sind ca. 800.000 Jahre alt. Etwas jünger ist der Homo
in mehreren Wellen aus Afrika nach Asien, Europa und heidelbergensis; der Unterkieferknochen, der dieser Art den
später Amerika ausgebreitet. Die Untersuchung verschie- Namen gab, ist etwa 500.000 Jahre alt. Vom Homo heidelbergensis
dener charakteristischer Genorte legt es nahe, auf allen leitet sich vermutlich der Homo neanderthalenis ab, der vor ca.
Stufen dieser Entwicklung ein gewisses Maß an Durchmi- 200.000 Jahren auftrat und vor etwa 30.000 Jahren verschwunden
schung der verschiedenen Populationen anzunehmen. ist. Zur gleichen Zeit lebten im Süden Sibiriens, im Altai-Ge-
birge, Menschen, die nach ihrem Fundort als »Denisova-Men-
*Wie wir gesehen haben, lässt die Analyse der Daten mitochon-
drialer DNA, die nur matrilinear vererbt wird, Rückschlüsse
schen« bezeichnet werden. Wir fassen diese Linien, die in den
vergangenen 500.000 Jahren gelebt haben, unter dem Stichwort
auf den Frauenanteil in der ursprünglichen Population zu, »archaische Menschen« zusammen und grenzen sie damit von
in verschiedenen Arbeiten wird er in einer Größenordnung den anatomisch modernen Menschen, dem Homo sapiens, ab.
von etwa 1000 Frauen angegeben. Entsprechend lässt sich Vor ca. 40.000 Jahren wanderten die modernen Menschen in
natürlich auch der Anteil der Männer über die Evolution des Europa ein; die Cro-Magnon-Menschen gehören zu den frühes-
Y-Chromosoms abschätzen. Dabei zeigt sich, dass die effektive ten Repräsentanten dieser Gruppe.
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
753 15
. Abb. 15.17 Fundorte und Verwandtschaftsbeziehungen der Neander-
a
taler-Proben auf der Ebene mitochondrialer DNA. a Schädel eines Neander-
talers (Fundstätte La Ferrassie, Frankreich). b Fundorte der Neandertaler-
Proben, deren mtDNA sequenziert wurde; die roten Punkte stellen Fundorte
neuerer DNA-Proben als die blauen dar; die rote Linie deutet das Siedlungsge-
biet der Neandertaler an. c, d Verwandtschaftsbäume basierend auf 304 bp
aus der D-Schleife der mtDNA (Nukleotide 16.076–16.378) (c) und basierend
auf 123 bp aus der D-Schleife der mtDNA (Nukleotide 16.210–16.331) (d); das
Alter der sequenzierten Fossilien ist in Klammern in 1000 Jahren angegeben;
die Zahlen in den Stammbäumen geben Bootstrap-Werte an. (a nach Storch
et al. 2007, mit freundlicher Genehmigung von Springer; b–d nach Excoffier
2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

Neben dieser hier nur sehr grob und oberflächlich skizzier- den direkten Sequenzvergleich Informationen darüber zu er-
ten zeitlichen Abfolge, die sich aus den archäologischen Funden halten, ob im Genom des modernen Menschen noch Spuren des
ergibt, steht natürlich die Frage nach den verwandtschaftlichen Neandertalers zu finden sind. Dabei steht man vor zwei Pro-
Beziehungen. Ein besonders großes Fragezeichen der humanen blemen: Das erste ist die Verunreinigung durch DNA des moder-
Evolutionsforschung steckt hinter der Beobachtung, dass in nen Menschen, besonders durch die Untersuchenden selbst. Hier
Europa keine Spuren der Neandertaler gefunden werden, die vor hat man schon gelernt, durch geeignete technische Schutzmaß-
kürzerer Zeit als vor ca. 28.000 Jahren gelebt haben; der Schädel nahmen Kontaminationen weitgehend zu vermeiden. Zum zwei-
eines typischen Neandertalers ist in . Abb. 15.17a dargestellt. ten kommt es durch den Abbau der DNA nach dem Tod häufig
Viele Anthropologen argumentieren, dass die Neandertaler aus- zur Desamidierung am Cytosin – es entsteht Uracil, das bei
gestorben und durch moderne Menschen ersetzt worden seien der Sequenzierung als Thymin erkannt wird und damit eine
(dieses Argument gilt entsprechend auch für die modernen C→T- bzw. G→A-Mutation vortäuscht. Dieses Problem kann
Menschen, die nach Asien gewandert sind und die dortigen durch wiederholte Sequenzierung unterschiedlicher Proben er-
archaischen Formen verdrängt haben). Lange Zeit war man – kannt werden.
wie auch bei der Out-of-Africa-Hypothese – nur auf Knochen- Unter Berücksichtigung der oben genannten methodischen
funde und ihre entsprechende Einordnung aufgrund morpholo- Schwierigkeiten ist es damit in den letzten Jahren gelungen, eini-
gischer und archäologischer Befunde angewiesen. In den letzten ge interessante Informationen über die Neandertaler und ihre
Jahren hat man aufgrund verbesserter technischer Möglichkeiten Beziehung zu den modernen Menschen zu erhalten. Das Mito-
die Untersuchung der genetischen Unterschiede auch auf den chondriengenom (7 Abschn. 5.1.4 und 7 Abschn. 13.3.5) war
Neandertaler und den Denisova-Menschen ausgedehnt. natürlich das erste Untersuchungsobjekt für Sequenzuntersu-
Seit einiger Zeit ist es möglich, aus den Knochenresten DNA chungen bei Neandertaler-Funden. Dabei wurden in der Regel
zu isolieren und zu sequenzieren (7 Abschn. 15.1.2), um so durch kurze, nicht-codierende mtDNA-Sequenzen von Neandertalern
754 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

0.5 . Abb. 15.18 Verteilung von paarweisen


0.45 Vollständige mt-DNA Sequenzunterschieden in der mitochondrialen
Anteil der paarweisen

0.4
0.35 DNA (mtDNA). Es sind Häufigkeiten von Se-
Vergleiche

0.3 quenzunterschieden in der mtDNA innerhalb von


0.25 53 Menschen (grün), zwischen Menschen und
0.2 Neandertalern (rot) sowie zwischen Menschen
0.15 und Schimpansen (blau) angegeben. a Vollstän-
0.1
0.05
dige mtDNA. b Hochvariable Region 1 (HVRI;
0 Neandertaler-Position 16.044–16.411). c Hoch-
0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 variable Region 2 (HVRII; Neandertaler-Position
a Zahl der Unterschiede 57–372). (Nach Green et al. 2008, mit freundlicher
Genehmigung von Elsevier)
0.25 0.35
Anteil der paarweisen

HVRI 0.3 HVRII


0.2
0.25
Vergleiche

0.15 0.2
0.1 0.15
0.1
0.05
0.05
0 0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50
b Zahl der Unterschiede c Zahl der Unterschiede

mit alten, aber anatomisch modernen Menschen aus verschie- C Im März 2010 berichtete die Gruppe um Svante Pääbo aus
denen Regionen Europas und Australiens verglichen. Die Se- Leipzig von der molekularen Analyse der mitochondrialen
quenzen von mitochondrialer und genomischer DNA liegen für DNA aus einem menschlichen Knochen, der in der Denisova-
Neandertaler und Denisova-Menschen inzwischen vor (Meyer Höhle im Altai-Gebirge in Russland gefunden wurde (Krause
et al. 2012, Prüfer et al. 2014). et al. 2010). Der Knochen stammt aus einer Schicht, die etwa
Die ersten Vergleiche der mitochondrialen DNA zeigten, 30.000 bis 48.000 Jahre alt ist und somit dem Zeitrahmen ent-
dass die mtDNA der Neandertaler sich von der mtDNA heutiger spricht, in dem die Neandertaler auch in dieser Region lebten.
Menschen, aber auch von der aus Fossilien der anatomisch mo- Die Überraschung war aber groß, als sich zeigte, dass diese
dernen Menschen unterscheidet. Gleichzeitig mehren sich aber mitochondriale DNA mit durchschnittlich 385 Austauschen
auch die Hinweise auf die Heterogenität der Neandertaler selbst. etwa doppelt so viele Unterschiede zum modernen Men-
. Abb. 15.17b–d zeigt das Ergebnis einiger mtDNA-Sequenz- schen aufweist wie die mitochondriale DNA des Neanderta-
untersuchungen an Neandertaler-Proben aus verschiedenen Ge- lers (siehe auch . Abb. 15.18). Man hat wegen des Fundorts
15 bieten Europas, die auch zu verschiedenen Zeiten gelebt haben. diese Menschen als »Denisova-Menschen« bezeichnet. Aus
Insbesondere eine Probe aus der Nähe von Rom, deren Alter auf den Sequenzdaten konnte man schließen, dass der letzte ge-
ca. 50.000 Jahre datiert wird, zeigt eine relativ große Nähe zu den meinsame weibliche Vorfahre der Denisova-Menschen, der
entsprechenden Sequenzen moderner Menschen. . Abb. 15.18 Neandertaler und der modernen Menschen etwa vor 1 Mio.
zeigt die Verteilung von paarweisen Sequenzvergleichen bei Jahren lebte. Andererseits zeigen andere Funde aus dersel-
mitochondrialer DNA unter 53 Menschen aus der ganzen Welt ben Region des Altai-Gebirges, dass dort in der Zeit vor etwa
– zunächst untereinander, dann im Vergleich mit Neandertalern 40.000 Jahren Neandertaler, moderne Menschen und eben
und schließlich mit Schimpansen. Innerhalb der modernen die Denisova-Menschen zusammengelebt haben.
Menschen gibt es 2 bis 118 Unterschiede mit zwei Gipfeln. Im
Gegensatz dazu ist die Zahl der Unterschiede zu den Neander- Inzwischen gibt es sehr gute Daten der genomischen Sequenzen
talern größer (201 bis 235) und zeigt nur einen Gipfel. Damit fällt von Neandertalern und den Denisova-Menschen. Im Durch-
die mitochondriale DNA der Neandertaler außerhalb der Varia- schnitt haben die modernen Menschen weltweit (mit Ausnahme
tionsbreite menschlicher DNA. Wenn man allerdings den Ver- der Menschen südlich der Sahara) einen Anteil von ungefähr 2 %
gleich auf die hypervariablen Regionen (HVR) beschränkt, so Neandertaler-Sequenzen in ihrem Genom. Dieses Ergebnis ist
überlappen die Verteilungen der paarweisen Unterschiede nicht vereinbar mit der Hypothese, dass alle modernen Men-
(knapp bei HVRI und deutlich bei HVRII). Der Vergleich mit schen nur auf eine kleine afrikanische Population zurückgehen,
den Schimpansen zeigt jeweils große Unterschiede. Diese Daten die sich ohne Vermischung mit früheren homininen Formen
der mtDNA wurden zunächst dahin gehend interpretiert, dass über die Erde ausgebreitet hat. Vielmehr ist es eine Bestätigung
die Neandertaler und die modernen Menschen zwar in einem der Vermutung, dass es zu Vermischungen gekommen ist – wie
gewissen Zeitfenster im gleichen Gebiet nebeneinander gelebt wir das auch an anderer Stelle schon gesehen haben.
haben (Sympatrie, 7 Abschn. 11.6.2), dass aber keine Vermischung Ähnliches gilt für die Denisova-Menschen: Die Sequenz-
stattgefunden habe – zumindest nicht über die weibliche Seite daten zeigen deutlich, dass es einen gemeinsamen Vorfahren der
der Neandertaler. Neandertaler und der Denisova-Menschen gab, von dem sich
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
755 15
Denisova-
Moderne Menschen Neandertaler Menschen

Afrika Europa Asien Ozeanien x Kaukasus Kroatien Sibirien Sibirien y unbekannt


>0,5%
~ 5%

~0,2%
1,5 –2,1%

0,5–8%

. Abb. 15.19 Schematischer Stammbaum archaischer und moderner Menschen und der Genfluss zwischen den verschiedenen Populationen. Es ist der
ungefähre Anteil angegeben, den der Genfluss zu dem Genom der aufnehmenden Population beigetragen hat. X kennzeichnet die unbekannte Gruppe der
Neandertaler, die sich mit modernen Eurasiern gemischt hat, und Y die Gruppe der Denisova-Menschen, die zu den Vorfahren der heutigen Menschen in
Ozeanien beigetragen hat. Der gestrichelte Pfeil deutet an, dass Menschen auf dem asiatischen Festland ebenso kleine Anteile der DNA der Denisova-Men-
schen enthalten; dieser Anteil könnte aus einer unabhängigen Vermischung stammen. (Nach Pääbo 2014, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

die Denisova-Menschen aber früh abgespalten hatten. Ein weite- (CASC5, KIF18A, SPAG5) sind mit der mitotischen Spindel und
rer unerwarteter Befund war, dass die Sequenz der Denisova- den Kinetochoren assoziiert. Die Anordnung der mitotischen
Menschen etwa 5  % zum Genom heute in Ozeanien lebender Spindel in der Teilungsebene der Mitose in neuralen Vorläufer-
Menschen beiträgt. Die Veröffentlichungen des Neandertaler- zellen ist für das weitere Schicksal dieser Zellen wichtig. Von
Genoms und des Genoms der Denisova-Menschen sind Meilen- einem anderen Gen aus dieser Liste, VCAM1, wissen wir, dass es
steine in der noch jungen Disziplin der Paläogenetik, und sie an der Aufrechterhaltung der neuralen Stammzellen in der sub-
relativieren unsere bisherigen Vorstellungen von »klaren Ver- ventrikulären Zone von Erwachsenen beteiligt ist. Wir werden
hältnissen« bei unseren Vorfahren doch etwas. In . Abb. 15.19 diesen Gedanken erneut aufgreifen, wenn wir uns mit der Evo-
wird das derzeitige Wissen über die verschiedenen Abstam- lution der Gehirnentwicklung noch etwas detaillierter beschäf-
mungslinien zusammengefasst. tigen (7 Abschn. 15.2.1).
Es scheint also so zu sein, dass die bisher weit verbreitete
*Ein interessanter Ansatz, den Einfluss der Neandertaler auf
das Genom heutiger Menschen zu bestimmen, besteht darin,
Theorie der Verdrängung des Neandertalers durch den moder-
nen Menschen neu durchdacht und zumindest in Teilen neu
die Sequenzen der Neandertaler mit den Datensätzen aus geschrieben werden muss. Allerdings scheinen solche adaptive
dem 1000-Genom-Projekt moderner Menschen aus Europa Allele von archaischen Menschen eine gewisse Paradoxie dar-
(CEU) und Ostasien (CHB) zu vergleichen und darin nach zustellen: Wir erkennen ja die archaischen Menschen gerade an
Resten der Neandertaler-Sequenz zu suchen. Die Gruppe um ihrer Morphologie, und diese Morphologie ist ausgestorben.
Sankararaman (2014) zeigte, dass im Prinzip in allen Auto- Wenn daher moderne Menschen noch adaptive Allele von archai-
somen ein gleichmäßiger Anteil von Sequenzen des Neander- schen Menschen enthalten, müssen wir für diese Vorläufer nach
talers enthalten ist – das X-Chromosom ist dagegen weitge- Fossilien suchen, die gerade nicht als archaisch angesehen werden
hend frei von Sequenzen des Neandertalers. Sie haben daraus – sie müssen vielmehr den modernen Menschen ähnlicher sein,
abgeleitet, dass männliche Hybriden aus Neandertalern und und so werden sie nicht unbedingt als archaisch erkannt. Hier
modernen Menschen offensichtlich häufig steril waren. kann also die moderne Genetik eine neue Sichtweise in die evo-
lutionäre Anthropologie einbringen. Die Denisova-Menschen
Natürlich ist es interessant, genauer nach den DNA-Unterschie- sind die erste Gruppe archaischer Menschen, die allein aufgrund
den zwischen modernen Menschen einerseits und den Menschen ihrer DNA-Sequenzen klassifiziert wurden – die gefundenen
aus der Denisova-Höhle und dem Neandertal zu suchen. In den Knochenfragmente würden dazu nicht ausreichen.
qualitativ hochwertigen Sequenzen finden wir knapp 32.000
Einzelnukleotidpositionen, an denen sich alle heutigen lebenden
Menschen von unseren archaischen Vorfahren unterscheiden.
*Die Frage, ob die Neandertaler ausgerottet wurden oder
sich assimiliert haben, ist damit natürlich noch nicht
Davon liegen etwa 10 % in regulatorischen Regionen, 32 betreffen ganz beantwortet. Nachdem immer mehr Datensätze von
mögliche Spleißstellen und 96 betreffen Aminosäureaustausche in Neandertaler-Genomen zur Verfügung stehen, zeichnet sich
insgesamt 87 Proteinen. Diese Liste ist erfreulicherweise kurz und aber eine Erklärungsmöglichkeit ab: Offensichtlich war die
bietet die Möglichkeit, diese Fälle genauer zu untersuchen. genetische Unterschiedlichkeit der Neandertaler deutlich
Von den 87 Proteinen mit Aminosäureaustauschen sind fünf geringer als die der modernen Menschen, und das Muster
in der ventrikulären Zone des sich entwickelnden Gehirns expri- der Variationen in den codierenden Regionen lässt vermu-
miert (CASC5, KIF18A, TKTL1, SPAG5, VCAM1); drei davon ten, dass die Populationen der Neandertaler klein und
756 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

voneinander isoliert waren. Das Ausmaß der Heterozygotie denen beliebige Mengen DNA gewonnen werden kann. Später
von drei kürzlich sequenzierten Genomen von Neander- wurden weitere Zelllinien angelegt; es sind 52 Populationen von
talern beträgt nur 25–36 % des Heterozygotiegrades moder- allen fünf Kontinenten mit insgesamt 1063 Zelllinien von 1050
ner Menschen – über längere Bereiche des Genoms sind sie Individuen vertreten (. Abb. 15.20a). Diese Datensammlung
sogar homozygot. Die vorsichtige Formulierung der Autoren (http://www.cephb.fr/en/hgdp_panel.php) hat viele der in den
dieser Studie (Castellano et al. 2014) ist, dass Paarungen früheren Kapiteln beschriebenen Schlussfolgerungen über die
der Neandertaler unter Verwandten relativ häufig waren. Evolution des Menschen erst ermöglicht.
Möglicherweise ist ein derartiger Inzuchteffekt für das Aus- Dabei sollte berücksichtigt werden, dass sich die mitochon-
sterben der Neandertaler (mit)verantwortlich. driale DNA und die DNA aus dem nicht rekombinierenden Teil
des Y-Chromosoms (. Abb. 13.38) anders verhalten als DNA aus
> In Europa ist der Neandertaler ein Vorgänger des moder- Autosomen: Beide werden nur über ein Elternteil vererbt (Mito-
nen Menschen; für etliche Jahrtausende bewohnten chondrien über die Mutter; das Y-Chromosom über den Vater),
beide Arten denselben Lebensraum (Sympatrie). Zwar sie sind haploid, und es findet keine Rekombination statt. Ihre
ergab die Analyse des mitochondrialen Genoms keinen Evolution über genetische Drift ist daher vierfach schneller als
zwingenden Hinweis darauf, dass es zu einer Durch- die bei autosomalen Genen. Beide Ansätze haben es ermöglicht,
mischung des genetischen Materials gekommen ist; die das Zeitfenster für den Ursprung des modernen Menschen abzu-
Analyse des Kerngenoms zeigt aber, dass das Genom schätzen: vor etwa 160.000 Jahren (± 14 %), wenn man die mito-
moderner Menschen etwa 2 % Neandertaler-Sequenzen chondriale DNA der modernen Menschen zugrunde legt, oder
enthält. Es gibt außerdem eine zweite Gruppe archaischer vor etwa 100.000 Jahren (± 20 %), wenn man die heutige Varia-
Menschen, die Denisova-Menschen, die sich früh von bilität des Y-Chromosoms zugrunde legt. In Ergänzung zu der
der Neandertaler-Linie abgespalten haben; ihre DNA ist zeitlichen Abschätzung ermöglicht die Analyse der verschiede-
zu ca. 5 % in dem Genom heute lebender Menschen in nen Populationen natürlich auch eine geographische Abschät-
Ozeanien enthalten. zung und die Rekonstruktion von Wanderungsbewegungen.

*Eine besondere Herausforderung stellt die Entdeckung der


Skelette von Zwergmenschen in Indonesien im Jahr 2004
Eine erste Analyse der genetischen Struktur menschlicher Popu-
lationen auf der Basis von 377 Mikrosatelliten-Polymorphismen
zeigt . Abb. 15.20b. Wenn man dabei die Populationen nur in
dar, die nach ihrem Fundort als Homo floresiensis bezeichnet
zwei Gruppen unterteilen möchte, fallen die Populationen aus
werden. Es handelt sich dabei um Menschen, die mit
Afrika, Europa, Mittel-, Süd- und Westasien zusammen – die
den modernen Menschen während des späten Pleistozäns
andere Gruppe wird aus Ostasien, Ozeanien und Amerika ge-
zusammengelebt haben. Für ihre Existenz werden verschie-
bildet. Erlaubt man dagegen eine Unterteilung in fünf Gruppen,
dene Erklärungsmöglichkeiten diskutiert, z. B. eine Ab-
so spalten sich in der ersten Gruppe Populationen aus Afrika
stammung von Homo erectus oder eines früheren Vorfahren,
südlich der Sahara ab; in der zweiten Gruppe trennen sich die
pathologische Individuen einer Homo sapiens-Population
Bevölkerungsgruppen aus Amerika und die aus Ozeanien von
oder eine zwergwüchsige Evolution aufgrund der isolierten
den ostasiatischen Populationen. In Europa ist es wegen häufiger
Insellage aus einer ursprünglichen Homo sapiens-Popula-
15 tion. In einer ausführlichen Übersicht diskutieren Karen
Wanderungsbewegungen offensichtlich schwierig, Substruktu-
ren der Bevölkerungen zu erkennen. Mit geeigneten Verfahren
Baab et al. (2013) die verschiedenen Erklärungsmöglich-
lassen sich auch die Basken und Sardinier als ausgeprägte Grup-
keiten und schließen aus allen vorliegenden Befunden, dass
pen erkennen (Rosenberg et al. 2002).
es sich um einen späten Überlebenden einer frühen Form
Eine wesentlich detailliertere Analyse erlaubt heute die
des Menschen handelt, die aufgrund der morphologischen
Tatsache, dass schon mehr als 2000 mitochondriale Genome
Ähnlichkeiten dem frühen Homo erectus bzw. Homo ergaster
sequenziert sind, sodass die grundlegende Verzweigungs-
zuzurechnen wäre. Dazu gehören vor allem die morphomet-
struktur in den meisten Teilen der Welt verstanden werden
rische Analyse des Schädel- und Gesichtsskeletts. Patholo-
kann. Wie aber schon weiter oben angedeutet, lässt sich über
gische Befunde zur Erklärung der Kleinwüchsigkeit und der
die Zeit von vor 200.000 Jahren hinaus keine Aussage machen,
Mikrocephalie gibt es nicht. Auch hier wird erst die Sequen-
da der letzte gemeinsame Vorfahr (die »afrikanische Eva«)
zierung der DNA das Rätsel lösen können.
schon zu etwa dieser Zeit gelebt haben muss; es gibt keine
Sequenzdaten der mitochondrialen DNA der heutigen Men-
schen, die einen Rückschluss auf frühere Ereignisse zulassen.
15.1.4 Die Unterschiedlichkeit moderner Die Unterschiede der mitochondrialen DNA werden in
Menschen Haplogruppen zusammenfasst, die Unterschiede in einzelnen
SNPs oder in Schnittstellen für Restriktionsenzyme reflektieren.
Schon lange werden Daten zur genetischen Variabilität des Men- Die Haplogruppen werden zunächst mit Großbuchstaben ange-
schen gesammelt – zunächst auf Proteinebene, in jüngerer Zeit geben und können dann in weitere Untergruppen unterteilt
selbstverständlich über die DNA. Seit der Mitte der 1980er-Jahre werden. Der Stammbaum der afrikanischen Menschen ist in
dient dabei das Centre d’Etude du Polymorphisme Humain . Abb. 15.21 dargestellt. Dabei zeigt die Haplogruppe L3 die
(CEPH) in Paris als zentrale Sammelstelle. Zunächst wurden hier meisten Verzweigungen; diese Haplogruppe repräsentiert heute
Lymphoblasten-Zelllinien von 40 großen Familien gehalten, aus lebende Menschen aus Zentralafrika und begründete die These,
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
757 15

Afrikaner Europäer Westasiaten Ostasiaten Ozeanier


1 Bantu 8 Orkadier 16 Beduinen 28 Han (S. China) 46 Melanesier
2 Mandenka 9 Adygei 17 Drusen 29 Han (N. China) 47 Papuaner
3 Yoruba 10 Russen 18 Palästinenser 30 Dai
4 San 11 Basken 31 Daur
5 Pygmäen (Mbuti) 12 Franzosen 32 Hezhen Ureinwohner
6 Pygmäen (Biaka) 13 Norditaliener 33 Lahu Amerikas
7 Mozabiten 14 Sardinier Zentral- und 34 Miao
15 Toskaner Südasiaten 35 Oroqen 48 Karitiana
19 Balochi 36 She 49 Surui
20 Brahui 37 Tujia 50 Kolumbianer
21 Makrani 38 Tu 51 Maya
22 Sindhi 39 Xibo 52 Pima
23 Pathan 40 Yi
24 Burusho 41 Mongola
25 Hazara 42 Naxi
26 Uygur 43 Kambodschaner
27 Kalash 44 Japaner
45 Jakuten

. Abb. 15.20 Populationen im Human Genom Diversity Project. a Geographische Verteilung der untersuchten Populationen. b Analyse der genetischen
Struktur verschiedener Bevölkerungsgruppen. Es wurden dafür 1056 Individuen aus 52 Populationen und allen Kontinenten in Bezug auf Polymorphismen
an 377 Mikrosatelliten untersucht. Die Farben sind willkürlich gewählt, um den Grad der Mischung bei Individuen darzustellen; jeder Strich bedeutet ein
Individuum. Wenn man alle Daten auf nur zwei Gruppen aufteilt, trennt sich Ostasien und Ozeanien/Amerika von den westlichen Populationen in Afrika,
Europa und West-, Süd- und Zentralasien. Diese Verteilung spiegelt die Tatsache wider, dass die erste Wanderung aus Afrika nach Ostasien ging. Bei einer
Aufteilung auf drei Gruppen spalten sich die Populationen aus dem südlichen und zentralen Afrika von den anderen ab. Bei einer Unterteilung in vier
Gruppen gibt es die Spaltung der ostasiatischen Populationen von denen der amerikanischen Ureinwohner, und bei fünf Gruppen erscheinen die ozeani-
schen Populationen als deutlich unterscheidbar von den anderen. (Nach Cavalli-Sforza 2005, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

dass die letzte Auswanderungswelle in Afrika ihren Ursprung Die meisten europäischen mtDNA-Variationen starten von drei
hat (vgl. auch . Abb. 15.16). Linien (. Abb. 15.22a): R, JT und U – sowie in geringem Ausmaß
Die Haplogruppen M, N und R leiten sich von L3 ab und von den drei N-Linien (N1, N2 und X). Diese geringe Zahl an
sind die »Gründer« aller anderen Haplogruppen außerhalb von basaler Variation lässt auf eine eher bescheidene Rolle Europas
Afrika; eine Übersicht für die Entwicklung der europäischen innerhalb der ursprünglichen Wanderung out of Africa schlie-
Haplogruppen N und R zeigt . Abb. 15.22a. Die komplette ßen. Der Ursprung der europäischen Linien wird auf den Zeit-
mtDNA-Phylogenie bestätigt, dass die europäischen Variationen raum von vor 50.000 bis 40.000 Jahren datiert.
in die westliche eurasische Variation eingebettet sind. Wenn man Wenn man nun die geographische Verteilung der mito-
sie aber mit der südasiatischen Variation vergleicht, fällt eine chondrialen Haplogruppen in Europa genauer betrachtet, dann
Verarmung in der Zahl der unabhängigen basalen Linien auf. fällt auf, dass die ältesten Haplogruppen in der baskischen Re-
758 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

der heutigen Europäer stammt von ursprünglichen mesolithi-


Afrika schen oder paläolithischen Vorläufern. Allerdings bedarf eine
noch feinere Auflösung der Populationsstrukturen und Wande-
rungsbewegungen einer noch wesentlich größeren Anzahl von
Proben.

C Eine etwas andere Strategie verfolgte das HapMap-Projekt


Europa (http://hapmap.ncbi.nlm.nih.gov), das zunächst auf der
Basis von genomischen SNPs Haplotypen erstellt hat. Wir
finden unter 1000 Basen etwa einen SNP – das bedeutet
eine Gesamtzahl von etwa 3 Mio. SNPs. Aus den Arbeiten
über Rekombinationshäufigkeiten wissen wir, dass Marker
immer in Gruppen übertragen werden; dafür hat sich der
Begriff der Haplotypen eingebürgert (. Abb. 11.43); ein
Nordafrika Haplotyp umfasst im Mittel etwa 20 SNPs. Daraus ergibt sich
Westasien eine »mosaikartige Struktur« des menschlichen Genoms.
Das HapMap-Konsor tium analysierte zunächst SNPs in drei
Populationen (Ostasien: China/Japan; Amerika/Europa: Utah;
Westafrika: Nigeria) und stellte sie der Öffentlichkeit zur Ver-
fügung. Diese erste Sammlung enthält die DNA von 270 ver-
schiedenen Personen. In einer erweiterten Fassung gibt es
jetzt Informationen von 1184 Referenzpersonen aus insge-
Zentral- und samt elf weltweiten Populationen, darunter auch aus der Tos-
Südasien
kana. Neben den SNPs enthält der Datensatz auch Informa-
tionen über Kopienzahl-Polymorphismen (engl. copy number
polymorphisms, CNPs) (International HapMap Consortium
2010). Wir werden uns am Ende dieses Abschnitts noch
etwas mit diesen eher regionalen Aspekten beschäftigen.
Ein interessantes Beispiel für Informationen aus diesen Haplo-
typ-Analysen ist das Gen für das Mikrotubulin-assoziierte
Protein Tau (MAPT; 7 Abschn. 14.5.2 und 7 Abschn. 14.5.3).
Ostasien Für das MAPT-Gen existieren zwei unterschiedliche Haplo-
gruppen (H1 und H2) in der Bevölkerung, die sich vor un-
gefähr 3 Mio. Jahren getrennt haben. Die H2-Haplogruppe ist
bei Europäern relativ häufig, kommt aber bei Afrikanern
15 sehr selten vor. Im Gegensatz zur H1-Gruppe, die viele Poly-
morphismen aufweist, sind derartige Sequenzunterschiede
bei der H2-Gruppe eher selten. Die Entstehung der H2-Grup-
pe wird auf einen Zeitraum vor ungefähr 30.000 Jahren
geschätzt, sodass eine Einkreuzung über den Neandertaler
möglich erscheint. Die H2-Haplogruppe hat offensichtlich
eine deutliche Schutzwirkung gegenüber der Parkinson’schen
Ozeanier/
Erkrankung (7 Abschn. 14.5.3) und anderer Neuropathien,
Amerika
was einen deutlichen Selektionsdruck erklärt (für eine Über-
sicht siehe Hawks et al. 2008).

Unabhängig von den globalen evolutionären Aspekten hat die


Analyse der Haplotypen auch deutliche Hinweise auf Bereiche
b
in menschlichen Genomen ergeben, an denen besonders häufig
. Abb. 15.20 (Fortsetzung) Rekombinationsereignisse stattfinden – es sind knapp 33.000!
Offensichtlich sind die Stellen hoher Rekombinationshäufig-
keit  (engl. recombination hot spots) besonders häufig in den
G/C-haltigen Promotorbereichen von Genen, wohingegen in-
gion des Golfs von Biskaya liegen (. Abb. 15.22b–e). Die Daten nerhalb der codierenden Sequenz deutlich weniger Rekombina-
können so interpretiert werden, dass diese Region während der tionsereignisse stattfinden. Ein zweiter Gipfel erhöhter Rekom-
letzten Eiszeit einer Population als Rückzugsraum gedient hat binationshäufigkeit findet sich am 3’-Ende der Gene. Allerdings
und diese sich nach dem Ende der Eiszeit von dort wieder über scheinen unterschiedliche Gene in verschiedenem Ausmaß von
den Kontinent ausgedehnt hat; etwa drei Viertel der mtDNA der Rekombinationshäufigkeit betroffen zu sein: Dabei liegen die
N
M
Afrikanische L3/andere afrikanische L
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen

nicht afrikanisch
afrikanisch

6,5 Mio.
Jahre

Schimpanse
200.000 150.000 100.000 Toba 50.000 Eiszeit heute
. Abb. 15.21 Phylogenie weltweiter mtDNA-Haplogruppen mit einer Zeitachse auf der Basis von 52 individuellen Sequenzen. Die Buchstaben A bis V geben die verschiedenen Haplogruppen der Mitochondrien
759

an (mit ihren jeweiligen Untergruppen). Die Zahlen geben die Verzweigungsdaten in 1000 (k) Jahren an. Man beachte, dass die Trennung der Menschen und Schimpansen aus der Analyse codierender Regionen
abgeleitet ist und nicht auf Fossilien beruht. »Toba« markiert den Ausbruch des gleichnamigen Vulkans auf Sumatra, der vor ca. 74.000 Jahren stattfand und massive Auswirkungen auf das globale Klima hatte. Die
Völkergruppen sind in ihrer englischen Bezeichnung angegeben. (Nach Oppenheimer 2012, mit freundlicher Genehmigung der Royal Society)
15
760 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Gene der Immunabwehr an der Spitze (7 Abschn. 9.4), gefolgt von


Genen für Zelladhäsionsmoleküle und für Proteine der extra-
zellulären Matrix; am anderen Ende der Skala, d.  h. Gene mit
ausgesprochen niedriger Rekombinationsrate, stehen Gene, die
für Chaperone, Ligasen oder Isomerasen codieren (. Abb. 15.23).
> Die Sequenzierung der menschlichen mtDNA sowie die
Analyse von rund 3 Mrd. SNPs in vielen Bevölkerungs-
gruppen der Welt bestätigen den Ursprung der Menschheit
in Afrika. Eine genaue Analyse ergibt, dass nur ein kleiner
Teil davon nach Europa eingewandert ist. Am Ende der letz-
a ten Eiszeit erfolgte die Wiederbesiedelung Europas aus den
Rückzugsgebieten in Südwestfrankreich/Nordspanien.

Auch das menschliche Y-Chromosom ist für evolutionsgeneti-


sche Untersuchungen hervorragend geeignet (zur Evolution des
menschlichen Y-Chromosoms siehe auch 7 Abschn. 13.3.4, beson-
ders . Abb. 13.37 sowie . Abb. 15.4). Im Gegensatz zur mtDNA
wird das Y-Chromosom nur über die väterliche Linie vererbt und
bietet damit ein komplementäres Abbild zu den Erkenntnissen, die
über die mtDNA gewonnen werden. Der Bereich, der nicht zur
pseudoautosomalen Region gehört (und das sind immerhin
ca. 57 Mb der insgesamt 60 Mb; . Abb. 13.38), liegt als haploide
Region in männlichen Zellen vor. Damit fehlt ihm der natürliche
b Rekombinationspartner, und so bleiben die Kombinationen der
verschiedenen Allele auf dem Y-Chromosom in der Regel über
Generationen männlicher Verwandter hinweg unverändert. Chro-
mosomale Rearrangements sind also selten, sodass die über-
wiegende Zahl der Mutationen einfach verfolgt werden kann.
Studien an Y-Chromosomen sind daher besonders interessant,
weil sie überwiegend nur solche Mutationen zeigen, die das Ergeb-
nis intraalleler Prozesse sind – andere Faktoren, die in anderen
Chromosomen hinzukommen, entfallen hier.
Daher kann man in populationsgenetischen Untersuchungen
erwarten, dass im Y-Chromosom eine geringere Häufigkeit von
15 c Sequenzunterschieden als im übrigen Genom zu finden ist, was
auch tatsächlich beobachtet wurde. Auf der Basis dieser Unter-
suchungen ist es auch möglich, verwandtschaftliche Zusammen-
hänge verschiedener menschlicher Populationen im evolutionären
Zusammenhang darzustellen. Auch die Forschung am Y-Chromo-
som stützt die These, dass Vorfahren der heutigen Menschen vor
etwa 70.000 bis 50.000 Jahren aus Afrika ausgewandert sind und
dass offensichtlich zwei verschiedene Untergruppen den Rest der
Welt besiedelten: eine Südostasien und Australien und die andere
Nordwestasien und Europa (Nord- und Südamerika wurden erst
wesentlich später besiedelt; . Abb. 15.24).
d Nach diesen eher globalen Betrachtungen wollen wir uns
abschließend noch etwas den eher regionalen Besonderheiten
widmen. Durch die Vielzahl der vorhandenen Daten und die
Anwendung geeigneter statistischer Verfahren (vor allem der

. Abb. 15.22 mtDNA-Haplogruppen in Europa. a Stammbaum der wich-


tigsten europäischen mtDNA-Haplogruppen. Knotenpunkte mit vielen Ver-
zweigungen sind orange dargestellt. b–e Es ist die geographische Vertei-
lung verschiedener Häufigkeiten einzelner mtDNA-Haplogruppen gezeigt:
b H1; c H3; d V; e U5b. Rechts ist eine Farbskala der relativen Häufigkeiten
zu sehen. (Nach Torroni et al. 2006, mit freundlicher Genehmigung von
e Elsevier)
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
761 15
Durchschnittliche Rekombinationsrate in den
G+C-Gehalt

Kategorien (cM/MB)
Motive-Dichte
(Motive/kb)
Rekombinationsrate
(cM/MB)

Signifikanzgrad (P)
a Position (kb) b
. Abb. 15.23 Rekombinationsraten in der Nachbarschaft von Genen. a Es sind die Rekombinationsrate, die Häufigkeit des Sequenzelementes
(5’-CCTCCCTNNCCAC-3’), das mit hoher Rekombinationshäufigkeit assoziiert ist, und der G+C-Gehalt in der Umgebung von Genen angegeben; die blaue
Linie markiert den Mittelwert. Für die Rekombinationsrate geben die grauen Linien die Quartilen der Verteilung an (d. h. 50 % aller Werte liegen zwischen
diesen beiden Kurven). Die mittlere punktierte Linie gibt den medianen Mittelpunkt der Transkriptionseinheit an; die Linie links davon den 5’-Bereich und
rechts den 3’-Bereich. Beachte den scharfen Abfall der Rekombinationshäufigkeit innerhalb der Transkriptionseinheit sowie die lokalen Anstiege in der
Umgebung des Transkriptionsstarts und der langsame Abfall am 3’-Ende. b Rekombinationsraten innerhalb von Genen mit unterschiedlichen Aufgaben.
Die Abbildung zeigt die Abweichungen vom genomischen Mittelwert. Die Zahlen in Klammern geben die Anzahl der untersuchten Gene an. (Nach Inter-
national HapMap Consortium 2007, mit freundlicher Genehmigung der Nature Publishing Group)

Hauptkomponenten-Analyse; engl. principal component analy- Skelette lassen sich allerdings hinsichtlich ihrer DNA-Sequenzen
sis) ist man heute in der Lage, auch eher regionale Wanderungen nicht analysieren, sodass diese Aussagen begrenzt sind. Wenn
innerhalb der Kontinente zu untersuchen. man jüngere Funde betrachtet, wird die Situation erwartungs-
Die Besiedelung Amerikas erfolgte erst vor ca. 20.000 Jahren gemäß komplexer, da weitere Wanderungsbewegungen dazu-
über die Beringstraße aus Sibirien (. Abb. 15.16); innerhalb kommen. In einem älteren Eskimo-Skelett (ca. 4000 Jahre v. Chr.)
Amerikas verteilten sich die Einwanderer dann relativ rasch von der Saqqaq-Kultur identifizierte man einen Subtyp der mito-
Norden in den Süden. Den Zusammenhang mit nordasiatischen chondrialen Haplotyp-Gruppe D, der in den modernen Aleuten,
Gruppen zeigen besonders gut Untersuchungen der mitochon- sibirischen Eskimos und amerikanischen Na-Dené-Eskimos zu
drialen DNA und der DNA des Y-Chromosoms von Eingebo- finden ist, aber nicht in den Nachkommen der jüngeren Thule-
renen der südlichen Altai-Region (nicht der nördlichen!) mit Eskimos. Deren genetische Spuren findet man in der arktischen
denen der indianischen Bevölkerung Amerikas. Allerdings wird Region des amerikanischen Kontinents seit etwa 1000  n.  Chr.:
diese These auf der Ebene der mitochondrialen Sequenz nur Damals kam es zu einer deutlichen Zuwanderung von Thule-
für einige wenige Untergruppen aus den Haplogruppen C und D Eskimos, die seither die Grundlage der Bevölkerung im Nord-
(. Abb. 15.21) gestützt. Dagegen sind Informationen der nicht- osten des amerikanischen Kontinents bilden. Von großem Inter-
rekombinierenden Region des Y-Chromosoms aussagekräftiger; esse sind natürlich auch die mittel- und südamerikanischen
die Haplotypen Q und C (. Abb. 15.24) in Bewohnern der süd- Hochkulturen der Inka, Maya und Azteken. Allerdings sind
lichen Altai-Region und auf dem amerikanischen Kontinent hier die genetischen Daten noch eher spärlich: Einige Daten aus
haben offensichtlich einen gemeinsamen Ursprung (Dulik et al. der untergegangenen Maya-Stadt Copán (Honduras) zeigen,
2012). dass die mitochondriale DNA der dort untersuchten Skelette
In ganz Amerika gibt es über 60 Stellen, an denen historische (~  1000  v.  Chr.) zum Haplotyp  D gehört, obwohl die heutige
Skelette gefunden wurden; die ältesten sind in Oregon (USA) und mittelamerikanische Bevölkerung hauptsächlich dem Haplotyp A
in Chile (beide sind älter als 14.000 Jahre). Die dort identifizierten zugerechnet wird. In der Bevölkerung von Argentinien kann
mitochondrialen Haplotypen gehören zu den Gruppen A und B; man auch die Spuren der spanischen Invasion von vor ungefähr
die oben erwähnte Haplotyp-Gruppe D wurde in Skeletten (Alter 500 Jahren beobachten: Während kein prähistorischer Fund
über 10.000 Jahre) aus einer Höhle in Alaska gefunden und ist die 9-bp-Deletion zeigt, die für die mitochondriale Haplotyp-
heute an der ganzen Pazifikküste Südamerikas weit verbreitet. In Gruppe B steht, findet sich diese in der modernen argentinischen
Nevada wurde in einem über 9000 Jahre alten Skelett mito- Bevölkerung in hoher Frequenz – ein Ausdruck der drastischen
chondriale DNA der Haplotyp-Gruppe C identifiziert. Viele alte Bevölkerungsabnahme unter den Inkas und des Genflusses nach
762 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

15

. Abb. 15.24a
a
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
763 15

. Abb. 15.24 Evolution des Y-Chromosoms und geographische Verteilung seiner Haplotypen. a Der Stammbaum des Y-Chromosoms ist als Funktion
seiner Haplotypen A bis R dargestellt. Untergruppen, die nicht durch die Existenz von Markern belegt werden können, sind durch ein Sternchen hervorge-
hoben (z. B. P*). Das Nomenklatursystem erlaubt auch die Vereinigung zweier Haplotypen wie D und E (= DE). b Die weltweite Verteilung der Y-chromo-
somalen Haplotypen ist durch die bunten Kreise angedeutet; jeder Kreis entspricht einer Bevölkerungsgruppe mit einem definierten Haplotyp (siehe a). Es
ist auffallend, dass zwischen direkt benachbarten Bevölkerungsgruppen große Ähnlichkeiten herrschen, dass aber große Unterschiede zu weiter entfernt
wohnenden Populationen bestehen. Die Populationen sind folgendermaßen bezeichnet: 1, !Kung; 2, Pygmäen; 3, engl. Bamileke; 4, engl. Fali; 5, Senega-
lesen; 6, Berber; 7, Äthiopier; 8, Sudanesen; 9, Basken; 10, Griechen; 11, Polen; 12, Samen; 13, Russen; 14, Libanesen; 15, Iraner; 16, Georgier; 17, Kasachen;
18, Punjabis; 19, Usbeken; 20, Nentsi (Ural); 21, Chanten; 22, Östliche Evenken; 23, Burjaken; 24, Evenen; 25, Eskimos; 26, Mongolen; 27, Evenken; 28, Han
(Nordchina); 29, Tibeter; 30, Taiwanesen; 31, Japaner; 32, Koreaner; 33, Philipinos; 34, Javanesen; 35, Malayen; 36, Neu-Guineaner (Hochland); 37, Neu-
Guineaner (Küste); 38, Australier (Arnhem); 39, Australier (Sandwüste); 40, Bewohner der Cook-Inseln; 41, Tahitianer; 42, Maori; 43, Navajo-Indianer;
44, Cheyenne-Indianer; 45, Mixteken; 46, Makiritare; 47, Cayapa-Indianer; 48, Grönländische Inuit. (Nach Jobling und Tyler-Smith 2003, mit freundlicher
Genehmigung der Nature Publishing Group)

dem Kontakt mit den spanischen Einwanderern. Ausführliche vor allem aus drei Regionen (Murlo, Volterra und Casentino),
Darstellungen dieser genetischen Aspekte der Populations- und verglichen die Sequenzen mit denen aus dem Nahen Osten.
geschichte des amerikanischen Kontinents findet sich bei Raff In Murlo war der Anteil nahöstlicher Sequenzen relativ hoch
et al. (2011) und – bezogen auf Lateinamerika – bei Salzano und (17,5 %), in den anderen Regionen mit etwa 5 % dagegen deutlich
Sans (2014). geringer. Neuere Arbeiten unter Einschluss mittelalterlicher und
In unserem kulturell so vielfältigen und heterogenen Europa etruskischer Skelette machen deutlich, dass unter den Bewoh-
gab es natürlich auch viele interessante Entwicklungen; wir nern der heutigen Toskana zwar auch Nachfahren der früheren
haben einen Hauptaspekt, nämlich das Verhältnis der Neander- Etrusker sind (dies gilt eher für die isolierten Regionen der
taler zu den anatomisch modernen Menschen, bereits be- Toskana; sie werden natürlich in den größeren Städten von viel-
sprochen. Wir wollen uns zum Abschluss dieses Abschnitts der fältigen Einwanderungen innerhalb der letzten Jahrhunderte
Frage zuwenden, woher die Etrusker kamen. Die Etrusker gelten überlagert). Die möglichen gemeinsamen Wurzeln zwischen der
als ein geheimnisvolles Volk, das in der heutigen Toskana lebte Toskana und Anatolien liegen allerdings ca. 5000 Jahre zurück
und dessen Ursprung aus archäologisch-historischer Sicht im – insofern ist die etruskische Hochkultur um 1000 v. Chr. nicht
Dunkeln liegt. Basierend auf dem römischen Historiker Vergil unmittelbarer Ausdruck einer Einwanderung aus Kleinasien
(»Aeneis«) ist eine viel diskutierte Hypothese, dass die Über- (Ghirotto et al. 2013). Und damit bleibt weiterhin viel Raum für
lebenden des untergegangenen Troja die Gründerpopulation der Spekulationen – zumindest so lange, bis weitere genetische In-
Etrusker bildeten. Die ersten genetischen Untersuchungen ver- formationen (über die Y-chromosomalen Ähnlichkeiten oder
wendeten mitochondriale DNA heutiger Bewohner der Toskana, anderer Sequenzen des Kerngenoms) zur Verfügung stehen.
764 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

> Moderne Verfahren der genetischen Analyse heute leben- um die UV-abhängige Bildung von Vitamin D bzw. dessen Vor-
der Menschen bzw. Skelette aus (prä)historischer Zeit stufen zu verhindern. Dieser Zusammenhang erscheint evident,
machen es möglich, Wanderungsbewegungen nachzuvoll- denn die Verteilung der Hautfarbe stimmt mit der Verteilung
ziehen und zumindest teilweise zeitlich und räumlich auf- der UV-Strahlung auf der Erde gut überein. Die UV-Strahlung
zulösen. steigt aber nicht nur zum Äquator hin an, sondern auch mit den
Höhenmetern; sie ist also in Tibet und in den Anden besonders
hoch. Im Gegensatz zur Hautfarbe sind aber Veränderungen
15.1.5 Die bunte Menschheit der Haar- und Augenfarbe wesentlich stärker geographisch be-
grenzt. Die meisten Menschen sind dunkelhaarig und haben
Die Farben der Haut, der Haare und der Augen sind vielfäl- auch dunkle Augen. Rote und blonde Haare findet man dagegen
tige  äußerliche Unterscheidungsmerkmale der Menschen hauptsächlich unter Europäern: Die meisten Rothaarigen findet
(. Abb. 15.25). Insbesondere die Hautfarbe war (und ist noch man in Großbritannien und Irland, und die meisten Blonden in
immer) Anlass für rassistische Diskriminierungen, insofern Aus- nordischen Ländern, obwohl es auch in einigen australischen
sagen über den »Wert« der jeweiligen Populationen mit deren und melanesischen Populationen blonde Menschen gibt.
Hautfarbe verbunden werden. Sie ist jedoch Ausdruck vielfäl- Die Farbe der menschlichen Haut und des menschlichen
tiger und lang dauernder evolutionärer Anpassungsprozesse Haares wird weitgehend durch die Menge und die Art des Pig-
an die geographisch unterschiedliche UV-Belastung mit ent- ments Melanin bestimmt, das durch die Melanocyten der Haut
sprechenden Konsequenzen für die Gesundheit der jeweiligen und der Haarfollikel produziert wird. Wir kennen prinzipiell
Populationen. Im Mittelpunkt steht dabei das Pigment Melanin zwei Klassen von Melanin: Eumelanin (das braun oder schwarz
und dessen Wirkung, die UV-Strahlung von den Zellen abzu- sein kann) und Phäomelanin (das durch die Einlagerung von
halten und dadurch die Häufigkeit von Hautkrebs zu vermin- Cystein eher gelb oder rot wird). Für die Klassifikation des
dern. Andererseits darf die Schutzwirkung nicht zu stark sein, Pigmentstatus ist schließlich entscheidend, wie viel Melanin

15

. Abb. 15.25 Variationen der Haut- und Augenfarben der Menschen. a Variationen der Hautfarbe des
Menschen aufgrund graduell unterschiedlicher Pigmentierung. Die Anordnung der Hände und Unterarme
illustriert die Bandbreite der verschiedenen Hauttypen. b Repräsentative Augenfarben, die von blau über
grau, grün, nussbraun, hellbraun bis dunkelbraun reichen. (a nach Sturm 2009, mit freundlicher Genehmigung
a
des Autors; b nach Sturm und Frudakis 2004, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
765 15
CSF α-MSG . Abb. 15.26 Die Rolle des Melanocortin-1-
Rezeptors für die Melanogenese. α-MSH bin-
MC1R
det an den Melanocortin-1-Rezeptor (MC1R),
KIT
der dadurch den PKA/cAMP-Signalweg akti-
AC
viert. Außerdem kann über die Bindung
MAPK des Kolonie-stimulierenden Faktors (CSF) an
cAMP
P90RSK seinen Rezeptor KIT der MAP-Kinase-Signal-
PKA
weg aktiviert werden. Am Ende beider Signal-
wege wird die Expression von Genen wie TYR,
Melanocyt TYRP1 und TYRP2 induziert, sodass die ent-
SOX10 CREB PAX3 sprechenden melanogenen Enzyme aktiv wer-
P MITF-Gen den. (Nach Dessinioti et al. 2011, mit freund-
MITF licher Genehmigung der Autoren)
CSOX10 PAX3 Überleben der Zelle
p300 P
MITF p300 P
MITF pCL2

Phäomelanin Eumelanin

überhaupt gebildet wird und wie das Verhältnis von Eumelanin ren OCA2 (engl. oculocutaneous albinism type 2; OMIM 611409;
zu Phäomelanin ist. Allerdings ist die Färbung des Körpers nicht früheres Gensymbol: P), TYR (engl. tyrosinase; OMIM 606933),
einheitlich, da es Unterschiede in der Pigmentierung zwischen TYRP1 (engl. tyrosinase-related protein 1; OMIM 115501) oder
den verschiedenen Körperregionen gibt (z. B. Innen- und Außen- SLC45A2 (engl. solute carrier family 45 member 2; OMIM 609802;
flächen der Hand); das gilt auch für die Haarfarbe, die sich im früheres Gensymbol: MATP für engl. membrane-associated
Laufe des Lebens ändert und an verschiedenen Körperregionen transporter protein).
unterschiedlich sein kann. Auch ein scheinbar gleicher Pigment- Eines der wichtigsten Systeme im Zusammenhang mit der
status bei verschiedenen Menschen kann sich unter UV-Be- Regulation menschlicher Hautpigmentierung ist jedoch der
lastung unterschiedlich verhalten (stärkere oder schwächere Melanocortin-1-Rezeptor, ein G-Protein-gekoppelter Trans-
Pigmentierung nach Sonneneinstrahlung bzw. Gefahr eines membranrezeptor an der Oberfläche der Melanocyten. Die Bin-
Sonnenbrands). dung des Melanocyten-stimulierenden Hormons  α (α-MSH)
Melanin wirkt als ein natürliches Sonnenschutzmittel und führt zur Synthese von Eumelanin. Die Bindung von ASIP (engl.
ist besonders wirksam gegen UV-Licht mit einer Wellenlänge agouti signalling protein; OMIM 600201) führt dagegen zur Pro-
von ungefähr 300 nm. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, duktion von Phäomelanin, da das gebundene ASIP die Bindung
darauf hinzuweisen, dass Albinos in Regionen mit hoher UV- von α-MSH (und damit die sonst initiierte Signalkette zur Bildung
Strahlung (z. B. in Afrika) schon als Teenager prämaligne Symp- von cAMP) verhindert und so die Bildung von Eumelanin ab-
tome oder Hautkrebs entwickeln; in Tansania und Nigeria schwächt. Der Nettoeffekt ist ein Anstieg der Synthese von Phäo-
überleben weniger als 10 % der Albinos das 30. Lebensjahr. Es melanin. Die Signalkette, die durch den Melanocortin-1-Rezeptor
ist deshalb vernünftig, anzunehmen, dass die Menschen, die aus in den Melanocyten gesteuert wird, ist in . Abb. 15.26 dargestellt.
Afrika ausgewandert sind, dunkelhäutig waren, und die Auf- In der kaukasischen Bevölkerung ist das MC1R-Gen sehr
hellung der Haut später und unter solchen Umweltbedingungen stark polymorph. Die SNPs R151C, R160W und D294H wirken
entstand, für die eine dunkle Haut nicht notwendig war, sodass sich besonders stark auf die Bildung von roten Haaren, heller
sich in den verschiedenen Genen, die für eine dunkle Hautfarbe Haut und Sommersprossen aus; sie stören auf unterschiedliche
verantwortlich sind, Polymorphismen entwickeln konnten, die Weise die Wirksamkeit des Rezeptors für die Stimulierung
sich auf die Fortpflanzung der Individuen unter einer geringen der Proteinkinase A(PKA)/cAMP-Signalkette. Die Allelfrequen-
UV-Belastung nicht schädlich auswirkten. zen dieser drei Varianten nehmen in Europa von Norden nach
Konstitutive Pigmentierung ist ein polygenes Merkmal; viele Süden hin ab: 21,5  % in Großbritannien und Irland, 16  % in
Gene sind bei verschiedenen Säugern charakterisiert worden, Holland, 9,6  % in Frankreich, 8,5  % in Italien und 2,9  % in
die für unterschiedliche Fellfarben, aber auch damit verbundene Griechenland. Für weitere Detail-Diskussionen einzelner SNPs
Erkrankungen verantwortlich sind. Auf diese Weise wurden zu- des MC1R-Gens sei auf die Übersichtsarbeit von Dessinioti et al.
nächst auch einige Gene bei Menschen identifiziert, dazu gehö- (2011) verwiesen.
766 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

aa

A/a a/a

A/a A/a A/a


b

α/α A/α

α/α α/α

? ?

? ? ?

d HLTF e HLTF
15 Pol II Pol II

ATP ATP
Heterochromatin Heterochromatin
21 kb 21 kb

T
HERC2 Intron 86 OCA2-Promotor HERC2 Intron 86 OCA2-Promotor

braune Augenfarbe HLTF


ADP blaue Augenfarbe
Euchromatin ATP
HLTF Pol II
21 kb Heterochromatin
21 kb
T
MITF LEF1
c
OCA2-Promotor geschlossen
Locus-Kontrollregion OCA2-Promotor offen
MITF LEF1

. Abb. 15.27 Erblichkeit der Augenfarben. a, b Beispiele für einen klassischen Erbgang, bei dem braun (A/a, A/α oder A/A) dominant über blau (α/α) und
grün (a/a) ist: a braun (A/a) x grün (a/a) ergibt braun (A/a). b blau (α/α) x braun (A/α) ergibt blau (α/α). c Hier ist dagegen ein Erbgang zu sehen, der nicht
dem Mendel’schen Schema (braun dominant über blau) entspricht: Helle Augen der Eltern ergeben dunkle Augen bei den Kindern. d, e Modell für die Fest-
legung der blauen bzw. braunen Augenfarbe aufgrund der Regulation des OCA2-Gens. Eine Kaskade molekularer Wechselwirkungen führt dazu, dass die
ursprünglich geschlossene heterochromatische Form des OCA2-Promotors geöffnet wird (d). Dabei bindet der Helikase-ähnliche Transkriptionsfaktor
(HLTF; blau) sequenzspezifisch an das T-Allel des SNPs rs12913832 im Intron 86 des HERC2-Gens. Die DNA (hellblau) ist um die Nukleosomen (rot) gewun-
den, und gemeinsam mit den Transkriptionsfaktoren MITF (engl. microphthalmia-associated transcription factor; grün) und LEF1 (engl. lymphoid enhancer-
binding factor 1; violett) bewirkt HLTF unter ATP-Verbrauch (grüner runder Pfeil) die Öffnung des Chromatins, sodass die RNA-Polymerase II (Pol II; gelb) den
OCA2-Promotor 21 kb unterhalb der DNA-Bindestelle ablesen kann (grüner eckiger Pfeil). Das OCA2-Protein stimuliert die vollständige Ausreifung der Mela-
nosomen, was zu einer hohen Melaninkonzentration in den Melanocyten der Iris und damit zu einer dunklen Augenfarbe führt. Wenn dagegen das C-Allel
des SNPs rs12913832 im Intron 86 des HERC2-Gens vorhanden ist, kommt die Wechselwirkung von HLTF mit dem Heterochromatin nicht zustande (rotes X);
als Folge bleibt die Promotorregion des OCA2-Gens geschlossen (roter blockierter eckiger Pfeil), und die Melanocyten in den Melanosomen der Iris können
nicht ausreifen, sodass daraus eine blaue Augenfarbe resultiert (e). (Nach Sturm und Larsson 2009, mit freundlicher Genehmigung von Wiley)
15.1 · Genetische Aspekte zur Evolution des Menschen
767 15
Ein weiterer Polymorphismus, der zur Aufhellung der Haut lationen entstanden etwa vor 40.000 bis 20.000 Jahren. Damit ist
führt, betrifft das SLC24A5-Gen. Es codiert für einen Kationen- auch ein wesentlicher Unterschied zu allen anderen genetischen
austauscher, der offensichtlich für die Morphogenese der Mela- Merkmalen offensichtlich, bei denen die afrikanischen Popula-
nocyten wichtig ist; die erste Mutation wurde im Zebrafisch tionen eine größere Variabilität zeigen als diejenigen, die aus
gefunden und ist in diesem Modellorganismus für den golden- Afrika ausgewandert sind.
Phänotyp verantwortlich. Der wichtige Polymorphismus bei Neben der Haut- und Haarfarbe ist die Augenfarbe (genauer:
Menschen betrifft das Alanin an der Position 111, das in euro- die Farbe der Iris; . Abb. 15.25b) ein wichtiges äußeres Merkmal
päischen Populationen vollständig durch Threonin ersetzt einer Person. Es existiert ein Kontinuum von einem leichten
wurde. Es wird geschätzt, das dieses neue Allel etwa ein Drittel Schimmer von Blau bis zu einem sehr dunklen Braun oder gar
der Unterschiede im Melanin-Index zwischen den europäischen Schwarz. Die Erblichkeit der Augenfarbe hat Genetiker von
und ursprünglichen afrikanischen Populationen erklärt. Das Anbeginn interessiert – aber neben Berichten über Mendel’sche
neue Threonin-Allel ist auch in den benachbarten Regionen des Erbgänge der Augenfarbe über mehrere Generationen hinweg
mittleren Ostens, Nordafrika und Pakistan deutlich überre- gab es auch Beobachtungen, die nicht in dieses klassische Schema
präsentiert (62–100 %); das ursprüngliche Allel kommt dagegen passen. Beispiele dazu sind in . Abb. 15.27a–c gezeigt. Die gene-
mit großer Häufigkeit in Ostasien, Südostasien, Amerika und in tische Analyse von verschiedenen Familien mit Mendel’schem
Melanesien vor. Eine ähnliche Verteilung findet man für einen Erbgang lieferte dann im Prinzip dieselben Gene, die wir auch
Polymorphismus im MATP-Gen: Das neue Allel, ein Leucin an schon bei der Haut- und Haarfarbe als wichtig kennengelernt
der Position 374, kommt nur in Europa und den benachbarten haben: TYR, TYRP1, TYRP2, SLC24A4, SLC45A2 und ASIP.
Regionen vor, wohingegen das ursprüngliche Phenylalanin an Im Gegensatz zu den Variationen bei der Haut- und Haar-
dieser Position in Afrika und Asien vorhanden ist. farbe spielt bei der Augenfarbe das OCA2-Gen eine bedeutende
Der andere wichtige Aspekt der UV-Strahlung ist die Vita- Rolle. Polymorphismen in diesem Gen und einem benachbarten
min-D-Synthese. Obwohl einige Nahrungsmittel Vitamin  D Enhancer sind für etwa drei Viertel der Unterschiede in den
enthalten, ist die Hauptquelle die Bildung von Vitamin D in der Augenfarben verantwortlich. Im Intron 1 des OCA2-Gens bilden
Haut aus entsprechenden Vorstufen; Vitamin-D-Mangel führt drei SNPs einen Haplotyp, der eine hohe diagnostische Bedeu-
bei Kindern zu Rachitis und bei Erwachsenen zu Osteomalazie, tung für die Vorhersage von blauen Augen hat. Der zweite Be-
einer schmerzhaften Knochenerweichung, hervorgerufen durch reich befindet sich im Intron 86 des benachbarten HERC2-Gens
unzureichende Mineralisierung der Knochengrundsubstanz. (engl. HECT domain and RCC1-like domain 2; OMIM 605837);
Menschen mit dunkler Hautfarbe benötigen eine etwa 10-mal dieser SNP (rs12913832) hat sogar einen noch höheren dia-
längere Expositionszeit gegenüber Sonnenlicht als Menschen mit gnostischen Wert als der Haplotyp im OCA2-Gen. Der SNP im
heller Haut, um dieselbe Menge an Vitamin D herzustellen. In Intron 86 liegt in einer hochkonservierten Region, von der man
Regionen mit geringerer UV-Strahlung hatten also Menschen vermutet, dass das eine Allel eine Bindestelle für eine DNA-He-
mit dunkler Hautfarbe in prähistorischen Zeiten deutliche selek- likase darstellt, die das Chromatin lockern kann, damit es für
tive Nachteile: Die Polymorphismen in den europäischen Popu- Transkriptionsfaktoren wie MITF (engl. microphthalmia-associat-

. Tab. 15.2 Häufigkeit des SNPs rs12913832 in verschiedenen menschlichen Populationen

Populationa Zahl der untersuchten Genotypen (%)b Allelfrequenz (%)b


Chromosomen T/T T/C C/C T C

Westeuropäer (CEU) 226 3,5 34,5 61,9 20,8 79,2

Chinesen (HCB) 90 100 0 0 100 0

Japaner (JPT) 90 100 0 0 100 0

Nigerianer (YRI) 120 100 0 0 100 0

Afrikaner in den USA (ASW) 98 73,5 22,4 4,1 84,7 15,3

Indianer (GIH) 176 81,8 18,2 0 90,9 9,1

Mexikaner (MEX) 100 66,0 22,0 12,0 77,0 23,0

Maasai in Kenia (MKK) 286 99,3 0,7 0 99,7 0,3

Bewohner der Toskana (TSI) 176 31,8 53,4 14,8 58,5 41,5

J. Craig Venter 2 0 0 100 0 100

James D. Watson 2 0 0 100 0 100

aDie Beschreibung der Populationen nach dem HapMap-Projekt (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/SNP/snp_viewTable.cgi?pop=12163);


bZur Übereinstimmung mit . Abb. 15.27d, e ist der SNP im Gegenstrang angegeben.
Quelle: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/SNP/snp_ref.cgi?rs=12913832 (Mai 2015)
768 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

ed transcription factor; OMIM 156845) und LEF1 (engl. lymphoid In Ergänzung dieses Ansatzes, der zunächst nur auf dem reinen
enhancer-binding factor 1; OMIM 153245) zugänglich wird und Sequenzvergleich beruht, werden auch verstärkt Anstrengungen
dadurch OCA2 exprimiert wird; das andere Allel stellt keine unternommen, systematisch nach Unterschieden im Expres-
Bindestelle für die Helikase dar, sodass das Chromatin an dieser sionsmuster bzw. der Expressionsstärke von Genen zwischen den
Stelle in einer geschlossenen Konformation bleibt und OCA2 verschiedenen Spezies zu suchen, um so auch Ansätze für funk-
nicht exprimiert wird (. Abb. 15.27d, e). Eine Übersicht über tionelle Untersuchungen zu finden.
die Genotypen und Allelfrequenz des SNPs rs12913832 gibt Unter den Genen, die einzigartige Muster in Bezug auf ihre
. Tab. 15.2. Evolution zeigen, sind einige, die mit besonderen kognitiven Fä-
Im Gegensatz zu den selektiven Vorteilen einer helleren Haut higkeiten des Menschen in Verbindung gebracht werden. In Bezug
bei geringer UV-Strahlung ist der Vorteil einer helleren Augen- auf die Gehirngröße werden besonders zwei Gene diskutiert:
farbe nicht offensichtlich. Blaue Augen gibt es auch bei zwei MCPH1 (Mikrocephalin) und ASPM, ebenfalls ein Mikroce-
Affenarten, Makaken und Lemuren. In beiden Fällen ist aber phalie-assoziertes Gen, das Homologien zum Drosophila-Gen
der OCA2/HERC2-Polymorphismus dafür nicht verantwortlich. abnormal spindle aufweist (engl. abnormal spindle-like, micro-
Die Suche nach dem letzten gemeinsamen Vorfahren datiert
die Entstehung dieses Polymorphismus bei den Europäern etwa
10.000 Jahre zurück; es gibt Hinweise darauf, dass die Träger des
neuen Allels die saisonale affektive Depression in der längeren
Dunkelperiode des neolithischen Winters in Europa besser über-
standen haben.
> Die Aufhellungen der Haut-, Haar- und Augenfarben
betreffen im Wesentlichen die außerafrikanischen Popula-
tionen der Menschen und stellen unter verschiedenen
Gesichtspunkten eine Anpassung an die geringere Son-
neneinstrahlung in den nördlicheren Breiten dar.

15.2 Der Mensch und sein Gehirn a

Unter den Merkmalen, die den modernen Menschen von den


anderen Primaten, aber auch von seinen früheren Vorfahren un-
terscheidet, ist das größere (und leistungsfähigere) Gehirn von
herausragender Bedeutung. Wir wollen uns in diesem Abschnitt
zunächst noch einmal der Evolution zuwenden und der Frage
15 nachgehen, ob es Gene gibt, die sich auf die Gehirnentwicklung
auswirken und sich durch besondere Charakteristika während
der Evolution auszeichnen. Mit der Gehirnentwicklung un-
mittelbar verknüpft sind Leistungen wie Sprache und Schrift, die
auch vielfach als spezifisch menschlich betrachtet werden. Auch
die Frage des Bewusstseins und des sozialen Verhaltens wird
häufig als ein Charakteristikum des Menschen bezeichnet, das
untrennbar mit der besonderen Komplexität seines Gehirns ver-
bunden sei. Schließlich wird uns dieser Abschnitt zu der häufig
diskutierten Frage der Willensfreiheit führen. Auch wenn die
Genetik hier (noch) keine befriedigenden Antworten geben
kann, können vielleicht doch einige Ansätze aufgezeigt werden, b
wie man eine Antwort finden könnte.

. Abb. 15.28 Die evolutionäre Vergrößerung des Primatenhirns steht in


starkem Kontrast zur pathologischen Reduktion der Gehirngröße bei
15.2.1 Evolution des menschlichen Gehirns primärer Mikrocephalie. a Die Primatenschädel zeigen eine deutliche Zu-
nahme der Gehirngröße während der Evolution (von unten nach oben:
Nachdem die entscheidenden genomweiten DNA-Sequenzen Makake: 100 g; Orang-Utan: 400 g; Schimpanse: 400 g; Mensch: 1350 g).
nicht nur des modernen Menschen, sondern auch des Neander- b Magnetresonanzbilder eines gesunden Menschen (links) und eines
Patienten mit primärer Mikrocephalie und einer MCPH1-Mutation (rechts).
talers, des Schimpansen, des Gorillas, des Orang-Utans und des
In der primären Mikrocephalie ist das Gehirnvolumen deutlich vermindert;
Makaken jetzt vorliegen, gibt es jetzt die Möglichkeit, gezielt insbesondere ist der cerebrale Cortex wesentlich kleiner und zeigt eine
nach den Unterschieden zu suchen, die mit der beschleunigten verminderte Faltung und ein vereinfachtes gyrales Muster. (Nach Ponting
Entwicklung des Gehirnwachstums zusammenhängen könnten. und Jackson 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
769 15
cephaly associated). Mutationen in beiden Genen führen bei Men- Aber das MCPH1-Gen ist nicht nur wegen seiner pathologi-
schen zu primärer Mikrocephalie, einer Entwicklungsstörung schen Mutationen interessant – es zeigt auch eine beschleunigte
des Gehirns, die zu einer Verminderung der Gehirngröße auf ein Evolution in der Entwicklungslinie der gemeinsamen Vorläufer
Drittel führt; die Gehirngröße dieser Menschen liegt damit in von Affen und Menschen. In den vergangenen 25 bis 30  Mio.
der Größenordnung früher Hominiden (. Abb. 15.28). Die Er- Jahren wurden etwa 45 vorteilhafte Aminosäureveränderungen
krankung folgt einem klassischen rezessiven Erbgang und ist fixiert, was die Hypothese unterstützt, dass das MCPH1-Gen für
mit einem moderaten Verlust kognitiver Fähigkeiten verbunden, die Vergrößerung des Gehirns in der menschlichen Entwicklung
aber überraschenderweise nicht mit signifikanten neurologi- bedeutsam war. Auch das MCPH1-Gen des modernen Menschen
schen Fehlfunktionen. Der cerebrale Cortex hat dabei ein verein- zeigt eine auffällige Heterogenität, nämlich 22 SNPs in der codie-
fachtes gyrales Muster ohne größere Veränderungen der corti- renden Region, wovon 15 zu Aminosäureveränderungen führen.
kalen Architektur. Zusammen mit den charakteristischen Ver- Statistische Analysen deuten darauf hin, dass die Sequenzunter-
änderungen der Gesichtsform haben diese Befunde zu der An- schiede im MCPH1-Gen durch eine Kombination der jüngeren
nahme geführt, dass es sich bei der primären Mikrocephalie um Ausdehnung der Populationsgröße als auch durch starke positive
eine atavistische Erkrankung handelt, die zu einer Urform zurück- Selektion verursacht sind. Das MCPH1-Gen zeigt eine starke
führt. Kopplungsanalysen haben gezeigt, dass es insgesamt sechs positive Selektion in der Abstammungslinie des Menschen. Eine
Genorte für primäre Mikrocephalie gibt; zwei Gene wurden iden- Haplotyp-Analyse (. Abb. 11.43) in 89 menschlichen DNA-Pro-
tifiziert und sollen im Folgenden diskutiert werden: MCPH1 und ben, die die globale Verteilung der wichtigsten menschlichen
ASPM. Es sei an dieser Stelle auch noch einmal auf die Hypothese Populationen repräsentieren, ergab, dass ein bestimmter Haplo-
hingewiesen, dass die »Flores-Menschen« an einer derartigen Er- typ (»D«; . Abb. 15.29a) vor ca. 37.000 Jahren aus einer Kopie
krankung gelitten haben könnten. entstanden ist und heute mit einer großen Häufigkeit von 70 %

a Genomische Struktur . Abb. 15.29 a Verteilung der Bereiche, die in der


von Mikrocephalin 29-kb-Region des Mikrocephalin-Gens (MCPH1) kon-
gruent oder nahezu kongruent segregieren. Kongruente
Nachsequenzierte Bereiche sind so definiert, dass sie immer unterschied-
Region (~29 kb)
liche Allele zwischen den »D«- und »Nicht-D«-Haplo-
Kongruent oder typen zeigen; nahezu kongruente Bereiche sind solche,
nahezu kongruent (G37995C) die sich in nicht mehr als vier Basen von den kongruen-
segregierende
ten Bereichen unterscheiden. Die Abschnitte, die für das
Bereiche
abgeleitete D-Chromosom charakteristisch sind, sind
durch lange blaue Striche gekennzeichnet; die Bereiche,
b c
die für das alte (»Nicht-D«-)Chromosom charakteristisch
sind, sind mit kurzen roten Strichen gekennzeichnet. Der
SNP G37995C kann als diagnostischer Marker verwendet
werden: G ist das alte Allel und C das neue. b, c Schema-
Trennung der Trennung der tische Darstellung von zwei möglichen demographischen
Population Population Szenarien, die mit der beobachteten Genealogie des
Mikrocephalin-Locus vereinbar sind. In beiden Annahmen
teilt sich eine ursprüngliche Population (grün) in zwei
reproduktiv isolierte Populationen. Eine Population (rot)
fixiert das »Nicht-D«-Allel, während die andere (blau)
das »D«-Allel fixiert. b Im ersten Szenario wird die blaue
Population stark verkleinert, was auch die genetische
Diversität deutlich vermindert (Flaschenhalseffekt). Da-
nach expandiert sie aber wieder und verschmilzt mit
Zeit Zeit der anderen Population. c Im zweiten Fall ereignet sich
eine seltene Kreuzung zwischen den beiden Populatio-
nen, die eine Kopie des »D«-Allels von der blauen in die
rote Population bringt. Diese Kopie vervielfältigt sich an-
schließend in hoher Frequenz aufgrund eines positiven
Selektionsdrucks. Da das erste Modell nur von der Demo-
graphie abhängt und keinerlei Selektion benötigt, sollte
es sich auf das gesamte Genom in gleicher Weise aus-
Starker wirken. Das zweite Szenario benötigt stattdessen die
Flaschenhals- Wirkung positiver Selektionskräfte in Bezug auf das ein-
effekt der
Population gekreuzte Allel und sollte daher keinen genomweiten
Einkreuzung Effekt haben. Die Beobachtung, dass die Genealogie von
Mischung der Mikrocephalin nicht repräsentativ für das gesamte Ge-
Population nom ist, spricht für die zweite Variante. (Nach Evans et al.
2006, mit freundlicher Genehmigung der Nationalen
Endgültige Population Endgültige Population Akademie der Wissenschaften, USA)
(30% Nicht-D-Allel, (30% Nicht-D-Allel,
70% D-Allel) 70% D-Allel)
770 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

in der Menschheit verbreitet ist; dies ist ein deutliches Zeichen genauer betrachtet, entdecken wir viele Veränderungen beson-
für eine »positive Selektion« und nicht kompatibel mit der ders in dem längeren Bereich zwischen der ersten und zweiten
Annahme einer neutralen genetischen Drift. Dieser Haplotyp D BRCT-Domäne – die meisten von diesen Sequenzänderungen
hatte sich vor ca. 1,1  Mio. Jahren zunächst von der Linie des können mit der humanspezifischen Entwicklung assoziiert wer-
modernen Menschen getrennt, wurde aber vor ca. 37.000 Jahren den und zeigen eine positive Selektion in der humanen Ent-
wieder »eingekreuzt« (. Abb. 15.29b, c). wicklungslinie (. Abb. 15.31). Das MCPH1-Protein kann direkt
Das MCPH1-Gen (OMIM 607117; chromosomale Lokalisa- mit dem Transkriptionsfaktor E2F1 in Wechselwirkung treten;
tion: 8p23) besteht aus 14 Exons und codiert für ein Protein aus zusammen bilden die beiden Proteine einen Komplex und
835 Aminosäuren. Sequenzvergleiche mit anderen humanen Ge- können so an Promotoren ihrer Zielgene binden. Zu diesen Ziel-
nen deuten auf eine Verwandtschaft zu Genen, die für das To- genen gehört eine Reihe von Zellzyklus-regulierenden Genen,
poisomerase-II-Bindungsprotein und das Tumorsuppressor- aber auch die Reverse Transkriptase der humanen Telomerase
protein BRCA1 codieren. Das Protein enthält drei BRCT-Domä- (hTERT). Neben seiner aktivierenden Wirkung zusammen mit
nen (engl. BRCA1 C-terminal domain; . Abb. 15.30a), die häufig E2F1 wirkt das MCPH1-Protein alleine aber auch als Repressor.
in solchen Proteinen vorkommen, die an DNA-Reparatur und Funktionelle Untersuchungen zeigen nun, dass die regulato-
Zellzyklus-Kontrolle beteiligt sind. In Familien mit Mikroce- rischen Effekte des humanen MCPH1-Proteins sich an vielen
phalie-Patienten wurden zwei rezessive Mutationen in diesem Stellen von denen der Affen-Proteine unterscheiden, sodass wir
Gen gefunden, die jeweils zu einem vorzeitigen Stoppcodon und davon ausgehen können, dass das MCPH1-Gen und seine Evolu-
damit einem vollständigen Funktionsverlust führen (Ponting tion in der menschlichen Entwicklungslinie tatsächlich von her-
und Jackson 2005). ausragender Bedeutung für die Entwicklung unseres Gehirns ist.
Wie MCPH1 wurde auch ASPM durch positionelle Klonie-
rung konsanguiner Familien mit Mikrocephalie-Erkrankungen
als betroffenes Gen identifiziert. Bisher wurden über 20 Muta-
*Die Funktion des ASPM-Gens ist noch weitgehend unbe-
kannt; bei Mäusen wird es überwiegend während der
tionen in diesem Gen identifiziert – alle führen zu vorzeitigem embryonalen Entwicklung des Gehirns in der cortikalen
Kettenabbruch und dem vollständigen Funktionsverlust des ventrikulären Zone exprimiert, aber auch nach der Geburt
Gens. Das ASPM-Gen (OMIM 605481; Chromosom 1q31) um- in den Bereichen, in denen weiterhin Neurogenese statt-
fasst 28 Exons in über 60 kb und bildet eine mRNA von ungefähr findet. Das homologe Protein bei Drosophila hat eine wichti-
9,5 kb; es codiert entsprechend für ein sehr großes Protein von ge Aufgabe bei der Organisation der Mikrotubuli und dem
3477 Aminosäuren (. Abb. 15.30b). Aufbau des Spindelapparates während der Mitose. In Neuro-
Wir wollen uns zunächst der Evolution und der Funktion blasten der Fliege muss die mitotische Spindel rechtwinklig
des MCPH1-Gens zuwenden. Wenn man die Sequenzen verschie- zur Epitheloberfläche angeordnet sein, um so eine korrekte
dener Säugetiere und insbesondere auch die der großen Affen Orientierung der Furchung während der asymmetrischen

a MCPH1

15

b ASPM

. Abb. 15.30 Die MCPH1- und ASPM-Gene. a Mikrocephalin (MCPH1) besteht aus 14 Exons und codiert für ein Protein aus 835 Aminosäuren. Es enthält
drei BRCA1-C-terminale (BRCT) Domänen, die erste und zweite sind durch ca. 500 Aminosäuren voneinander getrennt (IBS: Inter-BRCT-Domänen-Sequenz).
Die roten Exons waren in hohem Maße einer adaptiven Evolution ausgesetzt (KA/KS > 3 zwischen den Vorfahren der Altweltaffen und den Menschenaffen),
wohingegen Selektionsmechanismen vor allem im Bereich der BRCT-Domänen wirksam waren. b Das ASPM-Gen (engl. abnormal spindle-like microcephaly-
associated) hat 28 Exons und codiert für ein sehr großes Protein (3477 Aminosäuren), das in vier Bereiche eingeteilt werden kann: eine N-terminale Mikro-
tubulin-bindende Region, eine Calponin-homologe Region, viele IQ-Calmodulin-bindende Regionen (IQ: Isoleucin- und Glutamin-haltige Bereiche) und eine
C-terminale Region. Die Exons 3 und 18 (rot) waren in hohem Maße einer adaptiven Evolution ausgesetzt (signifikante Erhöhung des KA/KS-Verhältnisses).
(Nach Ponting und Jackson 2005, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
771 15

Domänen des
BRCT1 BRCT2 BRCT3
MCPH1-Proteins

96 101 161 167 310 314 377 425 442 485 510 835 841
Zwei wichtige taxonomische Mensch M S I E V H T Y L R A P S
Übergänge mit
Vergrößerungen des Gehirns Schimpanse T P I E I D T N F Q A S S

Gorilla T P I E I D T N F Q A S S

Orang-Utan T P I E I D T N F Q A S S

Gibbon T P T K I D T N F Q T S P

Makake T P T K I D T N F Q T S P

Krallenaffe T P T K I D T N F Q A S D

Ratte T P V N V K Y N F E S F L

Maus T P V N V E Y N F E S F L

Rind T P V K V I L V L A T S P

Hund T P M K V D S S F Q A F L
. Abb. 15.31 Schematische Darstellung der Domänen des MCPH1-Proteins und der Aminosäureaustausche, die für die jeweilige Abstammungslinie spezi-
fisch sind. Die Ziffern geben die jeweiligen Aminosäurepositionen im Protein an; die Aminosäuren sind im Ein-Buchstaben-Code angegeben. Die Stellen,
die für die humane Entwicklung spezifisch sind, sind schattiert. Die beiden Ereignisse, die zu den deutlichen Vergrößerungen des Gehirns geführt haben, sind
durch Pfeile angedeutet; sie fallen mit molekularen Signaturen einer positiven Selektion während der Primatenentwicklung zusammen. (Nach Shi et al. 2013,
mit freundlicher Genehmigung der Autoren)

Zellteilung zu ermöglichen. Es wird daher derzeit darüber genomweite Überprüfung auf Regionen durchgeführt, die bei
spekuliert, dass die bekannten ASPM-Mutationen die Orien- Säugern hochkonserviert sind und die in der humanen Linie
tierung der Spindel während der Mitose beeinflussen und einer plötzlichen und schnellen Evolution ausgesetzt waren.
dadurch die Zahl der neuralen Zellen aufgrund eines verän- Unter 49 Regionen, die in der menschlichen Region einer be-
derten Verhältnisses von asymmetrischen zu symmetrischen schleunigten Evolution ausgesetzt waren, ist HAR1 diejenige,
Zellteilungen vermindert wird. In der Summe kann dies zu die sich am schnellsten entwickelt hat: Es handelt sich dabei um
einer Verringerung der Gehirngröße führen. einen Abschnitt von 118 bp in der letzten Bande des langen Arms
Das ASPM-Gen hat offensichtlich einige adaptive Verände- auf dem Chromosom 20. Die HAR1-Sequenz (. Abb. 15.32) ist
rungen in der jüngeren Phase der menschlichen Evolution unter den Amnioten hochkonserviert und unterscheidet sich in
erfahren. Seit der Abspaltung vom gemeinsamen Vorfahren nur zwei Positionen zwischen Hühnern und nicht menschlichen
mit den Schimpansen haben sich an 15 Stellen Verände- Primaten – sie hat aber 18 fixierte Substitutionen in der kurzen
rungen ergeben. Besonders betroffen davon sind die beiden Entwicklungszeit, die die Menschen von ihren gemeinsamen
großen Exons 3 und 18, wohingegen die konservierten Vorfahren mit den Schimpansen trennt.
Domänen von evolutiven Veränderungen nur in geringerem HAR1 wird als Teil zweier überlappender Gene transkribiert:
Ausmaß erfasst wurden. Eine besondere genetische Variante HAR1F, das HAR1 in seinem ersten Exon enthält, und HAR1R, ein
entstand im ASPM-Gen erst vor etwa 5800 Jahren und ist alternativ gespleißtes Gen, das HAR1 in seinem letzten Exon ent-
heute mit hoher Frequenz in den menschlichen Popula- hält. Mit Ausnahme des HAR1-Segmentes sind die beiden Tran-
tionen verbreitet, was auf eine starke positive Selektion hin- skripte HAR1F und HAR1R nur schwach konserviert. Da weder
deutet. Es konnte bisher jedoch keine Assoziation der ver- HAR1F noch HAR1R für Proteine codieren, stellt sich die Frage
schiedenen nicht-pathogenen Allele zur Größe des Gehirns nach der biologischen Funktion dieser nicht-codierenden RNA
nachgewiesen werden. Eine interessante Beobachtung ist (ncRNA), die auch keinerlei Homologie zu bekannten tRNAs oder
allerdings, dass die entwicklungsgeschichtlich älteren Allele miRNAs aufweist (7 Abschn. 3.5.3 und 7 Abschn. 8.2.3). Für das
in Populationen vorkommen, die eine tonale Sprache ent- HAR1-Segment wird eine stabile Sekundärstruktur vorhergesagt,
wickelt haben (Bishop 2009). die fünf Helices enthält. Die Sequenz des Schimpansen unterschei-
det sich in ihrer Struktur deutlich von der humanen Sequenz, bei
Ein Gen ganz anderer Art wurde von Pollard et al. 2006 be- der eine Helix sich auf Kosten der benachbarten deutlich ver-
schrieben: eine nicht-codierende RNA, die als HAR1F bezeich- größert hat. Genaue Sequenzvergleiche machen auch deutlich,
net wird (engl. human accelerated region 1F). Dazu wurde eine dass alle 18 humanspezifischen Austausche von A/T nach G/C
772 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

. Abb. 15.32 HAR1F und die Entwicklung des cerebralen Cortex. Links: In der HAR1-Region, die in einem mutmaßlich nicht-codierenden RNA-Gen liegt,
sind 18 humanspezifische Nukleotidsubstitutionen fixiert (hellgrün), seit sich die Entwicklungslinien des Menschen und des Schimpansen vor ca. 7 Mio.
Jahren getrennt haben. Die vorhergesagte Sekundärstruktur dieser Region ist für das Vorwärtstranskript (HAR1F) des Menschen und des Schimpansen dar-
gestellt. In der humanen Struktur ist eine RNA-Helix selektiv verlängert (Pfeil). Mitte: Es ist ein Ausschnitt aus dem sich entwickelnden Cortex gezeigt.
Neurone (grün) wandern entlang der radialen Glia (blau; VZ: ventrikuläre Zone; BL: Basallamina; CP: cortikale Platte; IZ: intermediäre Zone). Cajal-Retzius-
Zellen (rot) in der marginalen Zone (MZ) exprimieren sowohl HAR1F als auch Reelin; Reelin ist an der richtigen Ausbildung der Schichtung des Cortex be-
teiligt. Rechts: In Wildtyp-Mäusen bilden sich sechs Schichten, die die weiße Substanz überlagern (engl. white matter, WM). In Reelin-Mutanten (Reeler)
erscheinen diese Schichten desorganisiert bzw. invertiert; weitere Arbeiten müssen zeigen, inwieweit auch HAR1 an dieser Musterbildung beteiligt ist.
(Nach Amadio und Walsh 2006, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)

erfolgt sind, also eine Verstärkung der Basenpaarbindung bewir-

G1
G2
G3
O1
O2
O3
H1
H2
H3
H4
H5
B1
B2
B3
C1
C2
C3
C4
ken (7 Abschn. 2.1). Erstaunlicherweise betrifft diese Verstärkung PAK2
der Basenpaarbindung nicht nur das HAR1-Element, sondern ARHGEF5
umfasst eine wesentlich größere Region von insgesamt 1,2 kb. SRGAP2
HAR1F (nicht aber HAR1R!) wird während der Embryonal- RAB6C
ACTR2
entwicklung im menschlichen Gehirn zwischen der 7. und CCRL1
19. Schwangerschaftswoche exprimiert – einer Zeit, die für die ROCK1
Wanderung cortikaler Neuronen als besonders kritisch ange- SRP68
sehen wird. Außerdem wird HAR1F offensichtlich zusammen GCPR16
mit Reelin exprimiert, das an der Ausbildung der verschiedenen USP10
15 Schichten des cerebralen Cortex beteiligt ist. Es wird diskutiert, ANAPC1
CDC27
dass HAR1R möglicherweise später exprimiert wird und als anti- FLJ10520
sense-Transkript die Expression von HAR1F reguliert. Das Bei- CELSR2
spiel der nicht-codierenden HAR1F/HAR1R-Gene zeigt, dass es AG1
jenseits der Protein-codierenden Gene wichtige Aspekte gibt, die BIRC1
sicherlich ihren Beitrag zur spezifischen Evolution des Menschen nu30f08
LOC391793
und seines Gehirns leisten – es ist aber noch ein weiter Weg bis
KIAA0738
zum vollen Verständnis ihrer Funktion. GTF2I
Neben der spezifischen Änderung einzelner Basen spielen OR2A9P
zwei andere Mechanismen in der Evolution allgemein, aber auch GTF2H2
in der Evolution des Menschen eine wichtige Rolle: Das sind zum PAIP1
einen Duplikationen im Genom, die zu einer Erhöhung der Gen- F379
PMP2
dosis führen und in vielen Fällen auch zu einer entsprechenden
DRD5
Erhöhung der Zahl entsprechender Transkripte, und anderer- SPTLC2
seits die Veränderung der Regulation der Genexpression, die sich E2F6
natürlich auch auf die Transkriptzahl auswirkt. Beide Mecha- Vergleichsskala
nismen können durch entsprechende gewebespezifische Unter-
suchungsverfahren nachgewiesen werden, die auf Hybridisie- <0.4 1 >2.5
rungsarrays basieren (7 Technikbox 35).
. Abb. 15.33 Array-basierte genomweite Untersuchung von cDNA für
Eine solche regulatorische Deletionsmutante betrifft den
Gene, die in der humanen Entwicklungslinie verändert exprimiert werden
Enhancer des Gens GADD45g (engl. growth arrest- and DNA und mit der Gehirnentwicklung assoziiert sein können. Die Gensymbole
damage-inducible gene GADD45, gamma; OMIM 604949); dieses sind angegeben. H: Mensch; B: Bonobo; C: Schimpanse; G: Gorilla; O: Orang-
Gen begrenzt wahrscheinlich die Zellteilungen in der subventri- Utan. (Nach Sikela 2006)
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
773 15
kulären Zone der Gehirnrinde. Dieses Szenario könnte mit der
Expansion des Volumens des menschlichen Gehirns in Zusam-
menhang stehen.
Derartige Untersuchungen der Genexpression sind immer
relativ, d. h. die Frage nach Ursache und Wirkung bleibt oft un-
klar. Dennoch bleibt es interessant, festzuhalten, dass im mensch-
lichen Gehirn relative Veränderungen der Genexpression sowohl
auf mRNA-Ebene als auch auf Proteinebene bei etwa 30 % der
exprimierten Gene anzutreffen sind (Carroll 2003). Ein experi-
mentelles Beispiel zeigt . Abb. 15.33.
> Einige Gene, die an der Entwicklung des Gehirns beteiligt
sind, zeigen eine positive Selektion in der menschlichen
Linie. Dazu gehören Gene wie MCPH1 und ASPM, bei denen
a Broca-Areal Wernicke-Areal
Mutationen zu Mikrocephalie führen, als auch Gene, die die
Information für nicht-codierende RNAs enthalten (HAR1F).

6-schichtiger
15.2.2 Genetische Aspekte zur Evolution Striatum Cortex
der Sprache

Die menschliche Sprache erscheint in der Natur einzigartig. Die


Th alamus
l
Thalamus
tierische Kommunikation ist überwiegend auf einfache Bot-
schaften wie Alarmrufe und Identifikationssignale beschränkt. Mittelhirn
Im Gegensatz dazu verfügt der Mensch über ein Vokabular von
Medulla Cerebellum
Zehntausenden von Worten und kann diese in einer komplexen oblongata
grammatikalischen Struktur benutzen. Auch wenn einige Schim- Nucleus caudatus
pansen ein gewisses Sprachverständnis entwickeln, so bleibt ihr Putamen
Wortschatz doch sehr beschränkt (etwa 500 Worte) und kommt b
über den eines Kleinkindes nicht hinaus.
. Abb. 15.34 Die neuronale Basis der Sprache. a Die neuronale Basis wird
Als Sprachzentren (. Abb. 15.34) werden in der Hirnrinde häufig in zwei diskreten Regionen des lateralen Cortex gesehen: dem Bro-
(auf der linken Seite) das Broca-Areal (für die motorische Er- ca-Areal am Gyrus inferior frontalis und dem Wernicke-Areal im Gyrus supe-
zeugung von Sprache und Grammatik) und das Wernicke-Areal rior temporalis und in den verbindenden Fasern (Fasciculus arcuatus). Beide
bezeichnet (für das Verstehen von Sprache); sie sind über den Regionen wurden aufgrund von Ausfallserscheinungen nach Gehirnverlet-
zungen definiert: Die Broca-Aphasie erlaubt nur eine schlecht artikulierte
Fasciculus arcuatus verbunden. Die entsprechenden Regionen
Sprache mit wenigen Worten, wohingegen die Wernicke-Aphasie zwar eine
der rechten Gehirnhälfte sind dagegen eher für die Sprachmelodie flüssige Sprache ermöglicht, die aber durch zerrissene Inhalte und von Defi-
verantwortlich. Allerdings sind weder das Broca- noch das Wer- ziten im Sprachverständnis gekennzeichnet ist. Weitere Gehirnregionen, die
nicke-Areal vollständig der Sprachverarbeitung gewidmet, und an der Sprachfähigkeit möglicherweise beteiligt sind, sind farbig darge-
sie sind auch nicht spezifisch für den Menschen. Es ist vielmehr stellt. b Sagittaler Schnitt durch ein menschliches Gehirn; es sind einige
weitere Strukturen angegeben, die möglicherweise an der Ausbildung von
allgemein akzeptiert, dass die Sprachfähigkeit die Beteiligung ei-
Sprache beteiligt sind. (Nach Fisher und Marcus 2006, mit freundlicher Ge-
nes komplexen Netzwerks cortikaler und subcortikaler Schalt- nehmigung der Nature Publishing Group)
kreise erfordert. Weitere wichtige Regionen für die Sprachfähig-
keit sind Bereiche des Striatum, Thalamus und Cerebellum.
Wenn wir uns jetzt den genetischen Aspekten der Evolution wurde. Die betroffenen Patienten haben massive Artikula-
unserer Sprache zuwenden wollen, so werden wir analog vorge- tionsstörungen, die von sprachlichen und grammatikalischen
hen müssen wie in anderen Bereichen auch. Dazu gehören Fra- Beeinträchtigungen begleitet werden. Genauere molekulare
gen nach der Evolution der morphologischen Strukturen, des Analysen machten eine Punktmutation im FOXP2-Gen (OMIM
Weiteren genomweite Sequenzvergleiche unter Primaten, aber 605317) dafür verantwortlich (. Abb. 15.35a). FOXP2 ist ein
auch die Untersuchung spezifischer Krankheitsbilder, die die Transkriptionsfaktor mit einem Polyglutamin-Bereich und
Sprechfähigkeit massiv beeinträchtigen und außerdem eine erb- einer »Forkheadbox«-DNA-Bindedomäne (benannt nach dem
liche Grundlage haben. Drosophila-Gen forkhead).
Wie viele Gene für Transkriptionsfaktoren kommt auch das
C Einer der aufregendsten Berichte der jüngeren Zeit be- FOXP2-Gen in anderen Spezies vor. Expressionsstudien (in
schreibt in einer Drei-Generationen-Familie die Analyse eines der Maus) zeigen, dass das FoxP2-Gen im Cerebellum, der
Gens für Sprachschwächen (engl. language impairment; Medulla, dem Nucleus caudatus und in der cortikalen Platte
developmental verbal dyspraxia; OMIM 602081), das zunächst exprimiert wird. Das menschliche Protein unterscheidet
auf dem langen Arm des Chromosoms 7 (7q31) lokalisiert sich von dem des Gorillas oder des Schimpansen nur in zwei
774 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

c
. Abb. 15.35 Ein multidisziplinärer Blick auf die Evolution von Sprache. a Genetik: Die genomische Struktur des menschlichen Forkheadbox-Gens P2
(FOXP2) zeigt die Stellen der Mutationen, die verbale Dyspraxie verursachen und die sich von den Stellen unterscheiden, an denen in der Evolution der
15 menschlichen Linie Substitutionen aufgetreten sind (gefüllte Rechtecke: codierende Exons; ungefüllte Rechtecke: nicht-codierende Exons). Der rote Balken
weist auf die Region hin, die Hinweise auf selektive Entwicklung erkennen lässt. Einige Exons codieren für Polyglutamin-Bereiche (Q40, Q10), ein Zinkfinger-
Motiv (ZnF), einen Leucin-Zipper (LeuZ), die Forkhead-Domäne (FOX) und einen sauren C-terminalen Bereich (sauer); s1–s3 sind alternativ gespleißte,
nicht-translatierte 5’-Exons. b Evolution: Die Nukleotidsubstitutionen (schwarze Punkte) in der codierenden Region von FOXP2 verschiedener Entwicklungs-
linien der Primatenevolution sind als Verhältnis nicht-synonymer Austausche zu synonymen Austauschen dargestellt (Vergleichssequenz: Maus; rote ge-
strichelte Linie). Die hellblauen Balken deuten das Gen an und die schwarzen Punkte darin die Lage der veränderten Aminosäuren. c Bildgebende Verfahren
der Neurobiologie: Patienten mit funktionsunfähigem FOXP2-Gen zeigen funktionelle Veränderungen, wenn sie sprachliche Prozesse durchführen, sogar
wenn sie Wortbildungen nur gedanklich und nicht laut durchführen. Die Veränderungen beinhalten eine zu geringe Aktivierung des Broca-Areals und
im Gegensatz dazu eine beidseitige Aktivierung in verschiedenen cortikalen Regionen (L: links; R: rechts). (Nach Fisher und Marcus 2006, mit freundlicher
Genehmigung der Nature Publishing Group)

Aminosäuren – der Abstand zum Orang-Utan und zur Maus sichtlich von funktioneller Bedeutung. Eine Abschätzung der
beträgt drei Aminosäuren (. Abb. 15.35b). Damit gehört das Zeitspanne, wann der Unterschied im FOXP2-Gen zwischen
FOXP2-Gen zu den 5 % von Genen, die am höchsten konser- Affen und Menschen fixiert wurde, ergibt eine Größenordnung
viert sind (Vargha-Khadem et al. 2005, Enard et al. 2002). von ca. 100.000 bis 200.000 Jahren und war auch schon im
Genom der Neandertaler und Denisova-Menschen fixiert. Man
Wenn die menschliche Form des FOXP2-Gens in der Maus ex- kann vermuten, dass damit möglicherweise die kulturelle Ex-
primiert wird, verändert sich in den transgenen Mäusen deren plosion ausgelöst wurde, die vor etwa 50.000 Jahren begann.
Ausdrucksmöglichkeit (engl. ultrasonic vocalization) sowie die Ein wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass durch die veränderte
Länge der Dendriten und die synaptische Plastizität in den Neu- Sequenz eine zusätzliche Phosphorylierungsstelle eingeführt
ronen des Striatum (Holden 2004, Enard et al. 2009). Der Unter- wird. Um der Frage nachzugehen, warum Affen nichts sagen,
schied in den zwei Aminosäuren der menschlichen Linie gegen- wohl aber Menschen, untersuchten Gruppen in Los Angeles
über den Affen ist also für die Ausbildung der Sprache offen- und Atlanta mögliche Zielgene des menschlichen FOXP2-Tran-
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
775 15
skriptionsfaktors und verglichen sie mit denen des Schimpan- > Mutationen im FOXP2-Gen sind kausal für schwere
sen (Konopka et al. 2009). Dabei fanden sie, dass der mensch- Sprachstörungen des Menschen. Da das Gen eine spezi-
liche FOXP2-Transkriptionsfaktor einen anderen Einfluss auf fische Evolution in der menschlichen Linie zeigt, wird
die Regulation nachgeschalteter Gene hat als FOXP2 des Schim- es als essenziell für die Evolution der Sprachfähigkeit des
pansen. Menschen angesehen.

*Das humane FOXP2-Gen weist aber noch eine andere


interessante Stelle auf: Im Intron 8 befindet sich eine hoch-
Außer der oben erwähnten Erkrankung sind noch zwei weitere
Spracherkrankungen erwähnenswert, aus deren Untersuchung
konservierte Bindestelle für den Transkriptionsfaktor möglicherweise ähnliche Hinweise auf die Evolution von Sprach-
POU3F2, die bei allen Vertebraten einschließlich Affen und fähigkeit folgen können. Dazu gehören SLI1 und SLI2 (engl.
Neandertalern (und den Denisova-Menschen) gleich ist – specific language impairment) sowie DYX1–DYX9 (Dyslexie). Die
nur bei den meisten modernen Menschen ist ein A durch spezifische Sprachunfähigkeit ist charakterisiert durch eine Dis-
ein T ersetzt. Das führt dazu, dass der Transkriptionsfaktor krepanz zwischen den verbalen und nicht verbalen Fähigkeiten
POU3F2 schlechter bindet und die Expressionsstärke ver- trotz angemessener Erziehung und Ausbildung; andere neuro-
mindert ist. Man vermutet daher, dass sich durch die Ver- logische Schäden sind ausgeschlossen. Genomweite Untersu-
änderung in der codierenden Sequenz (siehe oben) die chungen haben zwei chromosomale Bereiche für SLI1 und SLI2
Funktion von FOXP2 verändert hat und in der Folge ebenso besonders beleuchtet: 16q24 und 19q13 (OMIM 606711 bzw.
das Expressionsmuster. In einigen afrikanischen Populatio- 606712). Diese Bereiche enthalten einige Gene, die in der
nen findet man bei ca. 10 % der modernen Menschen noch menschlichen Entwicklungslinie eine spezifische Zunahme der
das »alte« Allel im Intron 8 – bei etwa 1 % in seiner homo- Kopienzahl zeigen; ein derartiges Kandidatengen ist USP10 (das
zygoten Form. Wenn es gelingt, diese Menschen zu identifi- USP10-Protein ist am Auswachsen von Synapsen beteiligt).
zieren, wird man wahrscheinlich auch mehr über die funk- Patienten, die unter Dyslexie leiden, lernen schwer zu lesen
tionellen Konsequenzen für die Sprache aussagen können und haben Schwierigkeiten beim Buchstabieren, obwohl ihre
(Maricic et al. 2013). sonstigen verbalen Fähigkeiten der Ausbildung und Erziehung

a b
0,0% 60,0% 3,3% 100,0%

c
nicht tonal tonal

. Abb. 15.36 Geographische Verteilung von Haplogruppen von ASPM (a), MCPH (b) und tonalen Sprachen (c). a, b Die Grauschattierungen repräsentieren
die Allelhäufigkeiten der abgeleiteten Haplogruppen vom Minimum (weiß: 0 % für ASPM und 3,3 % für MCPH) zum Maximum (schwarz: 60 % für ASPM
und 100 % für MCPH). c Schwarz repräsentiert tonale Sprachen und grau nicht-tonale Sprachen. Man beachte, dass die Quadrate jeweils nur Populationen
kennzeichnen, von denen genetische Daten bekannt sind (so liegen für Australien und Papua-Neuguinea keine Informationen vor). (Nach Dediu 2011, mit
freundlicher Genehmigung von BioOne)
776 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

15

7000 v. Chr. 4000 v. Chr. 1000 v. Chr. heute


. Abb. 15.37 Stammbaum von 87 indogermanischen Sprachen. Der Stammbaum beginnt etwa vor 9000 Jahren in Anatolien (grüne Fläche). Die haupt-
sächliche Auffächerung der wichtigsten indogermanischen Untergruppen vollzog sich vor 5000 bis 4000 Jahren (blaue Fläche). Offensichtlich gab es eine
Wanderung »out of Anatolia« vor knapp 9000 Jahren und eine weitere aus dem südlichen Russland bzw. der Ukraine. Die Namen der Sprachen wurden
wie im Original in Englisch belassen. (Nach Gray et al. 2011, mit freundlicher Genehmigung der Royal Society)
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
777 15
entsprechen. Dyslexie findet man in verschiedenen Formen und werden, können natürlich auch zeitliche Zusammenhänge ihrer
Schweregraden bei etwa 5–17 % der Bevölkerung mit einer nen- Entwicklung dargestellt werden – ähnlich einem Stammbaum,
nenswerten familiären Häufung. Oft tritt sie das erste Mal im wie wir es aus genetischen Analysen und der Suche nach dem
Rahmen einer Lese-Rechtschreib-Schwäche in den ersten Schul- letzten gemeinsamen Vorfahren kennen. . Abb. 15.37 zeigt ein
jahren zutage, obwohl die Patienten über eine normale Intelli- Beispiel für die indogermanische Sprachfamilie. Der letzte ge-
genz verfügen. Für dieses Krankheitsbild werden neun Genorte meinsame Vorfahre lebte vor etwa 8700 Jahren (ca. 6700 v. Chr.)
diskutiert; für zwei gibt es schon vielversprechende Kandidaten- in Anatolien, und zusammen mit den Fortschritten der Land-
gene (DYX1 auf 15q21: DYX1C1 [OMIM 127700]; DYX2 auf wirtschaft breitete sich auch die indogermanische Sprache aus.
6p22.2: KIAA0319 [OMIM 600202]). Es ist durch die Untersu- Wir haben also mit der Analyse der Sprachfamilien ein weiteres
chung dieser Krankheiten und den ihnen zugrunde liegenden Instrument in der Hand, um Wanderungsbewegungen moder-
genetischen Mechanismen zu erwarten, dass es dadurch neue ner Menschen zu betrachten. Es wird sich zeigen, inwieweit die
zusätzliche Hinweise auf die Evolution der Sprach- und Sprech- beiden Methoden – die genetische und die linguistische – zu-
fähigkeit des Menschen geben wird, wie wir das bei FOXP2 bei- künftig kongruente Aussagen machen können.
spielhaft gesehen haben.
Ein ganz anderer Aspekt soll in diesem Zusammenhang noch > Entwicklungsgeschichtlich junge Polymorphismen in
angedeutet werden. Linguisten unterscheiden tonale und nicht- den Genen ASPM und MCPH korrelieren mit der Verbreitung
tonale Sprachen. Bei tonalen Sprachen geht mit der Veränderung nicht-tonaler Sprachen – molekulare mechanistische Erklä-
der Tonhöhe oder des Tonverlaufs in einer Silbe auch eine Ver- rungen dazu fehlen allerdings.
änderung der Wortbedeutung einher; dazu gehören vor allem
die chinesische Sprache, aber auch viele Sprachen in Afrika und
indigene amerikanische Sprachen. Nicht-tonale Sprachen ver- 15.2.3 Genetische Aspekte zu aggressivem
wenden Unterschiede in der Tonhöhe dagegen nur auf der Verhalten des Menschen
Ebene eines Satzes, z. B. bei einem Fragesatz; dazu gehören unter
anderem Russisch, Deutsch und Englisch. Intermediäre Formen Nachdem wir nun einige der genetischen Besonderheiten ken-
sind Japanisch, Schwedisch/Norwegisch und Baskisch. Wenn nengelernt haben, die zur Ausbildung des Gehirns, der Sprech-
wir uns jetzt die Verteilung tonaler und nicht-tonaler Sprache in fähigkeit und der Entwicklung vieler Sprachen beim Menschen
Afrika, Asien und Europa ansehen (. Abb. 15.36c), fällt auf, das geführt haben, wollen wir uns nun genetischen Aspekten einer
es sich hierbei nicht um ein Sprachengemisch handelt, sondern Verhaltensform zuwenden, die häufig kritisch gesehen wird:
dass sich hier Schwerpunkte finden lassen, die auch mit früheren Aggression und impulsives Verhalten. Unter evolutionären Ge-
Formen der modernen Menschen zusammenfallen (ohne Indien; sichtspunkten kann man Aggression bei Menschen natürlich als
. Abb. 15.16). einen positiven Charakterzug betrachten, da er Erfolg in den
Wir haben im 7 Abschn. 15.2.1 über die Entwicklung des verschiedenen Formen von Auseinandersetzungen verspricht.
menschlichen Gehirns schon die beiden Mikrocephalie-Gene Auf der anderen Seite verhindert Aggression aber die Möglich-
ASPM (engl. abnormal spindle-like, microcephaly associated) und keit einer sozialen Konsolidierung, sodass es im gesellschaft-
MCPH1 (engl. microcephalin) kennengelernt. In beiden Genen lichen Interesse liegen muss, aggressives Verhalten einzudäm-
gibt es relativ junge Polymorphismen: Das G-Allel (SNP men. Das Wissen um die genetischen Rahmenbedingungen da-
A44871G) im ASPM-Gen trat vor 5800 Jahren auf und das für ist insofern wichtig, weil der Erfolg pädagogischer oder sons-
C-Allel (SNP G37995C) im MCPH-Gen vor etwa 37.000 Jahren. tiger kultureller Einflussnahmen davon abhängt, ob er diesen
Die beiden jungen Polymorphismen werden als »abgeleitet« genetischen Rahmenbedingungen Rechnung trägt oder nicht.
(engl. derived) bezeichnet und die entsprechenden Haplotypen Sowohl in Menschen als auch Tieren umfasst der Begriff
der Gene als ASPM-D bzw. MCPH-D. Die phänotypischen Aggression ein breites Spektrum von Verhaltensweisen. Wegen
Auswirkungen sind nicht im Detail bekannt; es wird aber aus- des Einflusses vieler kultureller Variablen ist die einfache Extra-
geschlossen, dass sie sich auf die Intelligenz, Gehirngröße, polation aggressiver Phänotypen der Maus auf menschliche
Kopfumfang, allgemeine mentale Eigenschaften, soziale Intel- Merkmale schwierig. Auf der Basis unterschiedlicher Ansätze
ligenz oder auf die Häufigkeit von Schizophrenie auswirken. kann man menschliche Aggression hinsichtlich mehrerer Merk-
Es wurde aber die Hypothese verfolgt, dass sie sich auf die Art male unterscheiden: Vorhandensein einer bestimmten Motiva-
des Sprechens auswirken. . Abb. 15.36a und . Abb. 15.36b zeigen tion, Art des Auslösemechanismus, Form der Manifestation oder
die regionale Verteilung der beiden neuen Allele, und beim Ver- Richtung und Funktion von Aggression. Diese komplexe Situa-
gleich mit . Abb. 15.36c zeigt sich, dass die Verteilung der tona- tion sollte uns immer bewusst sein, wenn wir im Folgenden über
len Sprachen mit der Verteilung der ursprünglichen Allele gut genetische Aspekte von Aggression sprechen.
übereinstimmt; durch geeignete statistische Verfahren lässt sich In einem ersten Ansatz ist es deshalb interessant, mono- und
diese Korrelation auch als signifikant darstellen (Dediu 2011). Es dizygote Zwillinge zu vergleichen – und dabei stellen wir fest,
kommt jetzt natürlich darauf an, diese statistische Korrelation dass über alle Altersklassen hinweg eineiige Zwillinge ein deut-
durch mechanistische Untersuchungen zu stützen oder als zu- lich höheres Maß an Übereinstimmung zeigen als zweieiige
fällig zu verwerfen. Zwillinge (. Abb. 15.38). Das zeigt, dass über die gesamte Le-
Linguistische Methoden gehen heute auch noch einen Schritt benszeit hinweg aggressives Verhalten durch genetische Faktoren
weiter. Insofern Sprachen zu Sprachfamilien zusammengefasst bestimmt wird. Anderseits sehen wir aus der Abbildung, dass der
778 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Korrelationen von Zwillingen über alle Altersgruppen . Abb. 15.38 Korrelationen bei
Aggressionen von Zwillingen über
verschiedene Altersgruppen (An-
0,80 Zygotie
gabe in Klammern: Alter in Jahren).
Durchschnittliche Korrelationen von Zwillingen

MZ DZ gleiches DZ männlich- MZ: monozygote Zwillinge; DZ:


Geschlecht weiblich
dizygote Zwillinge. (Nach Tuvblad
und Baker 2011, mit freundlicher
0,60 Genehmigung von Elsevier)

0,40

0,20

0,00
frühe Kindheit mittlere Kindheit Adoleszenz späte Adoleszenz/ Erwachsene
(1,5–6) (7–10) (11–15) junge Erwachsene (27–48)
(16–26)
Altersgruppe

genetische Einfluss mit zunehmendem Lebensalter abnimmt – für den Abbau der Neurotransmitter Serotonin, Adrenalin und
und offensichtlich der kulturelle Einfluss entsprechend zunimmt. Noradrenalin ist MAOA das wichtigere Gen. In einer transgenen
Interessanterweise macht es keinen Unterschied, ob zweieiige Mauslinie wurde das Maoa-Gen ausgeschaltet, und entsprechend
Zwillinge dem gleichen Geschlecht angehören oder gemischt- war in den Gehirnen der Nachkommen die Noradrenalinkonzen-
geschlechtlich sind. tration zweifach und die Serotoninkonzentration neunfach er-
höht; die erwachsenen Männchen zeigten eine erhöhte Aggres-
C Ähnlich wie bei FOXP2 und erblichen Sprachstörungen sivität (Cases et al. 1995). Bei Menschen findet man 1,2 kb bzw.
gab es auch bei der Frage nach genetischen Bedingungen 1,5 kb oberhalb der Promotorregion des MAOA-Gens in unter-
aggressiven Verhaltens einen wichtigen Hinweis aus der klas- schiedlicher Anzahl Wiederholungseinheiten von 10  bp bzw.
15 sischen Humangenetik: In einer großen Familie, die in den 30 bp, die als Enhancer für die MAOA-Transkription wirken. Die
1990er-Jahren in Nijmegen untersucht wurde, erkrankten Anzahl dieser Wiederholungseinheiten ist mit aggressivem Ver-
über drei Generationen hinweg mehrere Männer an einem halten assoziiert. Sie sind reich an CpG-Inseln und können des-
Borderline-Syndrom verbunden mit impulsiver Aggression; halb in hohem Maß methyliert werden – aus 7 Abschn. 8.1.2 wis-
der Erbgang war klassisch X-gekoppelt und rezessiv. Die Kar- sen wir, dass solche epigenetischen Markierungen die Expression
tierung der Krankheit und Sequenzierung positioneller Kan- von Genen nachhaltig verändern können. Es besteht also die
didatengene ergab eine nonsense-Mutation in dem Gen, das Möglichkeit, dass an diesen Wiederholungseinheiten in Abhän-
für die Monoamin-Oxidase A codiert (Gensymbol: MAOA; gigkeit von frühkindlichen Erfahrungen über Methylierungen die
OMIM 309850), sodass eine entsprechende enzymatische Bereitschaft zu Aggression verändert werden könnte.
Aktivität in den hemizygoten Männern nicht mehr nachzu- Die Neurotransmitter werden an der Synapse von entspre-
weisen ist. Die biochemische Konsequenz ist eine erhöhte chenden Rezeptoren aufgenommen; für Serotonin kennen wir
Konzentration biogener Amine, insbesondere der Neuro- insgesamt sieben Rezeptoren. Hier gibt es durch verschiedene
transmitter Serotonin, Adrenalin (Epinephrin) und Noradrena- Untersuchungen Hinweise darauf, dass Polymorphismen in den
lin (Norepinephrin). Wir haben diese Neurotransmitter bereits Genen HTR1A und HTR1B (engl. 5-hydroxytryptamine [seroto-
im 7 Abschn. 14.3 im Zusammenhang mit Angst, Sucht und nin] receptor 1A/B; OMIM 109760 und 182131) mit aggressivem
psychiatrischen Erkrankungen kennengelernt (. Abb. 14.24) Verhalten assoziiert sind. Ähnliches gilt für das Gen SLC6A4, das
– und der Befund an dieser Familie öffnete eine neue Tür für für den Serotonin-Transporter codiert (älteres Gensymbol:
entsprechende weitere Arbeiten in diesem Kontext (Brunner SERT; OMIM 182138); der Serotonin-Transporter ist dafür ver-
et al. 1993, Anholt und Mackay 2012). antwortlich, dass Serotonin schnell aus dem synaptischen Spalt
entfernt und wieder in die präynaptische Zelle aufgenommen
Die beiden menschlichen Gene für Monoamin-Oxidasen, MAOA wird. Auch hier kennen wir bei Menschen viele Polymorphis-
und MAOB, liegen auf dem X-Chromosom nebeneinander in men, die mit Angstverhalten (7 Abschn. 14.3.1), aber auch mit
einer Schwanz-zu-Schwanz-Anordnung. Aufgrund der Präferenz aggressivem Verhalten assoziiert sind.
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
779 15
Wenn wir das serotonerge System betrachten, dann ist natür- pothese, dass Störungen in der Regulation der emotionalen
lich neben dem Abbau und dem Transport auch die Synthese Balance zu impulsiver Aggression führen können. Der Signalweg
des Serotonins ein wichtiger Bestandteil. Für den ersten und von Stress schließt dabei den Hypothalamus, die Hypophyse und
wichtigsten Schritt sind die Tryptophan-Hydroxylasen zustän- die Nebennierenrinde ein; die Aktivitäten dieses Signalweges
dig; sie werden von zwei Genen codiert (beim Menschen TPH1 werden häufig durch Bestimmung von Cortisol charakterisiert.
und TPH2; OMIM 191060 und 607478), wobei TPH2 überwie- Bei diesen Messungen muss natürlich die zirkadiane Schwan-
gend im Gehirn exprimiert wird. Mit Mutationen und Polymor- kung, aber auch das Alter (bei Jugendlichen auch der Grad der
phismen im TPH2-Gen sind auch Änderungen von vielen ver- sexuellen Reife) beachtet werden. Häufig ist ein geringer Cortisol-
schiedenen neurologischen Merkmalen verbunden, darunter spiegel im Speichel bei männlichen Jugendlichen mit erhöhter
auch Merkmale aggressiven Verhaltens. Interessant ist auch hier Aggressivität verbunden; allerdings gibt es dazu auch gegenteilige
der Blick zur Maus: Innerhalb der verschiedenen Wildtyp-Stäm- Untersuchungen (Pavlov et al. 2012). Eine Assoziation mit Poly-
me der Maus gibt es einen Polymorphismus im Tph2-Gen, morphismen in den oben erwähnten Genen bzw. deren Pro-
C1473G, der zu deutlichen Unterschieden im Serotoninspiegel motoren in Bezug auf aggressives Verhalten wird diskutiert
und im Verhalten führt. Das C-Allel kommt unter anderem in (Craig und Halton 2009). Außerdem gibt es deutliche Hin-
den Stämmen C57BL/6 und 129S1/SvJ vor; in den Stämmen weise auf veränderte Methylierungsmuster in Promotoren einiger
BALB/c und DBA/2 finden wir dagegen nur das G-Allel. Das Gene (AVPR1A, DRD1, GRM5, HTR1D, SLC6A3; Provençal et al.
G-Allel bewirkt eine Reduktion der Serotonin-Synthese um 2014).
40–70 % und damit eine Verminderung der Serotoninkonzen- Ein wichtiger Aspekt in diesem Kontext ist jedoch die offen-
tration um 40 %. Diese Stämme sind auch weniger aggressiv sichtliche Geschlechtsabhängigkeit aggressiven Verhaltens.
(aber ängstlicher) als C57BL/6J und 129S1/SvJ. Wenn man nun Unabhängig von den einzelnen Zahlen im Detail stimmen alle
das G-Allel in C57BL/6J Mäuse einführt, so sinkt zwar die Sero- Kriminalstatistiken darüber überein, dass weitaus mehr (junge)
tonin-Synthese auf das BALB/c-Niveau ab, aber der Serotonin- Männer als Frauen wegen Gewalttaten verurteilt werden. Des-
spiegel bleibt gleich – was deutlich zeigt, dass es zusätzliche, kom- wegen wird häufig das männliche Geschlechtshormon Testoste-
pensatorische Mechanismen bei der Regulation der Serotonin- ron mit Aggression in Verbindung gebracht; große epidemio-
Synthese gibt. logische Studien mit den entsprechenden Kontrollen (Alter,
Für eine detaillierte Übersicht über den Zusammenhang des Geschlechtsentwicklung, Tageszeit der Probennahme etc.) zei-
Serotonin-Systems mit aggressivem Verhalten sei der interessier- gen jedoch nur einen geringen Einfluss von Testosteron, wenn er
te Leser auf die Arbeit von Pavlov et al. (2012) verwiesen. Es fällt überhaupt messbar ist.
in diesem Zusammenhang allerdings auf, dass das serotonerge Dennoch ist es lohnenswert, sich die Genetik des Androgen-
System in engem Zusammenhang mit Angstverhalten steht, das Rezeptors (der Rezeptor des Testosterons) anzusehen. Das Gen
wir ausführlich im 7 Abschn. 14.3.1 besprochen haben. Insofern für den Androgen-Rezeptor (Gensymbol: AR; OMIM 313700)
können aggressive Verhaltensweisen – zumindest insoweit sie liegt auf dem langen Arm des X-Chromosoms. Das erste Exon
mit dem serotonergen System in Zusammenhang stehen – nicht des AR-Gens enthält zwei Trinukleotid-Wiederholungsele-
isoliert von Angst gesehen werden. . Abb. 15.39 fasst diesen Zu- mente: ein CAG-Element, das für einen Polyglutamin-Bereich
sammenhang auf der Basis einer Tph2-Null-Mutante der Maus codiert, und ein GGC-Element, das für einen Polyglycin-Be-
zusammen. reich codiert. Wir kennen solche Trinukleotid-Wiederholungs-
Ein zweiter Bereich, der mit Aggression immer wieder in Ver- elemente aus der Diskussion über dynamische Mutationen
bindung gebracht wird, ist Stress. Dieser Gedanke folgt der Hy- (7 Abschn. 10.3.3). Im Fall des Androgen-Rezeptors kommt die

. Abb. 15.39 Verhaltensänderungen bei


Angst-ähnliches Verhalten Impulsivität, Aggression Tph2-Null-Mutanten der Maus als Folge von Ver-
änderungen der Serotoninkonzentration im
Angst-Lernen/Gedächtnis Depression-ähnliches Verhalten
Gehirn. Das Ausschalten des Gens der Trypto-
phan-Hydroxylase (Tph2) führt zu einem Absinken
der Serotoninkonzentration (5-HT, 5-Hydroxy-
tryptamin) und einer Zunahme der Serotinin-Re-
VMAT2 5-HTT zeptoren (1A etc.). Die Aktivitäten des Serotonin-
Transporters (5-HTT), des vesikulären Monoamin-
1A Transporters (VMAT2) und von PET1 (ein Trans-
2C kriptionsfaktor in serotonergen Neuronen)
5-HT bleiben unverändert. TRP: Tryptophan; 5-HTP:
1A 3 5-Hydroxytryptophan. (Nach Lesch et al. 2012, mit
5 freundlicher Genehmigung der Royal Society)

TRP

somatodendritisch präsynaptisch postsynaptisch


780 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

GGC-Wiederholungseinheit etwa 4- bis 36-mal vor; eine deut-


liche Verlängerung (40 bis 72 Wiederholungseinheiten) ist Ur-
*Ein interessantes Beispiel der modernen Aggressionsfor-
schung ist der Zebrafisch (Danio rerio). Zebrafische zeigen
sache für eine Erkrankung der Motoneurone in Männern ihre Aggression durch das Aufrichten der Flossen, durch
(Kennedy-Erkrankung). Ein längerer Polyglycin-Bereich hemmt schnelles Schwimmen für eine kurze Zeit, durch das Schla-
dabei die Funktion des Rezeptors als Transkriptionsfaktor, wenn gen mit dem Schwanz und durch den Versuch, einen Rivalen
er mit dem gebundenen Testosteron in den Zellkern transpor- zu beißen. Man kann Aggression sowohl in männlichen als
tiert wird. Die andere Wiederholungseinheit, CAG, ist für unsere auch in weiblichen Fischen beobachten, abhängig von den
Betrachtung des Aggressionspotenzials wichtiger. Ursprünglich Zuchtbedingungen und der Komplexität des Lebensraums.
wurde diese Assoziation bei schwedischen Männern beobachtet; Daraus kann man zunächst schließen, dass Aggression beim
später konnte sie in vielen europäischen und asiatischen Popula- Zebrafisch unter genetischer Kontrolle steht. In diesem Kon-
tionen bestätigt werden. Leider gibt es bisher keine funktionellen text untersuchte die Gruppe von Laure Bally-Cuif (Gif-sur-
Untersuchungen dazu. Yvette) spiegeldanio (spd), eine rezessive Zebrafisch-Mutante,
In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, dass die durch eine Mutation im Fgfr1a-Gen charakterisiert ist und
sowohl das Gen für den Androgen-Rezeptor als auch die Gene zu einer verminderten Funktion des Rezeptors 1a für Fibro-
für die Monoamin-Oxidasen auf dem X-Chromosom liegen. blasten-Wachstumsfaktoren führt. Während der täglichen Be-
Wenn es sich bestätigt, dass die oben diskutierten Polymorphis- treuung der Fische wurde beobachtet, dass die spd-Mutan-
men eine Bedeutung für aggressives Verhalten haben, kann sich ten eine verstärkte Neigung zeigten, andere Fische zu töten
darüber auch die unterschiedliche Häufigkeit aggressiven Ver- oder zu beißen. Der Name »spiegeldanio« drückt dabei aus,
haltens bei Männern und Frauen erklären lassen: Frauen sind für dass diese Mutanten auch ihr Spiegelbild attackierten, wenn
die Polymorphismen in der Regel heterozygot; damit haben die sie es an der Wand des Aquariums entdeckten. Das aggres-
Polymorphismen natürlich keinen so massiven Einfluss auf den sive Verhalten der homozygoten spd-Mutanten kann durch
Phänotyp wie bei den hemizygoten Männern, die nur jeweils eine nicht-sedierende Dosis von Tacrinhydrochlorid vermin-
eine Kopie des X-Chromosoms zur Verfügung haben. Insofern dert werden; Tacrinhydrochlorid hemmt die Histamin-N-
könnte man Aggression in diesem Kontext formal als ein rezes- Methyltransferase (Gensymbol: hnmt), die in den spd-Mutan-
sives, X-gekoppeltes Merkmal beschreiben. ten hochreguliert ist. Die HNMT beendet im Gehirn die Wir-
kung von Histamin – die Arbeit weist damit auf einen weite-
*Wir haben oben schon auf besondere Methylierungsmuster
bei aggressiven Menschen verwiesen. Die Arbeitsgruppe
ren Neurotransmitter hin, der an der Entstehung aggressiven
Verhaltens beteiligt ist (Norton und Bally-Cuif 2010).
von Moshe Szyf (Montreal) hat aber – im Gegensatz zu vielen
anderen Studien, die sich nur auf Männer beziehen – auch Wir können aber auch fragen, ob es Hinweise für genetische
Frauen in die Untersuchungen eingeschlossen. Dabei stellte Aspekte des besonderen sozialen Verhaltens beim Menschen
sich heraus, dass 31 Gene bei Männern und Frauen ein über- gibt. Leider ist die Literatur dazu noch sehr vage und nicht
einstimmendes Methylierungsmuster zeigen (z. B. das Gen für konkret. Allein die relative Gehirngröße korreliert bei Primaten
das Zinkfinger-Protein 336, ZNF336). Es gibt aber auch Gene, mit einigen Indikatoren sozialer Komplexität (Dunbar und
15 die offensichtlich geschlechtsspezifisch methyliert werden; Shultz 2007). Wir können aber natürlich aus Krankheitsbil-
dazu gehören die Gene für die Tryptophan-Hydroxylase 2 dern wie beispielsweise Autismus (7 Abschn. 14.4.3) ableiten,
(TPH2), für das Protein, das an das Corticotropin-freisetzende welche Gene für soziales Verhalten wichtig sind, nämlich die-
Hormon bindet (CRHBP), und für den Glucocorticoid-Receptor jenigen, deren Veränderungen zu einem Krankheitsbild füh-
(NR3C1) – alle sind bei chronisch aggressiven weiblichen Pro- ren, das durch Störungen eben dieses Sozialverhaltens charak-
banden untermethyliert (Guillemin et al. 2014). terisiert ist.

> Aggressives Verhalten ist in weiten Bereichen von der


Aktivität des serotonergen Systems sowie von Angst 15.2.4 Genetische Aspekte
beeinflusst; entsprechende Genvarianten sind bei Mäusen der Geruchswahrnehmung
und Menschen bekannt. Ein weiteres Gen betrifft den
Androgen-Rezeptor. Obwohl wir Menschen über einen hervorragenden Geruchs-
sinn verfügen, trauen wir unserer Nase nicht wirklich. Außer-
Wir haben in den ersten Teilen dieses Kapitels an vielen Stel- dem ist die Wahrnehmungsschwelle für Gerüche sehr niedrig –
len  auf die Besonderheiten des Menschen in der Evolution und dennoch werden wir uns nur außergewöhnlich hohen
hingewiesen und immer wieder auch nach Genen gesucht, die Konzentrationen an Geruchsstoffen spontan bewusst. Das ist
eine positive Selektion aufweisen. Von den Genen, die wir in ganz im Gegensatz zu den optischen Eindrücken, wie wir im
Zusammenhang mit aggressivem Verhalten diskutiert haben, ist 7 Abschn. 15.2.5 sehen werden. Und vielleicht gelingt es uns bei
keines für eine positive Selektion in der Primatenlinie oder in dem Vergleich der beiden Sinnessysteme, eine Ahnung von dem
der Linie der menschlichen Evolution bekannt. Deswegen ist zu erhaschen, was uns Menschen ganz besonders auszeichnet:
davon auszugehen, dass aggressives Verhalten von Menschen in das Bewusstsein.
ähnlicher Weise gesteuert wird, wie wir das auch bei Tieren Das menschliche Geruchssystem folgt einer weit verbreiteten
kennen. anatomischen Grundordnung, die aus drei Stufen der Signalver-
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
781 15
arbeitung besteht: dem Riechepithel, dem Riechkolben und der
Riechrinde (eine schematische Darstellung zeigt . Abb. 15.40).
Das System ist natürlich paarig angelegt; lange Zeit war man der
Ansicht, dass das System nur ipsilateral arbeitet, aber neuere
Befunde legen nahe, dass die Verbindung zur Riechrinde auch
kontralateralen Pfaden folgt (vgl. dazu das visuelle System,
. Abb. 14.2).
Bevor allerdings die Information über einen Geruchsstoff an
das Gehirn weitergeleitet werden kann, muss er zunächst erkannt
werden. Dies geschieht durch spezifische Rezeptoren im Riech-
epithel der Nase – der Mensch besitzt ungefähr 400 verschiedene
solcher Rezeptoren. Dabei handelt es sich um Membranproteine
mit sieben Transmembrandomänen, die an ihrer cytosolischen
Seite mit einem G-Protein gekoppelt sind. Nach der Bindung
des Geruchsstoffs an den Rezeptor wird über cAMP als zweites
Signal in der Riechzelle eine Reaktionskette in Gang gesetzt, die
schließlich zur Depolarisierung der Zelle führt und ein neuro-
nales Signal erzeugt. Von diesen neuronalen Riechzellen besitzt
der Mensch etwa 12  Mio. in jedem Riechepithel; diese Riech-
neurone unterscheiden sich von typischen Neuronen dadurch,
dass sie sich lebenslang ständig regenerieren. Üblicherweise
. Abb. 15.40 Das Geruchssystem des Menschen. Geruchsstoffe werden im
exprimiert jede Riechzelle nur einen Rezeptor.
Riechepithel durch Rezeptoren aufgefangen, und die entsprechenden Sig-
Der menschliche Geruchssinn wird oft unterschätzt: So nale werden durch bipolare Riechzellen übermittelt (1). Das zentrale Axon
können Menschen im Schweiß ihrer Mitmenschen den Duft von der einzelnen Riechzellen gelangt in Form der Riechfäden zum Riechkolben
Furcht erkennen oder Geschlechtspartner aufgrund ihres (Bulbus olfactorius, 2). Die Gesamtheit der Riechfäden wird als Riechnerv
Körpergeruchs auswählen. Ethylmercaptan (auch als Ethanthiol (Nervus olfactorius) bezeichnet. Von hier wird die Information über den ol-
faktorischen Strang (Tractus olfactorius) zur primären Riechrinde weiterge-
bezeichnet) wird noch in Konzentrationen von 0,2–0,009  ppb
leitet (Cortex piriformis, 3). Von hier wird die Information in verschiedene
(parts per billion) erkannt und deshalb Flüssiggas als Warnstoff Zentren des Gehirns weitergeleitet, wobei die direkte oder indirekte Route
beigemischt. Die niedrigste Schwelle des Menschen für das Er- (über den Thalamus, 4) zum orbitofrontalen Cortex (5) erwähnenswert ist.
kennen eines Geruchsstoffes liegt bei 0,77 ppt (parts per trillion) (Nach Sela und Sobel 2010, mit freundlicher Genehmigung von Springer)
für Isoamylmercaptan (Synonym: Isopentanethiol).
Verantwortlich für das Erkennen der Geruchsstoffe sind die
entsprechenden Rezeptoren. Wir wollen uns deshalb im Folgen- heute etwa 200 bis 300 aktiv sind – andererseits wurden auch
den den Genen für diese Chemorezeptoren und ihrer Evolution neue Gene gebildet, sodass die verschiedenen Primaten über
zuwenden. Die Gene für olfaktorische Rezeptoren (OR) bilden etwa 300 bis 400 verschiedene aktive olfaktorische Rezeptoren
insgesamt eine der größten Genfamilien, aber jede Spezies ver- verfügen. . Abb. 15.41c zeigt die Gewinn- und Verlustrechnung
fügt neben einer »Grundausstattung« an olfaktorischen Rezep- für olfaktorische Rezeptorgene im paarweisen Vergleich ausge-
toren auch über einen jeweils spezifischen Satz, sodass die Zahl wählter Primaten.
an unterschiedlichen Rezeptoren sehr unterschiedlich ist: Die Neben diesen olfaktorischen Rezeptoren kennen wir noch
Maus verfügt beispielsweise über 1000 verschiedene olfakto- zwei weitere Familien von Chemorezeptoren, die Familie der
rische Rezeptoren, wohingegen der Mensch knapp 400 besitzt. vomeronasalen Rezeptoren (V1R und V2R) und die Rezep-
Die Gene für die olfaktorischen Rezeptoren bestehen typischer- toren für Spurenamine (engl. trace amine-associated receptor,
weise aus einem codierenden Exon und enthalten im Durch- TAAR). Die Rezeptoren für TAARs sind die kleinste Gruppe,
schnitt 310 Codons. Diese hochkonservierte Genstruktur die hier zu betrachten ist. Sie erkennen kleine Amine, die
spricht dafür, dass die individuellen Gene durch eine Vielzahl durch Decarboxylierung aus Aminosäuren entstehen. Dazu
von Duplikationen entstanden sind. Die großen Unterschiede in gehören unter anderem β-Phenylethylamin, Isoamylamin oder
der Zahl der Rezeptoren zwischen den einzelnen Spezies legen Trimethylamin – Stoffe, die üblicherweise im Urin vorkommen
umgekehrt auch die Vermutung nahe, dass diese Gene auch und unter besonderen Bedingungen (z. B. Stress) vermehrt gebil-
sehr leicht stillgelegt werden können. . Abb. 15.41a zeigt den det werden; auch geschlechtsspezifische Konzentrationsunter-
Stammbaum für verschiedene Klassen von Genen für olfakto- schiede sind bekannt. Der Mensch besitzt sechs aktive TAARs
rische Rezeptoren. Wir sehen dabei, dass die Zahl der stillge- und drei Pseudogene – zum Vergleich: Der Hund verfügt nur
legten Gene (Pseudogene) oft die Zahl der funktionellen Gene über zwei TAARs.
übersteigt. In . Abb. 15.41b ist noch einmal die Entwicklung der Von größerer Bedeutung sind aber die vomeronasalen Re-
olfaktorischen Rezeptorgene innerhalb der Primatenevolution zeptoren. Bei vielen Säugetieren ist das vomeronasale System
gezeigt. Dabei ist offensichtlich, dass auf jeder Evolutionsstufe ein zweites Organ, das in der oberen Nasenhöhle lokalisiert ist
olfaktorische Gene stillgelegt werden, sodass von den beim und Pheromone erkennen kann. Pheromone sind Signalstoffe
letzten gemeinsamen Vorfahren berechneten rund 528 Genen und dienen der Kommunikation innerhalb einer Art. Das vome-
15
a V1R V2R OR TAAR b +33
782

366 Krallenaffe
–195
Schnabeltier 270(579) 15(112) 261(315) 4(1) +17
528 309 Makake
–217
+32 +37
Schimpanse 509 296 Orang-Utan
0(116) 0(17) 399(414) 3(6) –51 –223
+21
482 +10/–93
Mensch –48 380 Schimpanse
5(115) 0(20) 388(414) 6(3) +28
463
–47
396 Mensch
+22/–89
Maus
187(121) 121(158) 1037(354) 15(1)
50 40 30 20 10 0
vor Mio. Jahren
Ratte
106(66) 79(142) 1201(292) 17(2)
Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

c Krallenaffe Makake Orang-Utan Schimpanse Mensch


Hund
8(33) 0(9) 876(326) 2(2)

Rind 39,7 35,5 46,4 47,6


40(45) 0(16) 970(1159) 17(9)

Krallenaffe
Beutelratte 98(30) 86(79) 901(618) 22(0)
112 182 164 40,9 44,6 44,5

Makake
Huhn 0(0) 0(0) 82(476) 3(0)

Frosch 107 161 185 105 163 131


21(2) 249(448) 410(478) 2(1) 42,2 41,2
Orang-Utan

Grüner Kugelfisch 1(0) 4(21) ? ?


126 219 127 148 197 97 163 182 86
66,8
Schimpanse

Fugu
1(0) 18(29) 44(54) 13(6)

118 221 125 144 195 99 162 177 91 65 274 71


Zebrafisch
2(0) 44(8) 102(35) 109(110)
Mensch

. Abb. 15.41 Evolution des Repertoires an Geruchsrezeptoren. a Der Stammbaum zeigt die Phylogenie von 13 Wirbeltierarten: acht Säuger (Schnabeltier, Schimpanse, Mensch, Maus, Ratte, Hund, Rind und Beu-
telratte), ein Vogel (Huhn), ein Amphibium (Frosch: Xenopus tropicalis) und drei Knochenfische (grüner Kugelfisch, Fugu: Takifugu rupripes und Zebrafisch). Die Zahlen für die vomeronasalen Rezeptorgenfamilien
V1R und V2R, die Geruchsrezeptoren (OR) sowie die Rezeptoren für Spurenamine (TAAR) sind angegeben, dazu in Klammern die Zahlen der nicht-aktiven Gene. b Veränderungen der Zahl der Gene für Geruchsre-
zeptoren bei Primaten. Der letzte gemeinsame Vorfahre verfügte noch über etwa 528 Gene für Geruchsrezeptoren; der Verlust bzw. Gewinn an funktionellen Genen für Geruchsrezeptoren ist an jeder Verzwei-
gung angegeben. c Paarweiser Vergleich des Repertoires an Geruchsrezeptoren zwischen fünf Primaten. Das Venn-Diagramm im linken Bereich zeigt die Zahl der orthologen Gene an, die beide Spezies gemein-
sam haben oder die jeweils nur einer der beiden Spezies zugeordnet werden (farbcodiert). Die Zahlen im rechten Bereich geben den prozentualen Anteil der orthologen Gene an, die in beiden Spezies gemeinsam
vorhanden sind (im Vergleich zur Gesamtzahl aller Gene der beiden Spezies). (a nach Tirindelli et al. 2009, mit freundlicher Genehmigung der Royal Society; b, c nach Matsui et al. 2010, mit freundlicher Genehmi-
gung der Autoren)
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
783 15
ronasale Organ projiziert seine Neurone (in der Maus) zunächst des visuellen Systems besprochen und wollen es jetzt unter dem
in den Riechkolben und von hier in den Hypothalamus; dort Gesichtspunkt des Bewusst-Werdens visueller Information be-
beeinflusst es neuroendokrine Funktionen und Verhalten. Beim trachten.
erwachsenen Menschen ist das vomeronasale Organ nur noch Ein »Markenzeichen« des Gehirns der Wirbeltiere ist seine
rudimentär vorhanden und nicht mehr aktiv. Im Gegensatz zum Organisation aufgrund geordneter Topographie, wobei ein be-
Schimpansen exprimiert der Mensch aber fünf verschiedene Re- stimmter Satz neuronaler Verbindungen die relative Organisa-
zeptoren aus der V1R-Familie – und mindestens einen davon im tion von Zellen zwischen zwei Regionen bewahrt (»topogra-
Riechepithel. Demnach können Pheromone beim Menschen im phische Organisation«). Eine derartige topographische Ordnung
Unterschied zu Schimpansen eine Rolle bei der nonverbalen wird oft in Projektionen von peripheren Sinnesorganen zum
Kommunikation spielen. Der beste Kandidat für ein humanes Gehirn gefunden; sie scheint aber auch an der anatomischen und
Pheromon ist Androstadienon, ein Bestandteil des männlichen funktionellen Organisation höherer Gehirnzentren beteiligt zu
Schweißes; es hat bei Frauen einen Einfluss auf den Cortisol- sein. Die vergleichende Analyse verschiedener Säugetiere hat
spiegel (Stowers und Logan 2010). gezeigt, dass es Anordnungen cortikaler Felder gibt, die allen
Wir haben eingangs auf einen Unterschied zwischen dem Säugern gemein ist. So besitzen alle Säuger primäre und sekun-
Geruchssinn und dem Gesichtssinn hingewiesen: Er liegt in der däre sensorische Areale sowie thalamo-cortikale und cortiko-
bewussten Wahrnehmung. Gerüche nehmen wir bewusst erst cortikale Verbindungen. Es sei in diesem Zusammenhang auch
dann war, wenn sie in einer sehr hohen Konzentration vorliegen erwähnt, dass selbst dann, wenn ein sensorisches System nicht
oder wenn wir etwas riechen wollen. Wir haben außerdem die genutzt wird, die entsprechenden cortikalen Felder weiterbeste-
sehr niedrige Geruchsschwelle für Ethylmercaptan erwähnt hen, die mit diesem System assoziiert sind. So besitzt der unter-
(0,009 ppb); allerdings wird es als Warnstoff für Propan in einer irdisch lebende Nacktmull (engl. mole rat; Familie Spalacinae)
Konzentration von 0,5 ppm (parts per million) eingesetzt – das ist nur noch stark verkleinerte und funktionslose Augen, die von
knapp 60.000-fach über dem Schwellenwert (man muss dabei Haut überzogen sind; das visuelle System dieser Tiere wird nur
aber natürlich bedenken, dass der Geruchsstoff beim Austritt in noch für zirkadiane Funktionen benutzt. Dennoch besitzen
der Umgebungsluft verdünnt wird). auch diese Tiere eine Sehbahn und ein primäres visuelles Areal;
Des Weiteren haben wir oben darauf hingewiesen, dass die sie orientieren sich in ihren unterirdischen Gängen anhand
Weiterleitung des Geruchssignals im Wesentlichen zum Thala- des Magnetfeldes (»Magnetsinn«, siehe auch 7 Abschn. 14.1.2;
mus und zum orbitofrontalen Cortex verläuft (. Abb. 15.40). Kimchi et al. 2004).
Diese relativ einfache anatomische Struktur des Geruchssinns
ermöglicht keine weitere Verschaltung im Gehirn und auch C So wird die Evolution der Augen seit Darwins Veröffent-
keinen Abgleich mit anderen sensorischen Systemen, die jeweils lichung Über den Ursprung der Arten immer noch diskutiert.
in höheren Gehirnregionen verarbeitet werden. Von daher ist Morphologische Vergleiche der Anatomie der Augen ins-
es im Moment schwierig, ein neuroanatomisches Korrelat für gesamt und der Photorezeptoren im Besonderen führten
die Bewusstwerdung eines Geruchs zu beschreiben – und viele zunächst zu der Annahme, dass sich die tierischen Augen
physiologische Antworten auf die Erkennung eines Geruchs mehrfach und unabhängig voneinander entwickelt hätten.
laufen eben auch unbewusst ab. Eine ausführliche Darstellung Neuere genetische Untersuchungen machten aber im Ge-
dieses interessanten Phänomens findet sich bei Merrick et al. gensatz dazu deutlich, dass die durch Pax6 eingeleitete
(2014). Signalkette (. Abb. 12.36b) der Augenentwicklung im ge-
samten Tierreich konserviert ist und dass die tierischen
> Die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geruchssinns Augen von einem gemeinsamen, einfachen Vorläufer ab-
ist weitgehend abhängig von den entsprechenden Rezep- stammen – dem »Ur-Auge«. Dieses Ur-Auge kann einfach
toren in der Nasenschleimhaut. In der Evolution der aus zwei Zellen bestanden haben – einer Photorezeptorzelle
Primaten hat jede Spezies Gene für Geruchsrezeptoren und einer Pigmentzelle. Solch ein primitives »Auge« kann
stillgelegt, es sind aber auch neue entstanden. Der die Richtung erkennen, aus der Licht kommt. Es erlaubt
Mensch verfügt deshalb (wie andere Primaten auch) über somit Phototaxis und kann auch eine einfache zirkadiane
knapp 400 Geruchsrezeptoren, wovon einige spezifisch Rhythmik begründen. Wenn man nun die verschiedenen
für die menschliche Entwicklungslinie sind. Im Gegensatz Differenzierungsprogramme vergleicht, die kombinato-
zu Schimpansen verfügt der Mensch auch über einige rischen »Codes« der einzelnen Zelltypen dabei einbezieht,
Rezeptoren für Pheromone. die Regulation der Expression spezifischer Gene beachtet
(z. B. der Gene für die verschiedenen Opsin-Proteine in den
Photorezeptoren) und den Metabolismus von Neurotrans-
15.2.5 Genetische Aspekte des Bewusstseins mittern berücksichtigt, kann man die evolutionäre Ge-
am Beispiel der Sehbahn schichte des Auges rekonstruieren. Am Beispiel der Retina
bedeutet das, dass die Ganglienzellen, die amakrinen Zellen
Nachdem wir den Geruchssinn diskutiert haben (7 Abschn. und die horizontalen Zellen unter evolutionären Gesichts-
15.2.4), wollen wir uns noch einmal dem visuellen System zu- punkten Geschwister sind, die sich aus einer gemeinsamen
wenden, das für den Menschen einen ganz besonderen Stellen- Vorläuferzelle heraus entwickelt haben, die wohl als Photo-
wert hat. Wir haben bereits im 7 Abschn. 14.1.1 einige Aspekte rezeptorzelle fungierte (Arendt 2003).
784 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Eine mögliche Funktion der oben erwähnten topographischen in eine bestimmte Richtung deuten. An der Spitze der visuellen
Organisation könnte darin bestehen, die Verschaltungsgrund- Hierarchie stehen die Neurone des inferotemporalen Cortex
lagen für eine präzise 1:1-Verknüpfung zwischen verschiedenen (IT), die oft sehr große rezeptive Felder haben und auf komplexe
abstrakten kognitiven Repräsentationen zu liefern. Allerdings Reize wie Gesichter reagieren.
gibt es neben den 1:1-Verschaltungen, wie wir sie beispielsweise Nachdem wir nun grob den Informationsfluss des visuellen
in den retinocollicularen Projektionen kennen, noch weitere Systems insgesamt kennengelernt haben, soll noch auf eine
»Schaltpläne«, z. B. konvergente Verschaltungen (»viele zu Eigenschaft hingewiesen werden, die den meisten sensorischen
einem«: Konvergenz der olfaktorischen Information im tempo- Systemen gemein ist, nämlich die 1:1-Übertragung bis zum jewei-
ralen Cortex), divergente Verschaltungen (»einer zu vielen«: ligen primären Zentrum. Im visuellen System sprechen wir von
thalamo-cortikale Afferenzen zu den prämotorischen und sup- einer retinotopen Orientierung und verstehen darunter die Auf-
plementär-motorischen Arealen), reziproke Verschaltungen rechterhaltung der räumlichen Verhältnisse bei der Signalüber-
(z. B. cortiko-thalamische Projektionen) und lokal hemmende mittlung zwischen dem Auge und dem Gehirn (. Abb. 15.42).
Verschaltungen (z. B. zwischen den Pyramidenzellen im pri- Ähnliches kennen wir auch von der Hörbahn (tonotope Orien-
mären visuellen Cortex). Wegen der besonderen Bedeutung der tierung: Anordnung entsprechender Frequenz) und vom Ge-
topographischen (d. h. der »1:1«-Organisation) wollen wir uns ruchssystem (chemotope Orientierung). Über die besondere
ein Beispiel etwas genauer betrachten, nämlich das retinotectale Bedeutung dieser topographischen Abbildungen wird derzeit viel
(oder auch retinocolliculare) System. spekuliert; Details würden aber den Rahmen eines genetischen
Visuelle Informationen werden zunächst von den Photo- Lehrbuches sprengen.
rezeptorzellen der Retina zu den retinalen Ganglienzellen ge- Einer der spannenden aktuellen Fragen wollen wir aber noch
leitet; diese sind im Sehnerv gebündelt und verlaufen zum etwas weiter nachgehen, nämlich wie die Reize der Sinnesorgane
Chiasma opticum. Dort ziehen die Nervenfasern der nasalen zu Bewusstsein werden. Auch wenn sich diese Frage noch nicht
Retinahälften beider Augen zur gegenüberliegenden Hirnhälfte, beantworten lässt, gibt es aber Hinweise, wie wir dieser Antwort
während die Fasern der temporalen Retinahälften ungekreuzt näherkommen können. Am Beispiel des visuellen Systems soll das
bleiben. Über den Tractus opticus erreichen etwa 90  % der erläutert werden: Man kann Probanden für das linke und das rech-
ursprünglichen retinalen Ganglienzellen den Nucleus genicu- te Auge unterschiedliche Muster anbieten. Dabei rivalisieren beide
latus lateralis (. Abb. 14.2). Von dort projizieren sie als Seh- Augen um die Dominanz in der Wahrnehmung, sodass der Pro-
strahlung (Radiatio optica) in den primären visuellen Cortex band jedes Bild abwechselnd für einige Sekunden »sieht«, während
(V1–V4). Dabei wird in allen Fällen die Links-rechts- und Oben- das andere unterdrückt wird – diese »binokulare Rivalität« ist ein
unten-Orientierung aufrechterhalten. Detaillierte morphologi- beliebtes experimentelles Design, um spontane und dynamische
sche Untersuchungen in vielen Organismen zeigen, dass diese Veränderungen in der bewussten Wahrnehmung zu untersuchen.
topographische Organisation eine gemeinsame Eigenschaft im Da die Übergänge in der Wahrnehmung zwischen beiden mono-
Tierreich darstellt. kularen Sichtweisen spontan und ohne Veränderung der physika-
Das »richtige« Auswachsen der beteiligten Nervenzellen lischen Stimulation erfolgen, können die neuronalen Antworten,
wird im Wesentlichen durch verschiedene Ephrine (A und B und die mit der bewussten Wahrnehmung verbunden sind, von den
15 ihre Untergruppen) und ihre Rezeptoren (Tyrosinkinasen) regu- reinen sensorischen Prozessen unterschieden werden.
liert; einige Knock-out-Mutanten der Maus sind zwar bekannt,
aber funktionell schwierig zu charakterisieren (in der Regel nur
anatomisch; möglicherweise sind die Wirkungen der einzelnen
Gene auch redundant). Weitere Spieler sind die Adenylatcyclase
(wichtig für die Ephrin-A5-abhängige Zurückentwicklung über-
zähliger retinaler Axone), Foxd1 (für die Bildung des Chiasma
opticum; 7 Abschn. 14.1.1) und Foxg1 (am Rett-Syndrom betei-
ligt; 7 Abschn. 14.4.1).
Im primären visuellen Cortex (V1) reagiert eine große Zahl
der Zellen auf bestimmte räumliche Orientierungen; so feuert
eine »einfache Zelle« beispielsweise bei länglichen Mustern (z. B.
Balken) an einer bestimmten Position und Orientierung. Dies
steht in scharfem Gegensatz zu den Zellen der Retina und auch
des Nucleus geniculatus lateralis, die keine Orientierungspräfe-
renz haben. Daneben gibt es in V1 aber auch »komplexe Zellen«,
für die die räumliche Position des Reizes innerhalb des rezep-
tiven Feldes von geringerer Bedeutung ist. Die Zunahme an . Abb. 15.42 Retinotope Transformation: vom visuellen Reiz zur Aktivie-
Komplexität und Spezifität hält auch im weiteren Verlauf der rung der Sehrinde (Area striata) bei Makaken. Während ein visueller Reiz
gegeben wird, werden die Antworten der Sehrinde aufgezeichnet: Die Akti-
Sehbahn an: Von V1 wird die Information an V2 und V4 vermit-
vität der cortikalen Zellen ist systematisch korreliert mit der anatomischen
telt, wo die Neurone größere rezeptive Felder haben als in V1. Topographie im visuellen System. 1, 2, 3: ausgewählte Regionen von der
Außerdem sind in V4 viele Neurone für die Orientierung von Fovea zur Peripherie. (Nach Thivierge und Marcus 2007, mit freundlicher
Umrisslinien sensitiv und antworten auf Winkel und Kurven, die Genehmigung von Elsevier)
15.2 · Der Mensch und sein Gehirn
785 15
. Abb. 15.43 Wenn jedem Auge widersprüch-
liche Signale angeboten werden, können diese
nicht zu einem gemeinsamen Bild verarbeitet
werden. Stattdessen wechselt die Wahrneh-
mung spontan zwischen den beiden Bildern des
jeweiligen Auges. In diesem Beispiel wird dem
linken Auge (L) ein rotierendes rotes Gitter an-
geboten und gleichzeitig dem rechten Auge ein
blaues Gitter (R). Die Verteilung der fMRI-Ant-
worten zeigt Regionen der primären (V1) und
sekundären Sehrinde (V2, V3) mit höherer Akti-
vität bei der Wahrnehmung des roten Gitters
und andere bei der Wahrnehmung des blauen
durch Verhalten berichtete bewusste Wahrnehmung Gitters. Hieran kann ein geübter Beobachter
bewusste Wahrnehmung entschlüsselt durch fMRI-Signale ablesen, welches Signal der Proband gerade be-
wusst wahrnimmt. Durch Drücken eines von
zwei Knöpfen deuten die Probanden an, welches
L der beiden Muster sie gerade wahrnehmen
(Balken im unteren Bildteil). v: ventral; d: dorsal;
F: Fovea; fMRI: funktionelle Magnetresonanz-
R
tomographie. (Nach Haynes und Rees 2006, mit
freundlicher Genehmigung der Nature Publish-
ing Group)
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180
Zeit (s)

*Ein interessantes Phänomen in diesem Kontext ist die


Rindenblindheit; der englische Begriff blindsight trifft es fast
Eine moderne Methode, die Gehirnaktivität an verschiedenen
Stellen zu bestimmen, ist die funktionelle Magnetresonanztomo-
besser: Betroffene Patienten können zwar sehen (d. h. das graphie (engl. functional magnetic resonance imaging, fMRI).
Auge ist intakt), aber sie nehmen optische Signale innerhalb . Abb. 15.43 zeigt einen derartigen Versuchsaufbau und die da-
eines bestimmten Sehfeldes nicht bewusst wahr, reagieren mit erzielbaren Ergebnisse. Von besonderer Bedeutung ist dabei
aber darauf. Untersuchungen an Patienten, die halbseitig nicht nur, dass die Analyse der unterschiedlichen fMRI-Muster
am Gehirn operiert wurden, geben Hinweise darauf, dass die für die Wahrnehmung durch das linke und rechte Auge eine
Colliculi superiores bzw. die seitlichen Kniehöcker des Tha- weitgehende Übereinstimmung mit der berichteten Wahrneh-
lamus (7 Abschn. 14.1.1) dabei eine wichtige Rolle spielen. mung durch den Probanden zeigt – aufgrund des zeitlichen Ver-
Als mögliche Ursache dafür wird das Fehlen der Synchroni- laufs der Messung ist es vielfach möglich, die Antwort des Pro-
zität der Aktivierung der Gehirnrinde diskutiert (Ptito und banden vorherzusagen: Die Änderung des fMRI-Musters erfolgt
Leh 2007); der primäre visuelle Cortex spielt dabei wohl vor der Antwort durch den Probanden.
keine besondere Rolle (Schmid et al. 2010, Leopold 2012). Die fMRI-Methode verfügt zwar nur über ein begrenztes
Genetische Ursachen sind dafür nicht bekannt; diese Arbei- zeitliches und räumliches Auflösungsvermögen, sie erlaubt es
ten können aber Hinweise darauf geben, welche Gehirn- aber dennoch, nicht nur die Bewusstwerdung der Reize nach-
areale bei der Entstehung von Bewusstsein wichtig sind. zuzeichnen, sondern auch die verschiedenen Gehirnregionen zu

. Abb. 15.44 Aufschlüsselung der Gesichts-


erkennung. Der Inhalt visueller Vorstellung kann
durch räumlich unterschiedliche Signale im Gyrus
fusiformis (engl. fusiform face area, FFA; rot) und im
Gyrus parahippocampalis (engl. parahippocampal
place area, PPA; blau) in der funktionellen Magnet-
resonanztomographie (fMRI) aufgeschlüsselt wer-
PPA den. Während der Perioden, in denen Gesichtsbilder
gezeigt werden (rote Pfeile), sind die Signale aus
dem Gyrus fusiformis erhöht; dagegen sind wäh-
rend der Perioden, in denen Bilder von Gebäuden
fMRI-Signal

gezeigt werden (blaue Pfeile), die Signale im Gyrus


parahippocampalis erhöht. Ein Beobachter, dem
nur die Aktivitätsdaten eines Probanden gezeigt
werden, kann mit 85%iger Genauigkeit die Katego-
rie erkennen, die der Proband sieht. (Nach Haynes
und Rees 2006, mit freundlicher Genehmigung der
FFA
Nature Publishing Group)

Zeit
786 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Man kann nun aber die Auflösung noch weiter treiben und
fragen, welches Gesicht erkannt wird. Ingo Kennerknecht vom
Institut für Humangenetik der Universität Münster hat eine gan-
ze Reihe von Familien charakterisiert, die an einer angeborenen
Unfähigkeit leiden, Gesichter zu erkennen (kongenitale Prosop-
agnosie). Die Stammbäume gehen über mehrere Generationen
und zeigen einen klassischen autosomal-dominanten Erbgang
mit vollständiger Penetranz; ein Beispiel ist in . Abb. 15.45 dar-
gestellt. Auch wenn die entsprechenden Gene und die verant-
wortlichen Mutationen noch nicht identifiziert sind, so macht
dies doch deutlich, dass es für die Gesichtserkennung des Men-
schen eine einfache und von Umwelteinflüssen weitgehend un-
abhängige genetische Grundlage gibt.
. Abb. 15.45 Prosopagnosie in einer Familie über drei Generationen mit Experimentell ist die Untersuchung der Fähigkeit zur Ge-
autosomal-dominantem Erbgang. Die Träger sind schwarz dargestellt; der sichtserkennung auf verschiedenen Wegen zugänglich. Einzel-
Pfeil deutet auf die Indexpatientin. (Nach Kennerknecht et al. 2006, mit zellableitungen in verschiedenen Arealen des mittleren Schlä-
freundlicher Genehmigung von Wiley) fenlappens zeigten, dass es nicht nur kategorienspezifische
Neurone gibt (wie wir es oben gesehen haben, z. B. solche für
lokalisieren, die bei der Erkennung verschiedener Muster eine Gesichter oder für Landschaften oder für Tiere), sondern dass
Rolle spielen. . Abb. 15.44 zeigt, dass unterschiedliche Gehirn- auch unter den Neuronen, die für Gesichter spezifisch sind,
regionen aktiv sind, wenn Probanden Objekte (Gebäude) gezeigt offensichtlich einzelne oder wenige Neurone für einzelne Ge-
werden oder wenn es sich um Gesichter handelt. Auch hier kann sichter verantwortlich sind. . Abb. 15.46 zeigt ein Beispiel für
ein geübter Beobachter anhand des fMRI-Musters erkennen, was ein Neuron, das immer nur dann feuert, wenn der Betrach-
der Proband gerade bewusst wahrnimmt. ter   die Schauspielerin Whoopi Goldberg erkennt, aber nicht

Δt = 33 ms

15

Δt = 66 ms

Δt = 132 ms

Δt = 264 ms
50 Hz

1s
. Abb. 15.46 Gesichtserkennung und Einzelzellableitung. Ein einziges Neuron im rechten posterioren Hippocampus antwortet selektiv auf verschiedene
Bilder der Schauspielerin Whoopi Goldberg, aber nicht auf andere Bilder. Für jedes Foto sind die Rasterdiagramme und die Zeitdiagramme nach der Stimu-
lierung gezeigt (Δt). Die Versuche, bei denen die Bilder erkannt wurden, sind in Blau dargestellt. Die gestrichelten vertikalen Linien (1 s Abstand) geben das An-
und Ausschalten der Bilderpräsentation an. (Nach Quiroga et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung der Nationalen Akademie der Wissenschaften, USA)
15.3 · Quo vadis, Homo sapiens?
787 15

. Abb. 15.47 Gesichtserkennung. Oben wird ein Beispiel von Gesichtsbildern gezeigt, in denen eine Serie von Gestaltveränderungen von Demi Moore
zu Julia Roberts führt. Unten werden die acht wichtigen Gesichtsregionen gezeigt: Stirn, Augen, Nase, Mund, Kinn und Wangen. Im Experiment werden
die Augenbewegungen des Betrachters aufgezeichnet, sodass festgestellt werden kann, welchen der dargestellten Abschnitte der Betrachter wie oft und
wie lange fixiert. Patienten mit Prosopagnosie zeigen ein deutlich unterscheidbares Muster der Fixierungen. (Nach Barton et al. 2007, mit freundlicher
Genehmigung von Springer)

bei anderen Personen und auch nicht bei irgendwelchen Ob- 15.3 Quo vadis, Homo sapiens?
jekten.
Wir haben in den vergangenen Abschnitten versucht, an einigen
* Untersuchungen von Jason Barton in Vancouver können Hin-
weise auf die Prozesse geben, die bei der Erkennung eines
Beispielen wichtige Entwicklungslinien der Menschwerdung
aufzuzeichnen: zunächst die allgemeine Entwicklung des Men-
Gesichts ablaufen (. Abb. 15.47): Er studierte die Augenbe- schen aus einem gemeinsamen Vorläufer mit Affen, um dann
wegungen von Probanden beim Betrachten von Gesichtern. einige spezifischere Aspekte genauer zu beleuchten, das Gehirn-
Dabei wird das zu betrachtende Gesicht in verschiedene wachstum, die Entwicklung der Sprache und das Bewusstwerden
Bereiche »zerlegt« (Stirn, linkes/rechtes Auge, Nase, Mund, von Sinneseindrücken am Beispiel der Gesichtserkennung. Im
Kinn, rechte/linke Wange). Er konnte zunächst zeigen, dass letzteren Fall stehen wir noch am Anfang, was die genetische
bei Prosopagnosie-Patienten die Augenbewegungen wesent- Analyse betrifft. Aber mit der Verfeinerung elektrophysiolo-
lich ungeordneter ablaufen als bei gesunden Patienten. gischer und bildgebender Verfahren wird es möglich werden,
Dieser Prozess des »Scannens« eines Gesichts erfolgt also auch in diesen Fällen zunächst das allgemeine Prinzip besser zu
offensichtlich nach einem vorgegebenen »Raster«, das aber beschreiben, um sodann auch die Unterschiede zwischen einzel-
auch immer die Rückkopplung mit bekannten Mustern nen Individuen genauer zu erfassen. Und mit dieser Charakteri-
braucht. Die genetische Analyse der Prosopagnosie-Patienten sierung von unterschiedlichen Phänotypen wird es möglich sein,
wird uns die Informationen liefern, auf welchen Stufen hier auch die genetische Konstitution dahinter zu erkennen.
entscheidende Schlüsselereignisse stattfinden. Wenn die ent- Diese Erkenntnis wird zweierlei ermöglichen: zum einen
sprechenden Gene charakterisiert sein werden, wird es damit die Identifikation homologer Gene im Tierreich und damit die
zum ersten Mal die Möglichkeit geben, Genetik, Elektrophy- Beschreibung ihrer Funktionen in anderen Organismen. Durch
siologie und höhere kognitive Funktionen des Menschen in den Vergleich mit »dem« Menschen werden wir auch deutlicher
einem gemeinsamen Ansatz zu beschreiben und auch unter erfahren, worin wir uns unterscheiden – und worin nicht. Dies
evolutionären Gesichtspunkten vergleichend zu untersuchen. wird uns erlauben, die Bedingungen vieler unserer Verhaltens-
Es ist zu erwarten, dass damit ein Paradigma für humanspe- weisen besser zu verstehen – außerdem welche Modifikationen
zifische, kognitive Funktionen entwickelt werden kann. möglich sind, und welche durch die »Natur« des Menschen wohl
nicht zu ändern sein werden. Zum anderen werden wird durch
> Die Erkennung eines Gesichts ist eine wichtige Eigen- den Vergleich der Gene bei der Vielfalt der heutigen Menschen
schaft des Menschen, die jeweils einzelnen Neuronen im sehen, welche spezifisch menschlichen Mutationen zu den Funk-
seitlichen Schläfenlappen zugeordnet werden kann. tionsänderungen beim Menschen in der Evolution beigetragen
Die Genetik der kongenitalen Prosopagnosie, einer auto- haben – wir haben das oben am Beispiel des FOXP2-Gens in der
somal-dominanten Erbkrankheit, wird wichtige gene- Evolution der Sprache beispielhaft gesehen. Aus der Summe der
tische Hinweise geben, welche Prozesse für die Gesichts- Einzelbefunde könnte sich dann insgesamt ein Bild davon er-
erkennung notwendig sind – und wie sie sich in der geben, was unter genetischem Blickwinkel den Menschen zum
Evolution entwickelt haben. Menschen macht.
788 Kapitel 15 · Genetik und Anthropologie

Wir werden dann sehen, ob diese Sichtweise mit denen an- Alles in allem wird die Genetik in den nächsten Jahren in
derer Disziplinen kompatibel ist, vor allem der Philosophie, aber herausragender Weise dazu beitragen, das Wesen des Menschen
auch der Theologie, der Soziologie, der Psychologie und der zu beschreiben – die conditio humana, über die Generationen
Pädagogik. Es wird verstärkt die Frage zu diskutieren sein, ob von Philosophen sich den Kopf zerbrochen haben. Es könnte
Willensfreiheit (wie vom Christentum und der europäischen sein, dass wir dabei einige Illusionen verlieren über unsere Indi-
Aufklärung propagiert) als Wesensmerkmal des Menschen vidualität und über unsere Möglichkeiten, bewusst und frei zu
weiterhin aufrechterhalten werden kann – oder ob wir uns nur entscheiden. War die »Freiheit eines Christenmenschen« nur ein
einbilden, zu wollen, was wir tun. Traum?

Kernaussagen
5 Menschen und die großen Affen sind durch eine lange heit in Afrika. Eine genaue Analyse ergibt, dass nur ein kleiner
gemeinsame Evolution verbunden; der wichtigste cytogene- Teil davon nach Europa eingewandert ist; am Ende der letzten
tische Unterschied zwischen Affen und Menschen besteht in Eiszeit erfolgte die Wiederbesiedelung Europas aus den Rück-
der Fusion zweier Chromosomen der Affen zum menschlichen zugsgebieten in Südwestfrankreich/Nordwestspanien.
Chromosom 2. Das Y-Chromosom des Menschen zeichnet 5 Die Aufhellungen der Haut-, Haar- und Augenfarben betreffen
sich durch viele evolutionär junge Palindrome aus, die eine im Wesentlichen die Populationen außerhalb von Afrika und
intrachromosomale Rekombination ermöglichen. stellen eine Anpassung an die geringere Sonneneinstrahlung
5 Die Schimpansen sind die nächsten Verwandten des in nördlichen Breiten dar.
Menschen. Erste Hinweise für unterschiedliche Entwicklungen 5 Einige Gene, die an der Entwicklung des Gehirns beteiligt sind,
gibt es vor allem für Gene des Immunsystems und der Repro- zeigen eine positive Selektion in der menschlichen Linie. Dazu
duktion. gehören Gene wie MCPH1 und ASPM, bei denen Mutationen
5 Die Entwicklung des modernen Menschen begann im süd- zu Mikrocephalie führen, als auch Gene, die die Information für
lichen zentralen Afrika; die Ausbreitung erfolgte in mehreren nicht-codierende RNAs enthalten (HAR1F).
Wellen nach Asien, Europa und Amerika. Die Untersuchung 5 Mutationen im FOXP2-Gen sind kausal für schwere Sprach-
verschiedener charakteristischer Genorte legt es nahe, auf störungen des Menschen. Da das Gen eine spezifische Evolu-
allen Stufen dieser Entwicklung ein gewisses Maß an Durch- tion in der menschlichen Linie zeigt, wird es als essenziell für
mischung der verschiedenen Populationen anzunehmen. die Evolution der Sprachfähigkeit des Menschen angesehen.
5 In Europa ist der Neandertaler ein Vorgänger des modernen 5 Aggressives Verhalten ist von Polymorphismen in Genen
Menschen; für etliche Jahrtausende bewohnten beide Arten des serotonergen Systems sowie des Androgen-Rezeptors
denselben Lebensraum (Sympatrie). Es gibt Hinweise auf beeinflusst.
eine Durchmischung einzelner genomischer Regionen; der 5 Der Mensch verfügt wie andere Primaten auch über knapp
Gesamtbeitrag des Neandertalers am Genom des modernen 400 Geruchsrezeptoren; im Gegensatz zu Schimpansen haben
Menschen beträgt etwa 2 %. Menschen auch einige Gene für Rezeptoren von Pheromonen.
15 5 Die Denisova-Menschen lebten etwa zeitgleich mit den 5 Die Erkennung eines Gesichts ist eine wichtige Eigenschaft
Neandertalern im Altai-Gebirge in Sibirien; wir finden in der des Menschen, die jeweils einzelnen Neuronen im seitlichen
DNA-Sequenz heute lebender Ozeanier einen Anteil von Schläfenlappen zugeordnet werden kann. Die Genetik der
etwa 5 % ihrer DNA-Sequenz. kongenitalen Prosopagnosie, einer autosomal-dominanten
5 Die Sequenzierung der menschlichen DNA in vielen Bevölke- Erbkrankheit, wird wichtige Hinweise auf die Mechanismen
rungsgruppen der Welt bestätigt den Ursprung der Mensch- geben, die für die Gesichtserkennung notwendig sind.

Übungsfragen
1. Erläutern Sie die Bedeutung der Fusion ist ein Mendel’scher Erbgang, bei 5. Häufig finden wir die Behauptung, dass
zweier Chromosomen der Affen zum dem braun dominant über blau ist. Er- sich das Geruchssystem des Menschen ge-
Chromosom 2 des Menschen für die Evolu- klären Sie damit die Augenfarbe der genüber anderen Tieren zurückgebildet
tionslinie des Menschen. Kinder. habe, weil das visuelle System eine größere
2. Erläutern Sie die genetischen Argumente 4. Welche grundlegenden Erkenntnisse Bedeutung erlangt habe. Ist diese Behaup-
der Out-of-Africa-Hypothese. können wir aus der Betrachtung der ge- tung gerechtfertigt? Begründen Sie Ihre
3. Betrachten Sie die . Abb. 15.27b: netischen Unterschiedlichkeiten heute These.
blau × braun ergibt blau. Die Angabe lebender Menschen ziehen?
Literatur
789 15
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Serviceteil
Antworten zu den Übungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799

Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 808

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
792 Serviceteil

Antworten zu den Übungsfragen

Antworten Kapitel 1
1. Unter Genotyp verstehen wir die geneti- denen »Stücken« eines Gens Elemente 6. Erworbene Eigenschaften können nicht
sche Konstitution eines Organismus; in vie- eines anderen Gens befinden können oder über die Keimbahn vererbt werden und ha-
len Fällen bezieht sich der Begriff auch nur dass der Gegenstrang eine andere Informa- ben keinen Einfluss auf die DNA-Sequen-
auf ein Gen (wenn wir von »genotypisie- tion enthält, die auch abgelesen wird. zen der Ei- und Samenzellen. Wir müssen
ren« sprechen, wollen wir auf der Ebene 3. Allele sind verschiedene »Erscheinungsfor- davon aber spontane Mutationen in der
der DNA den Wildtyp von einer Mutante men« eines Gens: Dabei können einzelne Keimbahn unterscheiden, die unter einem
unterscheiden; die Mutation muss man Basen ausgetauscht sein oder auch ganze bestimmten (evtl. viel später auftretenden
dazu natürlich kennen). Unter dem Phäno- Bereiche fehlen oder in ihrer Orientierung Selektionsdruck) einen Vorteil darstellen
typ verstehen wir dagegen das äußerliche umgedreht sein. Wir sprechen von einem und sich an die veränderten Umweltbedin-
Erscheinungsbild oder auch die Ausbil- Null-Allel, wenn das Gen vollständig inaktiv gungen als besser angepasst erweisen. Wir
dung einer Krankheit. Ein gleicher Phäno- ist. müssen davon auch epigenetische Markie-
typ kann durch verschiedene Genotypen 4. Die »Chromosomentheorie der Vererbung« rungen unterscheiden (7 Kap. 8), die sich
verursacht sein; Umwelteinflüsse verän- besagt, dass sich die Träger der Erbinfor- in unterschiedlichen biochemischen Modi-
dern den Phänotyp ebenfalls. mationen im Zellkern befinden und auf fikationen der DNA ausdrücken (vor allem
2. Früher war man der Ansicht, dass ein Merk- »anfärbbaren Kernkörperchen« lokalisiert Methylierungen) und die Aktivitäten von
mal (biochemisch: ein Protein) durch ein werden können – diese werden als Chro- Genen regulieren können. Diese Modifika-
Gen codiert wird. Heute wissen wir, dass mosomen bezeichnet. tionen können als Antwort auf Umwelt-
Gene auf der DNA nicht immer in einem 5. Man stellte sich vor, dass die Form der reize auftreten (z. B. Ernährung) und über
Block vorliegen, sondern häufig »gestü- Doppelhelix mit ihren antiparallelen Strän- Generationen weitergegeben werden.
ckelt« sind; die Stücke sind dabei oft über gen und den zentralen Basen vor der Ver- Oft wird auch von »kultureller Vererbung«
größere Bereiche verteilt. Dazu kommen dopplung wie ein Reißverschluss geöffnet gesprochen – hier handelt es sich aber um
regulatorische Elemente, von denen sich werden kann; die Basen des neuen Strangs sozialwissenschaftliche Phänomene, die
einige direkt vor oder nach den codieren- legen sich quasi spiegelbildlich an einen nicht Gegenstand der Genetik sind (höchs-
den Sequenzen befinden. Diese verschie- der alten Stränge an, sodass aus den bei- tens insoweit, dass die genetischen Voraus-
denen Elemente können in unterschiedli- den alten Hälften zwei neue DNA-Moleküle setzungen für »Kultur« gegeben sein müs-
chen Geweben eines Organismus in unter- entstehen können, die sich in ihrer Se- sen und sich in der Evolution als vorteilhaft
schiedlicher Weise kombiniert werden, quenz von dem Ausgangsmolekül nicht erwiesen haben).
sodass aus einem Gen viele verschiedene unterscheiden. Im Prinzip hat sich diese
Proteine gebildet werden können. Dazu Vorstellung als richtig erwiesen (für Details
kommt, dass sich zwischen den verschie- 7 Abschn. 2.2).

Antworten Kapitel 2
1. Die DNA-Doppelhelix enthält ~10bp pro Material. Außerdem gibt es terminal diffe- nuierlich erfolgen. Am Gegenstrang
Windung; eine Windung umfasst 3,4nm: renzierte Zellen, die sich nicht weiter (»Folgestrang«) muss die Synthese deshalb
320 Mio. Windungen ™ 3,4nm = teilen, auch hier wäre eine weitere DNA- diskontinuierlich erfolgen, sodass immer
1088 Mio.nm = 1,088m. Die menschliche Replikation eine unnötige Verschwendung nur kurze Fragmente (Okazaki-Fragmente)
DNA ist also knapp 1,1m lang, wenn man der energetischen Ressourcen einer Zelle. gebildet werden können, wenn sich die Re-
die DNA-Moleküle aller Chromosomen Ausnahmen sind die polytänen oder plikationsgabel weiter öffnet.
(einer Keimzelle) hintereinander anordnet Riesenchromosomen bei Drosophila 5. Nur der Leitstrang kann bis zum Ende
– der doppelte Chromosomensatz ergibt (7 Abschn. 6.4.1). durchsynthetisiert werden; der Folgestrang
dann entsprechend mehr als 2m. Das ver- 3. Die Geschwindigkeit des Replikations- würde einzelsträngig bleiben, da der RNA-
deutlicht die Notwendigkeit der zusätz- prozesses beträgt bei Eukaryoten etwa Primer zum Starten des letzten Okazaki-
lichen Verdrillungen, um die gesamte DNA 50 bp/s. Das haploide menschliche Genom Fragments nicht mehr durch eine DNA
im Zellkern unterzubringen. enthält etwa 3 × 109 bp und 23 Chromo- ersetzt werden kann (die DNA-Polymerase
2. Durch die Kopplung der DNA-Synthese an somen – wenn es auf jedem Chromosom braucht ja ein freies 3’-OH-Ende). Dieser
den Zellzyklus wird gewährleistet, dass das nur einen Startpunkt gäbe, würde der DNA-Einzelstrang ist jedoch nicht stabil,
Genom dann dupliziert wird, wenn es ge- Vorgang mehrere Wochen in Anspruch sodass sich das Telomer bei jeder Zell-
braucht wird – nämlich vor der Zellteilung. nehmen. teilung entsprechend verkürzen würde.
Wenn sich eine Zelle teilt, ohne vorher das 4. Da die DNA-Polymerase nur in eine Rich- Deshalb wird dieser Teil der Replikation
Genom zu duplizieren, enthält eine der tung arbeitet (5’ൺ3’, unidirektional), kann durch einen Telomerase-Komplex über-
beiden Tochterzellen kein genetisches die DNA-Synthese nur am Leitstrang konti- nommen.

J. Graw, Genetik,
DOI 10.1007/978-3-662-44817-5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
793
Antworten zu den Übungsfragen

Antworten Kapitel 3
1. Das »zentrale Dogma der genetischen Daraus ergibt sich, dass einige Amino- Aminosäure. Diese tRNAs liegen aber oft
Information« postulierte eine Richtung der säuren (und auch das Stoppzeichen) durch in unterschiedlicher Menge vor, sodass
Information: von der DNA über das Tran- mehrere Codons repräsentiert werden. bei einem synonymen Austausch zwar die
skript (mRNA) zum entsprechenden Pro- 3. Bei Eukaryoten ist die codierende Informa- gleiche Aminosäure eingebaut wird, aller-
tein (bei manchen Genen endet der Weg tion häufig nicht durchgängig in den Ge- dings kann die gebildete Proteinmenge
natürlich auch bei der RNA [rRNA, tRNA, nen (und damit im primären Transkript) deutlich reduziert (oder erhöht) sein und
nicht-codierende RNA]). Seit der Entde- enthalten, sondern durch nicht-codierende damit durchaus pathologisch relevant
ckung der Reversen Transkriptase wissen Abschnitte (Introns) unterbrochen. Diese werden.
wir, dass Zellen diesen Weg auch rückwärts Introns müssen im Reifeprozess der mRNA 5. Ribozyme sind katalytisch aktive RNAs,
gehen können – von der RNA zur DNA. herausgeschnitten werden, damit die ein- die mit Proteinen zusammenarbeiten kön-
Damit ist dieses Dogma nicht mehr gültig. zelnen Stücke der genetischen Information nen. Im Spleißsosom sind mehrere snRNAs
2. Wir haben einen 3-Basen-Code für die ins- (Exons) richtig zusammengesetzt in der (engl. small nuclear RNAs) und Proteine
gesamt 20 klassischen Aminosäuren. Dafür mRNA auftauchen. enthalten; da die RNA hier katalytische
stehen 43 = 64 Möglichkeiten für Codierun- 4. Jedes Codon wird durch eine spezifische Aktivität hat, können wir das Spleißosom
gen zur Vefügung, gebraucht werden aber tRNA erkannt; es gibt also umgekehrt meh- (ähnlich wie das Ribosom) als Ribozym
nur 20 plus ein Satzzeichen für Stopp. rere verschiedene tRNAs für eine bezeichnen.

Antworten Kapitel 4
1. Die Prokaryoten haben keinen Zellkern; tenzgene) tragen und die über verschiede- 6. Die wichtigsten Schritte der Rekombina-
ihre ringförmige, doppelsträngige DNA ne Mechanismen zwischen gleichen und tion bestehen in der Anlagerung von zwei
liegt, assoziiert mit verschiedenen Pro- verschiedenen Bakterienstämmen ausge- homologen DNA-Doppelsträngen, der Er-
teinen, im Cytoplasma und bildet ein tauscht werden können. zeugung eines Doppelstrangbruchs und
Nukleoid. Neben dem Chromosom be- 4. Restriktionsenzyme sind Endonukleasen, anschließender Wiederverheilung ohne
sitzen Prokaryoten häufig Plasmide als die sequenzspezifisch doppelsträngige Neusynthese (Meselson-Radding). Die da-
extrachromosomale DNA. DNA zerschneiden. Sie kommen bei Proka- bei beobachtete kreuzweise Anordnung
2. Eine Bakterienkultur wird in zwei Gruppen ryoten vor, die sich damit gegen fremde der beiden DNA-Stränge, die zu der »fal-
geteilt und jede Gruppe dann in weitere DNA schützen und so den Wirtsbereich von schen« Wiederverheilung führt, wird als
Untergruppen. Als Umweltfaktor wird nach Phagen begrenzen können (Restriktion). In Holliday-Struktur bezeichnet.
einiger Zeit des Wachstums ein Bakterio- der Gentechnologie/Molekularbiologie 7. Ein Operon besteht aus mehreren Genen,
phage zugegeben, und zwar einmal zu der werden sie ebenfalls zur sequenzspezifi- die in einer polycistronischen RNA transkri-
Gruppe vor der Aufteilung in Untergrup- schen Spaltung von DNA verwendet biert und durch einen Promotor gemein-
pen und in der anderen Gruppe direkt in (7 Technikbox 13) und haben eine beson- sam reguliert werden. Das Operon kann
die verschiedenen Untergruppen. Die Prü- dere Bedeutung beim Klonieren – viele entweder konstitutiv aktiv sein und durch
fung auf entwickelte Resistenzen in den Vektoren verfügen über multiple Klonie- die Bindung eines Repressors an die Ope-
infizierten Untergruppen zeigt erhebliche rungsstellen, um so das Einfügen fremder rator-Sequenz bei Bedarf abgeschaltet
Schwankungen (Fluktuationen), was darauf DNA-Fragmente zu erleichtern. werden, oder es ist zunächst ausgeschaltet
hindeutet, dass diese Resistenzen zu unter- 5. Die Cre-Rekombinase des Phagen P1 und wird durch die Bindung eines Induk-
schiedlichen Zeiten während der Vorinku- schneidet ein DNA-Fragment zwischen tors an die Operator-Sequenz bei Bedarf
bation entstanden sind. Die Prüfung der zwei loxP-Stellen heraus und ligiert die ver- aktiviert. Dieses »Basismodell« kann natür-
ersten Gruppe (Infektion vor der Aufteilung bleibende DNA so, dass nur noch eine loxP- lich durch komplexere Regulationsmecha-
in die Untergruppen) ergab dagegen eine Stelle zurückbleibt. In der Maus-Genetik nismen verfeinert werden.
homogene Verteilung. Das Ergebnis wird wird das Gen für die Cre-Rekombinase mit 8. Quorum sensing ist ein System der Zell-
so interpretiert, dass Mutationen unabhän- gewebespezifischen Promotoren einge- Zell-Kommunikation bei Bakterien, mit
gig von dem Umwelteinfluss und zu jeder setzt, um Gene, die mit zwei loxP-Stellen dessen Hilfe sie auf konzentrationsabhän-
Zeit eintreten können und nur unter Selek- versehen wurden, in dem jeweiligen Zielge- gige (chemische) Signale mit Veränderun-
tionsbedingungen sichtbar werden. webe auszuschalten. Dadurch kann die gen ihres Expressionsmusters reagieren.
3. Plasmide sind kleine, ringförmige, extra- Funktion eines Gens in diesem Gewebe un- Die Konzentrationsabhängigkeit ist üb-
chromosomale DNA-Moleküle, die zusätz- tersucht werden, wenn der Verlust des Gens licherweise mit der Populationsdichte kor-
liche genetische Informationen (z. B. Resis- im gesamten Organismus tödlich wäre. reliert.
794 Serviceteil

Antworten Kapitel 5
1. Mitochondrien (und bei Pflanzen die Cytoplasma beteiligt. Von besonderer 4. Alle fünf genannten Organismen sind
Chloroplasten) sind als Organellen im Cyto- Bedeutung ist die Laminschicht für die An- relativ klein, haben kurze Generations-
plasma vorhanden. Sie haben eigene klei- heftung der Chromosomen und damit zeiten und weisen eine gewisse genetische
ne, ringförmige Genome und werden bei auch für die Ausbildung der Chromosomen- Heterogenität auf. Damit eignen sie sich
der Zellteilung auf die Tochterzellen über- territorien. für die Haltung unter Laborbedingungen
tragen. Bei einer Übertragung über die 3. Der Zellzyklus ist der Zeitraum von einer auch in größeren Zahlen, wie sie für gene-
Keimbahn gelangen väterliche Organellen Zellteilung zur nächsten. Er beginnt mit tische Arbeiten häufig notwendig sind.
nicht in die befruchtete Eizelle, sodass der G1-Phase nach der Zellteilung, die dann Außerdem sind viele Mutationen leicht an
hier immer ein mütterlicher Erbgang vor- in die S-Phase der DNA-Synthese (DNA- äußeren Merkmalen erkennbar, sodass sie
liegt. Replikation) übergeht. Nach Abschluss der gut gezüchtet und charakterisiert werden
2. Die Laminschicht ist für die Strukturierung Replikation folgt die G2-Phase mit der Vor- können.
des Zellkerns wichtig und an der Kontrolle bereitung auf die eigentliche Zellteilung,
des Strofftransports zwischen Zellkern und die Mitose (M-Phase).

Antworten Kapitel 6
1. Ein Chromosom in der Interphase besteht die Zellen befinden sich danach wieder im chromosomalen DNA ohne darauffolgende
aus einer Chromatide, die aus einem diploiden Zustand. Bei der Differenzierung Zell- und Kernteilungen entstehen (Endo-
DNA-Doppelstrang mit den dazugehörigen der Keimzellen erfolgt in den beiden meio- replikation). Die Riesenchromosomen
Proteinen (Histonen) aufgebaut ist. In der tischen Teilungen eine Reduktion auf eine weisen eine hohe Transkriptionsaktivität
Metaphase der Mitose wurde die DNA be- haploide Keimzelle, sodass erst bei der Be- auf; die Expression der Gene auf diesen
reits repliziert, und so erscheint das klassi- fruchtung erneut eine diploide Zelle ent- Chromosomen wird durch den hohen Poly-
sche Bild mit zwei Chromatiden, die am steht. Die erste meiotische Teilung dient täniegrad deutlich erhöht. Die große Zahl
Centromer zusammenhängen. der Trennung der Chromosomen und die der gepaarten Chromatiden ermöglicht
2. Die Telomerase ist eine Reverse Transkrip- zweite der Trennung der Chromatiden. außerdem die Beobachtung von struktu-
tase, die am Telomer zunächst kurze RNA- In der ersten meiotischen Teilung erfolgt rellen Unterschieden in den Chromosomen
Moleküle (Pentamere, Hexamere oder außerdem ein Austausch von DNA-Frag- ohne weitere Färbetechniken.
Heptamere) anfügt und daran den Gegen- menten (Rekombination) zwischen den 5. Das menschliche Y-Chromosom ist gegen-
strang synthetisiert. Die Telomerase ver- homologen (ursprünglich väterlichen und über dem X-Chromosom degeneriert
hindert somit, dass die Enden der Chromo- mütterlichen) Chromatiden, sodass die und enthält im Wesentlichen nur noch
somen bei jeder Zellteilung verkürzt entstehenden Keimzellen eine individuelle Gene, die für die Ausprägung des männ-
werden; sie ist in Einzellern aktiv sowie in Allelkombination enthalten. Zusammen er- lichen Phänotyps und für die männliche
höheren Eukaryoten in den Zellen der höhen beide Mechanismen (Meiose und Fertilität wichtig sind. Allerdings enthält
Keimbahn, in (embryonalen und adulten) Rekombination) die genetische Vielfalt er- das Y-Chromosom viele Palindrome und
Stammzellen, in Zellen des Immunsystems heblich. repetitive Elemente, die häufige intra-
und in Krebszellen. 4. Riesenchromosomen (in den Speichel- chromosomale Rekombinationen ermög-
3. Die Mitose verteilt die verdoppelten Chro- drüsen vieler Insekten) bestehen aus einer lichen. Dadurch erscheint das Y-Chro-
mosomen bei einer regulären Zellteilung großen Anzahl exakt gepaarter Chromati- mosom durchaus als ein dynamisches
einfach auf die jeweiligen Tochterzellen; den, die durch wiederholte Replikation der Chromosom.
795
Antworten zu den Übungsfragen

Antworten Kapitel 7
1. Das Fibroin-Gen ist aus vielen modularen rückreicht. Dabei sind die verschiedenen dieser Region (ebenso wie im distalen
Einheiten aufgebaut, die für Serin-, Glycin- Duplikationen einzelner Globin-Gene oder Promotor oberhalb des proximalen
und Alanin-reiche Bereiche im Protein größerer DNA-Abschnitte nachweisbar; des Promotorbereichs) viele Bindestellen
codieren. Dabei wechseln oft Ser-Gly- und Weiteren gelang dadurch die Identifizie- für gewebespezifische Transkriptions-
Ala-Gly-Abschnitte ab; aufgrund der räum- rung bisher unbekannter Mitglieder der faktoren.
lichen Anordnung der Aminosäuren kön- Genfamilie, z. B. des Neuroglobins. 5. Da Insulin bei hoher Glucosekonzentration
nen sich lange und sehr stabile β-Faltblatt- 4. Der Kernbereich eines eukaryotischen Pro- benötigt wird, damit Glucose in seine Spei-
strukturen im Protein entwickeln. motors umfasst etwa 40 bp oberhalb und cherform Glykogen umgewandelt werden
2. Bei einer Gesamtgröße des Titin-Gens unterhalb des Transkriptionsstarts und ent- kann, benötigt die Zelle einen Mechanis-
von »nur« 300.000 bp enthält das Gen 363 hält wichtige Elemente zur Positionierung mus, um höhere Glucosekonzentrationen
Exons, die für 38.138 Aminosäuren co- der RNA-Polymerase II. In vielen Promoto- zu messen und gleichzeitig entsprechende
dieren. Das entsprechende Titin-Protein ren ist dafür in erster Linie die TATA-Box Aktivierungsschritte einzuleiten. Dies
ist mit 4,2 Mio. kDa das größte Protein verantwortlich. Im proximalen Bereich des geschieht dadurch, dass nur bei höherer
des Menschen. Das Protein spielt eine be- Promotors (Position −50 bis −200 bp in Glucosekonzentration Glykosylierungs-
deutende Rolle für die Elastizität des Bezug auf den Transkriptionsstart, der als reaktionen von Proteinen möglich sind –
Muskels. »+1« gezählt wird) befinden sich häufig in diesem Fall wird der für die INS-Expres-
3. Aufgrund der vergleichenden Sequenzana- eine CAAT-Box und GC-reiche Regionen sion wichtige Transkriptionsfaktor NeuroD1
lysen lässt sich ein evolutionärer »Stamm- (»CpG-Inseln«), die als Bindestellen für viele glykosyliert, sodass er in den Zellkern ge-
baum« der Globin-Gene aufstellen, der bis allgemeine Transkriptionsfaktoren dienen langen kann, dort an den INS-Promotor
zum »Ur-Globin« vor ca. 1 Mrd. Jahren zu- (z. B. SP1). Außerdem befinden sich in bindet und so die INS-Expression aktiviert.

Antworten Kapitel 8
1. Epigenetik bezeichnet stabile Verände- sie enthält ein dsRNA-bindendes Motiv wir bei Genen, die genetisch geprägt
rungen in der Regulation der Genexpres- und am N-Terminus eine sind, aber auch bei einzelnen Genen,
sion, die während der Entwicklung, Zell- DExH/DEAH-RNA-Helikase/ATPase-Domäne die – abhängig vom Differenzierungsgrad
differenzierung und Zellproliferation ent- sowie ein Motiv, das als »PAZ«-Domäne der jeweiligen Zellen – dauerhaft stillge-
stehen und über Zellteilungen hinweg bezeichnet wird (PAZ: Piwi-Argonaute- legt werden.
festgeschrieben und aufrechterhalten wer- Zwille – das sind verwandte Proteine 5. In manchen Bereichen des Genoms
den, ohne dass dabei die DNA-Sequenz aus Drosophila). RNase III produziert aus von Keimzellen sind Gruppen von Genen
verändert wird. Epigenetische Markierun- langer dsRNA Sequenz-unabhängig ein- geschlechtsspezifisch ausgeschaltet;
gen sind Methylierung der DNA sowie heitlich kleine RNA-Fragmente, wovon diese »genetische Prägung« (engl. im-
Methylierung, Acetylierung und Phospho- die Bezeichnung Dicer abgeleitet wurde printing) wird in Körperzellen im Prinzip
rylierung der Histone. Außerdem zählen (aus dem Amerikanischen: Würfel- aufrechterhalten und kann während
wir die Wirkung verschiedener nicht-codie- schneidemaschine). Dicer-Enzyme spie- der Entwicklung und Differenzierung
render RNA-Moleküle dazu. len  owohl bei der Herstellung der modifiziert werden. Imprinting beruht im
2. Bei der Replikation der DNA wird deren kleinen interferierenden RNA (siRNA) als Wesentlichen auf der Methylierung von
Methylierung auf den neuen Strang nicht auch bei der Herstellung der wirksamen DNA als Erkennungsmechanismus für
»automatisch« weitergegeben, sondern Formen der Mikro-RNA (miRNA) eine Geninaktivierung und wird durch weitere
bedarf der Wirkung von Enzymen (DNA- wichtige Rolle, da sie aus den Vorläufer- Mechanismen ergänzt (Expression von
Methylasen). Bleibt diese aus, bleibt der formen die jeweils aktiven Formen heraus- Gegenstrang-Transkripten, Chromatin-
neue Strang unmethyliert. Nach mehre- schneiden. strukturen, Silencer). Die genetische Prä-
ren Replikationsrunden sind nur noch 4. Die Inaktivierung des X-Chromosoms geht gung eines chromosomalen Abschnitts
die beiden ursprünglichen DNA-Stränge vom X-Inaktivierungszentrum aus und be- wird oft von einem Prägungszentrum ge-
methyliert und die überwiegende Mehrzahl ruht im Wesentlichen auf der Expression des steuert (imprinting center). In Keimzellen
der DNA ist unmethyliert. Deswegen sind Xist-Transkripts, das für kein Protein codiert. wird die genetische Prägung in der frühen
auch PCR-Produkte nicht methyliert. Als Ergebnis der Xist-Bedeckung wird die Phase ihrer Entwicklung gelöscht und in
3. Das Enzym Dicer ist eine dsRNA-spe- Transkription der Gene des X-Chromosoms den späteren Phasen geschlechtsspezifisch
zifische Nuklease der RNase-III-Familie; abgeschaltet. Ähnliche Phänomene finden neu programmiert.
796 Serviceteil

Antworten Kapitel 9
1. »Springende Gene« sind DNA-Elemente, zu Krebserkrankungen; Infektionen mit können fusionieren und diploide Zellen bil-
die ihre Position im Genom verändern HIV verursachen AIDS. den. Der Paarungstyp (engl. mating type)
können; sie kommen bei den meisten Pro- 3. Ciliaten verfügen für den Wechsel zwi- wird durch die genetische Konstitution des
karyoten und allen Eukaryoten vor. Sie be- schen einem generativen und einem vege- MAT-Locus definiert.
sitzen in der Regel flankierende repetitive tativen Zustand der Zelle über zwei Zell- 5. Antikörper bestehen aus zwei leichten und
Elemente und benötigen Enzyme zum Aus- kerne. Einer der beiden Zellkerne steht im zwei schweren Proteinketten. Diese unter-
schneiden aus der bisherigen Position und Dienst generativer, also sexueller Prozesse, gliedern sich in einen konstanten und ei-
zum Integrieren an der neuen Position. während der andere Zellkern für die vege- nen variablen Abschnitt. Der variable Be-
2. Retroviren sind Viren, die ihre Erbinforma- tativen Funktionen der Zelle verantwort- reich vermittelt die Erkennung des Anti-
tion in Form von RNA enthalten. Diese RNA lich ist. Die Kontinuität der genetischen gens. Die funktionellen Gene für Antikör-
wird durch die Reverse Transkriptase in Konstitution ist dadurch garantiert, dass per werden während der Differenzierung
DNA umgeschrieben; diese kann so als der vegetative Kern aus dem generativen von Lymphocyten im Knochenmark durch
»Provirus« in das Genom integrieren und durch eine Kernteilung entsteht, der je- komplexe intrachromosomale Rekombina-
dort für lange Zeit verbleiben. Die flankie- doch keine Zellteilung folgt. tionsereignisse aus Teilstücken zusammen-
renden Regionen (LTR) enthalten häufig 4. Hefen sind als haploide oder diploide Zel- gesetzt. Durch Kombination unterschied-
starke Promotoren, sodass die Gene des len lebensfähig. Haploide Zellen können licher Teilstücke vermag jeder Lymphocyt
Retrovirus in vielen Geweben exprimiert sich in ihrem Paarungstyp unterscheiden; ein für ihn spezifisches Immunglobulin-
werden können. Häufig führen Retroviren Zellen unterschiedlicher Paarungstypen Gen zusammenzustellen.

Antworten Kapitel 10
1. Alle biologischen Prozesse sind fehlerbe- kalisation beeinflusst ist). Wenn durch die len DNA unter UV-Licht sichtbar zu ma-
haftet: die DNA-Replikation ebenso wie Re- Inversion codierende Sequenzen betroffen chen. Durch die Interkalation verändert
kombinationsereignisse oder die Vertei- sind, führt das in der Regel zu einem Funk- sich die Form der DNA-Helix, was zu Repli-
lung von Chromosomen auf die Tochter- tionsverlust des betroffenen Gens (verglei- kationsfehlern führen kann. Wenn Ethi-
zellen, sowohl in der Mitose als auch in der che z. B. die unterschiedliche Mutations- diumbromid mit Hautzellen in Kontakt
Meiose. Daraus können sich für Menschen, rate beim Faktor-VIII-Gen gegenüber der kommt, besteht also die Möglichkeit, dass
Pflanzen, Tiere oder Mikroorganismen mit- des Faktor-IX-Gens; beide sind für die Aus- es in Hautzellen zu solchen Replikations-
telbar oder unmittelbar Schäden (Krank- prägung einer Hämophilie verantwortlich fehlern kommt und dadurch Krebs ent-
heiten) entwickeln; es können sich aber und liegen relativ dicht nebeneinander auf steht. Ethidiumbromid ist deshalb als
auch neue Möglichkeiten für die Evolution dem X-Chromosom, unterscheiden sich krebsverdächtiger Arbeitsstoff (in der Kan-
ergeben: Punktmutationen führen zu Ver- aber in der An- bzw. Abwesenheit repetiti- zerogenitäts-Kategorie 3B) eingestuft.
änderungen in den Eigenschaften von Pro- ver Elemente: Die Mutationsrate ist abhän- 5. Häufig sind Null-Mutanten (»Knock-out-
teinen oder der Regulation ihrer Expres- gig von der Anwesenheit eines repetitiven Mäuse«) nicht lebensfähig, weil durch das
sion; Verdoppelung von DNA-Abschnitten Elementes außerhalb des Faktor-VIII-Gens Fehlen eines Gens die Embryonen nicht
können sich zu ganz neuen funktionalen sowie in dessen Intron 22. überlebensfähig sind. Durch Verwendung
Einheiten entwickeln. Ohne Mutationen 3. Adenin und Cytosin können zwischen einer des Cre/loxP-Systems (vergleichbar:
gibt es keine evolutionäre Entwicklung. Aminoform und einer Iminoform wechseln, Flp/FRT oder induzierbare Systeme wie
2. Repetitive Elemente ermöglichen Rekom- Thymin und Guanin zwischen einer Keto- Tet-on/Tet-off) wird das zu untersuchende
binationsereignisse innerhalb eines Chro- und einer Enolform (jeweils aufgrund von Gen aber nur dann ausgeschaltet, wenn
mosoms, aber auch zwischen zwei Chro- relativen Ladungsverschiebungen inner- die Cre-Rekombinase aktiv ist (was durch
mosomen. Das kann zu Translokationen halb der heterozyklischen Ringsysteme). die Verwendung geeigneter Promotoren
(zwischen zwei Chromosomen) oder auch Dadurch können sich die Basenpaarungen sehr präzise gesteuert werden kann). Da-
Inversionen (innerhalb eines Chromosoms) ändern, sodass bei einer Replikation eine durch ist es möglich, dass die Mutante die
führen. Translokationen können dabei zur falsche Base eingebaut wird. kritische Phase der Embryonalentwicklung
Veränderung des Expressionsmusters (bzw. 4. Ethidiumbromid ist eine interkalierende überlebt und dann der Funktionsverlust
der Expressionsstärke) von Genen führen Verbindung (Phenanthridin-Farbstoff ) und des Gens in dem jeweiligen Gewebe im Er-
(wenn die Genregulation durch die Translo- wird häufig eingesetzt, um in Agarosege- wachsenenalter untersucht werden kann.
797
Antworten zu den Übungsfragen

Antworten Kapitel 11
1. Die genetische Fitness beschreibt den 3. Ein Haplotyp (Abkürzung aus »haploider veränderte Chromosomenverteilung) und
relativen Fortpflanzungserfolg eines Geno- Genotyp«) ist eine Kombination von ge- Unterschiede im Paarungsverhalten ein-
typs innerhalb einer Population; der Be- koppelten Allelen eines Chromosoms, die schließlich Rhythmusverschiebungen
such eines Fitnessstudios wirkt sich dage- gemeinsam vererbt werden. Wir können (Blütezeit, Paarungsfähigkeit) sowie Merk-
gen auf den Phänotyp aus, der natürlich verschiedene Haplotypen bei einer Kopp- male der Partnerwahl.
auch zu einem Fortpflanzungserfolg füh- lungsanalyse auf ihre jeweiligen Rekombi- 5. In kleinen Populationen ist die freie Part-
ren kann. nationspunkte untersuchen und dabei das nerwahl oft eingeschränkt, sodass es sehr
2. Zur Fortpflanzung tragen nur die Mitglie- kritische Intervall einer unbekannten Mu- häufig zu Inzucht kommt. Dadurch steigt
der einer Population bei, die sich im fort- tation bestimmen. Entsprechend kann man die Homozygotie an diesem Locus, und es
pflanzungsfähigen Alter befinden, also bei- auch in populationsgenetischen Untersu- steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass
spielsweise keine Kinder und Greise. Bei chungen bestimmte Eigenschaften von sich rezessive Mutationen schnell phäno-
Zuchtpopulationen (z. B. Hunde, Rinder) ist Pflanzen, Tieren oder Menschen mit be- typisch manifestieren. Dies führt zu dem
außerdem oft das Geschlechterverhältnis stimmten Haplotypen assoziieren. bekannten Phänomen der Gründermuta-
nicht ausgeglichen – ein Rüde oder Bulle 4. Bei überlappenden (sympatrischen) Popu- tion, das uns im 7 Kap. 13 über »Human-
ist oft für die Befruchtung vieler weiblicher lationen müssen geeignete Isolations- genetik« häufig begegnen wird. Umge-
Tiere verantwortlich. Auch dadurch sinkt mechanismen vorliegen, damit sich neue kehrt herrscht in großen Populationen die
die effektive Populationsgröße (bei einem Arten entwickeln können. Dazu gehören Möglichkeit der freien Partnerwahl, sodass
Bullen, der 400 Kühe besamt, ergibt sich die Inkompatibilität von Gameten (durch die Ausbreitung und Fixierung eines neuen
eine effektive Populationsgröße von 4). Punktmutationen oder auch durch eine Allels langsamer erfolgt.

Antworten Kapitel 12
1. Verschiedene Umweltreize (Vernalisierung, oder doppelter Thorax mit zweitem Flügel- te Ergebnisse; durch die Injektion in eine
Licht, Wärme) zusammen mit autonomen paar). Seite des Embryos kann die andere Seite als
Signalwegen führen in den Blättern zur 3. C. elegans verfügt über eine genau definierte Kontrolle verwendet werden.
Aktivierung des Florigens (FT; FLOWERING Anzahl von Zellen: Von den 1090 somatischen 5. Aufgrund der unterschiedlichen Morpholo-
LOCUS T), das als »Ferntransporter« dieses Zellen des Zwitters sterben 131 in einer re- gie des Facettenauges bei Drosophila und
Signal in das Meristem weitergibt, wo sich produzierbaren Art und Weise während der des Linsenauges bei Säugern war man lange
dann unter dem Einfluss von Gibberellinen Entwicklung zum adulten Wurm ab. Man davon ausgegangen, dass sich hier unter-
und anderen Faktoren die Blüte entwickeln hat dieses Phänomen als »programmierten schiedliche evolutionäre Konzepte entwi-
kann. Zelltod« bezeichnet (Apoptose). ckelt haben. Sequenzuntersuchungen wich-
2. Homöotische Mutationen bewirken eine 4. Morpholinos sind kurze antisense-Oligo- tiger Kontrollgene der Augenentwicklung
Umwandlung von einem Körpersegment in nukleotide, wobei die Vernetzung der Basen zeigten jedoch große Homologien der ent-
ein anderes. Bei Pflanzen führt eine Ver- über einen Morpholinring und Phospho- sprechenden Gene. Die ektopische Expres-
schiebung im Expressionsmuster der A-, B- amid-Gruppen erfolgt (Stabilität gegenüber sion des Pax6-Gens der Maus in Drosophila
und C-Genfunktionen der MADS-Box-Tran- RNasen; 7 Technikbox 31). Durch in-vivo-In- führt zu einer Entwicklung von Ommatidien
skriptionsfaktoren (homöotische Mutation) jektion in frühe Zebrafisch-Embryonen wer- und entspricht damit der Wirkung des homo-
zu einem völlig anderen Muster der Blüten- den die entsprechenden Gene inhibiert, und logen eyeless-Gens von Drosophila. Das Expe-
organe. Bei Drosophila bewirken homöoti- die morphologischen Konsequenzen können riment beweist damit die grundlegende Kon-
sche Mutationen Veränderungen im grund- gut beobachtet werden. Man kann in relativ servierung der genetischen Kontrollelemen-
legenden segmentierten Körperbau (z. B. kurzer Zeit viele Embryonen injizieren und te in der Augenentwicklung zwischen Droso-
Umwandlung einer Antenne in ein Bein erhält damit auch statistisch gut abgesicher- phila und Säugetieren.

Antworten Kapitel 13
1. Der Erbgang ist X-gekoppelt und rezessiv. Wenn das SRY-Gen in die pseudoautoso- der Krankheit co-segregieren, es darf in der
Die Mutter ist Überträgerin, der Vater ist male Region gerät, kann es auf das X-Chro- gesunden Bevölkerung nicht vorkommen,
gesund. Die X-Chromosomen kommen von mosom übertragen werden. Damit wird und eine Funktionsanalyse muss das
beiden Eltern; von der Mutter entweder aus einem XY-Genotyp eine Frau und aus Krankheitsbild erklären können.
das mutierte oder das gesunde. Wenn es einem XX-Genotyp ein Mann. 5. Die wichtigsten Klassen krebserregender
ein Mädchen wird, ist es entweder gesund 3. Die Übertragung erfolgt mit einem matrili- Viren sind Papillomviren, Polyomaviren,
oder Überträgerin (Chance: 50:50). Wenn nearen Erbgang (nur über die Mutter). Adenoviren, Retroviren und Herpesviren.
es ein Junge wird, ist er entweder gesund Wenn Männer erkrankt sind, erfolgt keine Das humane Papillomvirus (HPV) ist für die
oder krank (Chance: 50:50). Weitergabe der Erkrankung auf die Kinder; Entstehung des Gebärmutterhalskrebses
2. Die beiden pseudoautosomalen Regionen sind dagegen Frauen erkrankt, wird die Er- verantwortlich; durch rechtzeitiges Impfen
der X- und Y-Chromosomen können frei krankung an alle Kinder weitergegeben. (d. h. vor dem ersten Geschlechtsverkehr)
miteinander rekombinieren und verhalten 4. Das Gen muss im Zielgewebe (hier: Auge) kann eine Infektion der Frau verhindert
sich wie Autosomen (daher der Name). exprimiert sein, es muss in der Familie mit werden.
798 Serviceteil

Antworten Kapitel 14
1. Man induziert durch ENU (Ethylnitroso- rungen mit entsprechender bioinformati- denen Reizen); wir kennen Migräne mit
harnstoff ) zufällig im Genom verteilte Mu- scher Unterstützung erlauben heute, ent- und ohne Aura. Frauen erkranken wesent-
tationen und analysiert mit einem geeig- sprechende genetische Unterschiede zu lich häufiger als Männer (Frauen: 17 %,
neten Testsystem das Auftreten eines ver- charakterisieren; wir haben das am Beispiel Männer: 8 %). Die wichtigsten Migräne-
änderten Phänotyps in den Nachkommen der Ratten diskutiert, die besonders viel Gene sind CACNA1A (es codiert für einen
der behandelten Maus. In diesem Fall ver- bzw. besonders wenig Alkohol trinken Calciumkanal), ATP1A2 (es codiert für eine
wendet man ein Laufrad und untersucht (7 Abschn. 14.3.2). ATPase) und S

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