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Die Erdbebenbestimmungen der


Norm SIA 263

Report

Author(s):
Lestuzzi, Pierino; Wenk, Thomas

Publication date:
2003

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https://doi.org/10.3929/ethz-a-006578740

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Stahlbau – Einführung in die Norm SIA 263, 11. Juli 2003 in Zürich – SIA Dokumentation D 0183

Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

Pierino Lestuzzi, Lausanne


Thomas Wenk, Zürich

1 EINLEITUNG 2 DIE WICHTIGSTEN NEUERUNGEN

In den europäischen Tragwerksnormen ist dem Die wichtigsten Neuerungen bei der
Erdbeben eine besondere Norm, der Eurocode Erdbebenbemessung gegenüber der bisherigen
8 [5.1], gewidmet, die auch umfangreiche Norm SIA 161 (1990) lassen sich wie folgt
konstruktive Bestimmungen für den Stahlbau zusammenfassen:
enthält. Anstelle einer eigenständigen Norm
- besondere Bestimmungen für die Bemes-
SIA 268 Erdbeben wurden die Bestimmungen
sungssituation Erdbeben von Stahlbauten
aus dem Eurocode 8 für die in der Schweiz
- Zwei unterschiedliche Bemessungs-
vorherrschende niedrige bis mittlere
konzepte: duktiles und nicht-duktiles
Seismizität vereinfacht und in die
Tragwerksverhalten
Tragwerksnormen SIA 260 bis 267 integriert.
- Verhaltensbeiwerte q für duktiles Trag-
Mit dieser Integrationslösung konnte die
werksverhalten in Funktion der Trag-
übergeordnete Zielsetzung des Projektes
werksart und der Querschnittsklasse
Swisscodes, praxistaugliche und
- spezielle konstruktive Regeln für die bau-
anwenderfreundliche Tragwerksnormen
liche Durchbildung von duktilen Stahl-
bereitzustellen, erfüllt werden. Die neue
tragwerken.
Stahlbaunorm SIA 263 weist ein eigenes
Kapitel über das Erdbeben auf (Kap. 4.9), das Die neuen Bestimmungen für die Bemessungs-
zusammen mit den entsprechenden situation Erdbeben befinden sich in der Ziffer
Bestimmungen in SIA 260 und 261 für die 4.9 Erdbeben des Kapitels 4 Tragwerksanalyse
Bemessungssituation Erdbeben anzuwenden ist und Bemessung der Norm SIA 263.
[5.2]. Das Kapitel 4.9 enthält primär Neu kann der Ingenieur bei der Erdbebenbe-
konstruktive Bestimmungen, um ein messung zwischen dem Konzept des duktilen
ausreichend duktiles Tragwerksverhalten unter und des nicht-duktilen Tragwerksverhaltens
Erdbebeneinwirkung sicherzustellen. Früher auswählen. Ein duktiles Tragwerk zeichnet
herrschte die Meinung vor, dass Stahlbauten a sich durch ein grosses Energiedissipationsver-
priori duktil sind und sich duktilitätsfördernde mögen dank plastischer Verformungen aus. Es
Massnahmen für das Erdbebenverhalten verhält sich bei Erdbebeneinwirkung wesent-
erübrigen. Die negativen Erfahrungen bei lich günstiger als ein nicht-duktiles Tragwerk.
starken Erdbeben in den letzten Jahren Für ein gegebenes Bemessungserdbeben darf
insbesondere in Northridge, Kalifornien 1994 das duktile Tragwerk auf einen kleineren
und in Kobe, Japan 1995 führten zu neuen Tragwiderstand ausgelegt werden als das nicht
Erkenntnissen der erdbebengerechten duktile Tragwerk. Im Allgemeinen ist es
Bemessung und Konstruktion von Stahlbauten, deshalb von Vorteil, ein duktiles Tragwerks-
die in der neuen Stahlbaunorm SIA 263 verhalten zu wählen. Andererseits müssen bei
abgestimmt auf den Eurocode 8 umgesetzt duktilen Tragwerken die neuen konzeptionel-
werden [5.3]. len und konstruktiven Bestimmungen beachtet

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Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

werden, was zumindest in der Anfangsphase Ferner ist zu beachten, dass die elastischen
mit einem kleinen Mehraufwand verbunden ist. Erdbebenkräfte gegenüber früher je nach Bau-
grundklasse und Frequenzbereich stark zuge-
Erfolgt die Erdbebenbemessung wie früher
nommen haben [5.2]. Dank den höheren
konventionell ohne Berücksichtigung der neu-
Verhaltensbeiwerten für duktile
en zusätzlichen Bestimmungen, dann ist nicht-
Stahltragwerke kann diese Zunahme wieder
duktiles Tragwerksverhalten anzunehmen und
kompensiert werden.
es resultiert ein vergleichsweise hoher Tragwi-
derstand. Bild 5.1 zeigt schematisch die Kon-
sequenzen auf die Erdbebenbemessung aus der
Wahl des Tragwerksverhaltens. 3 GRUNDLAGEN DER ERDBEBEN-
BEMESSUNG

Tragwerk Im modernen Erdbebeningenieurwesen haben


sich einige Fachbegriffe entwickelt, die hier
vorerst unabhängig von der Bauweise vorge-
Beanspruchung stellt und anschliessend für die Anwendung im
Stahlbau erläutert werden. Unter Erdbeben-
einwirkung erfährt das Tragwerk zyklische
dynamische Verformungen, primär in horizon-
taler Richtung. Der dynamische Charakter der
nicht-duktil duktil
Erdbebeneinwirkung hat zur Folge, dass die
Grösse der Beanspruchungen von der Steifig-
keit des Tragwerks beeinflusst wird. Die Duk-
tilität wirkt sich generell günstig aus und er-
laubt es, für einen kleineren Tragwiderstand zu
bemessen.
konventionelleBemessung Kapazit‰‰tsbemessung

3.1 Verhaltensbeiwert

zus‰‰tzliche Die Wirkung eines Erdbebens kann als dyna-


Bestimmungen mischer Energieeintrag in das Tragwerk be-
trachtet werden. Die eingetragene Energie
Bild 5.1: Für das Erdbeben stehen neu zwei muss anschliessend durch plastische Verfor-
Bemessungskonzepte zur Verfügung: mungen oder durch Dämpfung dissipiert wer-
Das duktile und das nicht-duktile den. Bei der üblichen Bemessungsmethode,
Tragwerksverhalten. dem Ersatzkraftverfahren, wird die Erdbeben-
einwirkung vereinfachend durch Ersatzkräfte
Der Verhaltensbeiwert q berücksichtigt neben dargestellt. Dabei wird das Energiedissipati-
dem Energiedissipationsvermögen auch die onsvermögens sowie die Überfestigkeit mit
Überfestigkeit des Tragwerks unter zyklisch- einem globalen Widerstandsreduktionsfaktor,
plastischen Verformungen. Der Verhaltens- dem sogenannten Verhaltensbeiwert q, berück-
beiwert wird bei duktilem Tragwerksverhalten sichtigt.
in Funktion der Tragwerksart und der Quer-
schnittsklasse festgelegt (siehe Tabelle 5.1). Ein Verhaltensbeiwert von q = 1,0 entspricht
Bei nicht-duktilem Tragwerksverhalten ist der rein elastischem Verhalten ohne Überschrei-
Verhaltensbeiwert in allen Fällen q = 1,5. Eine tung des Bemessungswertes Rd des Tragwider-
ausführliche Beschreibung des Verhaltensfak- standes. Dabei wird nur eine geringe Energie-
tors erfolgt in Kapitel 3.1. dissipation entsprechen einer viskosen Dämp-
fung von 5% in Rechnung gestellt. Ein Verhal-
tensbeiwert von q = 1,5 entspricht elastischem

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Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

Verhalten bei voller Ausnützung der Überfes- schwingzeit) erfasst. Bei Gebäuden darf die
tigkeit über Rd hinaus. Höhere q-Werte bis zu Grundschwingzeit mit den empirischen For-
q = 5,0 sind möglich, wenn das Tragwerk fähig meln gemäss Ziffer 16.5.2.3 der Norm SIA 261
ist, ohne nennenswerte Reduktion des Tragwi- berechnet werden. Diese aus dem Eurocode 8
derstandes mit stabilen zyklisch-plastischen übernommenen Formeln überschätzen meis-
Verformungen Energie zu dissipieren (siehe tens die Steifigkeit und führen deshalb im All-
Tabelle 5.1). Bei der Erdbebenbemessung wird gemeinen auf zu hohe Erdbebenkräfte. Wenn
der Verhaltensbeiwert über das Bemessungs- die Erdbebenkräfte für die Dimensionierung
spektrum berücksichtigt (Ziffer 16.2.4). Dabei massgebend werden, empfiehlt es sich die
wird das elastische Antwortspektrum durch Grundschwingzeit anhand eines Tragwerks-
den Verhaltensbeiwert dividiert, d.h. je grösser modells mit realistischen Steifigkeitsannehmen
der Verhaltensbeiwert desto kleiner werden die gemäss Ziffern 16.5.2.2 und 16.5.5.2 der Norm
anzusetzenden Erdbebenkräfte [5.2]. Bild 5.2 SIA 261 zu bestimmen, z.B. mit der Rayleigh-
zeigt als Beispiel einen Vergleich der Antwort- Methode [5.5].
spektren für duktiles Verhalten mit q = 5,0, für
Mit einer grösseren Steifigkeit des Tragwerks
nicht-duktiles Verhalten mit q = 1,5 und für
können die Verformungen unter Erdbebenein-
elastisches Verhalten mit q = 1,0 (elastisches
wirkung und damit die Schäden an nicht tra-
Antwortspektrum).
genden Bauteilen reduziert werden. Um ein
günstiges Erdbebenverhalten zu erzielen, soll-
ten Steifigkeitssprünge über die Gebäudehöhe
vermieden werden. Idealerweise sollte die
Elastisches Antwortspektrum Steifigkeit gleichmässig von oben bis unten
4 Bemessungsspektrum q = 1,5 verlaufen. Auf jeden Fall sind horizontal wei-
Bemessungsspektrum q = 5,0
che Geschosse insbesondere im Erdgeschoss
3 zu vermeiden [5.4].
Beschleunigung S [m/s2]

2 3.3 Tragwiderstand und Überfestigkeit

Sobald der Tragwiderstand unter Erdbeben-


1
einwirkung erreicht wird, beginnen sich plas-
tisch Verformungen im Tragwerk auszubilden,
0
bis es bei Erschöpfung der vorhandenen Dukti-
0.01 0.1 1 10
Schwingzeit T [s]
lität zum Einsturz kommt. Der Tragwiderstand
bestimmt folglich die Höhe der Schadengrenze
im Tragwerk. Für ein günstiges Erdbebenver-
Bild 5.2 Vergleich der Bemessungsspektren
halten sind grössere Sprünge im Verlauf des
für q = 1,5 und q = 5,0 mit dem elas-
tischen Antwortspektrum für Bau- Tragwiderstands über die Gebäudehöhe analog
werksklasse I bei Baugrundklasse B zum Steifigkeitsverlauf zu vermeiden.
in Erdbebenzone Z2
Mit Überfestigkeit wird der im Tragwerk ef-
fektiv vorhandene Widerstand bezeichnet.
3.2 Steifigkeit Gegenüber dem nach der Bemessungsglei-
chung theoretisch erforderlichen Ed (Bemes-
Die Steifigkeit des Tragwerkes für horizontale sungswert der Auswirkung der Bemessungssi-
Einwirkung bestimmt massgeblich das dyna- tuation Erdbeben) ergibt sich bei der prakti-
mische Verhalten und damit die Grösse der schen Bemessung eines Stahlprofils ein höhe-
Erdbebenbeanspruchung. Bei der Bemessung rer Widerstand. Als hauptsächliche Gründe für
wird der Einfluss der Steifigkeit über die Ei- diese Überfestigkeit können vier Phänomene
genfrequenzen (primär über die Grund- genannt werden [5.5]:

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Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

- Wahl eines Stahlprofils aus einer begrenz- Verschiebungen des elastischen und inelasti-
ten Auswahl schen Einmassenschwingers) ist dieser Anteil
- Beanspruchung bei grösseren plastischen gerade gleich der Verschiebeduktilität.
Verformungen über die Streckgrenze des
Stahls hinaus Tragwiderstand

Beanspruchung
- Widerstandsbeiwert γM

beimFiessbeginn
Verformung

Verformung
- Umverteilung der Schnittkräfte bei statisch

totale
unbestimmten Systemen.
Bei der Überfestigkeit sind zwei unterschiedli- uy
Verformung
utot

che Einflüsse auf das Tragwerksverhalten zu


unterscheiden: Einerseits wirkt sich die Zu-
Bild 5.3: Grundlage für die Definition der
nahme des Tragwiderstandes generell günstig Duktilität ist ein linear-elastisches,
aus und wird über den Minimalwert des Ver- ideal-plastisches Kraft-Verformungs-
haltensbeiwerts von q = 1,5 berücksichtigt. diagramm.
Andererseits führt die Zunahme des Wider-
standes in den plastischen Gelenken dank
Überfestigkeit zu einer höheren Beanspru- 3.5 Bemessung
chung in den übrigen Bereichen, die in der
Da bei der Erdbebenbemessung das zyklisch-
Folge vorzeitig spröd versagen können. Des-
plastische Verformungsvermögen massgeblich
halb werden nach der Kapazitätsbemessung die
Bereiche ausserhalb der vorgesehenen plasti- miteinbezogen wird, ist auch eine darauf abge-
stimmte Bemessungsmethode erforderlich. Die
schen Gelenke auf einen grösseren Tragwider-
für die klassischen Einwirkungen wie z.B.
stand ausgelegt.
Schwerelasten und Wind üblicherweise ver-
wendeten konventionellen Methoden sind für
3.4 Globale und lokale Duktilität das Erdbeben ungenügend. Die Methode der
Kapazitätsbemessung hat sich in modernen
Das wichtigste Mass für die inelastischen Phä-
Normen international mehr und mehr durchge-
nomene beim Erdbebenverhalten ist die Dukti-
setzt. Die Prinzipien der Kapazitätsbemessung
lität. Die Grundlage für die Definition der
können wie folgt zusammengefasst werden
Duktilität ist ein linear-elastisches, ideal-
[5.5]:
plastisches Kraft-Verformungsdiagramm ge-
mäss Bild 5.3 [5.5]. Die Duktilität ist definiert - Das Tragwerk wird so ausgelegt, dass sich
als das Verhältnis der totalen Verformung utot unter Erdbebeneinwirkung ein geeigneter
zur elastischen Verformung bei Fliessbeginn plastischer Mechanismus einstellt.
uy. Als Verformung kann ganz allgemein eine - Die plastischen Gelenke werden konstruk-
Verschiebung, Rotation, Krümmung oder tiv so gestaltet, dass sie genügend duktil
Dehnung betrachtet werden. Ein wichtiger sind.
Unterschied besteht jedoch zwischen globaler - Die übrigen Bereiche werden mit einem
und lokaler Duktilität. Als globale Duktilität zusätzlichen Tragwiderstand versehen,
wird die Verschiebeduktilität zuoberst im damit sie elastisch bleiben, wenn die plas-
Tragwerk bezeichnet. Sie entspricht dem Ver- tischen Bereiche ihre Überfestigkeit (Ka-
hältnis der horizontalen Verschiebungen auf pazität) entwickeln.
Höhe des obersten Massenniveaus im Trag-
werksmodell. Die Verschiebeduktilität dient
der Bestimmung des Duktilitätsanteils im Ver-
haltensbeiwert q. Nach einer einfachen empiri-
schen Regel (gleichen

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Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

l φu ∆u ∆u
µφ= φ >>µ∆ = ∆
F y y ∆y

lp
Mu My φu φy

Kragarm Biegemoment Kr¸mmung Verformung

Bild 5.4 : Verhältnis zwischen globaler Duktilität (µ∆) und lokaler Duktilität (µφ) für einen Kragarm

∆ ∆
Mit diesem Vorgehen wird eine Hierarchie der
Tragwiderstände festgelegt, die verhindern
soll, dass sich frühzeitige Plastifizierungen in θ1 << θ2
θ1
den weniger duktilen, übrigen Bereichen bil-
θ2
den, bevor das wesentlich grössere Energiedis-
sipationsvermögen der planmässigen plasti-
schen Gelenke ausgeschöpft ist. Mehr oder
weniger zufällige Plastifizierungen in den üb- Bild 5.5 Geeigneter (links) und ungeeigneter
rigen Bereichen können zu einem vorzeitigen plastischer Mechanismus (rechts) für
spröden Versagen führen. Mit der Kapazitäts- einen mehrgeschossigen Rahmen
bemessung ist sichergestellt, dass sich das
Tragwerk unter grossen zyklischen plastischen
Verformungen so wie vorgesehen verhält, ins- 4 NICHT-DUKTILES TRAGWERKS-
besondere dass sich der gewählte geeignete VERHALTEN
plastische Mechanismus auch tatsächlich ein-
stellt. Das Konzept des nicht-duktilen Tragwerksver-
haltens entspricht weitgehend der bisherigen
3.6 Plastische Mechanismus Vorgehensweise nach den Normen SIA 160
und SIA 161. Die Erdbebenbemessung erfolgt
Der erste Schritt der Kapazitätsbemessung ist konventionell wie für Schwerelasten oder
die Wahl eines geeigneten plastischen Mecha- Wind. Gegenüber früher werden jedoch im
nismus. Geeignet bedeutet in diesem Zusam- Allgemeinen die Ersatzkräfte wesentlich grös-
menhang, dass für eine vorgegebene globale ser. Deshalb empfiehlt sich das nicht-duktile
Verschiebeduktilität der lokale Duktilitätsbe- Tragwerksverhalten nur bei kleinen Erdbeben-
darf der plastischen Gelenke eines Tragwerkes kräften, d.h. nur in den niedrigen Erdbebenzo-
möglichst klein bleiben soll. Als weitere Be- nen und bei günstigen Baugrundverhältnissen
dingungen sind bei einem geeigneten Mecha- oder bei leichten Bauwerken wie z.B. Hallen.
nismus die plastischen Gelenke in diejenigen
Bauteile zu verlegen, die leicht duktil gestaltet 4.1 Verhaltensbeiwert
werden können, z.B. in die Riegel anstelle der
Stützen. Bild 5.4 zeigt einen geeigneten und Der Verhaltensbeiwert q für nicht-duktiles
ungeeigneten Mechanismus im Falle eines Tragwerksverhalten beträgt q = 1,5 für alle
aussteifenden mehrgeschossigen Rahmens. Tragwerksarten und Querschnittsklassen. Er
berücksichtigt im Wesentlichen nur die Über-
festigkeit.

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Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

4.2 Anforderungen an die bauliche Durch- Tragwerksart Querschnittsklasse


1 2 3
bildung Rahmen q=5 q=4 q=2
Diagonalverbände q=4 q=4 q=2
Erfolgt die Erdbebenbemessung nach dem V-Verbände q=2 q=2 q=2
Konzept des nicht-duktilen Tragwerksverhal-
tens, so sind keine besonderen Bestimmungen Tabelle 5.1 : Verhaltensbeiwerte q bei duktilem
Tragwerksverhalten
zur baulichen Durchbildung einzuhalten. Da
praktisch keine Duktilität für die Abminderung
der elastischen Erdbebenkräfte in Rechnung 5.2 Anforderungen an die bauliche Durch-
gestellt werden darf (q = 1,5), sind auch keine bildung
besonderen duktilitätsfördernde Massnahmen
für das Erdbebenverhalten erforderlich.. Der grössere Verhaltensbeiwert q bei duktilem
Tragwerksverhalten bedingt, dass mit konzep-
tionellen und konstruktiven Massnahmen ein
5 DUKTILES TRAGWERKSVER- ausreichendes Energiedissipationsvermögen
HALTEN unter zyklisch-plastischer Beanspruchung si-
chergestellt wird. Dazu ist eine Reihe von Be-
Beim Konzept des duktilen Tragwerksverhal- dingungen einzuhalten.
tens erfolgt die Erdbebenbemessung nach der
Für alle Tragwerksarten gilt:
Methode der Kapazitätsbemessung wie in Ka-
pitel 3.5 kurz beschrieben. Die entsprechenden - Der Werkstoff muss die Duktilitätsanfor-
Regeln befinden sich im Abschnitt 4.9 Erdbe- derungen für die plastische Querschnitts-
ben der Norm SIA 263. Diese wurden aus dem bemessung erfüllen, d.h. die Bruchdehnung
Eurocode 8 übernommen und für niedrige bis muss grösser als 15%, das Verhältnis von
mittlere Seismizität vereinfacht. Bruchdehnung zur elastischen Dehnung
grösser als 20 und das Verhältnis von Zug-
5.1 Verhaltensbeiwert festigkeit zur Streckgrenze grösser als 1,1
sein (Ziffern 3.2.2.3 und 4.9.1.4).
Für duktiles Tragwerksverhalten kann ein we- - Schrauben mit Zugbeanspruchung sind in
sentlich grösserer Verhaltensbeiwert q zur der Festigkeitsklasse 8.8 oder 10.9 zu wäh-
Reduktion der elastischen Erdbebeneinwirkung len und vorzuspannen (Ziffer 4.9.1.4). Die
in Rechnung gestellt werden. Je nach Trag- vorgeschriebene Vorspannung soll Schläge
werksart und Querschnittsklasse für die Abtra- zwischen Schrauben und angeschlossenen
gung horizontaler Einwirkungen variiert q im Bauteilen verhindern, die zum vorzeitigen
Bereich von 2,0 bis 5,0 (Tabelle 11 der Norm spröden Bruch führen können.
SIA 263). Für Querschnittsklasse 4 werden in - Verbindungen sind auf einen um 20%
Tabelle 11 keine q-Werte angegeben, da erhöhten Wert der Tragfähigkeit der anzu-
Tragwerke mit Profilen der Querschnittsklasse schliessenden Teile zu Bemessen. (Ziffer
4 in jedem Fall nach dem Konzept des nicht- 4.9.1.5). Dabei handelt es sich um eine ty-
duktilen Tragwerksverhaltens mit q = 1,5 be- pische Regel der Kapazitätsbemessung, die
messen werden müssen. Für vertikale Erdbe- sicherstellen soll, dass sich das plastische
benanregung beträgt der Verhaltensbeiwert q = Gelenk im duktileren Bauteil vor der weni-
1,5, d.h. es ist immer nicht-duktiles Trag- ger duktilen Verbindung bildet (Bild 5.6).
werksverhalten anzunehmen. Ein Nachweis für Bei Querschnittsstössen mit durchge-
die Vertikalkomponente ist gemäss SIA 261 schweissten Nähten der Bewertungsgruppe
nur in besonderen Fällen erforderlich, z.B. bei B (Schweissnaht ist dem Grundwerkstoff
horizontalen Kragarmen oder bei Trägern, die gleichwertig, kerbfrei beschliffen auch für
Stützen tragen. hohe Ermüdungsbeanspruchung geeignet)
darf ohne besonderen Nachweis ange-

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Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

nommen werden, dass die Verbindung eine sen und im obersten Geschoss zulässig (Ziffer
ausreichende Überfestigkeit aufweist. 4.9.2.2).
Als weitere Bedingung ist der plastische Me-
chanismus so zu wählen, dass die Energiedis-
sipation kontinuierlich über die ganze Höhe
erfolgt (links in Bild 5.4) und somit der lokale
Duktilitätsbedarf in den plastischen Gelenken
minimal bleibt. Zu vermeiden ist ein Stock-
werkmechanismus (Soft-Storey) wie rechts in
Bild 5.4 gezeichnet. Der Stockwerkmechanis-
mus führt zu einem viel grösseren lokalen
Duktilitätsbedarf für eine vorgegebene globale
Verschiebung.
Um ein stabiles, möglichst grosses Verfor-
mungsvermögen der plastischen Gelenke unter
Biegebeanspruchung sicherzustellen, sind
Druck- und Querkräfte zu begrenzen (Ziffer
4.9.2.3). Wenn die Grenzwerte in Ziffer 4.9.2.3
nicht eingehalten werden können, darf nur ein
Verhaltensfaktor q = 1,5 für nicht-duktiles
Tragwerksverhalten berücksichtigt werden.
Nach der Methode der Kapazitätsbemessung
Bild 5.6 : Riegelanschluss in einem duktilen sind die elastisch bleibenden Bereiche des
Stahlrahmen eines Hochhaus in Tai-
gewählten globalen Mechanismus vor Plastifi-
peh. Dank der Flanschverbreiterung
stellt sich das plastische Gelenk im zierungen zu schützen, wenn die plastischen
wesentlich duktileren Riegelprofil Gelenke Ihre Überfestigkeit (Kapazität) entwi-
vor der spröderen Schweissnaht ein. ckeln. In diesem Sinne sind die Bestimmungen
der Ziffern 4.9.2.4 und 4.9.2.5 zu verstehen.
Die Verankerung der Stützen ist für eine um
20% erhöhte Biegebeanspruchung infolge Erd-
6 DUKTILE RAHMEN
beben zu bemessen, damit sich das plastische
Gelenk am Stützenfuss mit Überfestigkeit aus-
Damit ein aussteifendes Rahmensystem nach
bilden kann, ohne dass die Verankerung vor-
dem Konzept des duktilen Tragwerksverhal-
zeitig spröde bricht. Ebenfalls ist die Stützen-
tens für horizontale Erdbebeneinwirkung be-
querkraft zu begrenzen.
messen werden darf, sind die in Ziffer 4.9.3
zusammengefassten Regeln der Kapazitätsbe-
messung zu beachten. Dabei ist als erster
Schritt ein geeigneter plastischer Mechanismus
zu wählen. Für ein Rahmensystem bedeutet
dies, dass sich die plastischen Gelenke in den
Riegeln und nicht in den Stützen ausbilden. Da
in Riegelgelenken die Normalkraft meist klein
ist, kann dort eine wesentlich grössere Duktili-
tät unter zyklischer Biegebeanspruchung er-
zielt werden als in Stützengelenken mit ver-
gleichsweise hoher Normalkraft. Als Ausnah-
Bild 5.7: In mehrgeschossigen Rahmen sind
me zu dieser Regel sind in mehrgeschossigen die plastischen Gelenke primär in die
Rahmen plastische Gelenke an den Stützenfüs- Riegel zu legen.

41
Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

7 AUSSTEIFENDE VERBÄNDE

Auch aussteifende Verbände können duktil


gestaltet werden, wenn ein paar grundlegende
Prinzipien der Kapazitätsbemessung beachtet
werden. Im Allgemeinen lohnt sich dies nur
bei Diagonalverbänden mit relativ hohen Ver-
haltensbeiwerten bis zu q = 4,0. Für V-
Verbände ist auch bei duktilem Tragwerksver- Bild 5.9: Aussteifende V-Verbände [6.1].
halten nur ein Verhaltensbeiwert von q = 2,0
zugelassen, d.h. nur geringfügig mehr als für
nicht-duktiles Verhalten mit q = 1,5. 7.3 K-Verbände
Bezüglich Erdbebenbemessung werden die
Bei K-Verbänden (Bild 5.10) liegt ein Schnitt-
Verbände in drei Kategorien (Diagonal-, V-
punkt der Diagonalen auf einem durchlaufen-
und K-Verbände) eingeteilt, die im Folgenden
den vertikalen Stab (Stütze). Nach dem Kni-
einzeln beschrieben werden.
cken der Druckdiagonale unter den horizonta-
len Erdbebenkräften ist mit einem weiteren
7.1 Diagonalverbände Ansteigen der Kraft in der Zugdiagonalen zu
rechnen. Damit ergibt sich eine ungünstige
Bei der Erdbebenbemessung von aussteifenden zusätzliche Querkraftbeanspruchung in der
Diagonalverbänden (Bild 5.8) werden die Ho- Stütze (Gleichgewicht im Knoten ohne Rie-
rizontalkräfte nur über die Zug-Diagonalen gel), die zu ungünstigen Plastifizierungen in
abgetragen und die Druck-Diagonalen ver- der Stütze führen kann. K-Verbände sind des-
nachlässigt. Die plastischen Bereiche bilden halb in jedem Fall nach dem nicht-duktilen
sich in den Diagonalen primär auf Zug. Tragwerkskonzept zu bemessen (Ziffer
4.9.1.3).

Bild 5.8: Aussteifende Diagonalverbände [5.1].

Bild 5.10: Aussteifende K-Verbände [6.1].


7.2 V-Verbände

Bei V-Verbänden (Bild 5.9) liegt der Schnitt- 7.4 Anforderungen an die bauliche Durch-
punkt der Diagonalen auf einem durchlaufen- bildung
den horizontalen Stab (Riegel). Die Horizon-
talkräfte werden über die Zug- und die Druck- Die besonderen Bedingungen zur baulichen
Diagonalen abgetragen und die plastischen Durchbildung von duktilen Verbänden sind in
Bereiche bilden sich in diesen auf Zug und Ziffer 4.9.3 aufgeführt. Der globale Mecha-
Druck. nismus besteht aus plastischen Normalkraft-
Gelenken in möglichst allen Diagonalen des

42
Die Erdbebenbestimmungen der Norm SIA 263

Verbandes. Die Anforderungen der Ziffer


4.9.3.3 dienen zur Vermeidung von ungünsti-
gen Stockwerkmechanismen (Soft-Storey).
Ähnliche Kraft-Verformungs-Charakteristiken
in allen Stockwerken sind eine Voraussetzung
dafür, dass sich Plastifizierungen in den Dia-
gonalen über die ganze Bauwerkshöhe einstel-
len und nicht nur lokal in einem oder wenigen
Stockwerken. Rein elastisches Knicken der
Diagonalen wirkt sich ungünstig auf die Form
der Hystereseschlaufen (Energiedissipation)
unter zyklischer Beanspruchung aus. Deshalb
wird die bezogene Knickschlankheit der Dia-
gonalen auf λk ” 2,0 begrenzt werden. Die Bild 5.11: Hochhaus mit einem exzentrischen
elastisch bleibenden Bereiche (Riegel und Fachwerk zur Abtragung der horizonta-
Stützen der Verbände) sind wiederum auf die len Erdbebenkräfte
Schnittkräfte auszulegen, die sich einstellen,
wenn die plastischen Gelenke (Diagonalen)
ihre Überfestigkeit entwickeln. Dazu genügt 8 LITERATUR
eine Erhöhung der Bemessungs-Druckkräfte in
Riegeln und Stützen infolge Erdbeben um 20% [5.1] Eurocode 8 (2003). Design of Structures for
(Ziffer 4.9.3.4) sowie eine Bemessung der Earthquake Resistance, Part 1: General
Rules, Seismic Actions and Rules for Build-
Verbindungen der Diagonalen auf einen um
ings. prEN 1998-1. Draft 6, January 2003.
20% erhöhten Wert ihrer Tragfähigkeit (Ziffer Document CEN/TC250/SC8/N335. Comité
4.9.1.5). Européen de Normalisation (CEN), Bruxelles;
197 pp.
7.5 Exzentrische Verbände [5.2] Wenk T., Lestuzzi P. (2003). Erdbeben. Do-
kumentation D 0181. Grundlagen der Projek-
Noch höhere Verhaltensbeiwerte können mit tierung von Tragwerken, Einwirkungen auf
Tragwerke, Einführung in die Normen SIA
exzentrischen Verbänden erzielt werden. Dabei 260 und 261. Schweizerischer Ingenieur- und
handelt es sich nicht einfach um ““falsch““ ange- Architekten-Verein, Zürich 2003; 109 pp.
schlossene Diagonalstreben, sondern um ein [5.3] Bruneau M., Chia-Ming U., Whittaker A.
besonders für sehr hohe Erdbebeneinwirkung (1998). Ductile Design of Steel Structures.
entwickeltes System von plastischen Biege- ISBN 0-07-008580-3. McGraw-Hill; 485 pp.
schubgelenken im Bereich der Riegelexzentri- [5.4] Bachmann, H.
zität verbunden durch elastisch bleibende Ver- (2002).ErdbebemgerehterEntwurf von Hoch-
bände (Bild 5.11). Die entsprechenden Bemes- bauten –– Grundsätze für Ingenieure, Architek-
sungsregeln befinden sich im Eurocode 8, Teil ten, Bauherren und Behörden. Richtlinie des
BWG. Bern, 81 pp.
1 [5.1]. Für die in der Schweiz anzusetzenden http://www.bwg.admin.ch/themen/natur/d/pdf/erenho.pdf
Erdbebenkräfte genügen meist Verbände mit
[5.5] Bachmann, H. (2002). Erdbebensicherung
Verhaltensbeiwerten bis zu q = 4, deshalb von Bauwerken. ISBN 3-7643-6941-8. Birk-
wurden Spezialsysteme mit höheren Verhal- häuser-Verlag; 292 pp.
tensbeiwerten wie exzentrische Verbände nicht
in die Norm SIA 263 aufgenommen.

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