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Gesprächsstruktur
- Relationsgefüge, das zwischen den Gesprächsbeiträgen besteht
- Gesprächsbeiträge sind die unmittelbaren Strukturelemente
Vorbemerkung
- Ausgangspunkt für die Untersuchung der strukturellen Eigenschaften von Gesprächen – die
Sprechakt-Theorie
▪ Sprache: das gesamte sprachliche Handlungssystem (grammatische Regelsystem ist schon enthalten)
▪ Ausgangspunkt: Austin
▪ Grundlegende Werke:
• John Searle (1969) Speech acts. An essay in the philosophy of language. Cambridge
• John Searle (1984) Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt: Surhkamp
• J. Searle & D. Vanderveken (1985) Foundations of illocutionary logic. Cambridge
▪ Searle unterscheidet in Anlehnung an Austin vier Akte, die mit dem Sprechen als
Kommunikation verbunden sind.
• Äußerungsakte (utterance acts)
• Propositionale Akte (propositional acts)
- bezieht sich auf Dinge (Referenz) und schreibt diesen Eigenschaften
zu (Prädikation)
• Illokutionäre Akte (illocutionary acts)
- Funktion der propositionalen Akte in der Kommunikation -
Behaupten, Versprechen...
▪ 1. Repräsentative
- Sie verpflichten S auf die Wahrheit der
ausgedrückten, Proposition. Der Grad der
Verpflichtung kann variieren. Zusätzliche
Dimensionen sind das Sprecherinteresse oder der
Diskurszustand.
o Behauptungen → stimmt das, was ich sage → Differenzierung
▪ 2. Direktive
- Mit ihnen versucht S eine Handlung bei A
hervorzurufen. Hier kann die Stärke variieren.
o Bitten, Befehlen, ...
▪ 3. Kommissive
- Diese verpflichten S auf eine zukünftige Handlung.
Auch hier Variation der Stärke möglich.
o Versprechen
▪ 4. Expressive
- Sie sind Ausdruck eines psychischen Zustandes.
o Dank, Gratulation
▪ 5. Deklarationen
- Diese Akte führen zu einem Wechsel eines Zustandes
einer Entität im Gefüge gesellschaftlicher Institutionen.
o Taufe
• repräsentativen Deklarationen,
Unterklasse sind die
Grammatische Beziehungen
- Verknüpfungsmittel ähnlich wie bei Textbildung
- Prinzip der Wiederaufnahme
• Ein bestimmter sprachlicher Ausdrucke (Wort/Wortgruppe/Satz) durch
einen oder mehrere Ausdrücke wieder aufgenommen (Referenzidentität
oder semantische Kontinguität)
▪ Explizite Wiederaufnahme
o
▪ Implizite Wiederaufnahme
o
o
Konstruktionsübernahme
- Spezifisch für Gespräche, ist zu unterscheiden von der sog. Satzvollendung
(diese wird als Hörersignal eingestuft)
- Bei zwei aufeinander folgenden Gesprächschritten übernimmt der Folgeschritt
eine syntaktische Struktur des Vorgängerschrittes ganz oder teilweise
o
Thematische Verknüpfung
- Grammatische Verknüpfungssignale sind entbehrlich, wenn die
Gesprächspartner genügend thematisches und kontextuelles Hintergrundwissen
haben
- Allerdings hat die Wiederaufnahme den Vorteil, dass der Einheitlichkeit des
Kommunikationsgegenstandes sprachlich Ausdruck gegeben wird
Die Gesprächssequenz
- Gesprächsschritte können in vielfältiger Weise aufeinander bezogen sein –
Gesprächskohärenz
- Gesprächsschritte werden also immer mit Bezug auf vorausgegangene
Gesprächsschritte interpretiert
- Oft fungieren Wiederaufnahmestrukturen als Träger für die thematischen
Zusammenhängen
- Das Thema eines Gespräches ist den kommunikativen Hauptgegenständen
übergeordnet: Thema = Kern des Gesprächsinhalts; Teilthemen = Teilinhalte der
einzelnen Gesprächsschritte
- Thematische Entfaltungen
• Deskriptiv – beschreibend
▪ Spezifizierung und Situierung
▪ Deskriptive Entfaltung häufig in argumentativen Rahmen integriert
▪ → Der Bereich der Gesprächsthematik gilt nachwievor als recht
unerforscht
• Narrativ - erzählend
• Explikativ - erklärend
• Argumentativ – begründend
▪ Argumentative Themenentfaltung (vgl. Argumentationsmodell von S.
Toulmin, 1958):
• These (Konklusion)
• Zur Begründung werden Argumente (Daten) angeführt
• Legitimation des Übergangs von den Argumenten zur
Konklusion durch eine Schlussregel (diese kann des weiteren
gestützt werden)
➔ Bestimmte semantisch-thematische Kategorien jeweils für bestimmte
Entfaltungen charakteristisch
- Gesprächssequenz als kommunikativ-funktionale Einheit
• Gesprächssequenz wird ausschließlich kommunikativ-funktional definiert: eine
Folge von mindestens zwei Gesprächsschritten verschiedener Sprecher, die
einen spezifischen Handlungszusammenhang konstituieren
• Gesprächsschritte repräsentieren einen (dominierende) Sprechhandlungstyp
(definiert sowohl durch die Illokution und durch die Position im
Gesprächsverlauf)
▪ Direktive Sprechhandlungen immer initiativ und damit
sequenzeröffnende Gesprächsschritte
▪ Entschuldigungen, Rechtfertigungen, Danksagungen sind immer
reaktiv, dienen dem Sequenzabschluss
• Ein intiierender Gesprächsschritt legt immer bestimmte Handlungsalternativen
fest (‚Raster an Fortsezungsmöglichkeiten‘ nach Franck, 1980)
▪ Der Gesprächsschritt ‚Vorwurf‘ ermöglicht eine größere Wahl
zwischen Fortsetzungsmöglichkeiten als der Gesprächsschritt ‚Gruss‘
• In der Konversationsanalyse bezeichnet man diesen Zusammenhang als
‚bedingte Erwartbarkeit‘ (conditional relevance)
• Folgehandlungen auf initiierende Gesprächsschritte sind aufgrund von
Konventionen erwartbar
• Zwei Gesprächsschritte, die so miteinander verbunden sind, werden als
adjacency pairs bezeichnet:
▪ Frage-Antwort
▪ Gruß-Gruß
▪ Angebot-Annahme/Ablehnung
▪ Abschied-Abschied
▪ Bitte-Versprechen
▪ Vorwurf-Rechtfertigung
▪ Vorwurf-Entschuldigung
• Das Prinzip der ‚bedingten Erwartbarkeit‘ verursacht auch, dass
Abweichungen von Konventionen besondere Bedeutung erhalten
▪ Welche Gesprächssituationen sind durch das Abweichen von den konventionellen
Schemata gekennzeichnet?
- Dissensgespräche
o Streit: Vorwurf –Vorwuf → keine Konvention → Abbruch
• Oft sind in alltäglichen Kommunikationssituationen nicht nur Paarsequenzen
(stark ritualisiert - Begrüßung z.B.) enthalten.
• Gesprächsschritte, die eine Sequenz bilden, können durch Einschübe
unterbrochen sein. Allerdings muss trotzdem das durch den
sequenzeröffnenden Schritt etablierte Raster eingehalten werden.
• Nebensequenzen durch Zwischenfragen:
o
▪ A1 = Frage 1
B1 = Frage 2
A2 = Frage 3
B2 = Antwort 3
A3 = Frage 4
B3 = Antwort 4
A4 = Antwort 2
B = Antwort 1
▪ → Wenn es mehrere Zwischenfragen, die unbeantwortet bleiben,
vorhanden sind, dann erfolgt die Abarbeitung von innen nach
Außen
o
• Nicht jede Folge von Gesprächsschritten ist eine Gesprächssequenz: immer dann der
Fall, wenn die durch den sequenzeröffnenden Gesprächsschritt möglich gemachten
Handlungsmuster nicht eingehalten werden.
▪ Dissensgespräche
• Wenn Gesprächsschritte gegen die etablierten Verbindlichkeiten
verstoßen, dann verstoßen sie gegen die ‚rituelle Ordnung‘, die als
Basis von Interaktion gesehen wird.
→ Gesprächsschritt-Verknüpfung
- Interaktive Funktion von Gesprächssequenzen
• In der Gesprächsforschung spielen vor allem Untersuchungen zur Bedeutung
bestimmter Sequenztypen für die Image- Arbeit eine zentrale Rolle (Holly, 1979;
Holly, 2001)
• Image: ‚alltägliche Selbstbild eines jeden, das unbewußt bleiben kann und im
allgemeinen Gegenstand automatisierter Handlungen ist‘ (Holly, 1979: 35f.)
• Image repräsentiert also einen sozialen Wert (beinhaltet keine
situationsübergreifenden Eigenschaften wie Würde, Ehre...)
• Wird in jeder Gesprächssituation neu aufgebaut und gestützt
• Ziel eines jeden Interaktanten, wenn er sich kooperativ verhält, ist es, dass
eigene Image und das der anderen nicht zu beschädigen
• Interaktanten betreiben ständig Imagearbeit, da sie der Aufrechterhaltung der
rituellen Ordnung (zumindest an der Oberfläche) dient
• Wechselseitige Imagepflege und Aufrechterhaltung der Imagebalance
• Imagearbeit
▪ Bestätigende Gesprächssequenzen:
- Auf einen bestätigenden Gesprächsschritt eines Interaktanten
folgt ein bestätigender Gesprächsschritt des anderen
Interaktionspartners:
• Typ I: Sympathie- und Interessenbekundung
o Glückwunsch-Danke
• Typ II: Höfliche Angebote
o Willkommen
• Typ III: Ratifizierung
o Mitteilung über Veränderung-Glückwunsch
• Typ IV: Zugänglichkeitsbekundungen
o Begrüßung-Begrüßung
o Typ I und II - interpersonal;
o Typ III und Typ IV - abgegrenzt nach
spezifischen Funktionen für die Bestätigung der
Beziehung
o Typ I und III können sich sowohl auf das Image
des Initianten als auch des Partners beziehen
o Typ II betreffen immer das Image des
Reagierenden
o Typ IV bezieht sich immer auf das Image beider
▪ → Durch Aufrechterhaltung der Imagebalance - harmonische
Beziehung
o
- Korrektive Gesprächssequenzen
• Treten auf, wenn das Gleichgewicht durch Verhaltensweisen gestört wird
• Dienen der Herstellung des Ausgangszustandes
• Einer korrektiven Sequenz geht ein ‚Zwischenfall‘ voraus, etwas das als
Imagebedrohung oder -verletzung interpretiert wird
• Markierung eines ‚Zwischenfalls‘ dadurch, dass vom Gegenüber eine
‚Veranlassung‘ (Vorwurf, Vorhaltung, Beschwerde...) geäußert wird -
Eröffnung einer Sequenz
• Zweiter Schritt dieser Sequenz ist der Korrektivschritt - dient der Klärung, dass
keine Imageverletzung intendiert war - Abschluss der Sequenz
• Typologie von Korrektiven
▪ Entschuldigung
- Akzeptanz der negativen Bewertung; Zurückweisung der vollen
Verantwortung für die verurteilte Handlung
▪ Rechtfertigung
- Übernahme der vollen Verantwortung, Zurückweisung der
negativen Bewertung
▪ Bestreiten
- der Handlung oder der Täterschaft
▪ Bitte
- präventive Höflichkeitsmaßnahme zur Abmilderung der
Imageverletzung
o
o
Gesprächsphasen
- Grundsätzliche Gliederung in Eröffnungsphase, Kernphase und Beendigungsphase
• Eröffnungsphase: Koordination der Gesprächssituation und Signalisieren von
Gesprächsbereitschaft
• Kernphase: Abhandlung der Gesprächsthemen und Verfolgung der Ziele
• Beendigungsphase: gemeinsame Auflösung der Gesprächsbereitschaft
- Intensive Forschung zu Eröffnungs- und Beendigungsphasen aufgrund der stark
ritualisierten Natur dieser beiden Phasen
- Unterschiede in den beiden Phasen entstehen durch die Kommunikationsform (face-
to-face, Telefongespräch) und durch die soziale Situation
- Untersuchung der Kernphase problematisch:
• Sehr komplexe Struktur
• Viele individuelle Gestaltungsmöglichkeiten
• Aber in Sprachgemeinschaften haben sich trotzdem gewisse
gesprächstypspezifische Handlungspläne herausgebildet (vgl. Unterschiede bei
Interview, Beratungsgespräch, Wegauskunft etc.)
- Gesprächseröffnung
• Viel Forschung anhand von Telefongesprächen, da alle Schritte verbalisiert
werden müssen
▪ Beginn durch Aufforderung-Antwort- Sequenz
▪ Aufforderung: Klingeln (Manifestation der Gesprächsbereitschaft des
Anrufers)
▪ Antwort: Abnehmen des Hörers und durch Signale wie ja, hallo
bedingte Gesprächsbereitschaft gekennzeichnet
• Identifikationssequenz durch Identifikation des Angerufenen und
Gegenidentifikation des Anrufers
▪ Beeinflussung ritualisierter Vorgänge durch technische Entwicklungen:
Displayanzeige der Telefonnummer oder Namen
• Nach der Identifikation in der Regel Begrüßung
▪ Klingeln-Antwort
▪ Identifikation-Gegenidentifikation
▪ Gruß-Gegengruß
• (manchmal noch eine Wohlergehenssequenz)
• Durch den Anrufenden wird dann in der Regel ein Thema eingeführt und damit
die Kernphase des Gesprächs eingeleitet
• Erfolgt oft durch ritualisierte Übergangsschritte (ich hab da ein problem, ich
wollte mir dir mal über...reden)
-
- Gesprächsbeendigung
• Grundvoraussetzung: gemeinsame Erkenntnis, dass das eigentliche Gespräch
zu Ende ist
• Manchmal führt aber die Beendigung eines Themas zur Einführung eines
neuen Themas - Beendigung schwieriger als Eröffnung
• Jeder Beendigungsversuch bedarf der Bestätigung durch den
Gesprächsteilnehmer
• Beendigung eines Gespräches also nur möglich, wenn die Kernphase vorher zu
einem Abschluss gekommen ist
• Sequenzen
▪ Resümeesequenz
- nach der gemeinsamen Themenbeendigung;
- Zusammenfassung durch einen der Interaktanten und
Bestätigung durch den anderen Teilnehmer
▪ Danksequenz
- Dank-Gegendank/ Zustimmung/...
▪ Wunschsequenz:
- Wunsch/Ratschlag-Dank
▪ Verabschiedunssequenz
- elementarste Form - Austausch von Abschiedsgrüssen
• Selten Veränderung der Schritt-Reihenfolge
• Dank- und Wunschsequenz sind an bestimmte Gesprächstypen gebunden
o
- Arzt-Patienten-Kommunikation
• Notorisches Problem: Experten-Laien- Kommunikation
• Frage, ob durch gesprächsanalytische Verfahren die Möglichkeit der
Entwicklung von Kommunikationsstrategien sowohl für Ärzte als auch
Patienten möglich ist
• Entmündigung des Patienten durch wir- Form
• Patient fühlt sich nicht ernst genommen
• Entpersönlichung des Patienten – bei Visite Wahl der 3. Person Singular trotz
Anwesenheit des Patienten oder Telegrammstil
• Funktionalisierung der Kommunikation auf die Erfordernisse des Diagnose-
oder Behandlungsschemas; Folge: Äußerung des Patienten nur von Interesse
als sie der Behandlung nützen
• Arzt hört nicht zu, Unterbrechungen
• Zur Konzentration auf das wesentliche häufige Verwendung ‚geschlossener‘
Fragen
• Schilderungen des persönlichen Erlebens durch den Patienten häufig
übergangen
• Ängste/ Zweifel des Patienten durch rhetorische Tricks überspielt
• Arzt setzt für ihn relevante Gesprächsthemen durch
• Beschwerdedefinition und Krankheitstheorien des Patienten werden vom Arzt
nicht argumentativ bearbeitet
• Patient wird nicht über die Schlussfolgerungen der ärztlichen Typisierung
informiert und den Zusammenhang mit der nachfolgenden Behandlung
• Bei divergierenden Vorstellungen setzt sich Arzt durch seine Autorität durch
• Ein Problem: Rederecht des Patienten
• Sehr hoher Anteil sollte in dem Gesprächsabschnitt liegen, in dem der Patient
sein Anliegen erläutert
• Weniger Anteil, wenn der Arzt einen medizinischen Sachverhalt
zusammenhängend erläutern will
• → Frage ist also, ob der Patient in funktionale geeigneten Gesprächsphasen
genügend Gelegenheit zur Rede bekommt
- Turn-Taking
• Die konversationsanalytischen Erkenntnisse Sacks’, Schegloffs
und Jeffersons zum ‛turn-taking’
▪ Grundgedanken und Hintergründe
- Die Soziologen Harvey Sacks, Emanuel A. Schegloff und Gail Jefferson als
„Pioniere“ (Levinson 1990: 293) der in den 60er-Jahren entstandenen,
ethnometho-dologisch ausgerichteten, nordamerikanischen ‛conversational
analysis’, der Konversationsanalyse, eine der für die Entwicklung der
linguistischen Gesprächs-analyse maßgebenden Forschungszweige
- Prinzipien der Konversationsanalyse
o Strikt empirische Verfahrensweise und Vermeidung vorschneller
Theoriebildung; primär induktive Methoden; systematische Suche
nach sich wiederholenden Mustern und Vermeidung unmittelbarer
Kategorisierung oft dürftiger Daten wie in der Diskursanalyse
→ Umfangreiche Audioaufnahmen authentischer Gespräche als
Basis der Arbeit
o Fokus auf „interaktionalen und inferentiellen Konsequenzen“ der
Wahl zwischen Äußerungsoptionen statt auf der „theoretischen
Ontologie von Regeln [Herv. im Original]“ (Levinson 1990: 286) wie in der
Syntaxbeschreibung
o Kein Vertrauen in intuitive Bewertungen, sondern Konzentration
auf reale Daten
o Vermeidung auf einzelnen Texten gründender Analysen;
Berücksichtigung zahlreicher Beispiele eines Phänomens zum
Zwecke der Identifizierung der zugrunde liegenden Systematik
- Identifizierung der Regelhaftigkeit von Gesprächsorganisation und
Formulierung deutlichen Regelwerks für Sprecherwechsel als
Hauptverdienst der Forscher
- (Vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 696-735; vgl. Levinson 1990: 285-295; vgl. Rath 2001:
1215; vgl. Brinker/Sager 2001: 14-18)
▪ Zentrale Befunde Sacks’, Schegloffs und Jeffersons
- „Turn-taking“ (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 696), Sprecherwechsel, als
offensichtliches Gesprächsmerkmal
- Beschreibung des ‛turn-taking’-Systems anhand zweier Komponenten und
eines Zug für Zug angewandten Regel-Sets mit festgelegten Optionen, daher
„local management system“ (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 725), „lokales
Lenkungssystem [Herv. im Original]“ (Levinson 1990: 296)
- „THE TURN-CONSTRUCTIONAL COMPONENT [Herv. im Original]”
(Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 702)
oSyntaktische Einheiten (Sätze, Teilsätze, Nominalphrasen, Wörter)
als Bausteine von Gesprächsschritten
o Anfänglich Zuteilung nur einer dieser „redebeitragsbildenden
Einheiten [Herv. im Original]“ (Levinson 1990: 296) pro Sprecher, jedoch
Möglichkeit der Erweiterung durch den Sprecher selbst
o „Voraussagbarkeit“ oder „Einplanung [Herv. im Original]“ (Levinson 1990:
296), „projectability“ (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 702), des Endes
jeder Einheit als Erklärung für nahtlos ineinander übergehenden
Sprecherwechsel
o Ende einer solchen Einheit als Stelle für möglichen
Sprecherwechsel, „transition-relevance place“ (Sacks/Schegloff/Jefferson
1974: 703), „übergangsrelevanter Ort [Herv. im Original]“ (Levinson 1990:
296), unter Anwendung der Regeln
- „TURN-ALLOCATION COMPONENT [Herv. im Original]” (Sacks/Schegloff/Jefferson
1974: 703)
o Differenzierung zwischen zwei Gruppen von Techniken zur
Auswahl des nächsten Sprechers
o Solche, in denen der nächste Sprecher vom gegenwärtigen Sprecher
ausgewählt wird
o Solche, in denen der nächste Sprecher sich selbst auswählt
- Regel-Set
o „Regel 1 – gilt zu Anfang für den ersten TRP [erkennbares Ende
beitragsbildender Einheit] jedes Redebeitrags
▪ (a) Wenn C [aktueller Sprecher] im laufenden Beitrag N
[nächster Sprecher] auswählt, muß [!] C zu sprechen
aufhören und N muß [!] als nächster [!] sprechen, wobei
der Übergang beim ersten TRP nach der N-Selektion
erfolgt
▪ (b) Wenn C nicht N auswählt, kann jede (andere) Partei
sich selbst wählen, wobei der erste [!], der spricht, das
Recht auf den nächsten Beitrag gewinnt
▪ (c) Wenn C nicht N gewählt hat und keine andere Partei
sich selbst unter Option (b) wählt, kann C weiterfahren
(muß [!] aber nicht) (d.h. [!] eine weitere beitragsbildende
Einheit beanspruchen)
o Regel 2 – gilt für alle folgenden TRPs
▪ Wenn Regel 1 (c) von C angewandt worden ist, gelten
beim nächsten TRP und rekursiv bei jedem nächsten TRP
die Regeln 1 (a) - (c), bis ein Sprecherwechsel erfolgt“
(Levinson 1990: 297)
- Erfassung offensichtlicher Fakten über Gespräche, etwa präzise zeitliche
Abstimmung der Gesprächsschritte, durch formulierte Regeln
o (Vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974: 696-735; vgl. Levinson 1990: 295-302)
• Sprecherwechsel
▪ = Übergang der Rede von einem Sprecher zu einem Hörer
▪ -Analyse: Wann hat der Hörer die Absicht die bestehende Verteilung der Sprecher-
und der Hörerrolle zu ändern und wann hat er nur eine „kleine“ Aktivität im Sinn?
▪ strukturelle (Textstück) und prozessuale (Sprachhandlung) Analyse möglich
▪ deutsche Übersetzung des Begriffs „turn“ schwierig:
- Gesprächsschritt
- Sprecherbeitrag → am häufigsten genutzt
- Gesprächsbeitrag
- Redebeitrag
- Redezug/Zug
▪ Vier Fälle des Sprecherwechsels
- Sprecherwechsel als unproblematischer Übergang
- Kein Sprecherwechsel
▪ in den USA wurde dem Hörer schon früh eine aktive Rolle im Gespräch zugebilligt
▪ Sprecherwechsel ist für Gespräche konstitutiv (wechselseitiges Sprechen und
wechselseitiges Zuhören)
▪ es ist möglich außerhalb eines „turns“ zu sprechen
▪ oft ist es nicht möglich zu erkennen, wessen Gesprächsschritt es gerade ist
▪ ein Gespräch geht regelhaft zu
▪ Gesprächsteilnehmer beherrschen diese Regeln normalerweise implizit, kennen sie
aber nicht explizit (wann erfolgt eine Wortübergabe)
▪ Sprecherwechsel ist abhängig von:
• Art der Sprechsituation
• sozialer Status der Gesprächsteilnehmer
• Organisationsform und Organisiertheit des Dialogs
▪ „Stellen des möglichen Sprecherwechsels“ und „Einheiten, die für sich (prinzipiell)
einen Redebeitrag konstituieren“ sind in der Analyse oft nicht eindeutig bestimmbar
▪ „transition-relevance-place“ wird im Deutschen auch mit „übergangsrelevante Stelle“
übersetzt (manchmal auch „unit-type“ → an manchen Stellen Übernahme der
Sprecherrolle eher möglich als an anderen)
▪ im Gespräch muss man sich bei der Identifikation des „transition-relevance-place“
häufig von seinen Gefühlen leiten lassen
▪ erst im Nachhinein können bestimmte Stellen als übergangsrelevant interpretiert
werden
▪ simultane Gesprächssequenzen: „kollektives Sprechen“ oder „Phase erhöhter
Gemeinsamkeit“ → zwei oder mehrere Sprecher bringen etwa gleich verteilt, simultan
dieselben Sprechakte hervor und drücken dabei die gleiche Überzeugung/Einstellung
etc. aus
• Höreraktivitäten
▪ Wortbildungsschwierigkeiten: „Sprecher“ und „Hörer“ mehrdeutig
• Gesprächsrollen
• dem Hörer können auch sprecherische Aktivitäten zugeschrieben werden
▪ Gesprächsbeteiligung durch Rückmeldung:
• Aufmerksamkeitssignalisierung
• Satzvollendung/Zustimmung
• „Bitte um Klärung“
• „kurze Nachformulierung“
▪ Prozeduren der Verständnissicherung
• Kommentierung
- Zustimmung, Ablehnung, Zweifel
- Hörer strebt keine Gesprächsrollenveränderung an
• Aufmerksamkeitssignalisierung
- Hörer folgt dem Gespräch
o ja, mhm
• Hörersignale als Antworten auf Sprechersignale
- kurze Zwischenverständigungen, die ganz dem kooperativen
Prinzip verpflichtet
- ne mit Frageintonation
- Höreraktivität wird vom Sprecher gesteuert: nach dem
Sprechersignal sieht der Sprecher eine Pause vor, Hörer nimmt das
Signal auf und antwortet
• Intervention
- Hörer nimmt durch eine bestimmte Aktivität, die nicht auf die
Übernahme der Sprecherrolle abzielt, auf das Gesprächverhalten
Einfluss (z.B. politisches Streitgespräch)
- Interventionen können praktisch an jeder Stelle stehen
• Gesprächsschrittbeanspruchung
- Beanspruchung impliziert das Vergebliche
- Hörer wird vom Sprecher als Inhaber des Gesprächsschrittes
zurückgewiesen
- kann an übergangsrelevanten Stellen, aber auch mitten im Satz
erfolgen
- übergangsrelevante Stellen müssen nicht für alle
Gesprächsteilnehmer eindeutig sein (potentielle übergangsrelevante
Stellen vom Sprecher als nicht-übergangsrelevant intendiert
Literatur
Brinker, Klaus/Sager, Sven F. (2001): Linguistische Gesprächsanalyse: eine
Einführung. 3., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin: Erich
Schmidt.
Levinson, Stephen C. (1990): Pragmatik. – Tübingen: Niemeyer
(Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 39) (urspr. engl. u.
d. T.: Pragmatics. Cambridge: Cambridge University Press 1983).
Rath, Rainer: „Gesprächsschritt und Höreraktivitäten“ (2001). In: Text- und
Gesprächslinguistik: ein internationales Handbuch zeitgenössischer
Forschung. Hrsg. von Klaus Brinker (= Handbücher zur Sprach- und
Kommunikationswissenschaft 16). Habbd. 2. Berlin/New York: de
Gruyter. S. 1213-1226.
Rath, Rainer (1979 und 2001): “Kommunikationspraxis: Analysen zur Textbildung
und Textgliederung im gesprochenen Deutsch.” S. 34 – 116.
Sacks, Harvey/Schegloff, Emanuel A./Jefferson, Gail (1974): „A simplest
systematics for the organization of turn-taking for conversation”. In:
Language 50 (4). S. 696-735.
Die Typologisierung von Gesprächen und ihre
Probleme
- Klassifikation von Gesprächen nach verschiedenen Gesichtspunkten
- Kriterien der Klassifizierung werden häufig als Merkmalskombinationen oder in Form
von Merkmalskatalogen angegeben
• Freiburger Redekonstellationsmodell
▪ Sprecherzahl
▪ Zeitreferenz
▪ Verschränkung von Text und sozialer Situation
▪ Rang
▪ Grad der Vorbereitetheit
▪ Zahl der Sprecherwechsel
▪ Themafixierung
▪ Modalität der Themenbehandlung
▪ Öffentlichkeitsgrad
- Redekonstellationen mit annähernd gleichen Merkmalsausprägungen
bilden einen Redekonstellationstyp
- Problem: die Freiburger Liste der Kriterien ist ungeordnet und in dem
Sinn nicht homogen, dass die Merkmale z.B. auf unterschiedlichen
sprachtheoretische Ebenen anzusiedeln sind
- Problem der Vollständigkeit
• Henne/Rehbock-Klassifikation
- System besteht aus 10 ‚kommunikativ-pragmatisch bedeutsamen
Kategorien‘
1. Gesprächsgattungen:
1.1 natürliches Gespräch
1.1.1 natürliches spontanes Gespräch
1.1.2 natürliches arrangiertes Gespräch
1.2 fiktives/fiktionales Gespräch
1.2.1 fiktives Gespräch
1.2.2 fiktionales Gespräch
1.3 inszeniertes Gespräch
2. Raum-Zeit-Verhältnis (situationeller Kontext):
2.1 Nahkommunikation: zeitlich simultan und
räumlich nah (face-to-face)
2.2 Fernkommunikation: zeitlich simultan und
räumlich fern: Telefongespräche
3. Konstellation der Gesprächspartner:
3.1 interpersonales dyadisches Gespräch
- Zweiergespräch
3.2 Gruppengespräch
3.2.1 in Kleingruppen
3.2.2 in Großgruppen
4. Grad der Öffentlichkeit:
4.1 privat
4.2 nicht öffentlich
4.3 halb öffentlich
4.4 öffentlich
5. Soziales Verhältnis der Gesprächspartner:
5.1 symmetrisches Verhältnis
- Freunde, Kollegen unter sich, ...
5.2 asymmetrisches Verhältnis
5.2.1 anthropologisch bedingt
- versch. Altersgruppen
5.2.2 soziokulturell bedingt
- sozialer Status und Rang
5.2.3 fachlich oder sachlich bedingt
- Kompetenz; z.B. Arzt-Patient
5.2.4 gesprächskulturell bedingt
- Absprache, geleitete Diskussion
6. Handlungsdimension des Gespräches:
6.1 direktiv
6.2 narrativ
6.3 diskursiv
6.3.1 alltäglich
6.3.2 wissenschaftlich
7. Bekanntheitsgrad der Gesprächspartner:
7.1 vertraut
7.2 befreundet, gut bekannt
7.3 bekannt
7.4 flüchtig bekannt
7.5 unbekannt
8. Grad der Vorbereitetheit der Gesprächspartner:
8.1 nicht vorbereitet
8.2 routiniert vorbereitet
8.3 speziell vorbereitet
9. Themafixiertheit des Gesprächs:
9.1 nicht themafixiert
9.2 themabereichfixiert
9.3 speziell themafixiert
10. Verhältnis von Kommunikation und
nichtsprachlichen Handlungen:
10.1 empraktisch
10.2 apraktisch
-
Grundsätzlich stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht notwendig
ist, ein übergeordnetes Kriterium zu finden. In Abhängigkeit von
diesem Kriterium würde sich dann eine hierarchische strukturierte
Typologisierungsbasis ergeben.
- Mögliches Kriterium: soziale Funktion, gesellschaftliche Zweck von
Gesprächen
- → NOCH KEINE VOLLSTÄNDIGE Typologisierung (aber Konsens, dass man eine
braucht)