schreckliche
deutsche
S y n t a x
I. PROBLEME
„Ein durchschnittlicher Satz in einer deutschen Zeitung ist eine unübertrefflich
eindrucksvolle Kuriosität; er nimmt ein Viertel einer Spalte ein; er enthält
sämtliche zehn Redeteile – nicht in ordentlicher Folge, sondern durcheinander“.
(Mark Twain, „Die schreckliche deutsche Sprache“)
Charakteristika der deutschen Syntax
„… und danach kommt das Verb, und man bekommt zum ersten Mal heraus,
wovon der Mann gesprochen hat“
(M. Twain)
„Ich würde (…) das Zeitwort so weit nach vorne rücken, bis man es ohne Fernrohr
entdecken kann.“
(M. Twain)
„Die Deutschen kennen eine Form der Parenthese, die sie herstellen, indem sie ein
Verb spalten und die eine Hälfte an den Anfang eines spannenden Kapitels setzen
und die andere Hälfte an den Schluss. Kann man sich etwas Verwirrenderes
vorstellen? Diese Dinger heißen „trennbare Verben“. Die deutsche Grammatik
strotzt von trennbaren Verben, und je weiter die beiden Teile auseinandergerissen
werden, desto zufriedener ist der Urheber des Verbrechens mit seiner Leistung.“
(M. Twain)
„Die deutsche Grammatik ist übersät von trennbaren Verben wie von den Blasen
eines Ausschlags; und je weiter die zwei Teile auseinandergezogen sind, desto
zufriedener ist der Urheber des Verbrechens mit seinem Werk.“
(M. Twain)
„Da die Koffer nun bereit waren, REISTE er, nachdem er seine Mutter und
Schwestern geküsst und noch einmal sein angebetetes Gretchen an den Busen
gedrückt hatte, die, in schlichten weißen Musselin gekleidet, mit einer einzigen
Teerose in den weiten Wellen ihres üppigen braunen Haares, kraftlos die Stufen
herabgewankt war, noch bleich von der Angst und Aufregung des vergangenen
Abends, aber voller Sehnsucht, ihren armen, schmerzenden Kopf noch einmal an
die Brust dessen zu legen, den sie inniger liebte als ihr Leben, AB.“
(E. Marlitt: „Geheimnis der alten Mamsell“)
VORFELD Linke MITTELFELD Rechte NACHFELD
Satzklammer Satzklammer
Im Vorfeld steht eine Konstituente (also auch ein kompletter Satz, oder mehrere
Sätze).
Besonders häufig ist die Besetzung des Vorfeldes durch ein Subjekt.
Linke Satzklammer
Subjekt
(wenn es nicht im Vorfeld steht)
Objekte
Ich esse einen Apfel. (Akkusativobjekt)
Ich glaube dir. (Dativobjekt)
Er bezichtigt ihn des Diebstahls. (Genitivobjekt)
Ich träume vom Schnee. (Präpositionalobjekt)
1. Temporalangabe (Wann?)
>> 2. Kausalangabe (Warum?)
>> 3. Modalangabe (Wie?)
>> 4. Lokalangabe (Wo/Wohin?)
Bei Nebensätzen steht auch das konjugierte Verb in der rechten Satzklammer:
Dies geschieht, wenn der sog. Ersatzinfinitiv (infinitivus pro participio oder:
‚IPP‘) in einem Nebensatz vorkommt. Der IPP entsteht bei der Perfekt-
Bildung von Verben, die andere Verben regieren: Modalverben (Ich habe
ausgehen wollen; ich habe nicht kommen können), ‚lassen‘ (Ich habe mein
Auto reparieren lassen) und Perzeptionsverben (Ich habe ihn wegfahren
sehen). Er sagt, dass er gestern hat ausgehen wollen. Sie behauptet, dass
sie ihn habe wegfahren sehen. (Konjunktiv I)
Nachfeld
Das Nachfeld muss nicht besetzt sein (wie übrigens auch das Mittelfeld und/oder die
rechte Satzklammer). Wenn es besetzt ist, dann mit einem (Haupt- oder Neben-)Satz
oder mit einer Infinitivkonstruktion.
ÜBUNG 1
Bilden Sie (korrekte) Sätze aus den verstreuten Wörtern:
1.
HÄTTE
HÄTTE
GESAGT
GEWUSST
ICH
ICH
NICHTS
DAS
2.
SIE
MEINT
SIE
DAS
KÖNNEN
HABE
KOMMEN
SEHEN
DASS
NICHT
3.
SITZEN
GEBETEN
ER
DÜRFEN
SOLL
HABEN
ZU
BLEIBEN
4.
NOCH
DEN
ZU
IN
DER KÖNNEN
MINUTEN SIE
ZEHN ZUG
ABFÄHRT ERREICHEN
RENNT
UM
II. LÖSUNGEN
Flexibilität: Der Joker der deutschen Syntax
„Als nächstes würde ich das Verb weiter nach vorn schieben.“
(Mark Twain)
Man kann zwar nicht das Verb weiter nach vorn schieben, aber viele andere Wörter
nach hinten – d.h. ins NACHFELD des Satzes. Was kann ins Nachfeld verschoben
werden?
- Appositionen
LÖSUNGEN ÜBUNG 2
Bringen Sie das Verb weiter nach links, indem sie Teile des Satzes ausklammern
(d.h.: ins Nachfeld verschieben)!
Ich habe immer von so einer langen und abenteuerlichen Reise geträumt.
Es ist ihr dank der richtigen Medizin, gutem Essen und viel Schlaf bald wieder besser
gegangen.
Sie sagt, dass er auf dem Stuhl sitzen bleiben zu dürfen gebeten haben soll.
LÖSUNGEN Übung 2
Sie sagt, dass er auf dem Stuhl sitzen bleiben zu dürfen gebeten haben soll.
Sie sagt, dass er auf dem Stuhl sitzen (6) bleiben (5) zu dürfen (4) gebeten (3) haben
(2) soll (1).
Sie sagt, dass er gebeten (3) haben (2) soll (1) auf dem Stuhl sitzen (6) bleiben (5) zu
dürfen (4).
Ich habe immer von so einer langen und abenteuerlichen Reise geträumt.
Ich habe immer geträumt von so einer langen und abenteuerlichen Reise.
Es ist ihr dank der richtigen Medizin, gutem Essen und viel Schlaf bald wieder besser
gegangen.
Es ist ihr bald wieder besser gegangen dank der richtigen Medizin, gutem Essen und
viel Schlaf.
2. Schinde Eindruck und sei expressiv!
Ausdrucksstelle / Eindrucksstelle
Ausdrucksstelle
- Akkustativobjekt: „Dich sah ich“, „Gar schöne Spiele spiel ich mit dir“ (Goethe)
Das Sinnwort steht am Ende => mehr Redeton, Nachhall (semantisches Echo),
Suspense.
„Die Sprache ist gleichsam der Leib des Denkens.“ (Friedrich Hebbel)
(der Satz wäre um jede Wirkung gebracht, wenn Friedrich Hebbel gesagt
hätte: „Gleichsam der Leib des Denkens ist die Sprache.“)
- Zooming-In:
„Es lebte einmal, vor langer, langer Zeit, im Schwarzwald eine arme, alte
Witwe.“ (Märchen) (Mithilfe von ‚Es‘ am Anfang kann auch das Subjekt ans
Ende verschoben werden)
Es war einmal ein König (Rhema). Der (Thema) hatte drei Töchter (Rhema).
„An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten
Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas“
(Heinrich von Kleist)
„In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem
Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher
viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein
Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem
Pfeiler des Gefängnisses“
(Heinrich von Kleist)
3. Schreibe schön!
Ästhetik
„Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von
Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den figurenreichen, so vielerlei
Menschenschicksal im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich, „Maja“
mit Namen, wob; der Schöpfer jener starken Erzählung, die „Ein Elender“
überschrieben ist und einer ganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher
Entschlossenheit jenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser endlich (und
damit sind die Werke der Reifezeit kurz bezeichnet) der leidenschaftlichen
Abhandlung „Über Geist und Kunst“, deren ordnende Kraft und antithetische
Beredsamkeit ernste Beurteiler vermochte, sie unmittelbar neben Schillers
Raisonnement über naive uns sentimentalische Dichtung zu stellen: Gustav
Aschenbach also war zu L., einer Kreisstadt der Provinz Schlesien, als Sohn eines
höheren Justizbeamten geboren.“
(Thomas Mann, Der Tod in Venedig)
„Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben Friedrichs von Preußen;
der geduldige Künstler, der in langem Fleiß den figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im
Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich, „Maja“ mit Namen, wob;
der Schöpfer jener starken Erzählung, die „Ein Elender“ überschrieben ist und einer ganzen
dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher Entschlossenheit jenseits der tiefsten Erkenntnis
zeigte;
der Verfasser endlich (und damit sind die Werke der Reifezeit kurz bezeichnet) der
leidenschaftlichen Abhandlung „Über Geist und Kunst“, deren ordnende Kraft und antithetische
Beredsamkeit ernste Beurteiler vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über
naive uns sentimentalische Dichtung zu stellen:
Gustav Aschenbach also war zu L., einer Kreisstadt der Provinz Schlesien, als Sohn eines höheren
Justizbeamten geboren.“
Subjekt – Genitivattribut;
Subjekt – Relativsatz;
Hauptsatz.
S–A
S–A
S – A (A)
S – (P) – A (A)
HAUPTSATZ
Thomas Mann hält sich in diesem Satz streng an die syntaktischen Standards. Es gibt
keine akrobatischen Inversionen etc., nur eine Kombination einfacher – und sich
gegenseitig verstärkender – Stilmittel:
1. Synonymie:
Der Autor
der geduldige Künstler
der Schöpfer
der Verfasser
Gustav Aschenbach
2. Parallelismus
Subjekt – Genitivattribut;
Subjekt – Relativsatz;
Subjekt – Genitivattribut – Relativsatz I und II;
Subjekt – Parenthese – Genitivattribut – Relativsatz – Infinitivsatz:
Hauptsatz.
3. Steigerung
HAUPTSATZ
4. Schreibe einfach!
„Der Umgang mit der Sprache kann unterschiedlich sein. So wie Musiker ihre
Gitarren auch sehr unterschiedlich quälen – der eine kann mit zwölf Fingern und der
Nase darauf spielen, der andere haut mit der Faust auf sein Instrument. Wenn er
aber tatsächlich etwas zu sagen hat, kann er mit zwei Akkorden große Begeisterung
beim Publikum hervorrufen. Selbst die verdorbensten Musikkritiker schütteln dann
den Kopf und sagen: „Diese zwei Akkorde sind zwar total abgenutzt und belanglos,
aber wie der Kerl auf die Saiten haut, das ist doch bemerkenswert. Ein großer
Musiker.“ Und so haue ich auf mein Deutsch, das bei weitem nicht perfekt ist, aber
ausreicht, um sich damit Gedanken über das Leben zu machen und sie zu Papier zu
bringen.“
(Wladimir Kaminer: Deutsch für Anfänger)