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2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28.

Oktober 1953 23

Entschuldigt fehlen die Abgeordneten Gibbert,


Schüttler, Heiland, Heye, Häussler, Dr. Höck und
Dr. Werber.
Präsident D. Dr. Ehlers: Meine Damen und
Herren, ich habe Glückwünsche auszusprechen dem
Herrn Abgeordneten Etzenbach zu seinem 64. Ge-
burtstag am 25. Oktober.
(Beifall.)
Die übrigen amtlichen Mitteilungen werden ohne
Verlesung in den Stenographischen Bericht aufge-
nommen:
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes hat unter dem
23. Oktober 1953 die Kleine Anfrage 1 der Fraktion der Deutschen
Partei betreffend Genocide-Konvention — Drucksache 24 — beant-
wortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 31 vervielfältigt.

4. Sitzung Ich schlage Ihnen vor, die Tagesordnung zu er-


weitern um den Punkt
Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten.
Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953.
Der bisherige Vizepräsident Herr Dr. Schäfer
hat mitgeteilt, daß er nach seiner Ernennung zum
Bundesminister sein Amt als Stellvertreter des
Geschäftliche Mitteilungen . . . 23 B, 24 B, 64 A Präsidenten niederlegt. Die Fraktion der Freien
Demokratischen Partei hat mir mitgeteilt, daß sie
Glückwünsche zum Geburtstag des Abg. als Stellvertreter des Präsidenten den Herrn
Etzenbach 23 C Abgeordneten Dr. Schneiderin Vorschlag
Kleine Anfrage 1 der Fraktion der DP betr bringt. Ich unterstelle das Einverständnis des Hau-
Genocide-Konvention (Drucksachen 24, 31) 23 C ses damit, daß diese Wahl durch Zuruf vorgenom-
men wird.
Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten
Ich bitte die Damen und Herren, die für die Wahl
Dr. Schneider (Zollar) (FDP) . . . . 23 C, D des Herrn Abgeordneten Dr. Schneider zum Stell-
Aussprache über die Erklärung der Bundes- vertreter des Präsidenten sind, ihre Hand zu er-
regierung vom 20. Oktober 1953 23 D heben. — Ich stelle fest, daß diese Wahl einstimmig
erfolgt ist.
Dr. von Brentano (CDU) 23 D
Ich frage Herrn Abgeordneten Dr. Schneider,
Ollenhauer (SPD) 35 D ob er bereit ist, diese Wahl anzunehmen.
Dr. Dehler (FDP) 51 B (Heiterkeit und Zurufe.)
Dr. Eckhardt (GB/BHE) 61 D
— Meine Damen und Herren, Herr Dr. Schneider
Fortsetzung der Aussprache vertagt . . . 63 D ist, wie ich höre, nicht im Saal.
Nächste Sitzung 64 A, C (Erneute Heiterkeit.)
Ich werde die Frage an Herrn Abgeordneten Dr.
Schneider richten, wenn er den Saal betreten
hat. — Sie sind damit einverstanden.
Die Sitzung wird um 9 Uhr 34 Minuten durch
den Präsidenten D. Dr. Ehlers eröffnet. Wir fahren in der Tagesordnung fort. Ich rufe
auf:
Präsident D. Dr. Ehlers: Meine Damen und Aussprache über die Erklärung der Bundes-
Herren! Ich eröffne die 4. Sitzung des zweiten regierung vom 20. Oktober 1953.
Deutschen Bundestages. Ich bitte den Herrn Ich weise darauf hin, daß die heutige und voraus-
Schriftführer, die Namen der entschuldigten Abge- sichtlich auch die morgige Sitzung etwa zwischen
ordneten bekanntzugeben. 15 und 16 Uhr beendet werden sollen.
Matthes, Schriftführer: Es suchen für längere Inzwischen ist Herr Abgeordneter Dr. Schneider
Zeit um Urlaub nach die Abgeordneten Wirths für eingetroffen. Herr Abgeordneter Dr. Schneider,
sechs Wochen wegen dienstlicher Inanspruchnahme, ich frage Sie, ob Sie bereit sind, die auf Sie ge-
Lücke (Engelskirchen) für sechs Wochen wegen fallene einstimmige Wahl durch den Bundestag zum
dienstlicher Inanspruchnahme, Frau Albertz für Stellvertreter des Präsidenten anzunehmen.
fünf Wochen wegen Krankheit, Görlinger für drei
Wochen wegen Krankheit und Bergmann für drei Dr. Schneider (Lollar) (FDP): Ich nehme an.
Wochen wegen Krankheit. (Beifall.)
Präsident D. Dr. Ehlers: Ich nehme an, daß der Präsident D. Dr. Ehlers: Ich beglückwünsche Sie
Urlaub, soweit er über eine Woche hinausgeht, ge- zu dieser Wahl.
nehmigt ist. — Das ist der Fall. Bitte!
Das Wort zur Aussprache über die Erklärung der
Matthes, Schriftführer: Der Präsident hat Urlaub Bundesregierung hat der Abgeordnete Dr.
erteilt den Abgeordneten Pöhler, Rümmele, Bauer- von Brentano.
eisen, Spörl, Meyer (Oppertshofen), Birkelbach, Dr.
Wellhausen, Blücher, Dr. Bärsch, Jahn (Frankfurt), Dr. von Brentano (CDU) : Herr Präsident! Meine
Blank (Dortmund), Margulies, Struve, Knapp und Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat vor
Dr. Bucerius. wenigen Tagen die Regierungserklärung des zwei-
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(Dr. von Brentano)
ten deutschen Bundeskanzlers entgegengenommen. stimmten sie alle überein. Wenn auch die Sozial-
Es war derselbe, der vor vier Jahren von dieser demokratische Partei, die nunmehr allein die Oppo-
Stelle aus die Regierungserklärung der ersten sition in diesem Hause vertritt, in dem, was sie
deutschen Bundesregierung abgegeben hatte, und wollte und forderte, sich häufig von den anderen
es sei mir gestattet, die Worte zu zitieren, mit oppositionellen Kreisen sehr wesentlich unterschied,
denen damals der Herr Bundeskanzler Dr. Adenauer so gab es doch in dieser gemeinsamen Forderung
seine programmatischen Ausführungen am 20. Sep- keinen Unterschied: Die Politik des Bundeskanzlers
tember 1949 geschlossen hat. Er sagte damals: und der hinter ihm stehenden Regierungskoalition
Wir hoffen ... , daß es uns mit Gottes Hilfe müsse durch eine andere außenpolitische und wirt-
gelingen wird, das deutsche Volk aufwärtszu- schaftspolitische Konzeption ersetzt werden. Mit
führen und beizutragen zum Frieden in Europa dieser Forderung erhielt der Wahlkampf eine echte
und in der Welt. politische Note. Es ging nicht mehr in erster Linie
um ein Bekenntnis zu einem mehr oder weniger
Die Erklärung, die wir vor wenigen Tagen hier zeitoffenen oder angestaubten Parteiprogramm; das
gehört haben, war von dem gleichen Gefühl der Volk wurde aufgefordert, sich zu der Politik der
Verantwortung und von der gleichen klaren Sach- vergangenen vier Jahre zu bekennen und mit dem
lichkeit getragen wie diese erste Erklärung, und sie Stimmzettel die Voraussetzungen für ihre Fort-
zeichnete sich ebenso wie die damalige durch ein setzung und Vollendung zu schaffen oder sich für
klares Bekenntnis zu Maß und Möglichkeiten aus, eine radikale Abkehr vom bisherigen Weg zu ent-
das auch schon von vier Jahren so überzeugend scheiden. Die Frage war klar. Ich glaube, daß die
und so eindrucksvoll gewirkt hatte. Antwort ebenso klar und eindeutig war.
Es wäre nun nicht ohne Reiz, nicht nur die erste (Sehr gut! bei der CDU.)
Regierungserklärung zu zitieren, sondern auch die Es gibt in diesem Parlament keine kommunisti-
anschließende Diskussion und ganz besonders auch sche Gruppe mehr. Die wiederholte Empfehlung
die Ausführungen der Sprecher der Opposition. des Kreml, unter allen Umständen zunächst einmal
Ich glaube darauf verzichten zu können. Es genügt diese Regierung zu stürzen, um dann einen anderen
die Feststellung, daß es in den ersten vier Jahren Weg zu gehen, war zu durchsichtig, als daß der
gelungen ist, die Grundlagen für eine beständige, deutsche Wähler sie nicht verstanden hätte. In die-
in sich tragfähige politische, wirtschaftliche und sem Parlament sitzen auch keine Vertreter radika-
soziale Ordnung zu schaffen. Die gewiß nicht be- ler Rechtsgruppen mehr. In Deutschland und viel-
scheidenen Forderungen der Opposition, die sie in leicht noch mehr im Ausland wurde oft die Frage
dieser ersten Aussprache vor vier Jahren ange- diskutiert, wie stark wohl jene Kreise seien, die
meldet hatte, wurden nicht nur erfüllt, sondern bei noch im Ungeist des Dritten Reiches lebten. Auch
weitem übertroffen. darüber hat der 6. September Klarheit geschaffen.
(Zurufe von der SPD: Nichts zu verstehen! — Weder die Gruppen um Dr. Wirth noch die um Dr.
Lauter!) Heinemann, die für die Wahl dieses eigenartige
Versicherungsbündnis auf Gegenseitigkeit abge-
schlossen hatten — eine Vereinbarung, die gerade
Präsident D. Dr. Ehlers: Meine Damen und vom Standpunkt eines Dr. Heinemann aus so unbe-
Herren! Ich bitte, freundlichst durch etwas Ruhe greiflich war —, konnten einen Sitz in diesem Par-
im Hause dazu beizutragen, daß der Redner sich lament erringen. Der Versuch, auf die verhängnis-
verständlich machen kann. volle und unrealistische Parole des „Ohne mich"
(Erneute Zurufe.) zurückzugreifen, war ebenso ergebnislos wie das
— Lassen Sie mich bitte zu Ende sprechen. Wir Bekenntnis zu einer mißverstandenen Neutralität,
sind heute dabei, die Möglichkeiten der Akustik zu das letztlich ja nichts anderes bedeutete als die
überprüfen, um die Lautsprecher verbessern zu Kapitulation vor einem neuen totalitären System
und die Resignation vor der Gewalt und dem Un-
können. Das kann man bekanntlich nur durch die recht. Das deutsche Volk hat mit einer eindrucks-
Praxis und nicht durch theoretische Feststellungen. vollen Mehrheit die Parole des Radikalismus von
Ich bitte also, die Ungelegenheit freundlichst in links und von rechts ebenso abgelehnt, wie es illu-
Kauf zu nehmen. sionären und unrealistischen Schwärmern die Ge-
folgschaft verweigerte.
Dr. von Brentano (CDU) : Ich möchte hier nur an
die stetige Steigerung der Produktion erinnern, an Aber auch die größte Oppositionspartei hat eine
die Erfüllung des Wohnungsbauprogramms, an die eindeutige politische Niederlage erlitten. Wie im
Erhöhung der sozialen Leistungen. Auf diesen Ge- Jahre 1949 hat das deutsche Volk auch im Jahr 1953
bieten und auf vielen anderen ist unendlich viel das politische Programm der Sozialdemokratischen
mehr geschehen, als manche — auch sehr maßlose Partei Deutschlands abgelehnt mit dem wesent-
— Forderungen von uns verlangt haben. lichen Unterschied, daß diese Ablehnung im Jahr
1953 noch eindeutiger und noch klarer war.
Der Herr Bundeskanzler hat sich dann in seiner
Regierungserklärung auch mit einer Analyse des Der 6. September führte zu einem Vertrauens-
Wahlergebnisses beschäftigt. Ich möchte diese Aus- beweis für den Bundeskanzler und einer Anerken-
führungen ergänzen. In dem Wahlkampf, der hin- nung der von der Regierung und der Regierungs-
ter uns liegt, war sich die gesamte Opposition in koalition geleisteten Arbeit, die nun einmal nicht
einer Forderung einig: daß die Regierung, die in wegdiskutiert werden können. Die Partei des Bun-
den letzten vier Jahren die Verantwortung trug, deskanzlers hat in diesem Hause die absolute Mehr-
gestürzt werden müsse. Die Parole: „Stürzt heit errungen. Damit ist der 6. September zu einem
Adenauer!" war die gemeinsame Forderung aller Erfolg geworden, wie ihn eine Regierung bei einem
politischen Kräfte in der Opposition. So verschieden Wahlrecht, das jede Stimme zählte, nach vier Jah-
auch die programmatischen Ziele der damals nicht ren der Verantwortung wohl selten erzielt hat.
gerade geringen Anzahl , der kleinen und großen Das Ergebnis hat aber auch der deutschen Politik
oppositionellen Gruppen war, in dieser Forderung der kommenden vier Jahre eine feste und gesicherte
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(Dr. von Brentano)
Grundlage gegeben. Das ist nicht nur für die innen- Daran, daß die Opposition die Wahl verloren hat
politische Entwicklung von Bedeutung. Die Ent- und daß das deutsche Volk sich gegen sie ent
scheidung des deutschen Volkes gibt der starken schieden hat, ist nichts zu ändern. Das rechtfertigt —
Mehrheit in diesem Hause auch die Möglichkeit, ich sagte es schon — vielleicht eine Enttäuschung,
eine stete und klare Außenpolitik zu treiben, eine aber keineswegs die Behauptung, daß die demo-
Politik der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit kratische Ordnung ihre Verfechter nur in den
denVölkrfiWt,enPolkdr Reihen der Opposition finde.
Wiedervereinigung mit den heute noch von uns
getrennten Deutschen jenseits des Eisernen Vor- (Sehr richtig! bei den Regierungsparteien!)
hangs, aber auch eine Politik, die das Ziel der Ich hoffe, daß die Arbeit der nächsten Zeit auch den
europäischen Einigung mit erhöhter Intensität ver- letzten Zweifler überzeugen wird. Wir werden
folgen kann. ebenso wie in den vergangenen Jahren hier im
Es scheint mir nicht sehr sinnvoll zu sein, an Deutschen Bundestag nicht diktieren, sondern
diskutieren.
dem Wahlergebnis des 6. September nun zu drehen
und zu deuteln. Man kommt damit nicht weiter, (Sehr gut! in der Mitte.)
meine Damen und Herren, wenn man etwa den Wir werden, wie ich hoffe, gemeinsam um die
Verlust der Wahlkreise in einer großen westdeut- richtige Entscheidung ringen.
schen Stadt darauf zurückführt, daß an diesem Auch das Echo, das diese Wahl im Ausland ge-
Tage eine Herbstmesse stattgefunden habe. funden hat, war oft überraschend und wider-
(Hört! Hört! in der Mitte.) spruchsvoll. Die einen — und ich glaube, es waren
Ein Blick in die statistischen Unterlagen beweist nicht die Schlechtesten — sprachen mit Befriedi-
sehr eindeutig die Sinnlosigkeit einer solchen gung aus, daß das deutsche Volk einen Beweis sei-
Argumentation. Die Ursachen für das Ergebnis des ner politischen Reife erbracht und das Vertrauen
6. September liegen wahrhaftig tiefer. Verlierer gerechtfertigt habe, das man ihm in den letzten
und Gewinner dieser Wahl sollten sich darüber in Jahren entgegenbrachte. Mit vollem Recht wurde
aller Offenheit Rechnung geben. Der deutsche auch festgestellt, daß diese Wahl ein klarer Sieg
Wähler hat sich zur Politik der letzten vier Jahre der europäischen Idee gewesen sei. Andere Kritiker
bekannt. Er hat es abgelehnt, denen zu folgen, die meinten, das Wahlergebnis sei nicht gerade be-
kein klares Ziel aufzuweisen vermochten. Die - Un- ruhigend. Es gab Stimmen, die es als eine ernste
entschlossenheit, die Unklarheit und das Verharren Gefahr für Frankreich interpretierten.
in der Negation waren nicht geeignet, den deut- Lassen Sie mich dem entgegenhalten, was kluge
schen Wähler zu überzeugen. Mit dem Wahlzettel und besonnene Kritiker meinten. In einer großen
hat die überwiegende Mehrheit des deutschen englischen Zeitung las man die Frage — ich glaube,
Volkes die nachdrückliche Forderung erhoben, die sie war mit vollem Recht gestellt —, welches
bisherige politische Linie fortzuführen, und zwar — andere mögliche Ergebnis den Freunden Deutsch-
das möchte ich sehr klar sagen — mit den gleichen lands denn eine größere Sicherheit hätte geben
Mitteln, in der gleichen Weise und auf den gleichen können. Und eine angesehene Zeitung eines
Wegen wie {bisher. neutralen Landes hat sich sehr überzeugend mit
Ebenso eindeutig und klar war aber auch das den „terribles simplificateurs", mit den schreck-
Bekenntnis des deutschen Volkes zu der neuen lichen Vereinfachern auseinandergesetzt, die den
rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung und großen Stimmen- und Mandatsgewinn der
zu der Politik des Friedens und 'der Verständigung. CDU/CSU sehr töricht in eine Parallele zu dem
Um so mehr mußten gewisse Kommentare über- einstigen Aufstieg der NSDAP bringen wollten.
raschen und enttäuschen, die nach dem 6. Septem- Dieser Kritiker stellt mit Recht fest, man müsse
ber veröffentlicht wurden. Ich bedauere es, daß in ganz und gar des Sinnes für Proportionen ent-
Deutschland Stimmen laut wurden, die den Ver- behren, um solche Vergleiche auch nur anzudeuten.
such unternahmen, dieses Wahlergebnis zu ver- (Sehr richtig! in der Mitte.)
fälschen. Es mutet geradezu grotesk an, dem Sieger
dieser Wahl, dem Bundeskanzler Dr. Adenauer, Und er fügt die richtige Feststellung hinzu, daß
politische Absichten zu unterstellen, die das deut- Hitler durch eine nihilistische Opposition und mit
sche Volk selber am 6. September so eindeutig ab- hemmungslosen Versprechungen an die Macht ge-
langte, während der Bundeskanzler Dr. Adenauer
gelehnt hat.
(Sehr gut! in der Mitte.) und seine Partei auf Grund ihrer Rechenschafts-
legung über eine vierjährige Regierungszeit die
Man sprach sogar von einem ersten Schritt in eine absolute Mehrheit im Bundestag errungen haben.
neue totalitäre Politik.
(Sehr gut! und Beifall bei den
(Hört! Hört! und Lachen in der Mitte.) Regierungsparteien.)
Ich verstehe und würdige, daß aus solchen spon- Vielleicht werden Sie fragen, warum ich mich
tanen Äußerungen die tiefe Enttäuschung des Ver-
noch einmal mit solchen kritischen Stimmen aus-
lierers spricht. Aber wer sich zu einer solchen
einandersetze. Meine Damen und Herren, ich muß
unsachlichen Kritik hinreißen läßt, sollte doch be- zu meinem Bedauern feststellen, daß ein konkreter
denken, daß er damit nicht dem deutschen Bundes- Anlaß dazu vorliegt, den hier zur Diskussion zu
kanzler, sondern dem deutschen Volk Schaden stellen mir gar nicht einmal leicht fällt. In der
zufügt. französischen sozialistischen Zeitung „Le Populaire"
(Beifall bei den Regierungsparteien.) hat das Vorstandsmitglied der Sozialdemokratischen
Es muß hier eindeutig festgestellt werden, daß die Partei Deutschlands, Herr Fritz Heine, eine Artikel-
Mehrheit in diesem Parlament in der Hand von serie veröffentlicht, die in den Nummern vom
Demokraten liegt, die sich dagegen verwahren 3., 5. und 6. Oktober erschienen ist. Herr Fritz
müssen, wenn man ihre Absichten und ihre Ge- Heine setzt sich in diesem Beitrag mit dem Wahl-
sinnung anzweifelt. ergebnis, mit seinen Ursachen und mit seinen mög-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) lichen Folgen auseinander. Ich würde es dankbar
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(Dr. von Brentano)
begrüßen, wenn der Sprecher der sozialdemokra- Und er fährt dann fort, und dafür erbitte ich Ihre
tischen Fraktion sich ebenfalls mit dieser Ver- besondere Aufmerksamkeit, meine Damen und
öffentlichung beschäftigen und uns sagen würde, Herren:
inwieweit seine Partei und seine Fraktion sich mit Während die Opposition im Laufe der letzten
diesen Ausführungen identifizieren. zehn Tage des Wahlfeldzugs sich nicht über
(Sehr richtig! in der Mitte.) den Rundfunk an die Wähler wenden konnte,
Ich verschweige nicht, daß meiner Überzeugung (Hört! Hört! bei den Regierungsparteien)
nach von der Antwort auf diese Frage sehr viel hatten Dr. Adenauer und Wirtschaftsminister
abhängen wird, ob es in diesem zweiten Bundestag Dr. Erhard von der CDU das Monopol dieser
mehr als im ersten möglich sein wird, zu einer Propagandamittel während dieser entscheiden-
gemeinsamen Außenpolitik in den Fragen zu kom- den Tage.
men, von deren Lösung das Schicksal des ganzen (Lachen bei den Regierungsparteien; Zurufe
deutschen Volkes nach unserer Überzeugung ab- von der Mitte: Der Heine war verreist! —
hängt. Da biegt sich ja die B an k!)
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Meine Damen und Herren, ich glaube, ich kann mich
Zurufe von der SPD.) mit der Feststellung begnügen, daß der Versuch,
Ich glaube sagen zu dürfen, daß nicht einmal die ausgerechnet die deutschen Rundfunkgesellschaften
Märchenbeilage einer kleinen deutschen Provinz einer einseitigen Parteinahme für die Politik der
zeitung einen solchen Beitrag veröffentlicht hätte. CDU zu bezichtigen, wirklich fehl am Platze ist.
(Sehr gut! und Beifall in der Mitte.) (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Im übrigen erlaube ich mir hinzuzufügen, daß die
Ich möchte nicht alles zitieren, aber Herr Fritz deutschen Rundfunkgesellschaften mit den Leitun-
Heine stellt in seinem Artikel unter der Überschrift gen der politischen Parteien über die Zuteilung
„Die Wahlkampagne, ein Haßfeldzug gegen die von Sendezeiten an diese Parteien während der
Sozialisten" unter anderem fest: letzten vier Wochen vor der Wahl klare und ein-
In Tausenden von Orten wagten die Sozial- deutige Vereinbarungen getroffen haben. Von ins-
demokraten nicht, zuzugeben, daß sie Mit- gesamt 332 Sendungen wurden der CDU/CSU 87
glieder oder Anhänger der SPD waren. zugeteilt.
-
(Lachen bei den Regierungsparteien.) (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, ich frage mich wirklich, Ich nehme an, daß diese Vereinbarung sogar die
wo Herr Fritz Heine eigentlich die Monate Juli und Unterschrift des Herrn Fritz Heine trägt.
August des Jahres 1953 verbracht hat. Hier wird An anderer Stelle — und das ist das letzte Zitat,
eindeutig den Parteien, die diese Wahl gewonnen das ich bringe — heißt es:
haben, unterstellt, sozialdemokratische Wähler mit Ehemalige Naziführer forderten die Wähler
brutalen Mitteln terrorisiert zu haben. auf, nicht für die kleinen Splittergruppen,
(Zurufe von der SPD: Das stimmt!) sondern für die Regierungsparteien zu stim-
Dabei konnte wohl jeder ruhige und einigermaßen men. Es läßt sich schwer beurteilen, wieviele
unvoreingenommene Beobachter feststellen, daß Wähler sich durch diese Losungen beeinflussen
diese Wahl bei aller Leidenschaftlichkeit der ließen. Es ist jedoch gewiß, daß die CDU/CSU
politischen Auseinandersetzung sich in einer vor allem die Stimmen der Parteien der
Atmosphäre der Ruhe vollzogen hat, die geradezu äußersten Rechten gewonnen hat, ferner der-
bewundernswert war. jenigen, die früher nicht wählten, oder der-
jenigen, die für die Nazis stimmten.
(Sehr richtig! bei den Regierungsparteien.
— Zurufe von der SPD.) Zunächst einmal bin ich — und lassen Sie mich das
offen sagen — der Meinung, daß man endlich mit
Heine widerspricht sich übrigens. Ich glaube zu dieser häßlichen Gesinnungsschnüffelei aufhören
wissen, daß er wenige Tage nach der Wahl noch sollte,
erklärt hat, der Propagandaapparat der Sozial- (Sehr gut! in der Mitte)
demokratischen Partei Deutschlands habe bis in
die letzte der 20 000 deutschen Ortschaften hinein auszurechnen, wem vielleicht der nominelle Partei-
geklappt. genosse Müller oder Schmidt seine Stimme ge-
geben hat.
(Hört! Hört! und Lachen bei den (Sehr richtig!)
Regierungsparteien.)
Und ich meine, wir sollten alle froh sein, daß diese
Im übrigen verraten solche Äußerungen auch sehr Stimmen den aufbauwilligen und demokratischen
wenig Einsicht, meine Damen und Herren. Wenn Parteien in diesem Hause zugeflossen sind.
frühere Anhänger der Sozialdemokratischen Partei (Beifall bei den Regierungsparteien.)
am 6. September nicht diese SPD wählten, dann
war das nicht ein Zeichen der Furcht vor einem Es ist uns . gelungen, und mit Erfolg gelungen,
nicht vorhandenen Terror, aber vielleicht ein wie die Zusammensetzung dieses Hauses zeigt, den
Zeichen der Furcht davor, daß die SPD die Regie- Ungeist des Nationalsozialismus, der im letzten
rung übernehmen würde. Bundestag doch noch in vereinzelten Exemplaren
hier im Parlament auftrat, aus diesem Hause zu
(Sehr gut! und Beifall bei den verbannen. Aber, meine Damen und Herren, auch
Regierungsparteien.) Herr Fritz Heine sollte wissen, daß auf allen
An anderer Stelle schreibt Herr Fritz Heine: Bänken dieses Hauses Frauen und Männer sitzen,
Die Bundesregierung hat gewissenlos Steuer- die sich mutig und zum Teil unter Einsatz ihres
mittel ausgegeben und für reine Propaganda- Lebens gegen die Verbrechen des unseligen Nazi-
zwecke die Beamten der verschiedenen Mini- regimes zur Wehr gesetzt haben.
sterien eingesetzt. Sie hat ihre Befugnisse in (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien;
schockierender Weise mißbraucht. Zurufe von der SPD.)
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(Dr. von Brentano)
Wenn ein maßgeblicher Politiker für eine große Parteien-Regierung gebildet. Sie will schon gar
demokratische deutsche Partei in einer ausländi- nicht und unter gar keinen Voraussetzungen einen
schen Zeitung, die die Richtigkeit nicht zu kon- Ein-Parteien-Staat. Die Koalition ist auf eine noch
trollieren vermag, derartige subversive Behaup- breitere Basis gestellt worden, und wir werden ge-
tungen aufstellt, dann sollte er sich darüber klar meinsam die Politik weiter verfolgen, die in den
sein, daß er damit die Vertrauensgrundlage er- letzten vier Jahren von der Koalition begonnen
schüttert, die die unerläßliche Voraussetzung einer wurde. Diese eindeutige Absage meiner Partei an
jeden Aufbauarbeit in der deutschen Politik sein eine Ein-Parteien-Regierung und der Entschluß, die
muß. Koalition zu erweitern, sollten die Öffentlichkeit,
(Sehr richtig! bei den Regierungsparteien.) aber auch die Welt davon überzeugen, daß die ver-
antwortlichen Männer dieser Partei mit Besonnen-
Er schadet damit dem deutschen Volk. Ich meine, heit an ihre Aufgaben herangehen und weit davon
es müßte die gemeinsame Aufgabe von uns allen entfernt sind, ihre Vollmachten zu mißbrauchen.
in diesem Hause sein, solche Schäden vom deut- Meine Damen und Herren! Wenn wir von der
schen Volk fernzuhalten und dazu beizutragen, daß Zusammenarbeit sprechen, dann sollten wir uns
die demokratische Ordnung erhalten wird und sich daran erinnern, daß jedes menschliche Zusammen-
entfalten kann, aber nicht zerstört wird. leben von der Achtung abhängt, die wir einander
Meine Damen und Herren! Ich habe im übrigen entgegenbringen.
den Feststellungen, die auch der Herr Bundes- (Hört! Hört! bei der SPD.)
kanzler über das Wahlergebnis getroffen hat, nichts Das gilt vom Zusammenleben im Staat ebenso wie
mehr hinzuzufügen, und ich glaube, daß die Praxis in anderen Ordnungsbereichen. Diese Achtung be-
der nächsten vier Jahre auch noch manchen Zweif- ruht, wie wir glauben, auf der Anerkennung der
ler überzeugen wird, vielleicht sogar den einen Würde des Menschen. Er ist Sinn und Ziel jeder
oder anderen derjenigen, die hier im Hause sitzen. politischen Arbeit, und niemals kann es eine Institu-
Meine Damen und Herren! Wir in der Fraktion tion sein, die diese Stellung für sich beanspruchen
der CDU/CSU wissen sehr wohl, daß die Entschei- könnte, am wenigsten der Staat. Staat, Gesellschaft
dung vom 6. September uns nicht nur eine außer- und Wirtschaft sind des Menschen wegen da und
gewöhnliche Vollmacht erteilt, sondern uns auch nicht umgekehrt. Wer so vom Menschen denkt und
außergewöhnliche Verpflichtungen auferlegt hat. ihn in den Mittelpunkt des Geschehens stellt,
- der achtet seinen Wert, seine Würde, seine
Wir können mit einem berechtigten Stolz fest-
stellen, daß wir das Vertrauen gerechtfertigt haben, Freiheit und sein Gewissen. In der Aner-
das das deutsche Volk uns am 14. August 1949 kennung der menschlichen Persönlichkeit liegt
ausgesprochen hat. auch das Bekenntnis zu echter Toleranz, die,
ohne die eigene Überzeugung preiszugeben,
(Abg. Baur [Augsburg]: Da habt Ihr doch die Überzeugung des anderen achtet. Es ist
selber nicht dran geglaubt!) die Aufgabe nicht nur des einzelnen, sondern —
— Ja, wir haben uns vom Wähler überzeugen vergessen wir es nicht — auch die Aufgabe des
lassen, weil wir Demokraten sind, Herr Kollege! Staates, diese Toleranz zu üben und ihre praktische
(Beifall und Heiterkeit in der Mitte Verwirklichung zu sichern. Aber dieses Bekenntnis
und rechts.) zu praktischer Toleranz rechtfertigt auch die For-
derung nach ihrer Verwirklichung auf allen Be-
Sie dürfen überzeugt sein, daß wir alles tun reichen.
werden, um auch in den nächsten vier Jahren eine Dieses Bekenntnis möchte ich interpretieren;
Arbeit zu leisten, mit der wir nach Abschluß der denn manchmal wird es dahin mißverstanden, daß
Legislaturperiode wieder vor dem deutschen Volk Toleranz ein Ausdruck der Grundsatzlosigkeit sein
bestehen könn en : müsse. Wer die Meinung des anderen für ebenso
Und ich richte hier den wirklich ehrlichen und richtig hält wie die eigene, bekennt sich nicht zur
aufrichtigen Appell auch an die Opposition, sich Toleranz, sondern zur Wertneutralität. Eine echte
dieser Arbeit nicht zu entziehen. Es ist nicht meine Toleranz muß sich im Gebaren zeigen, aber nicht
Aufgabe und auch nicht meine Absicht, meine in der Gesinnung. Das gilt für die Zusammen-
Damen und Herren, der Opposition Vorschriften arbeit im Parlament, in der Koalition und mit
oder Vorschläge zu machen. Das stünde mir nicht der Opposition. Aber wenn ich das vorausgeschickt
zu. Aber ich begnüge mich damit — und das wird habe, dann deswegen, um anzuschließen, daß nach
man mir gestatten müssen —, aus der Rede des unserer Überzeugung der besondere Auftrag, der
Sprechers der Opposition in der Sitzung vom den Parteien der Christlich-Demokratischen und
21. September 1949 einen Satz zu zitieren: Christlich-Sozialen Union am 6. September erteilt
worden ist, uns auch besondere Verpflichtungen
Es ist richtig, daß die Opposition sich nicht in auferlegt: nämlich die Vorstellungen und Gedan-
der bloßen Verneinung der Regierungsvor- ken zu verwirklichen, die wir in diesen Parteien
schläge erschöpfen kann. Das Wesen der Oppo- vertreten. Das Hamburger Programm, das die
sition ist der permanente Versuch, an konkre-
Christlich-Demokratische Union zur Einleitung des
ten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen
Wahlkampfes beschlossen hat und das in seinen
der Regierung und ihren Parteien den positi- programmatischen Forderungen wohl in jedem
ven Gestaltungswillen der Opposition aufzu-
einzelnen Punkte auch mit den Vorstellungen mei-
zwingen.
ner politischen Freunde aus der CSU überein-
An dieser Art der Mitarbeit — dessen dürfen Sie stimmt, ist durch die Wahl vom 6. September nicht
sicher sein — wird niemand im Hause die Opposi- überholt, sondern hat an diesem Tage seine be-
tion hindern. sondere Bedeutung erlangt.
Ich sagte, meine Damen und Herren, daß die (Sehr richtig! bei der CDU.)
Fraktion der CDU/CSU eine wenn auch knappe Das soll keineswegs heißen, daß wir nun mit
Mehrheit in diesem Hause besitzt. Sie hat daraus einem unpolitischen Dogmatismus an die Arbeit
keine Konsequenzen gezogen. Sie hat keine Ein gehen. Wohl aber soll diese Feststellung bedeuten,
28 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. von Brentano)
daß diese programmatischen Forderungen für die In diesen Bereich gehört auch der Ausbau einer
nächsten vier Jahre auch die Richtschnur für unsere neuen Sozialordnung. Wir haben mit den beiden
politische Initiative und das Kriterium für unsere großen Gesetzen — dem Gesetz über das Mitbe-
politischen Entscheidungen sein werden. stimmungsrecht im Bereich der Grundstoffindustrie
(Beifall bei der CDU.) und dem Gesetz über das Betriebsverfassungsrecht
— einen guten Anfang gemacht, wenn ich auch
Ich möchte meinen politischen Freunden nicht nicht verschweige, daß die Durchführung des erst-
vorgreifen, die in der Diskussion nach mir spre- genannten Gesetzes uns enttäuscht hat.
chen und sicherlich einzelne Arbeitsgebiete behan-
deln werden. Aber zu einigen Fragen lassen Sie (Zustimmung bei der CDU/CSU.)
mich wenigstens kurz einiges ausführen. Wir sollten aber bald darangehen, auch die weite-
Die eindeutige Feststellung, von der ich sprach, ren institutionellen Voraussetzungen für eine Zu-
führt zunächst auf dem Gebiet der Wirtschafts- sammenarbeit aller am wirtschaftlichen Leben Be-
politik zum klaren Bekenntnis zur sozialen Markt- teiligten zu schaffen. Ich meine, daß wir beispiels-
wirtschaft. Durch diese Form der Wirtschaftsord- weise die Diskussion über die Errichtung eines
nung haben wir die produktiven Kräfte des Volkes Organes wieder aufnehmen sollten, das ich als Bun-
von den Lähmungen der Zwangswirtschaft und von deswirtschaftsrat bezeichnen möchte,
den Fesseln bürokratischen Zwanges befreit und (Abg. Albers: Sehr richtig!)
durch einen echten Leistungswettbewerb zur Ent- ohne damit in den Vorstellungen des alten Reichs-
faltung gebracht. Ich unterstreiche allerdings dabei wirtschaftsrates haften zu bleiben.
auch die Worte: echter Leistungswettbewerb. Denn
in dieser Wirtschaftsordnung darf die wertbestim- (Erneute Zustimmung in der Mitte.)
mende und preisgestaltende Funktion des Ver- Wir sehen als Beteiligte nicht etwa nur Arbeitneh-
brauchers nicht willkürlich verkümmert werden. mer und Unternehmer an. Ich meine, wir sollten
Dabei wissen wir wohl, daß gerade der Bereich uns überhaupt von der etwas zu simplen Formu-
der Wirtschaftspolitik weniger als andere Bereiche lierung lösen, die nur diese beiden Personengrup-
des öffentlichen Lebens geeignet ist, nach starren pen als Sozialpartner anspricht.
dogmatischen Formeln gestaltet zu werden. Be- (Zustimmung bei der CDU.)
weglichkeit, Anpassungsfähigkeit und Geschmeidig-
keit sind unerläßliche Voraussetzungen - für eine In den Rahmen einer solchen, die Sozial- und Wirt-
sinnvolle Ordnung in der Wirtschaft. Das gilt um schaftsordnung mitgestaltenden Institution gehören
so mehr, als ja die deutsche Volkswirtschaft nur alle, deren wirtschaftliche Interessen berührt sind,
einen Teil der großen internationalen Wirtschaft also auch Landwirtschaft, Handel, Handwerk, freie
darstellt, mit der wir erfolgreich die Zusammen- Berufe und Verbraucher. Wir sollten diesen Grup-
arbeit aufgenommen haben, um sie weiter zu ent- pen die Möglichkeit eröffnen, am Ausbau der So-
wickeln. Das bedingt, ja verlangt sogar zum min zial- und Wirtschaftsordnung mitzuarbeiten. Wir
Besten so lange eine Anpassung an die wirtschafts- werden damit vielleicht manche Diskussion in die-
politische Praxis der anderen, als nicht in größe- sem Hause ersparen. Selbstverständlich denke ich
rem Rahmen eine Übereinstimmung herbeigeführt dabei auch an die Mitarbeit des Deutschen Ge-
werden kann. werkschaftsbundes, von dem wir allerdings hof-
Unsere Sozialpolitik nun, meine Damen und fen, daß er sich in Zukunft wieder zu einer echten
Herren, ist nicht etwa ein Anhängsel an die soziale parteipolitischen Neutralität und zu einer echten
Marktwirtschaft; sie ist vielmehr deren Ziel. Las- Toleranz im geistigen Bereich zurückbesinnen
sen Sie mich hier einen Satz vom Hamburger Par- wird.
teitag zitieren, den damals mein Freund Albers (Beifall in der Mitte. — Abg. Mellies:
ausgesprochen hat: Das sollten alle bedenken!)
Die Christlich-Demokratische Union ist der Meine Damen und Herren, die menschliche Exi-
politische Standort der vielen, die vom Geiste stenz, ja sogar die menschliche Würde sind be-
der christlich-sozialen Bewegung beseelt sind. droht durch die kollektivistischen Tendenzen in
Sie ist aber mehr. Sie ist die Hoffnung jener, unserer Zeit, die in einigen politischen Bereichen
die der Hilfe der Gemeinschaft bedürfen und nicht weit von uns so erschreckend ihren Aus-
die ihre Sorgen und Anliegen vertrauensvoll druck finden. Deswegen glauben wir, daß wir einer
in unsere Hände gelegt haben. Und so erwächst solchen Entwicklung vorbeugen müssen, um nicht
immer wieder für uns die Verpflichtung, nie die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß sie
zu erlahmen in der Sorge für alle, die noch uns überraschen könnten. Wir glauben, daß es
auf der Schattenseite des Lebens stehen. Wir eine der wichtigsten Forderungen ist, die wir auf-
wollen ihre Sorgen zu unseren Sorgen machen. stellen sollten: Eigentum für alle Schichten unse-
Meine Damen und Herren, ich unterstreiche das, res deutschen Volkes zu schaffen. Persönliches
und wir wollen in dieser Arbeit fortfahren; denn Eigentum fördert eine verantwortungsvolle Lebens-
wir wissen, daß auch die großen und unbestreit- führung des Menschen und seiner Familie. Je mehr
bar erfolgreichen Anstrengungen, die in der ver- Eigentümer wir haben, desto ausgewogener wird
gangenen Legislaturperiode unternommen wurden, auch das soziale Gefüge, desto gesicherter der
um die echte soziale Not zu lindern, sie noch nicht soziale Friede und desto sicherer auch die Unab-
völlig zu beseitigen vermochten. Auf diesem Ge- hängigkeit des einzelnen von totalitären Einflüs-
biet ist noch ein echter Aufgabenbereich für die sen und Bestrebungen.
Arbeit der nächsten vier Jahre offen. Ich denke (Beifall in der Mitte.)
in erster Linie an die alten und berufsunfähigen
Menschen, die nach einem arbeitsreichen Leben Allerdings sind für uns — und auch das sage ich
Anspruch darauf haben, daß ihnen die Sorge um eindeutig und klar — Verstaatlichung und so-
das Dasein von denen abgenommen wird, denen zialistisches Gemeineigentum keinesfalls eine echte
sie ihre Lebensarbeit gewidmet haben. Lösung der sozialen Frage.
(Zustimmung in der Mitte.) (Erneuter Beifall in der Mitte.)
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 29
(Dr. von Brentano)
Dagegen kann das Miteigentum am Betriebe viel- ist, könnte man aus der Nichterwähnung dieses Ge-
leicht eine besondere Form sein, dem sozialen Aus- genstandes in der Regierungserklärung zu dem
gleich zu dienen und jenseits von Kapitalismus und unrichtigen Schluß kommen, daß die Bundesregie-
jenseits von Sozialismus die soziale Ausgestaltung rung sich der Wichtigkeit und Dringlichkeit dieser
auch der Marktwirtschaft zu verwirklichen. Aufgabe nicht bewußt wäre, Die Angelegenheit ist
Ich habe es begrüßt, daß der Herr Bundeskanzler um so dringlicher, als in der Rechtsprechung strei-
in seiner Erklärung — als er von der Sorge für tig geworden ist, ob die Sperre des Art. 117 des
die Menschen sprach — auch auf die Jugend zu Grundgesetzes noch in Kraft ist oder nicht. Einer-
sprechen kam. Meine Damen und Herren, es ist lei, wie die Frage zu entscheiden ist, ich glaube,
ein physiologisches Gesetz, das auch in jeder staat- wir sind uns alle darüber einig, daß die Gerichte
lichen Ordnung gilt, daß nun einmal die Jugend bis zur Regelung dieser Frage vor geradezu un-
von heute das Alter von morgen ist. Die Berufs- lösbaren Aufgaben stehen, die ihre Kräfte und ihre
ausbildung der jungen Menschen zu fördern, die Zuständigkeit bei weitem übersteigen. Der Gegen-
heimatlos gewordenen Jugendlichen einzugliedern, stand ist von so grundsätzlicher und einschneiden-
den jungen Menschen Aufstiegsmöglichkeiten zu der Bedeutung, daß die Lösung nicht überstürzt
eröffnen, sind Aufgaben, die, wenn wir auch kei- werden darf. Man wird deshalb bald zu prüfen
neswegs in die Zuständigkeiten der Länder ein- haben, ob zur Beseitigung der einfach unerträglichen
greifen wollen, auch die Förderung des Bundes ge- Rechtsunsicherheit auf allen diesen Gebieten eine
nießen müssen. Die besondere Verantwortung und zeitlich begrenzte Verlängerung bzw. Wieder-
Verpflichtung auf diesem Gebiete ergibt sich oben- inkraftsetzung der Regelung des Art. 117 erfolgen
drein aus der Tatsache, daß nach den Feststellun- muß.
gen der statistischen Ämter gerade die überwie- (Abg. Frau Dr. Weber [Aachen] : Sehr
gende Zahl der jungen Wähler der Christlich-De- richtig! — Abg. Mellies: Hört! Hört!)
mokratischen und Christlich-Sozialen Union ihre Zur Sache selbst ist zu sagen, daß bei der An-
Stimme gegeben und damit ihr Vertrauen bekun- passung des Familienrechts an die von uns be-
det haben. Wir dürfen dieses Vertrauen nicht ent- jahte Gleichberechtigung von Mann und Frau die
täuschen. natürliche Ordnung der Familie und Ehe Aus-
(Beifall in der Mitte.) gangspunkt und Richtschnur sein muß. Art. 6 des
Der Herr Bundeskanzler hat auch von den schwe- Grundgesetzes, in dem es heißt, daß Ehe und Fa-
ren Gefahren gesprochen, die dem Volke bei einer milie unter dem besonderen Schutz des Staates
weiteren sozialen Verkümmerung der geistigen und stehen, steht gleichberechtigt neben Art. 3 des
künstlerischen Berufe erwachsen müssen. Gerade Grundgesetzes. Unter dem Gesichtspunkt der
hier sollten wir auch nicht mit den nötigen Maß- Gleichberechtigung sollte nichts geschehen, was
nahmen zögern, von denen schon die Regierungs- Ehe und Familie gefährden kann. Es muß vielmehr
erklärung sprach. Wir müssen dazu beitragen, die alles getan werden, um diese Institutionen zu
wirtschaftliche Stellung und damit auch die wirt- stützen und zu stärken.
schaftliche Existenz gerade dieser Berufe zu (Beifall in der Mitte.)
sichern. Ich denke hier ebenso an die freien Berufe Meine Damen und Herren, eine besondere Auf-
wie an Hochschullehrer und Träger der wissen- gabe möchte ich auch noch nennen, die uns durch
schaftlichen Forschung. Wenn unsere wissenschaft- das Problem der Heimatvertriebenen und Flücht-
liche Forschung nicht den Vorsprung aufzuholen linge gestellt ist. Gerade die CDU/CSU hat auch
vermag, den andere Länder in den letzten zwanzig hier am 6. September eine besondere Verpfichtung
Jahren gewonnen haben, wird das ganze deutsche übernommen; denn wir wissen, daß es mindestens
Volk den Schaden zu tragen haben. 50 Prozent der Heimatvertriebenen und Flücht-
(Zustimmung in der Mitte.) linge sind, die uns an diesem Tage ihre Stimme
Wer über die Entwicklung auf den deutschen Uni- gegeben und ihr Vertrauen bekundet haben.
versitäten und Hochschulen Bescheid weiß und sich (Beifall bei der CDU.)
dann über das berichten läßt, was sich auf aus- Alle diese Menschen — wir wissen es — sind durch
ländischen Hochschulen und Universitäten ereignet, die politische Entwicklung der Vergangenheit aus
nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten von Ame- ihren echten, organischen Bindungen herausgeris-
rika, der muß mit Sorge zusehen, daß dieser Vor- sen worden. Ganze Volksgruppen, die durch Jahr-
sprung von Tag zu Tag, ich möchte sagen, von hunderte ihr kulturelles Eigenleben geführt und
Stunde zu Stunde sich vergrößert. Wenn wir hier entwickelt haben, sind aufgelöst und zerstreut.
nicht auch vom Bunde aus helfend eingreifen, ich Diesen Menschen ihre materielle Lebensgrundlage
glaube, dann versündigen wir uns tatsächlich an zu ersetzen, ist unmöglich; noch unmöglicher ist
der Zukunft unseres deutschen Volkes. es, ihnen das zu erstatten, was sie durch den Ver-
(Beifall in der Mitte.) lust der Heimat und durch den Verlust der geisti-
Wenn wir von der Sorge für den Menschen, von gen Werte, die sie mit der Heimat verbunden ha-
der Sorge für den jungen Menschen und damit ben, eingebüßt haben. Wir können mit großer Be-
von der Sorge für die Familie sprachen, dann friedigung feststellen, daß doch eine beträchtliche
möchte ich hier der Bundesregierung auch noch Anzahl von Vertriebenen und Flüchtlingen wieder
eine besondere Bitte mit auf den Weg geben. Wir die ersten Grundlagen einer neuen Existenz zu
müssen in diesem Zusammenhang eine Aufgabe schaffen vermochten und daß sie sich nicht mehr als
erwähnen, deren Lösung an sich schon dem letzten unerwünschte Eindringlinge fühlen müssen. Auch
Bundestag aufgegeben war: die Angleichung des wenn die Erinnerung an die Heimat und der heiße
Rechts, insbesondere des Familienrechts, an den Wunsch, sie wiederzusehen, nicht schwinden wer-
Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und den, — Millionen von Menschen haben doch in
Frau. Wenn man nicht wüßte, daß im zuständigen ihrer neuen Heimat wieder Boden unter den Füßen
Fachministerium die Arbeiten für die Vorlage des gewonnen und wissen, daß sie gleichberechtigte
Gesetzes so gut wie abgeschlossen sind und des- Bürger dieses Staates sind. Das ist auch der Poli-
halb mit seiner baldigen Einbringung zu rechnen tik der letzten vier Jahre, die hier im Hohen Hause
30 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. von Brentano)
beschlossen wurde, zu verdanken, die all das Die außerordentliche politische Bedeutung, die
schwere Leid natürlich nicht ungeschehen machen einem guten Wahlgesetz zukommt, möchte ich hier
kann, wohl aber diesen Menschen das Gefühl noch einmal unterstreichen, ohne damit etwa eine
einer neugewonnenen existentiellen Sicherheit und Diskussion über dieses Problem zu eröffnen. Ich
die Überzeugung vermittelt, daß ihnen echte Mög- verschweige allerdings dabei nicht, daß die Christ-
lichkeiten gegeben werden. Aber gerade das Ver- lich-Demokratische und Christlich-Soziale Union
trauen dieser Millionen von Menschen verpflichtet nach wir vor das Personen- und Mehrheitswahl-
uns, sie auch in den nächsten Jahren nicht zu ent recht anstrebt.
täuschen, sondern von uns aus die Initiative zu (Beifall bei der CDU/CSU.)
ergifn,dwachtusernFd
Kollegen aus dem Kreis der Heimatvertriebenen Wir sind überzeugt, daß es wie kein anderes eine
überlassen dürfen und wollen, von uns aus diese echte politische Willensbildung fördert und der
Initiative zu ergreifen, um diesen Eingliederungs- Zersplitterung auch ohne mechanistische Mittel
prozeß auf allen Gebieten mit dem größten Nach- entgegenwirkt. Wir glauben, daß es die echte, klare
druck zu fördern, damit — ich hoffe es — nach Verantwortlichkeit schafft, die Gewählte und Wäh-
vier Jahren das Problem der Heimatvertriebenen ler verbinden sollte.
in der politischen Diskussion keine Rolle mehr
spielen wird mit Ausnahme der einen, daß diese Wenn wir uns in dieser Weise mit den Aufgaben
Menschen auch nach vier Jahren in der gleichen beschäftigen, die dem neuen Bundestag auch für
Weise an ihre Heimat denken werden wie heute. die kommenden Jahre gestellt sind, dann wird uns
wieder mit schmerzlicher Klarheit deutlich, daß
(Beifall in der Mitte.) Millionen deutscher Frauen und deutscher Männer
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein noch immer daran gehindert sind, an dieser Auf-
Wort zu denen sagen, die heute noch darauf war- bauarbeit teilzunehmen. Diese für das ganze deut-
ten, ihre Heimat und ihre Familie wiederzusehen. sche Volk so unerträgliche Trennung zu beseitigen,
Ich glaube, das ganze deutsche Volk war in den muß immer wieder im Mittelpunkt aller unserer
vergangenen Wochen in einer echten inneren Be politischen Erwägungen stehen.
wegung, als wir hörten, daß viele tausend Kriegs-
gefangene aus der Sowjetunion zurückkehrten, (Beifall in der Mitte.)
Menschen, die zehn und mehr Jahre auf diesen Tag Schon in der ersten großen politischen Debatte im
gewartet hatten. Ich möchte in dieser Entscheidung -
Deutschen Bundestag im Jahre 1949 haben Bundes-
der Sowjetunion das erste Zeichen erblicken, sich regierung und Parlament auf diese Tragik hinge-
von den harten und unmenschlichen Methoden ab- wiesen und die Forderung erhoben, Deutschland
zukehren, die das deutsche Volk seit Jahren leiden- die Einheit wiederzugeben. Regierung und Parla-
schaftlich verurteilt hat, und ich kann nur den ment haben sich zu Sprechern der 18 Millionen
Wunsch wiederholen, den auch der Herr Bundes Deutschen in der sowjetisch besetzten Zone
kanzler in seiner Regierungserklärung zum Aus Deutschlands gemacht, und sie haben erklärt, daß
druck gebracht hat, daß damit eine Aktion begon- sie alles daran setzen würden, das deutsche Volk
nen, aber hoffentlich nicht abgeschlossen wurde. m
wieder zu vereinigen. Bis auf die wenigen Sti
(Beifall in der Mitte.) men, die jetzt nach dieser Wahl auch hier im Bun-
Aber auch dort, meine Damen und Herren, wo destag verstummt sind, waren wir uns über dieses
vielleicht individuelle Schuld noch zu sühnen ist, Anliegen immer einig. Es ist darum unsere Pflicht,
sollte man sich die ernste` Frage vorlegen, ob nicht auch diese erste Debatte nicht vorübergehen zu
endlich der Zeitpunkt gekommen ist, vom Recht lassen, ohne ein Wort des Grußes und der tiefen
der Gnade auch dann Gebrauch zu machen, wenn menschlichen Verbundenheit an unsere Mitbürger
bisher die Vorstellung des Rechts noch im Wege in der sowjetisch besetzten Zone zu richten. Sie
stand. leben noch immer von uns getrennt in der Unfrei-
heit. Daß hier kein Wandel eingetreten ist, ist nicht
Denen, die inzwischen heimkehren durften, ver- Schuld des deutschen Volkes.
sichere ich auch für die Fraktion der CDU/CSU,
daß wir alles tun werden, um gerade ihnen durch Am 17. Juni haben mutige Männer und Frauen
die Tat zu beweisen, daß die Heimat auf sie ge- uns in der Bundesrepublik und in der ganzen Welt
wartet, aber sie niemals vergessen hat. gezeigt, daß sie in der Hoffnung auf Freiheit leben.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Mehr als 600 Menschen haben dieses Bekenntnis
zu ihrem deutschen Vaterland und zur Freiheit
Meine Damen und Herren! Ich möchte, wie ich mit ihrem Leben bezahlt, viele Hunderte und viel-
schon sagte, nicht mehr einzelne Bereiche anschnei- leicht viele Tausende sind verhaftet und zu un-
den; aber eine Frage von hoher politischer Bedeu- menschlichen Freiheitsstrafen verurteilt worden.
tung muß ich ansprechen: das künftige Wahlge- Ihrer unterschrockenen und mutigen Haltung ist es
setz. Der letzte Bundestag hat ein Wahlgesetz be- nicht zuletzt zuzuschreiben, daß die ganze Welt
schlossen, das nur für diese Wahl Gültigkeit hatte. wieder wachgerüttelt wurde. Ihr Bekenntnis zur
Wir müssen daher diese gesetzgeberische Aufgabe Freiheit ist unter dem Einsatz von Panzern und in
in Angriff nehmen, und wir sollten es so rasch den Gefängnissen und Zuchthäusern verstummt.
wie möglich tun. Aber vielleicht spricht gerade dieses erzwungene
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Schweigen jetzt eine noch lautere Sprache als vor-
Die Erfahrungen im letzten Bundestag haben uns her.
allen doch gezeigt, daß die Voraussetzungen für Mit Dankbarkeit und mit Befriedigung stelle ich
eine echte und sachliche Auseinandersetzung nicht allerdings fest, daß die freie Welt dieses Anliegen
oder nur in beschränktem Maße gegeben sind, wenn des deutschen Volkes inzwischen zu dem eigenen
die Ausrechnung von Erfolgschancen und wahl- gemacht hat, und ich meine, wenn die Bundes-
arithmetischen Erwägungen die sachliche Entschei- regierung in den letzten Jahren keinen anderen
dung behindert. Erfolg aufzuweisen hätte als dieses Bekenntnis
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) zur Mitarbeit an der Verwirklichung dieser Schick-
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 31.
(Dr. von Brentano)
salsfrage des deutschen Volkes, dann wäre diese regierung niemals bereit sein werden, die soge-
Politik der vergangenen Jahre schon gerechtfertigt. nannte Oder-Neiße-Linie anzuerkennen.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Das, was uns angeht, hat der Herr Bundeskanz- Das Recht der deutschen Menschen auf ihre Heimat
ler an den Särgen der Toten des 17. Juni in Berlin auch jenseits der Oder-Neiße-Linie ist unverzicht-
gesagt: „Wir werden nicht ruhen und wir werden bar. Das auszusprechen scheint mir gerade jetzt
nicht rasten, bis ganz Deutschland wiedervereinigt notwendig, nachdem die Sowjetunion ihrer
ist in Frieden und in Freiheit." Deutschlandnote vom August 1953 erneut die be-
Leider hören wir noch Äußerungen, die uns zei- kannten Grundzüge eines Entwurfs für einen Frie-
gen, daß man dieses Anliegen des deutschen Vol- densvertrag mit Deutschland beigefügt hat, in
kes nicht überall versteht oder verstehen will. denen es heißt: „Das Gebiet Deutschlands ist durch
Es ist widersinnig und unrecht, diesen einheitlichen die Grenzen festgelegt, die von den Großmächten
Wunsch aller Deutschen als den Ausdruck eines auf der Potsdamer Konferenz bestimmt wurden".
falschen Nationalismus auszulegen und Deutschland Die Oder-Neiße-Linie wurde nicht als Grenze fest-
deswegen als Herd der Unruhe zu bezeichnen. Am gelegt. Allerdings kann ich auch hier nicht ver-
wenigsten sollte man uns unterstellen, daß wir die schweigen, daß das demonstrative Schweigen, mit
Zusammenarbeit mit der freien Welt und daß wir dem die Opposition die Feststellung des Bundes-
die Einigung Europas nur zu dem Zweck anstreben, kanzlers vor wenigen Tagen begleitet hat, mich
ein Machtpotential zu schaffen, um dieses Ziel der eigenartig berührt hat.
deutschen Politik mit Gewalt durchzusetzen. Man (Sehr richtig! in der Mitte.)
sollte endlich wissen und verstehen, daß wir Deut- Eine Äußerung der Zustimmung zu einer klaren
schen die Grauen eines Krieges zur Genüge ken- programmatischen Forderung des ganzen deutschen
nengelernt haben und daß wir uns der Verpflich- Volkes, die auch in diesem Hause niemals Gegen-
tung gerade gegenüber dem eigenen Volke bewußt stand der Meinungsverschiedenheit zwischen Regie-
sind, alles zu tun, um den Frieden zu erhalten. rung und Opposition war, bedeutet wirklich noch
Wer und was berechtigt eigentlich andere, uns keinen Verzicht auf eine wirksame Oppositions-
zu unterstellen, daß wir an Macht denken, wenn politik.
wir von Recht sprechen?!
- (Abg. Erler: S i e hatten die Klarstellung
(Beifall bei den Regierungsparteien.) nötig, wir nicht!)
Meine Damen und Herren, ich erinnere hier an Darum erscheint mir dieses Schweigen als ein be-
die Erklärung, die der Herr Bundeskanzler am dauerliches Zeichen einer politischen Verhärtung,
27. September 1951 vor dem Bundestag abgegeben von der ich nur hoffen kann, daß sie sich auf-
hat und die die Zustimmung aller großen Parteien lockern wird.
des Bundestages gefunden hat. Ich erinnere an die (Abg. Mellies: Moralische Aufrüstung!)
Entschließung der Vollversammlung der Vereinten
Nationen vom 20. Dezember 1951 und benutze die- — Ja, vielleicht haben Sie es nötig, wenn Sie da-
sen Anlaß, um auch daran zu erinnern, aß da- von sprechen!
mals neben dem Herrn Bundesminister Dr. Schäfer (Beifall in der Mitte.)
und mir der vor wenigen Wochen verstorbene Re- Um aber keinen Anlaß zu absichtlichen oder unab-
gierende Bürgermeister der Stadt Berlin Ernst sichtlichen Mißdeutungen zu geben, sage ich auch
Reuter vor dem Sonderausschuß der Vereinten hier noch einmal, was der Herr Bundeskanzler
Nationen die Ziele der deutschen Politik in der ausgesprochen hat: daß niemand in Deutschland
Frage der deutschen Wiedervereinigung erläutert auch nur daran denkt, die mit der Oder-Neiße-
hat. Mit Professor Ernst Reuter haben nicht nur die Linie zusammenhängenden Probleme etwa mit Ge-
Stadt Berlin und das ganze deutsche Volk, son- walt zu lösen. Ausschließlich friedliche Wege müs-
dern alle Völker und Menschen, die sich zur Frei- sen gesucht und gefunden werden.
heit bekennen, einen aufrichtigen, mutigen und
unerbittlichen Kämpfer für die Grundrechte und (Sehr richtig! bei den Regierungsparteien.)
Grundfreiheiten der Menschen verloren. Ihm zu Meine Damen und Herren, ich sagte schon, daß
danken ist mir ein inneres Bedürfnis. uns die Entscheidung der Wähler nicht nur er-
(Beifall bei den Regierungsparteien und mächtigt, sondern verpflichtet, in der Außenpolitik
bei Abgeordneten der SPD.) der letzten vier Jahre fortzufahren. Ich glaube,
wir sind uns aber auch darüber einig, daß kein
Und ich erinnere zuletzt an die Entschließung des verantwortlicher deutscher Politiker in Zukunft
Bundestags vom 1. Juli 1953, die gegen die Stim- eine andere Außenpolitik vorschlagen könnte als
men der kommunistischen Gruppe angenommen die einer engen und vertrauensvollen Zusammen-
wurde. Immer kam darin zum Ausdruck der ein- arbeit mit den Völkern der freien Welt und einer
mütige Wille des deutschen Volkes zur Wieder- ebenso entschiedenen und klaren Absage an den
vereinigung. Die wenigen armseligen Rotgardisten, östlichen Totalitarismus.
die noch vor kurzer Zeit die Redefreiheit im Parla-
ment dazu mißbrauchen durften, von Demokratie (Beifall bei den Regierungsparteien.)
und Ordnung zu sprechen, wenn sie Terror und Das ist alles andere als etwa ein Ausdruck der
Anarchie meinten, werden unsere Diskussionen Sterilität und Unbeweglichkeit, vielmehr der der
über diese Frage nach dem Willen des deutschen Beharrlichkeit und der Entschlossenheit und der
Wählers gottlob nicht mehr stören. Stetigkeit. Gerade diese unbeirrbare und gerad-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) linige Politik war es, die dem deutschen Volk das
Vertrauen und die Freundschaft der Welt einge-
Ich habe es begrüßt, daß der Herr Bundeskanzler bracht hat, und sie war es auch, die den deutschen
in seine Ausführungen über die Wiedervereini- Wähler am 6. September zur Stimmabgabe zu-
gung Deutschlands auch einen klaren Hinweis dar- gunsten dieser Politik veranlaßt hat.
auf aufgenommen hat, daß Bundestag und Bundes (Beifall bei den Regierungsparteien.)
82 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. von Brentano)
Die erregenden Ereignisse, die in dieser Zeit wachsenden Erkenntnis, daß die vermeintlichen In-
weltpolitischer Spannungen um uns herum ge- teressengegensätze in Wirklichkeit gar nicht be-
schehen, dürfen wir nicht unterschätzen, aber auch stehen. Den ersten Schritt auf diesem Wege haben
nicht überbewerten. Das Schicksal von Völkern wir mit der Gründung der Montan-Union zurück-
spielt sich in langen Zeitabschnitten ab. Es ist gelegt. Der Vertrag über die Europäische Verteidi-
auch weitgehend von Vorgängen beeinflußt, auf gungsgemeinschaft steht, wie ich hoffe, vor der
die die Nationen vielleicht keinen unmittelbaren Ratifizierung. Die europäische politische Gemein-
Einfluß haben. Auch rein tatsächliche Gegebenhei- schaft wird Gegenstand entscheidender Beratun-
ten wirken hier mit. Wir spüren es und wissen es gen auf der Haager Konferenz der Außenminister
ja, daß die geographische Lage unseres Vaterlan- sein.
des uns zumindest an einem Punkt des weltpoli- Ich bedauere, daß die Ausführungen des Herrn
tischen Geschehens mitten in das Spannungsfeld Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung und
gestellt hat. Aber die notwendige und richtige Er- seine zusätzliche Interpretation Kommentare aus-
kenntnis, daß einzelne Fakten und Faktoren gege- gelöst haben, die mir wirklich unberechtigt zu sein
ben sind, die wir nicht zu ändern vermögen, darf scheinen. Er hat darauf hingewiesen, daß nach wie
nicht etwa das Gefühl auslösen, daß wir damit vor das Ziel der Außenpolitik auch in der Wieder-
auch in dem Bereich, der unserer Bestimmung oder herstellung der eigenen Unabhängigkeit, der Wie-
Mitgestaltung unterliegt, auf Entscheidungen ver- dervereinigung Deutschlands und dem Zusammen-
zichten dürfen. Ich weiß, daß die Opposition in schluß Europas bestehe, und er sagte, nachdem das
vielen Fragen der Außenpolitik anderer Meinung deutsche Volk alles getan habe, um die abgeschlos-
war und vielleicht auch noch ist. Aber ich hoffe senen Verträge in Kraft zu setzen, dürfe es auch
doch, daß in allen Diskussionen sichtbar werden hoffen, nun in den Genuß des Status der Unab-
möge, daß wir sachliche Meinungsverschiedenheiten hängigkeit zu kommen. Eine englische Tageszei-
über die Methode austragen und nicht über das tung schrieb vor kurzem selbst, es sei eine Anoma-
Ziel. lie, daß die Bundesrepublik noch dem Besatzungs-
Ich muß noch etwas in Erinnerung rufen. Sie, statut unterstehe.
meine Herren von der Opposition, haben dem Bun- (Zuruf von der SPD: Die haben es
deskanzler, Sie haben der Mehrheit dieses Hauses begriffen!)
in den vergangenen Jahren das Recht bestritten, Ich glaube, daß diese Feststellung richtig ist, und
überhaupt eine aktive Außenpolitik zu betreiben. ich meine, daß der Bundeskanzler die Auffassung
Sie haben erklärt, daß das Volk ein Mandat dazu des ganzen deutschen Volkes wiedergegeben hat,
nicht gegeben habe, und Sie haben wiederholt eine wenn er diesen Wunsch nach Unabhängigkeit und
Entscheidung des Volkes verlangt. Nun, ich glaube, Selbständigkeit aussprach.
darüber sollten wir uns als Demokraten einig (Sehr richtig! bei der CDU.)
sein — gleichgültig, auf welcher Bank wir sitzen —,
daß diese Entscheidung, die Sie erwartet haben, Das Wort „Souveränität" hat er ebensowenig ge-
nunmehr vorliegt. braucht, wie ich es tun möchte. Wir glauben nicht
(Beifall bei den Regierungsparteien.) mehr an den absoluten Wert staatlicher Souveräni-
tät als letzte und echteste Ausdrucksform natio-
Ein wesentlicher Teil dieser Politik ist die Poli- naler Existenz und Koexistenz. Wir sind im Gegen-
tik der europäischen Integration, und sie fortzu- teil bereit und entschlossen, von dieser Unabhän-
setzen, meine Damen und Herren, scheint mir eine gigkeit und Selbständigkeit gerade im Sinne des
der wichtigsten Aufgaben der Bundesregierung zu Art. 24 des Grundgesetzes Gebrauch zu machen.
sein. Die europäischen Staaten haben sich in den
vergangenen Jahrzehnten selbst an die Ketten ge- (Beifall bei der CDU.)
fesselt, die ein entarteter Nationalismus geschmie- Um so erstaunlicher ist es dann, einen Kom-
det hat. Die Vorstellung, daß der nationale Staat mentar zu lesen, in dem der Regierung vorgewor-
das Ende einer historischen Entwicklungsfolge sei, fen wird, sie habe Frankreich angehalten, den
war ein verhängnisvoller Irrtum. Ein Etappenziel EVG-Vertrag zu ratifizieren, und man habe darin
wurde mit dem Endziel verwechselt. Das dynami- einen seltsam drohenden Ton gehört. Ich glaube,
sche Denken, das die Nationen zusammengeführt so sollte man nicht diskutieren. Sollte es denn im
hatte, wurde durch das statische Denken abgelöst, Ernst nicht erlaubt sein, den Partner eines Ver-
das keine neue Entwicklungsmöglichkeit mehr sah trages an die Erfüllung der von ihm freiwillig ein-
und sich darauf beschränkte, das, was in der Ver- gegangenen Verpflichtung zu erinnern, ohne der
gangenheit mit starken Kräften gestaltet worden Erpressung beschuldigt zu werden?
war, mit schwachen Kräften zu erhalten. Der Aus-
bau der Landesgrenzen als strategische Befesti- (Sehr richtig! bei der CDU.)
gungsanlagen war ein ebenso sinnfälliger Aus- Selbstverständlich wissen wir, daß die Entschei-
druck mangelnder Gestaltungskraft wie die Vor- dung nur bei Frankreich und im französischen Par-
stellung, daß man die Gesetze der wirtschaftlichen lament liegt. Niemand von uns käme auf den ab-
Vernunft durch die vom Autarkie-Denken be- surden Gedanken, Forderungen zu stellen oder
stimmten Regeln der wirtschaftlichen Unve rn unft Ratschläge zu erteilen. Aber darf die deutsche Bun-
ersetzen könne. desregierung nicht sagen, was sie hofft und
(Beifall bei den Regierungsparteien.) wünscht, darf sie diejenigen, die mit ihr die Ver-
träge unterschrieben haben, nicht an die Gemein-
Der Lebensraum der europäischen Völker wurde samkeit der Interessen und die Gemeinsamkeit der
kleiner, und die Grenzen wurden enger. Sinnfälli- Aufgaben erinnern, die gerade in der Präambel zu
ger und tragischer Ausdruck dieser erstarrten Poli- diesem Vertragswerk so eindrucksvoll dargelegt
tik waren dann die Katastrophen, die in immer wird? Im übrigen hat der Herr Bundeskanzler,
kürzeren Abständen Europa an den Rand des Ab- wie ich meine, gar nichts anderes getan als we-
grundes geführt haben. Der Wille, diese Grenzen nige Tage nach ihm der Haager Kongreß der Euro-
zu sprengen und einen größeren Lebensraum zu päischen Bewegung, der einmütig beschlossen hat,
schaffen, wird getragen und unterstützt von der alle beteiligten Regierungen und Parlamente um
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 33
(Dr. von Brentano)
eine beschleunigte Ratifizierung der Verträge zu Meine Damen und Herren, wir sind uns demzu
bitten, und der sich ungehalten über die Verzöge- folge zwischen Frankreich und Deutschland doch
rung geäußert hat. Meine Damen und Herren, auch wohl darüber einig, daß die endgültige Regelung
das scheint mir keine unberechtigte Intervention, des Saarproblems einem Friedensvertrag oder
sondern, ich glaube, sagen zu können, eine sehr be- einem Vertrag vorbehalten sein muß, der an die
rechtigte Mahnung zu sein. Stelle eines Friedensvertrags treten könnte. Das
(Sehr richtig! bei der CDU.) schließt nicht aus, nein, das verlangt gerade, daß
nunmehr Verhandlungen aufgenommen werden,
Mit besonderem Ernst hat der Herr Bundeskanz- um eine solche Lösung zu finden, die vielleicht ein-
ler in seiner Regierungserklärung auch das mal in dem endgültigen Friedensvertrag ihre Be-
deutsch-französische Problem angesprochen Er hat stätigung erfahren kann.
seiner Meinung Ausdruck gegeben, daß die freund-
schaftliche Verständigung zwischen diesen beiden Wir wissen natürlich, daß im Laufe der letzten
großen Nachbarvölkern eine Voraussetzung einer Jahre im Saargebiet Tatsachen geschaffen wurden,
gesamteuropäischen Zusammenarbeit und Integra- die wir in ihrer faktischen Bedeutung auch dann
tion sein wird. Er hat damit in aller Offenheit und nicht leugnen können, wenn wir sie bedauern.
Sachlichkeit eine Feststellung getroffen, die unbe- Niemand erwartet oder verlangt aber doch von
streitbar richtig ist. Wir haben uns über diese uns, daß die Lösung des so bedeutungsvollen Pro-
Frage in diesem Hohen Hause schon wiederholt un- blems etwa darin bestehen sollte, daß wir uns
terhalten. Immer wieder trat dabei auch das der empirischen Kraft des Faktischen beugen und
Saarproblem in den Vordergrund. Vor wenigen die Rechtsgültigkeit dessen anerkennen, was ohne
Wochen hat sich nun auch die Beratende Versamm- unsere Mitwirkung geschehen ist.
lung des Europarats in Straßburg mit dieser Frage (Beifall bei den Regierungsparteien.)
beschäftigt und hat mit überwältigender Mehrheit
die Empfehlung Nr. 57 angenommen, in der es Dazu bedürfte es doch keiner Verhandlungen! Und
heißt: es ist auch wahrhaftig kein Ausdruck einer man-
gelnden Verständigungsbereitschaft, wenn wir daran
Die Versammlung ist sich der Schwere des erinnern, daß das Saargebiet innerhalb der Gren-
Saarproblems bewußt. Es könnte die deutsch- zen des Deutschen Reiches von 1937 liegt, wenn
französischen Beziehungen ernstlich gefährden wir aussprechen, was alle Welt weiß, daß die Ein-
und der Schaffung der Europäischen Gemein- wohner des Saargebiets Deutsche sind, und wenn
schaft im Wege stehen, wenn es nicht in- Kürze wir darauf hinweisen, daß die Praxis der Behörden
gelöst wird. im Saargebiet unserer Überzeugung nach nicht mit
Für die Mehrheit der deutschen Delegierten hat Art. 10 der Konvention über die Menschenrechte
mein Freund Gerstenmaier dieser Empfeh- in Einklang steht
lung, die sich nicht auf den Inhalt, sondern auf (Sehr gut! in der Mitte)
das Verfahren bezog, mit Recht zugestimmt und
gesagt: „Die Saarfrage ist eine, vielleicht sogar und daß wir darum eine freie Willensentscheidung
d i e entscheidende Probe auf die Kraft der Solida- des Volkes an der Saar erwarten, damit dieses Volk
rität, die in unseren Völkern erwacht ist." Dasselbe dann mit Frankreich und mit uns über diese Frage
hat wenige Wochen später der französische Außen- entscheiden kann, von deren Beantwortung doch
minister Robert S c h u m a n gesagt, als er mit dem unser gemeinsames Schicksal abhängt.
Freimut, den wir an ihm gewöhnt sind, im Haag (Beifall bei den Regierungsparteien.)
erklärte: Darum begrüßen wir auch die von der Beratenden
Die große Aufgabe ist es nun, den unseligen Versammlung des Europarats empfohlene Kon-
deutsch-französischen Gegensatz endgültig aus ferenz der acht Mächte, weil wir glauben, daß der
der Welt zu schaffen. Noch bleibt die Saar- gute Wille und der Einfluß auch der anderen euro-
frage zu lösen. So lange wird es kein geeintes päischen Staaten, die sich ebenso wie Frankreich
Europa geben, solange es keine Saarregelung und Deutschland zu dieser Konvention über die
gibt, die von allen drei Beteiligten — Deutsch- Menschenrechte bekennen, eine wesentliche För-
land, Frankreich und dem Saarland — frei derung der dringend gewordenen Lösung der Saar-
akzeptiert werden kann. Andererseits kann es frage darstellen kann.
keine Saarlösung ohne ein geeintes Europa Allerdings glaube ich, meine Damen und Herren,
geben. daß alle diese Fragen mit einer fortschreitenden
Ich stimme dem ohne jeden Vorbehalt zu. Aber wirtschaftlichen und politischen Integration an Be-
wie könnten wir eine solche Lösung finden, wenn deutung verlieren. Ziel der wirtschaftlichen Inte-
nicht im Wege der Verhandlungen! Und wie könn- gration ist es, einen großen gemeinsamen Markt
ten diese Verhandlungen erfolgreich gestaltet wer- zu schaffen. Mit der Montan-Union ist er auf einem
den, wenn sie nicht eingebaut werden in die Ver- wesentlichen Teilgebiet schon verwirklicht. Je
handlungen um die Schaffung des geeinten Euro- weiter die wirtschaftliche Integration vorange-
pas! Ausgangspunkt solcher Verhandlungen kann trieben wird, um so unwesentlicher wird die Frage,
und wird die wiederholte Erklärung der franzö- wo produziert wird und wer produziert.
sischen Regierung sein, daß sie nicht beabsichtigt Das gleiche gilt für, die politische Integration,
habe, auch nicht beabsichtige, den völkerrecht- zu der ich sagen möchte, daß unserer Überzeugung
lichen Status der Saar im Wege der einseitigen nach politische und wirtschaftliche Integration sich
Annexion zu ändern. Diese Haltung ist auch in gegenseitig bedingen. Wir sind uns wohl darüber
dem Briefwechsel zwischen der deutschen und der einig, daß es mit diesem Ziele der politischen
französischen Regierung bestätigt, der aus Anlaß
der Unterzeichnung des Montanvertrags stattfand Integration unvereinbar wäre, bestehende Grenzen
auszubauen, willkürliche Grenzen zu legalisieren
und in dem die französische Regierung ausdrück- oder gar neue zu errichten.
lich erklärte, daß eine Anerkennung des gegenwär-
tigen Status der Saar nicht verlangt und nicht er- Aus dieser Erkenntnis heraus sollten die Ge-
wartet wird. spräche zwischen Frankreich und Deutschland bald
34 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. von Brentano)
aufgenommen werden. Ich hoffe und wünsche, daß mal den Eindruck, als sei man in den Parlamenten
sie in dem Geiste geführt werden, der in der der europäischen Staaten noch hinter der Meinung
Präambel zum Vertrag über die Montan-Union der Öffentlichkeit weit zurück.
zum Ausdruck kommt, in der Absicht nämlich, an (Sehr richtig! bei den Regierungsparteien.)
die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen
Zusammenschluß der wesentlichen Interessen zu Es gibt noch zu viele, die sich in diese Kandare
setzen und die Grundlagen für eine weitere, ver- des Nationalismus verbissen haben, die sie sich
tiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die selbst angelegt haben. Aber ich glaube, wir müssen
lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen ent- uns mit diesen berufsmäßigen Reaktionären gar
zweit waren, um einem nunmehr allen gemein- nicht mehr auseinandersetzen.
samen Schicksal die Richtung zu weisen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Ich meine, wir sind im Bundestag nach den Wah-
len sogar etwas weiter als vor den Wahlen, nicht
Meine Damen und Herren, ich zweifle nicht daran: nur wegen der veränderten Mehrheitsverhältnisse,
Verhandlungen, die in diesem Geiste der Freund- sondern weil ich kurz vor den Wahlen auch eine
schaft und des gegenseitigen Verständnisses, aber Äußerung eines maßgeblichen Sprechers der Oppo-
auch im Geiste der gemeinsamen Verantwortung sition las, die mich doch optimistisch gestimmt
geführt werden, werden von Erfolg sein. Sie hat. Man hat damals zwar nicht unsere Wege
müssen es sein, weil wir alle darum wissen, daß gebilligt, aber man hat doch erklärt, daß man
diese europäische Integration die Frage ist, von diese europäische Integration ja vielleicht auf
deren Beantwortung — ich sagte es schon — Leben einem anderen Boden, auf einer anderen Ebene,
oder Sterben des europäischen Kontinents abhän- etwa durch den Einbau in den Europarat, anstreben
gen wird. Ich sage das alles im Sinne einer echten, könne. Ich begrüße diese Erkenntnis, wenn ich
ehrlichen und offenen Ansprache an unser großes allerdings auch daran erinnern möchte, daß vor
französisches Nachbarvolk. Wir wollen, wie es einigen Jahren, als wir den Beitritt zum Europa-
Schuman im Haag sagte, eine echte, neue, be- rat diskutierten, hier von dieser Stelle aus von
ständige Form der europäischen Zusammenarbeit einem Redner der Opposition gesagt wurde, der
in einer neuen Einheit. Sie kann und wird es nicht Weg nach Europa gehe gerade an Straßburg vor-
geben, wenn Frankreich und Deutschland sich nicht bei. Aber wenn die Erkenntnis, daß diese Entschei-
daran beteiligen. Wir werden beide aber nur dann dung damals richtig war, inzwischen gekommen ist,
an einer solchen Gemeinschaft beteiligt sein, wenn dann wollen wir uns gern darüber mitfreuen.
wir daran gehen, die Steine, die uns nun einmal (Abg. Kunze: Man lernt ja auch!)
noch trennen, aus dem Weg zu räumen. Es genügt
nicht, sie beiseite zu schieben, und es genügt noch Am 10. September vorigen Jahres haben die
weniger, so zu tun, als wären sie nicht da. Außenminister einen besonderen Auftrag gegeben.
Ich weiß, es gibt Stimmen, die, wenn wir von Sie haben in Vorwegnahme des Art. 38 des Ver-
I der europäischen Integration sprechen, schon wieder trages über die Europäische Verteidigungsgemein-
auf ein angebliches deutsches Hegemoniestreben schaft die Sonderversammlung in Straßburg ge-
verweisen, die von der deutschen Stärke sprechen beten, ein Statut für eine Europäische Gemein-
und die Furcht äußern, Deutschland könne diese schaft auszuarbeiten. Ich möchte auf Einzelheiten
Stärke mißbrauchen. Meine Damen und Herren, dieses Entwurfs nicht eingehen oder, sagen wir
ich sage es klar und deutlich allen jenen, die diese richtiger, nicht heute eingehen; ich hoffe sehr, daß
Vorstellung noch haben, die sich nicht frei machen wir über diese Frage sehr bald einmal hier in die-
können von diesem Gefühl der Sorge, der Furcht sem Bundestag eine Aussprache führen werden,
und der Angst vor Deutschland: Wir wollen nicht und behalte mir auch vor, für meine Fraktion die
mehr und nicht weniger als Sicherheit, politische, entsprechende Initiative zu ergreifen. Dieses Sta-
wirtschaftliche und soziale Sicherheit für unser tut einer europäischen Verfassung wurde fünf
Volk und für jeden einzelnen in unserem Volk. Monate später vorgelegt. Es war inzwischen Ge-
Aber wie können wir denn die Furcht und das genstand von Verhandlungen der Außenminister
latente Mißtrauen besser beseitigen, als wenn wir in Paris und in Baden-Baden und zuletzt Gegen-
uns zusammenschließen? Worin besteht denn diese stand der Konferenz der Außenminister-Stellver-
immer wieder mit Skepsis diskutierte deutsche treter in Rom. Meine Damen und Herren, ich kann
Stärke? Darin doch, daß es gelungen ist, den Le- nicht unser Bedauern darüber verschweigen, daß
benswillen, den Selbsterhaltungswillen des deut- die sichtbaren Fortschritte auf diesem Wege noch
schen Volkes wieder anzusprechen, ihn zu befreien sehr gering sind. Diese Konferenzen haben keine
und die Menschen aus der Lethargie der Verzweif- Entscheidungen gebracht, ja, manche Entscheidun-
lung zu wecken. Man sollte das doch nicht als ein gen bleiben vielleicht sogar ein wenig hinter der
Zeichen der Bedrohung, sondern als ein Zeichen Entscheidung vom 10. September 1952 zurück. Ich
der Sicherung Europas ansehen, was hier in habe die Hoffnung und den Wunsch, daß die deut-
Deutschland geschaffen wurde. Es ist ja nicht nur sche Bundesregierung das ihre tun wird, um auch
für Deutschland allein geschaffen worden, sondern auf der bevorstehenden Haager Konferenz nicht
für die freie Welt. nur eine Diskussion zu erreichen, sondern zu Ent-
scheidungen zu kommen. Ich möchte allerdings
(Beifall bei den Regierungsparteien.) besonders sagen — um jedes Mißverständnis zu
vermeiden —, daß ich weiß, wie sehr sich gerade
Nur die Macht des Isolierten ist gefährlich oder die deutsche Delegation in Rom unter der Leitung
könnte gefährlich sein. Der Sinn einer Gemein- von Staatssekretär Professor Hallstein bemüht hat,
schaft ist es, diese Sorge und Furcht zu nehmen Fortschritte zu erzielen, und ich danke, auch in
und die Stärke des einen Partners dem anderen
nutzbar zu machen. meiner Eigenschaft als Vorsitzender des europä-
ischen Verfassungsausschusses, diesen Delegierten
Aber ich meine, wir brauchen die Notwendigkeit und ihrem Leiter aufrichtig für ihre zweifellos er-
dieser Politik der europäischen Verständigung gar folgreichen Bemühungen. Denn wenn die Kon-
nicht mehr zu betonen. Ja, ich habe sogar manch- ferenz von Rom überhaupt sichtbare Ergebnisse
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 35
(Dr. von Brentano)
hatte, dann ist das nicht zuletzt auch der Mitarbeit aggressive Haltung. Aber ich glaube, die euro-
der deutschen Delegation zu verdanken. päische Integration könnte, wenn sie konsequent
(Beifall bei den Regierungsparteien.) weitergeführt wird, sowohl für uns, die wir dieser
europäischen Gemeinschaft angehören, wie auch
Meine Damen und Herren, ich habe mich mit für Rußland und für die übrige Welt eine Garantie
dieser Frage der europäischen Integration noch des Friedens und der Sicherheit bedeuten, die für
beschäftigen wollen, weil ich darin das Kernstück alle, denen es wirklich um den Frieden geht, von
der zukünftigen deutschen Außenpolitik sehe. Ich unschätzbarem Wert sein müßte.
stimme im übrigen vollkommen mit dem überein, Meine Damen und Herren! Für die Fraktion der
was der Herr Bundeskanzler am Schlusse seiner Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen
Ausführungen gesagt hat, als er betonte, daß die Union danke ich dem Herrn Bundeskanzler für
Außenpolitik der Bundesregierung in allen ihren seine Regierungserklärung und versichere ihm, daß
Bestrebungen ausschließlich darauf gerichtet sein er der vertrauensvollen Mitarbeit seiner Fraktion
werde, auf allen Gebieten und für alle Fragen gewiß sein darf. Mit ihm und — ich wage zu sagen
Lösungen zu suchen, die dem friedlichen Ausgleich — dem gesamten Deutschen Bundestag hoffe ich,
dienen. Ebenso uneingeschränkt unterstreiche ich daß wir gemeinsam die Aufgaben lösen, die uns ge-
für meine politischen Freunde und für mich selbst stellt sind, in der verpflichtenden Überzeugung,
die Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, daß es daß wir alle den gleichen Auftrag haben, an der
kein Problem gebe und kein Problem geben dürfe, Sicherung des politischen Friedens in der Welt
für das nicht mit den Mitteln der Verhandlung ebenso wie des sozialen Friedens in unserem Volk
eine klare Regelung erreicht werden könne, und daß mitzuwirken, damit wir auch alle nach vier Jahren
die Mittel der Gewalt nur immer neue Konflikte über unsere Arbeit Rechenschaft ablegen können
zu schaffen geeignet seien. Ziel und Aufgabe der vor denen, denen wir Verantwortung schulden, und
deutschen Politik muß es sein, die Zusammen- das ist nicht nur das deutsche Volk, sondern dar-
arbeit mit allen denen zu suchen, die uns Partner- über hinaus die freie Welt.
schaft und Freundschaft anbieten, um gemeinsam
mit ihnen Freiheit und Frieden zu erhalten und (Beifall bei der CDU/CSU.)
Freiheit und Frieden auch denen zu vermitteln, Ich hoffe, daß wir in dieser Zusammenarbeit uns
die sie heute noch entbehren. Freiheit und Frie- finden mit allen, die eines gleichen guten Willens
den wünschen wir nicht um ihrer selbst willen,
- sind und die mit uns um eine neue und bessere
sondern wir wissen, ja, vielleicht wissen wir es Ordnung ringen wollen, in der es wohl noch Gegen
besser als viele andere, daß sie die einzigen sätze geben wird — die wird es immer geben, und
Grundlagen für eine beständige verläßliche wirt- wir werden sie nicht aus der Welt schaffen kön
schaftliche Ordnung und für eine echte soziale nen —, aber in der es keinen Austrag der Gegen
Sicherung sind, in der jeder von uns leben soll. sätze mit den Mitteln der Gewalt mehr geben darf.
Wir haben Anlaß, an dieser Stelle auch jener zu (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU,
gedenken, die an diesem politischen Ziel mitge- bei der FDP und bei der DP.)
arbeitet haben. Es war meiner Meinung nach nicht
ein Ausdruck politischer Klugheit, aber vielleicht Präsident D. Dr. Ehlers: Das Wort hat der Abge-
ein Ausdruck einer etwas verfrühten hämischen ordnete Ollenhauer.
Gesinnung, als man einmal sagte, die Wegbereiter
dieser europäischen Zusammenarbeit wie Robert Ollenhauer (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
Schumann und Alcide de Gasperi seien und Herren! Meine Fraktion bedauert, daß die
verschwunden und ein Dritter, Konrad Ade Mehrheit in diesem Hause in dieser Diskussion, der
nauer,wüdchvsine.Sdal ersten großen politischen Diskussion im zweiten
drei nicht verschwunden, meine Damen und Her- Bundestag, die Fortsetzung der guten Übung ab-
ren, auch wenn sic zur Zeit auf verschiedenen gelehnt hat, nach dem Bundeskanzler zuerst die
Ebenen und in verschiedenen Aufgabenbereichen Opposition zu Wort kommen zu lassen und dann
ihre Arbeit fortsetzen. in eine wirkliche Debatte des Parlaments einzu-
(Beifall bei der CDU/CSU.) treten.
(Sehr gut! bei der SPD.)
Aber wir wissen es auch: Um das Ziel erfolgreich
zu erreichen, brauchen wir auch in Zukunft die Ich werde mich in meiner Rede heute morgen nur
fördernde Unterstützung der Vereinigten Staaten, mit der Regierungserklärung des Herrn Bundes-
für die wir dankbar sind, und ebenso das Ver- kanzlers beschäftigen, und meine Fraktion behält
ständnis und die Bereitschaft zur Mitarbeit, die sich vor, auf die Ausführungen des Herren Kol-
das Vereinigte Königreich uns gerade in den letz- legen von Brentano im weiteren Verlauf dieser
ten Wochen und Monaten zugesagt hat. Debatte einzugehen.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Nach unserem Grundgesetz liegt die letzte Ent-
scheidung über die politische Führung der Bundes-
Am Schlusse möchte ich noch sagen, daß ich republik beim Volke selbst. Die Wahlen vom
die Hoffnung nicht aufgebe, auch das russische 6. September zum zweiten Deutschen Bundestag
Volk und die russische Regierung möchten endlich waren eine solche Entscheidung. Die sozialdemo-
erkennen, daß Deutschland nur den einen Wunsch kratische Bundestagsfraktion respektiert diese Ent-
hat, an dem Aufbau einer sinnvollen und in sich scheidung und die sich daraus ergebenden Kon-
tragfähigen neuen Ordnung teilzunehmen, nicht um sequenzen,
das Verhältnis zum russischen Volk zu belasten, (Bravo! rechts)
sondern um im Interesse des Weltfriedens und der
Weltsicherheit die Spannungen zu beseitigen, die wie sie auch durch die erneute Wahl Dr. Aden-
in der Unfreiheit von Millionen deutscher Menschen auers zum Bundeskanzler durch die Mehrheit dieses
bis zur Stunde allerdings noch ihren unseligen Aus- Hauses ihren Ausdruck gefunden haben.
druck finden. Es geht nicht um Machtzuwachs, und Diese Feststellung schließt keine Billigung der
noch weniger denkt irgendeiner von uns an eine , Wahlkampfmethoden der Koalitionsparteien und
36 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
des Herrn Bundeskanzlers gegenüber der Sozial- struktive, wenn auch manchmal unterhaltsame
demokratie ein. Rolle des Herrn Renner zu übernehmen.
(Zustimmung bei der SPD.) (Heiterkeit und Beifall in der Mitte.)
Es bleibt auf diesem Gebiet noch einiges zu bereini- Es wird ja auch wohl niemand in den Reihen der
gen; aber das wird an anderer Stelle geschehen. Koalitionsparteien sein, der bereit ist, hier Herrn
Das Wahlresultat vom 6. September ist so be- Loritz nachzueifern.
merkenswert und in seinem Erfolg für die Partei (Erneute Heiterkeit.)
des Herrn Bundeskanzlers so außergewöhnlich, daß Allerdings, an lebhaften Diskussionen und unter
eine sorgfältige Untersuchung für alle Beteiligten haltenden Momenten wird es trotzdem nicht fehlen,
— Koalition und Opposition — von großem Nutzen (Abg. Albers: Bravo!)
sein wird.
(Sehr gut! bei der CDU.) das kann ich Ihnen jedenfalls jetzt schon ver-
sprechen.
Ich halte es daher auch nicht für richtig, meine
Damen und Herren, voreilig Schlüsse zu ziehen und (Lachen und Zustimmung in der Mitte.)
Behauptungen aufzustellen, die einer genauen Im E rnst: für das normale Funktionieren der
Nachprüfung der Unterlagen nicht standhalten. Das Demokratie hat uns die Bundestagswahl vorn
gilt z. B. für die Frage der Entscheidung der Jung- 6. September eine Chance gegeben. Es liegt in der
wähler zwischen 21 und 29 Jahren. Wir haben in Natur der Sache, daß in der Ausnutzung dieser
verschiedenen Gebieten der Bundesrepublik nach Chance die größere Verantwortung bei der Mehr-
Altersgruppen getrennte Abstimmungen gehabt. Es heit dieses Hauses liegt,
liegen noch nicht alle Auswertungen dieser Abstim- (Sehr wahr! bei der SPD)
mungen vor; aber z. B. die Resultate in Hessen, in
Bremen und Oberhausen, um nur einige zu nennen, und diese Verantwortung beginnt, meine Damen
zeigen, daß diese Jahrgänge sogar über den durch- und Herren, mit der Anerkennung der Opposition
schnittlichen prozentualen Anteil der SPD hinaus als eines wesentlichen und unerläßlichen Bestand-
sozialdemokratisch gewählt haben. teils der parlamentarischen Demokratie.
(Beifall bei der SPD. — (Zustimmung bei der SPD. — Abg. Dr.
Lachen bei der CDU.) - Krone: Völlig einverstanden!)
— Sie können diese Zahlen selbst nachlesen und Die erste Probe werden die nächsten Schritte bei
die Richtigkeit dieser Behauptung dann bestätigen. der weiteren Konstituierung des Parlaments sein.
Die Ausschüsse des Parlaments, die wir noch zu
Der Ausfall der extremen Parteien auf der Rech- bilden haben, sind keine Hilfsorgane der Regierung
ten und auf der Linken wird von allen demokrati- oder der Parlamentsmehrheit.
schen Parteien begrüßt werden. Wir Sozialdemo- (Sehr richtig! bei der SPD.)
kraten teilen allerdings den Optimismus nicht, daß
damit für alle Zukunft die Gefahren für eine fried- Sie sind Organe des gesamten Parlaments. Die Be-
liche und ungestörte Entwicklung der Demokratie setzung der Leitung der Ausschüsse kann daher
in der Bundesrepublik gebannt sein werden. nur unter Berücksichtigung der Stärke der Frak-
(Abg. Dr. Krone: Aber Herr Ollenhauer! tionen erfolgen, ohne Rücksicht darauf, ob sie zur
Meinen Sie das wirklich so?) Koalition oder zur Opposition gehören.
(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Krone:
Wir sind vor krisenhaften Zuspitzungen auf innen- Herr Ollenhauer, das haben wir erklärt! —
und außenpolitischem Gebiet noch keineswegs Abg. Arndgen: Das ist selbstverständlich!)
sicher, und erst in einem solchen Fall wird sich er-
weisen, ob extreme Einflüsse von rechts und links — Ich hoffe, ich hoffe! Ich habe Grund, diese Be-
auf die Dauer ihre Wirkungsmöglichkeit verloren merkung zu machen.
haben. (Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Dr.
(Sehr richtig! bei der SPD.) Krone: Wir haben es erklärt!)
Wir meinen auch, daß der Wahlausgang mit sei- Für uns hat daher die Regelung dieser Frage eine
ner Konzentration der Stimmen auf die traditio- grundsätzliche Bedeutung, und ich möchte diesen
nellen Parteigruppierungen noch kein Beweis dafür Punkt deshalb mit allem Ernst unterstreichen.
ist, daß die Wählerinnen und Wähler nun damit
ihre endgültige politische Heimat gefunden haben. Das zweite Kriterium wird für uns die Personal-
Vor allem erscheint es uns verfrüht, von einer politik der Bundesministerien und der Bundesver-
zwangsläufigen und unvermeidlichen Entwicklung waltung sein.
zu einem Zweiparteiensystem als einer feststehen- (Abg. Mellies: Sehr gut!)
den Tatsache zu sprechen. Die politische oder gar die konfessionelle Zuge
(Abg. Mellies: Sehr richtig!) hörigkeit eines Beamten, Angestellten und Arbei
Richtig ist dagegen, daß uns die jetzt gegebene Zu- ters — die Loyalität zum Grundgesetz vorausge
sammensetzung des zweiten Bundestages in diesem setzt — darf bei der Einstellung, bei der Verwen
Hause vor eine neue Situation und —wenn wir dung und bei der Beförderung keine Rolle spielen.
wollen — vor neue fruchtbare Möglichkeiten der (Beifall bei der SPD. — Unruhe. — Zu-
Entwicklung eines gesunden demokratischen Parla- rufe von der Mitte: Hessen! Hannover! —
mentarismus stellt. Wir können zu einer Normali- Abg. Arndgen: Auch das Parteibuch nicht!)
sierung des Verhältnisses zwischen Regierung und — Es scheint mir, daß ich mit dieser Bemerkung
Opposition kommen, und wir Sozialdemokraten doch einen für Sie sehr interessanten Punkt getrof-
sind bereit, dabei mitzuwirken. fen habe.
(Beifall in der Mitte.) (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Lachen
Wir sitzen jetzt in diesem Hause auf der äußersten und Zurufe in der Mitte und rechts.)
Linken, aber wir haben nicht die Absicht, die de Das Wesentliche ist die Stärkung und Förderung
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 37
(Ollenhauer)
eines demokratischen Staatsbewußtseins aller Trä- des jetzigen Senats unter Führung von Bürger
ger und Mitarbeiter der Verwaltung der Bundes- meister Brauer nicht bestritten, abgesehen von der
republik. indiskutablen Wahlpropaganda des „Hanseaten",
(Zustimmung bei der SPD.) des Wahlblocks.
Meine Damen und Herren, wir haben mit Ge- (Lachen in der Mitte.)
nugtuung von der wiederholten Erklärung des Es muß der Eindruck entstehen, daß der Bundes-
Herrn Bundeskanzlers Kenntnis genommen, daß regierung und den Koalitionsparteien die politi-
sein Ziel eine Politik der Befriedung nach innen sche Gleichschaltung der Hansestadt mit Bonn
und außen sei. Wir wünschen, daß in diese Politik höher steht als die Entscheidung der Hamburger
auch eingeschlossen wird die Respektierung der Bevölkerung über die sachlichen Leistungen der
selbständigen und sachlichen Ordnung der Regie- bisherigen Hamburger Stadtregierung.
rungsverhältnisse in den Ländern der Bundes-
republik nach den dort gegebenen Kräfteverhält- (Beifall bei der SPD.)
nissen. In diesem Zusammenhang noch ein Wort über
(Beifall bei der SPD. — Abg. Kunze: das Verhältnis der Bundesregierung zu den freien
Einverstanden!) Organisationen und Verbänden in der Bundes-
republik. Wir nehmen die Erklärung des Herrn
Die Bundesrepublik ist ein Bundesstaat. Wir Sozial- Bundeskanzlers zur Kenntnis, daß die Bundesre-
demokraten haben dem föderativen Charakter un- gierung die Unabhängigkeit der Gewerkschaften
seres Grundgesetzes zugestimmt; denn er ent- anerkennt. Es bleibt aber noch ein Punkt offen,
spricht unseren eigenen grundsätzlichen Vorstel- den ich aus grundsätzlichen Erwägungen nicht un-
lungen erwähnt lassen möchte. Freie Organisationen wie
(Lachen bei der CDU/CSU) die Gewerkschaften, deren Loyalität zur Bundes-
— mir ist Ihr Lachen außerordentlich interessant; republik außer jedem Zweifel steht,
denn ich wollte in meinem Manuskript etwas hin-
zufügen, weil ich vorausgesetzt habe, daß Sie den (Zurufe und Unruhe in der Mitte und
folgenden Tatbestand nicht kennen —, die wir be- rechts)
reits im Jahre 1947, also vor der Gründung der — deren Loyalität zur Bundesrepublik außer je-
Bundesrepublik, beschlossen haben. dem Zweifel steht,
-
(Beifall bei der SPD. — Abg. Stücklen: (lebhafter Beifall bei der SPD)
Geheim beschlossen!)
sind in ihren Entscheidungen über ihre Führung
Das Wahlresultat vom 6. September autorisiert und über ihre Arbeit n u r an die Willenskundge-
niemand zu Gleichschaltungsversuchen bei den bungen ihrer Mitglieder in den in den Satzungen
Länderregierungen. festgelegten Körperschaften gebunden, und jede
(Sehr gut! bei der SPD.) Intervention von außen ist ein Verstoß gegen den
Geist unserer demokratischen Grundordnung.
Solche Versuche gefährden das Vertrauen in die
demokratischen Absichten der neuen Mehrheit und (Beifall bei der SPD. — Abg. Albers: Aber
ihrer Regierung. Wir bedauern unter diesem Ge- auch eine Partei darf nicht eingreifen!)
sichtspunkt und vor allem im Hinblick auf die
außergewöhnliche Lage von Berlin die in der vori- Wir hoffen, daß die Erklärung des Herrn Bundes
kanzlers auch these Seite des Problems einschließt.
gen Woche in Berlin vorgenommene Wahl des
neuen Regierenden Bürgermeisters. (Abg. Dr. von Brentano: Einschließt, nicht
(Abg. Kiesinger: Ist die undemokratisch abschließt!)
erfolgt?) — „Einschließt" hatte ich gesagt.
In dieser Lage hätte das Recht der weitaus stärk-
sten Fraktion, auch den neuen Regierenden Bür- Aber hinter dieser Frage steht ein anderes ern-
germeister zu stellen, nicht bestritten werden stes Problem. Der Herr Bundeskanzler hat in seiner
dürfen, Rede leider überhaupt nichts über die innenpoliti-
schen Absichten seiner Regierung im eigentlichen
(Beifall bei der SPD — Abg. Kiesinger: Sinne gesagt. Sie wissen, daß die Öffentlichkeit des
Es gab ein gutes Vorbild in Stuttgart!) In- und Auslandes über die angeblichen Pläne der
zumal die persönliche und sachliche Qualifikation neuen Bundesregierung in bezug auf die Schaffung
des sozialdemokratischen Kandidaten von keiner eines sogenannten Informationsministeriums tief
Seite bestritten worden ist. beunruhigt war. Der Herr Bundeskanzler hat solche
(Abg. Dr. Krone: Aber Herr Ollenhauer!) Absichten dementiert; aber leider fehlt in seiner
Regierungserklärung jedes Wort über diesen Punkt.
Es ist mehr als peinlich, diese Erfahrung so kurze Wir haben auch nichts über die Pläne der Regie-
Zeit nach den unvergeßlichen Trauerkundgebungen rung in bezug auf die gesetzliche Regelung z. B.
für Ernst Reuter machen zu müssen. des Rundfunk- und Pressewesens gehört. Ich be-
(Erneuter Beifall bei der SPD.) fürchte, dieses Schweigen ist kein Zufall; auf uns
Wir bedauern auch das Eingreifen des Herrn wirkt es beunruhigend.
Bundeskanzlers in den Hamburger Wahlkampf mit (Zustimmung bei der SPD. — Abg. Ten
der Begründung, es komme darauf an, die drei hagen: Lenz hat ja noch keinen Posten!)
Hamburger Stimmen im Bundesrat auf die Seite
der Regierung zu bringen. Das Leben in der Demokratie besteht ja nicht nur
(Hört! Hört! bei der SPD. — Lachen in der aus der Regelung der wirtschaftlichen und sozialen
Mitte.) Lebensbedingungen ihrer Bürger; im Gegenteil,
das Wesentliche ist der Mensch, die Sicherung sei-
In Hamburg steht die zukünftige Verwaltung die ner persönlichen Freiheit, der Freiheit des Wortes
ser größten Stadt der Bundesrepublik zur Entschei und der Information, die Sicherung seines geistigen
dung. Auch hier werden die großen Leistungen und religiösen Lebens vor jedem Zwang und vor
38 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
jeder Vorherrschaft einer politischen Auffassung Ich möchte sagen, daß jeder Versuch, solche Verfas-
oder eines religiösen Bekenntnisses. sungsänderungen ohne oder gegen die Sozialdemo-
(Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. kratie herbeizuführen, eine sehr ernste Lage
Dr. von Brentano: Ausgezeichnet!) schaffen würde.
(Sehr richtig! bei der SPD. — Unruhe in
Erst die Erhaltung und die Pflege dieser Freihei- der Mitte.)
ten macht den vollen Wert und die wirkliche Über-
legenheit der Demokratie gegenüber jedem andern Bevor ich mich nun im einzelnen mit dem Inhalt
Herrschaftssystem aus. der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanz-
(Beifall bei der SPD.) lers auseinandersetze, möchte ich noch eine Berner
kung von allgemeiner Bedeutung vorausschicken.
Meine Damen und Herren, es ist eine tiefe Un- Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungs-
ruhe im Volk, erklärung wiederholt vom deutschen Volk und von
(Oho-Rufe in der Mitte) Deutschland gesprochen. Die Tatsache, daß , die
daß diese Freiheiten im Gefolge der neuen Macht Wiedervereinigung Deutschlands noch als Aufgabe
verteilung im neuen Bundestag gefährdet werden vor uns liegt, schließt in sich, daß wir hier uns des
könnten. besonderen und vor allem im Hinblick auf die Wie-
derherstellung der Einheit unseres Vaterlandes
(Zurufe von der SPD und von der Mitte.) provisorischen Charakters der Bundesrepublik
Es besteht die Sorge, daß hinter dem Streit um die Deutschland immer bewußt bleiben müssen.
Konfession des immer noch nicht vorhandenen (Beifall bei der SPD.)
Herrn Postministers mehr steht als ein interner
Koalitionskonflikt um die Zahl der Ministersitze. Wir wünschen, daß in ,den Stahl- und Betonbauten
(Zustimmung bei der SPD. — Abg. Kunze: der Bundesministerien, die jetzt hier „provisorisch"
Ach!) errichtet werden,
Wir Sozialdemokraten machen uns hier zum Spre- (Heiterkeit bei der SPD)
cher dieser Besorgten, wo immer sie politisch ste- das Bewußtsein immer lebendig ist, daß die große
hen mögen. Eine Demokratie, die versuchen wollte, nationale Aufgabe der Vereinigung und der Neu-
mit gesetzlichen Maßnahmen und behördlichen gestaltung des ganzen Deutschlands noch vor uns
- liegt und daß wir sie dann von der Hauptstadt
Einrichtungen das geistige und kulturelle Leben
des Volkes zu dirigieren oder im Sinne einer be- Berlin in Angriff nehmen wollen.
stimmten Politik oder Konfession zu lenken und (Lebhafter Beifall bei der SPD und Abge
zu beherrschen, zerstört ihre geistigen und ethi- ordneten der CDU.)
schen Grundlagen. Der Herr Bundeskanzler hat nun seine Regie-
(Beifall bei der SPD.) rungserklärung im Namen seines neuen Kabinetts
Die Demokratie kann nur leben im Geiste der Tole- abgegeben. Diese neue Regierung ist zweifellos an-
ranz und im Geiste der Freiheit, nicht nur nach ders zustande gekommen und anders zusammenge-
außen, sondern vor allem auch im Innern. setzt, als die Wähler es sich nach dem eindeutigen
Wahlausgang vorgestellt hatten. Die Verhandlun-
(Erneuter Beifall bei der SPD.) gen waren deprimierend langwierig, und das Ende
Es ist der Wunsch der sozialdemokratischen war die Bildung eines Mammutkabinetts. Dabei
Fraktion, daß die diesen Bemerkungen zugrunde wissen wir heute noch nicht einmal, ob die obere
liegende Sorge über autoritative Tendenzen und Grenze überhaupt schon erreicht ist.
Aktionen sich bald als gegenstandslos erweisen wird.
(Sehr gut! und Heiterkeit bei der SPD.)
Wenn wir sie hier zu Beginn zum Ausdruck ge-
bracht haben, dann auch deshalb, weil der Herr Die Gründe, die der Herr Bundeskanzler für die
Bundeskanzler bei den Verhandlungen über die Erweiterung des Kabinetts angeführt hat, sind
Regierungsbildung so großes Gewicht darauf ge- nicht überzeugend.
legt hat, seiner neuen Regierung eine verfassung- (Zustimmung bei der SPD.)
ändernde Mehrheit zu sichern. Soweit es sich dabei
um die Verfassungsergänzung im Zusammenhang Die Bestellung von vier Ministern für besondere
mit den Verträgen handelt, ist dieses Bemühen Aufgaben, die nach der Mitteilung des Herrn Bun-
verständlich. Wir hoffen aber sehr, daß nicht wei- deskanzlers die Aufgabe haben sollen — trotz
tere wesentliche Verfassungsänderungen oder we- seiner Erfahrungen mit seinen Sprechministern
sentliche Gesetzesänderungen, die entscheidende (Lachen bei der SPD)
Institutionen der Demokratie und der Bundes- die Politik der Regierung öffentlich zu vertreten,
republik betreffen — vor allem in bezug auf die
(Heiterkeit bei der SPD)
innere demokratische Ordnung der Bundesrepublik
—, in Aussicht genommen worden sind. ist sachlich nicht vertretbar. Sie steht auch im
(Abg. Dr. Krone: Da können Sie unbesorgt direkten Widerspruch zu der immer wieder gefor-
sein!) derten Sparsamkeit in der Verwaltung.
Sollte das der Fall sein, dann möchten wir jetzt (Sehr gut! bei der SPD.)
darauf hinweisen, daß die sozialdemokratische In Wirklichkeit ist ja auch die Kabinettsbildung
Opposition in diesem Hause eine der entscheiden- nicht in erster Linie von der sachlichen Aufgaben-
den verfassungtragenden Parteien repräsentiert. seite her bestimmt worden, sondern von dem Be-
(Beifall bei der SPD. — Zuruf von der dürfnis, die Ansprüche der verschiedenen Frak-
Mitte.) tionen der Koalition auf einer möglichst breiten
Basis zu befriedigen.
— Selbstverständlich, denn das Grundgesetz ist das
Resultat einer gemeinsamen positiven Entschei- (Sehr wahr! bei der SPD.)
dung eines Teils der heutigen Koalition und der Man hat nach dem 6. September in großen Worten
Sozialdemokratie. die Eindeutigkeit und Geschlossenheit der Ent
(Lebhafter Beifall bei der SPD.) scheidung dieser Wahl geprisen. Aber als es
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 39
(Ollenhauer)
darum ging, dieses Resultat auf die neue Regie- Wir begrüßen es, daß der Herr Bundeskanz
rung zu übertragen, da erzwangen nicht nur politi- ler den Grundsatz der Verbundenheit von Wirt-
sche und Interessengegensätze die inflationistische schafts-, Finanz- und Sozialpolitik aufgestellt hat.
Erweiterung des Kabinetts, sondern die konfessio- Er entspricht einem alten sozialdemokratischen
nelle Zusammensetzung der höchsten politischen Grundsatz.
Körperschaft der Bundesrepublik wurde zum (Sehr gut! bei der SPD.)
öffentlichen Streitgegenstand.
Die Schwierigkeiten bei der Durchführung dieses
(Sehr wahr! bei der SPD. — Zuruf von Grundsatzes werden daher in erster Linie in der
der SPD: Zum öffentlichen Skandal!) Regierung selbst und in der Koalition entstehen.
Eine fruchtbare Debatte über diese zentrale Frage
Den Schaden, den das Ansehen der Regierung da- wird aber erst dann möglich sein, wenn die Re-
bei erlitten hat, hat sie selber zu verantworten. gierung und die Koalition damit aufhören, über
(Sehr gut! bei der SPD.) den Gegensatz zwischen Regierung und Opposition
Was wir bedauern, ist, daß in dieser Weise konfes- auf der Basis soziale Marktwirtschaft gegen Plan-
sionelle Überzeugungen zum Gegenstand eines offe- wirtschaft zu diskutieren.
nen politischen Machtkampfes gemacht worden Der Herr Bundeskanzler hat wiederum das
sind. Schlagwort von der sozialen Marktwirtschaft zur
(Beifall bei , der SPD.) Grundlage seiner Regierungserklärung und damit
der Regierungspolitik der nächsten vier Jahre ge-
Meine Damen und Herren, von der Sache her hat
diese Regierung sechs Minister zuviel und einen zu- macht. Wir wollen mit dem Herrn Bundeskanzler
wenig. nicht darüber rechten, ob ein solches buntschillern-
(Beifall bei der , SPD.) des Schlagwort eine genügend tragfähige Grundlage
für die Wirtschaftspolitik der deutschen Bundes-
Die Tatsache, daß die zweite Regierung Adenauer republik ist. Es erscheint uns jedoch bemerkens-
ihre Tätigkeit auch wieder ohne einen Außenmini- wert, daß nach Auffassung des Herrn Bundes-
ster beginnt, ist eine ihrer entscheidenden Schwä- kanzlers die Entscheidung, ob soziale Marktwirt-
chen. Vor der Wahl gab es auch in den Reihen der schaft oder Planwirtschaft, zugleich die Entschei-
Koalition sehr ernsthafte Stimmen für die endliche dung der Frage war, ob eine Regierung unter Ein-
Besetzung des Postens eines Außenministers, - und schluß der Sozialdemokratie zu bilden sei oder
bei der Bedeutung der Außenpolitik für das Schick- nicht. Damit wird der Eindruck erweckt, als ob die
sal der Bundesrepublik angesichts des Anwachsens Regierungskoalition grundsätzlich eine Politik der
der Aufgaben auf diesem Gebiete kann über die freien Markt- und Wettbewerbswirtschaft verfechte
sachliche Notwendigkeit eines Außenministers und eine planmäßige Beeinflussung des Wirt-
überhaupt nicht gestritten werden. schaftsablaufs durch wirtschaftspolitische Maßnah-
(Abg. Hilbert: Wir haben ja einen! — men ablehne, während die Sozialdemokratie grund-
Heiterkeit.) sätzlich die Politik einer Plan- oder gar Zwangs-
wirtschaft befürworte und den freien Wettbewerb
— Vielleicht kommen Sie damit in Ihrer Fraktion beseitigen wolle. Das entspricht nicht den Tat-
durch, aber nicht hier in diesem Hause. sachen.
(Beifall bei der SPD.) (Sehr richtig! bei der SPD. — Abg. Dr.
Trotzdem ist diese Besetzung wiederum nicht er- von Brentano: Seit wann? — Hört!
folgt, und das Haus hat darüber vom Herrn Bun- Hört! bei den Regierungsparteien.)
deskanzler auch keine Erklärung erhalten. Die
Forderung der Sozialdemokratie ist hier: unver- In der Wirklichkeit gibt es viele Bereiche, in denen
zügliche Besetzung dieses wichtigen Amtes. die Marktwirtschaft nicht funktionieren kann.
In Zusammenhang mit dieser unzutreffenden
(Vizepräsident Dr. Schmid übernimmt Gegenüberstellung von Marktwirtschaft und Plan-
den Vorsitz.) wirtschaft steht die Feststellung des Herrn Bun-
Und nun, meine Damen und Herren, zum Inhalt deskanzlers, daß die Freiheit in der sozialen
der Regierungserklärung selbst. Sie werden ver- Marktwirtschaft auch die Freiheit vor Gruppen-
stehen, daß der Opposition daran liegt, bei dieser interessen bedeute. Es erscheint mir außerordent-
ersten Stellungnahme zum Programm der Regie- lich bezeichnend, daß zu dieser Feststellung des
rung hier auch ihre Position in den wichtigsten Herrn Bundeskanzlers ausgerechnet die Vertreter
Fragen zu präzisieren, weil ja schließlich diese der Gruppeninteressen innerhalb der Koalition
Auseinandersetzung die Grundlage für die parla- lebhaft Beifall klatschten.
mentarische Arbeit in diesem Hause bieten soll und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
weil es uns nützlich erscheint, die Positionen der
beiden Hauptgruppen in diesem Parlament von Die Sozialdemokratie weiß, daß eine nachhaltige
Beginn an möglichst klar und konkret festzulegen. Verbesserung der sozialen Verhältnisse insbeson-
Aus diesem Grunde bitte ich Sie um Geduld, wenn dere der breiten Schichten der Bevölkerung
ich hier jetzt auf gewisse wesentliche Einzelpar- letzten Endes nur möglich ist durch eine Vergrö-
tien der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers ein- ßerung des Sozialprodukts. Sie ist daher Anhänger
gehe. einer planmäßigen wirtschaftlichen Expansions-
politik.
Mit Recht hat der Herr Bundeskanzler in seiner
Regierungserklärung den innenpolitischen Aufga- In der heutigen Situation wird der Ansatzpunkt
ben einen breiten Raum eingeräumt. Denn die für eine solche Ausweitung in erster Linie auf
Schaffung einer Ordnung, die allen Bürgern der dem Gebiet der Konsumgüterindustrie liegen müs-
Bundesrepublik die demokratischen Grundrechte sen. Die Sozialdemokratie legt jedoch Wert darauf,
sichert und ihnen ein Leben ohne Furcht vor Not daß sie nicht nur die gehobenen Konsumgüter, son-
ermöglicht, ist die vordringliche Aufgabe des neuen dern insbesondere auch die Massenkonsumgüter
Bundestags. erfaßt. Die Bemühungen um eine Vergrößerung des
40 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
Sozialprodukts auf dem Konsumgütergebiet ver- das wir vor einem Jahr beschlossen haben. Es tut
langen unter den heutigen Verhältnissen entspre- mir leid, wenn ich das hier nicht als bekannt
chende investitionsfördernde Maßnahmen in dieser voraussetzen kann.
Industrie. Die erforderliche Stabilität der Wirt- Die Sozialdemokratie weiß, daß ein echter Lei-
schaft kann daher nur durch ein harmonisches stungswettbewerb in weiten dafür geeigneten Wirt-
Entwicklungsverhältnis von Konsumgüter- und In- schaftszweigen von entscheidender Bedeutung für
vestitionsgüterindustrie erreicht werden. Hierzu die freie Konsumwahl des Verbrauchers bei an-
bedarf es des konstruktiven Einsatzes der wirt- gemessenen Preisen und für die Entfaltung einer
schaftspolitischen Mittel, die der Bundesregierung gesunden Unternehmerinitiative ist.
zur Verfügung stehen. (Lachen bei den Regierungsparteien.)
(Sehr gut! bei der SPD.) Es handelt sich hier um sehr große und entschei-
Wir begrüßen es ganz besonders, daß dieser Tat- dende Wirtschaftsbereiche, zu denen insbesondere
bestand nunmehr auch durch die Hohe Behörde die gesamte kleinere und mittlere Industrie und
und den Ministerrat der Montan-Union anerkannt das Handwerk gehören. Die Sozialdemokratie for-
worden ist, indem sie sich für eine gemeinsame dert daher wirksame Maßnahmen zur Sicherung
Investitionspolitik aller Länder der Montan-Union dieses Wettbewerbs, die gleichzeitig der Steigerung
ausgesprochen haben, um den allgemeinen Ver- der Produktivität und der Ausdehnung unserer
brauch — wie es heißt — und insbesondere den Wirtschaft dienen müssen. Insbesondere für eine
der öffentlichen Dienste gleichmäßig zu gestalten Regierung, die die Marktwirtschaft zum Angel-
oder zu beeinflussen und um diese allgemeine Ent- punkt ihrer gesamten Wirtschaftspolitik machen
wicklung und die Programme der Hohen Behörde will, müßte die Sicherung des Wettbewerbs durch
aufeinander abzustimmen. Damit hat die Hohe eine gesetzliche Ordnung von entscheidender Be-
Behörde eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß die deutung sein.
Steigerung des Sozialprodukts von einer plan- Wir begnügen uns mit der Feststellung, daß die
mäßigen Koordinierung der Investitionspolitik in Bundesregierung das Kartellgesetz gegenüber den
allen beteiligten Ländern und in allen beteiligten Interessentengruppen bisher nicht hat durchsetzen
Wirtschaftszweigen abhängig ist. Wir haben uns können,
besonders gefreut, daß dieser Beschluß mit Zu- (Sehr richtig! bei der SPD)
-
stimmung des Herrn Bundeswirtschaftsministers
Professor Erhard gefaßt worden ist. obwohl der Herr Bundeswirtschaftsminister mehr-
fach erklärt hat, daß ein Kartellgesetz eine un-
(Hört! Hört!, Heiterkeit und Beifall verzichtbare Voraussetzung für das Funktionieren
bei der SPD.) der sogenannten sozialen Marktwirtschaft sei.
Damit komme ich zum Kernpunkt dieser Aus- (Beifall bei der SPD.)
einandersetzung. Wir erschweren jede ernsthafte
Diskussion über zweckmäßige Maßnahmen der Wir haben auch mit Erstaunen festgestellt, daß das
Wirtschaftspolitik, wenn wir so tun, als ob man Kartellgesetz in der Regierungserklärung nicht
die Wirtschaft nach gewissen weltanschaulich be- mit einem Wort erwähnt worden ist.
stimmten Prinzipien — hie freie Marktwirtschaft, (Hört! Hört! und Sehr richtig!
hie Planwirtschaft — betreiben könne. bei der SPD.)
(Zuruf rechts: Das haben Sie doch In diesem Zusammenhang darf ich auch darauf
immer get an!) hinweisen, daß sich in der Montanwirtschaft die
Interessen der Großaktionäre in Zusammenarbeit
Die Wirtschaft der modernen Industriestaaten ist mit den alliierten Besatzungsbehörden bei der
so kompliziert und so differenziert, daß man ihr Durchführung des Aktienumtausches in einer
mit einseitigen Prinzipien und Schlagworten nicht Weise durchsetzen, die weder gesamtwirtschaft-
gerecht wird. lichen Interessen noch den Interessen der zahllosen
(Beifall bei der SPD. — Hört! Hört!, Klein- und Mittelaktionäre entspricht.
Heiterkeit und Beifall bei den (Sehr wahr! bei der SPD.)
Regierungsparteien.)
Meine Damen und Herren! Das Schwergewicht
— Ich will Sie in Ihrer Freude nicht stören, ehe der in der Regierungskoalition wirksamen Interes-
ich den nächsten Satz lese. — Es ist unzutreffend, sen hat den Herrn Bundeskanzler offenbar auch
wenn behauptet wird, die Sozialdemokratie sei veranlaßt, die Forderung nach einer Neuordnung
Anhänger der Planwirtschaft der Besitzverhältnisse in den Grundstoffindu-
(Lachen bei den Regierungsparteien) strien, die ein wesentlicher Gesichtspunkt seiner
Regierungserklärung vom September 1949 war,
und damit Gegner des freien Wettbewerbs. diesmal fallenzulassen.
(Abg. Dr. von Brentano: Seit wann? (Hört! Hört! bei der SPD.)
— Weitere Zurufe von den
Regierungsparteien.) Dabei haben die Umgestaltung der deutschen Eisen-
und Stahlindustrie auf Grund alliierter Gesetze
— Meine Damen und Herren, ich bin sehr über- und der Verzicht auf eine zielbewußte Investitions-
rascht über diese Reaktion politik die Leistungsfähigkeit dieses Industriezwei-
(erneute Zurufe von den Regierungs ges und auch des deutschen Kohlenbergbaus ge-
parteien) genüber der anderer Mitglieder der Montan-Union
auf diesem Sektor stark herabgemindert. Der
und ich freue mich, daß ich diese Bemerkung jetzt Aktienumtausch, den ich schon erwähnte, hat Fol-
gemacht habe. Denn im Grunde ist alles das, was gen, die gesamtwirtschaftlich unerwünscht sind.
ich hier sage, zum letzten Male in dem Aktions- Und wenn Sie alle anderen Gründe für eine Neu-
programm der Sozialdemokratie formuliert, ordnung nicht akzeptieren, meine Damen und Her-
(Beifall bei der SPD) ren — die Neuordnung der Besitzverhältnisse in
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 41
(Ollenhauer)
den Grundstoffindustrien ist deshalb heute drin- Bundesunternehmungen gegenüber entgegenste-
gender als je, auch schon um nur ihre Leistungs- henden Interessen starker, marktbeherrschender
fähigkeit derjenigen der übrigen Montanländer Unternehmungen preissenkend und damit preis-
anzupassen. regulierend wirken können. Dagegen ist sie überall
(Beifall bei der SPD.) dort abzulehnen, wo sie keine wirtschaftspolitische
Bedeutung hat. Insbesondere ist es nicht die Auf-
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammen-
gabe des Staates, verlustbringende Unternehmun-
hang einige Bemerkungen über die wirtschaftliche gen zu übernehmen, sie durch Zuführung öffent-
Betätigung der öffentlichen Hand. Sie ist in den licher Mittel zu sanieren und anschließend als ge-
letzten Wochen vor der Wahl und auch nach der sunde Unternehmungen wieder der privaten Hand
Wahl Gegenstand zahlreicher offizieller und in-
offizieller Äußerungen gewesen. In den letzten zurückzugeben.
Wochen vor der Wahl wurden die der Bundes- (Lebhafter Beifall bei der SPD und
regierung nahestehenden politischen und wirt- vereinzelt in der Mitte.)
schaftlichen Gruppen nicht müde, eine umfang- Diese Sozialisierung der Verluste und Reprivatisie-
reiche Reprivatisierung von Bundesunternehmun- rung der gewinnbringenden Unternehmungen mag
gen zu verlangen. Der Herr Bundesfinanz- sehr gewichtigen Interessenwünschen entsprechen.
minister dagegen hat sich persönlich kurz vor Sie ist jedoch genau das Gegenteil einer Wirt-
dem Wahltag in das Volkswagenwerk bemüht, um schaftspolitik, die den Gesamtinteressen dient.
dort zu verkünden, daß die Bundesregierung kei-
nesfalls eine Überführung des Volkswagenwerks In den vergangenen Jahrzehnten hat die öffent-
in private Hände vorschlagen werde. liche Hand vor allem auf dem Gebiet des Verkehrs,
(Abg. Albers: Dia findet er unsere des Bergbaus und der Energiewirtschaft über
Unterstützung! — Gegenrufe von öffentliche Unternehmungen einen sehr gesunden
der FDP.) Einfluß ausgeübt. Der Bundesbesitz im Verkehr,
in der Grundstoffindustrie und in der Energie-
Nach der Wahl haben zuständige Wirtschaftskreise wirtschaft darf daher aus gesamtwirtschaftlichen
den Kanzler darüber unterrichtet, daß die wirt- Gründen nicht angetastet werden.
schaftliche Betätigung der öffentlichen Hand be-
schränkt und bereinigt werden müßte, (Beifall bei der SPD.)
(Abg. Mellies: Hört! Hört!) Dringend erforderlich ist nach unserer Auffassung
eine Neuordnung des Bundesvermögens in all den
die Forderung nach Überführung von Betrieben Details, die zu diesem Kapitel gehören. Die So-
der öffentlichen Hand in Privatbesitz dürfe nach zialdemokratie erwartet, daß auch diese Aufgabe
diesem Wahlausgang nicht unverwirklicht bleiben. nunmehr endlich in Angriff genommen wird.
(Hört! Hört! bei der SPD.)
Auf dem Gebiet der Außenwirtschaft werden
Der jetzige Herr Bundesminister Preusker hat wir, wie bisher, die Regierung in ihrem Bemühen,
nach einer Meldung der „Welt" vom 13. Oktober den Außenhandel auszuweiten und ihn von allen
auf der Jahresversammlung des deutschen Kraft- kleinlichen Beschränkungen zu befreien, unter-
fahrzeughandwerks im Gegensatz zu der Äuße- stützen. Wir wünschen aber eine Präzisierung die-
rung seines Kollegen, des Herrn Bundesfinanz- ses Programms in mehreren Punkten, in denen die
ministers, erklärt, er und seine Freunde würden tste Bundesregierung unsere Erwartungen nicht
nicht eher ruhen, als bis das Volkswagenwerk in erfüllt hat. Im Gegensatz zu der aus sechs Län-
private Hände übergeführt worden sei. dern bestehenden Montan-Union liegt die Bedeu-
(Hört! Hört! bei der SPD. — Beifall tung des Europäischen Wirtschaftsrats in seiner
bei der FDP.) größeren Ländergemeinschaft — es sind nämlich 18
anstatt nur 6 Länder — und seiner - umfassen-
Inzwischen geht das Trommelfeuer der privaten
Interessentengruppen gegen die öffentlichen Be- deren wirtschaftlichen Verantwortung für die
triebe weiter. Am 16. Oktober hat der General- Entwicklung der Gesamtwirtschaft, nicht nur der
direktor der Gutehoffnungshütte, Herr Dr. Kohle- und Stahlindustrie. Wir fragen deshalb: Ist
die Bundesregierung bereit, dem Europäischen
Reusch, nunmehr auch die Reprivatisierung der Wirtschaftsrat, OEEC, künftig ebensoviel Bedeu-
großen Energieversorgungsunternehmungen ver- tung beizumessen, wie sie es in der Vergangenheit
langt. gegenüber der Montan-Union getan hat? Weiter:
(Hört! Hört! bei der SPD.)
Ist die Bundesregierung bereit, im Europäischen
Bei dieser Verworrenheit der Meinungen inner- Wirtschaftsrat dafür einzutreten, daß internatio-
halb der Bundesregierung und der hinter ihr nale Maßnahmen getroffen werden, um die lebens-
stehenden Kreise überrascht es nicht, daß der Herr notwendige Produktionssteigerung von 5 % jähr-
Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung die lich für alle beteiligten Länder sicherzustellen?
wirtschaftliche Betätigung der öffentlichen Hand
mit keinem Wort erwähnt hat. Die Öffentlichkeit Wir begrüßen die Ankündigung der Regierung,
die mittleren und kleineren Betriebe mehr als
hat jedoch ein Anrecht darauf, die Auffassung der bisher zum Export heranzuziehen. Aber wir fra-
Bundesregierung über diese wichtige Frage kennen-
zulernen. gen: Welche neuen Maßnahmen will die Regierung
(Sehr richtig! bei der SPD.) treffen, um dieses wichtige Ziel zu verwirklichen?
Meine Damen und Herren, wir wünschen auch,
Die Betätigung der öffentlichen Hand in der Wirt- daß auf diesem Gebiet die Notwendigkeit für die
schaft ist nicht eine Angelegenheit der Hortung Stadt Berlin, zu exportieren, mehr als bisher be-
von Sachvermögen, sondern ein Mittel der Wirt- rücksichtigt wird.
schaftspolitik. Soweit eine wirtschaftspolitische (Sehr gut! bei der SPD.)
Einflußnahme auf dem Wege über die Beteiligung
an wirtschaftlichen Unternehmungen im Allge- Wir bedauern, daß uns auch die Bemerkung des
meininteresse liegt, soll und muß sie erfolgen. Herrn Bundeskanzlers über die Verkehrspolitik
Das gilt insbesondere auch für die Fälle, in denen seiner Regierung nicht befriedigt hat. Die Ver-
42 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
kehrswirtschaft gehört zu den wichtigsten Vor- Darum fordert die sozialdemokratische Fraktion
aussetzungen einer blühenden Volkswirtschaft. von der Agrarpolitik und insbesondere von der
Ihr gegenüber hat aber die Bundesregierung bis- Bodenpolitik die Vermehrung der lebensfähigen
her so gut wie alles versäumt. Die Krise der Bun- bäuerlichen Familienbetriebe und eine aktive
desbahn, ja die sichtbare Krise der deutschen Ver- Siedlungspolitik unter besonderer Berücksichtigung
kehrswirtschaft ist ein latenter Krisenherd für der heimatvertriebenen Landwirte. Gerade weil
die gesamte Volkswirtschaft. Jahr für Jahr ist die sich die der Landwirtschaft zur Verfügung stehende
ruinöse Konkurrenz zwischen den Trägern des Bodenfläche aus den bekannten Gründen ständig
Binnenverkehrs gesteigert worden. Jetzt kann die vermindert, muß alles getan werden, damit die-
Bundesbahn aus eigener Kraft nicht mehr Lohn jenigen zum Zuge kommen, die im Sinne einer
und Gehalt zahlen. Obwohl sie immer noch 60% besseren volkswirtschaftlichen Leistung die bes-
der inneren Verkehrsleistungen vollbringt, wird seren Wirte sind.
sie ihren volkswirtschaftlichen Verpflichtungen
nicht mehr gerecht. Wir sind der Meinung, daß Der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen,
die Bundesbahn von den politischen Lasten be- daß auch unsere Landwirtschaft in gemessener Zeit
freit werden muß. Sie braucht ein Finanzierungs- vor der Tatsache des gemeinsamen europäischen
programm zur Beseitigung noch bestehender Marktes stehen wird. Nun weiß aber jeder, daß
Kriegsschäden und für den Nachholbedarf. das Modell der Montan-Union für die Landwirt-
schaft nicht geeignet ist.
Es scheint uns auch notwendig, daß die Finan- (Sehr richtig! bei der SPD.)
zierungsprobleme in bezug auf Straßenbahn und
andere Verkehrsträger ebenfalls von der Bundes- Deshalb wäre uns eine klare Absage lieber gewe-
regierung untersucht und angepackt werden. sen. Die Landwirtschaft darf nicht noch mehr den
Folgen außenpolitischer Experimente ausgesetzt
(Sehr gut! bei der SPD.) werden.
Außerdem scheint uns ein völliger Umbau der (Sehr gut! bei der SPD. — Abg. Dr. Becker
Steuergesetzgebung im Verkehrswesen erforder- [Hersfeld]: Und Zollerhöhungen?)
lich. Die bisherige Bundesregierung hat zwar die Gerade wenn man aber eine gesunde wirtschaft-
Motorisierung mit steuerlichen Maßnahmen voran- liche Zusammenarbeit der europäischen Völker
getrieben, aber sie hat den Ausbau des - überbe- will, muß man es auf das tiefste bedauern, daß
anspruchten Straßennetzes und seine Instandhal- während der letzten vier Jahre alle Maßnahmen
tung in unverantwortlicher Weise vernachlässigt. zur nachhaltigen Förderung und strukturellen Ver-
(Sehr wahr! bei der SPD.) besserung unserer Landwirtschaft auf das sträf-
lichste vernachlässigt worden sind.
Die Lücken im Autobahnnetz müssen schnellstens
Aus dem Katalog dieser Maßnahmen hat der
geschlossen werden. Herr Bundeskanzler unter besonderer Betonung
Es muß weiter gefördert werden der Wiederauf- der Kleinbauern die Flurbereinigung genannt. Da
bau der deutschen Handelsflotte. Aber wichtig ist mit ist aber nichts getan, wenn man an Stelle der
auch die Modernisierung der Binnenschiffahrts- erforderlichen Mittel immer nur einen Erin-
flotte. Und schließlich hoffen wir, daß die Regie- nerungsposten in den Haushaltsplan einstellt.
rung durch Verhandlungen erreicht, daß die über- (Sehr gut! bei der SPD.)
holten besatzungsrechtlichen Hindernisse für die
deutsche Zivilluftfahrt auf dem Wege der Verstän- Da wir keine großen Hoffnungen haben, daß sich
digung endlich aus der Welt geschafft werden. das im Laufe der nächsten Jahre ändern wird, wer-
den wir uns mit um so größerem Nachdruck für
(Zuruf von der DP: Stimmen Sie doch die Bereitstellung der Beträge einsetzen, die für
der EVG zu! — Gegenrufe von der SPD.) die wirksame Ergänzung der eigenen Anstrengun-
Meine Damen und Herren! Im Bereich der Agrar- gen unserer Bauern nun einmal aufgebracht wer-
politik ist es bedauerlich, daß die Regierungspraxis den müssen.
weit hinter dem zurückgeblieben ist, was von allen Meine Damen und Herren! Wenn die Leistungs-
Seiten als richtig und notwendig anerkannt war. fähigkeit der Landwirtschaft eingestandenermaßen
Die Sozialdemokratie bekennt sich unverändert zu mehr und mehr darunter leidet, daß die Kosten
einer Agrarpolitik, die der Landwirtschaft hilft, ihrer Produktionsmittel, die sie von der Industrie
ihre wirtschaftlichen Leistungen ständig zu er- kaufen muß, viel schneller steigen als ihre eigenen
höhen. Nur auf diesem Wege ist eine bessere Er- Einnahmen, dann ist es völlig unzureichend, wenn
nährung des Volkes, ist eine bessere Ordnung der der Herr Bundeskanzler sich und andere mit der
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der auf Hoffnung tröstet, daß aus den Verhandlungen zwi-
dem Lande arbeitenden Menschen zu erreichen. schen den Spitzenverbänden der Industrie und der
(Zuruf von der FDP: Die Botschaft Landwirtschaft sozusagen von selber eine Besse-
hör' ich wohl!) rung dieses bedrohlichen Zustandes hervorgehen
wird. Gerade unter dieser berüchtigten Preisschere
Die Sozialdemokratie bekennt sich zum bäuerlichen leidet die Rationalisierung und die Intensivierung
Privateigentum an Grund und Boden. Die beson- der Landwirtschaft, und weil es nicht stimmt, daß,
deren Aufgaben der deutschen Landwirtschaft in wie der Herr Bundeskanzler behauptet hat, der
unserer Zeit, Veredlungswirtschaft im Wettbewerb Wiederaufbau des Produktionsapparates als be-
mit anderen Erzeugungsgebieten auf einem gemein- endet angesehen werden kann — in manchen Ge-
samen europäischen Markt, können überhaupt nur genden sind noch nicht einmal die direkten Kriegs-
gelöst werden, wenn das Eigentum am Boden die zerstörungen beseitigt —, muß man sich hier schon
Grundlage wirtschaftlicher und sozialer Freiheit zu wirksamen Maßnahmen einer aktiven Agrar-
ist, indem der Ertrag der landwirtschaftlichen Ar- politik aufschwingen, wenn tatsächlich etwas er-
beit ungeschmälert denen zukommt, die diese reicht werden soll.
Arbeit tatsächlich leisten.
Meine Damen und Herren! Ich habe schon unsere
(Beifall bei der SPD. — Zurufe rechts.) positive Einstellung gegenüber der Erklärung der
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 43
(Ollenhauer)
Bundesregierung unterstrichen, daß sie insbeson- Vordergrund gestellt. Damit wird anerkannt, daß
dere die Finanz- und die Wirtschaftspolitik aufein- mit der Selbstfinanzierung, auf deren Gefahren die
ander abstimmen will. Die neue Bundesregierung Sozialdemokratie immer hingewiesen hat, Schluß
scheint demnach in der Finanzpolitik an Stelle
überwiegend fiskalischen Denkens ökonomische Überholt ist auch das bisherige System der
Überlegungen setzen zu wollen. Das wäre ein Fort- künstlichen, einseitigen und viel zu teuren Steuer-
schritt, nachdem das erste Kabinett Adenauer sich begünstigungen für Kapitalbildung. Das unglück-
gerade dadurch schwach erwies, daß es Wirtschafts- liche Kapitalmarktförderungsgesetz sollte so schnell
und Finanzpolitik isoliert, ja häufig aus dem Ge- wie möglich aufgehoben werden.
gensatz heraus betrieb.
(Abg. Pelster: Hat Herr Seuffert doch
(Abg. Dr. Menzel: Sehr richtig!) mitgemacht!)
Die öffentlichen Aufgaben müssen auf Bund, Aber auch bei den öffentlichen Krediten sollten die
Länder und Gemeinden sinnvoll verteilt werden. Laufzeiten in Zukunft normalisiert und die Steuer
Mit dieser Verteilung der Aufgaben und somit der begünstigungen abgebaut werden. Wenn allerdings
Ausgaben muß eine sinnvolle Verteilung der Ein-- von einer Vorzugsstellung des öffentlichen Kredits
nahmen auf Bund, Länder und Gemeinden vorge- gegenüber den privaten Kreditsuchern gesprochen
nommen werden, die den Finanzausgleich auf einen wird, so muß bedacht werden, daß die öffentliche
Spitzenausgleich reduziert. Nach dem Grundgesetz Hand auch weiterhin ein sehr legitimes Kreditbe
sind die Gemeinden und die Gemeindeverbände dürfnis hat. Kommt es nicht zum Zuge, so müßte
nicht Partner des Finanzausgleichs, obwohl auch das zu einer gewaltsamen Einschränkung der
die Gemeinden nach Art. 109 des Grundgesetzes öffentlichen Investitionen mit untragbaren Rück
in ihrer Haushaltsgebarung unabhängig sind. Es schlägen für die Gesamtwirtschaft führen. Es ist
wird deshalb unumgänglich sein, im Gesetz nach offensichtlich, daß die wichtigsten öffentlichen In
Art. 107 des Grundgesetzes in der Finanzverfas- vestitionen — ich nenne nur die Gebiete des Ver
sung den Gemeinden die Stellung einzuräumen, die kehrs, der Energieversorgung und des sozialen
ihnen nach ihren Aufgaben im Staat zukommt. Wohnungsbaues — durch private Unternehmun
(Beifall bei der SPD.) gen schlechterdings nicht ersetzt werden können.
Die angekündigte große Steuerreform muß eine (Zustimmung bei der SPD.)
organische Steuerreform sein. Sie muß sich- mit- Meine Damen und Herren! Auf der Grenze zwi-
hin der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik auf schen Wirtschafts- und Sozialpolitik liegt das Ge-
Grund der Erkenntnisse anpassen, die sich aus der biet des Wohnungsbaues. Er hat in der Regierungs-
Bevölkerungs-, Sozial- und Wirtschaftsstruktur er- erklärung nur eine knappe Erwähnung gefunden.
geben. Dabei haben wir an den Herrn Finanz- Die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers las-
minister die Frage zu richten, ob er glaubt, daß sen nicht erkennen, ob die Bundesregierung den
eine allgemeine Minderung der Steuerlasten bei Wohnungsbau seiner wirtschafts- und sozialpoliti-
wachsendem Finanzbedarf wirklich möglich ist. schen Bedeutung entsprechend tatsächlich als eine
Nachdem die Regierungskoalition des ersten Bun- der vordringlichsten Aufgaben ansieht, was er nach
destages mit Rücksicht auf den Eindruck auf die unserer Auffassung ist und bleiben múß. Nach wie
Wähler die Einkommen- und Körperschaftsteuer vor leben sehr viele Menschen in Behelfswohnun-
noch vor 'den Wahlen gesenkt hat, wird es nunmehr gen, Kellerlöchern, Bunkern und Baracken. Unser
bei einer organischen Steuerreform in erster Linie Wohnungsfehlbestand liegt trotz aller anerkennens-
auf eine sozial gerechtere Verteilung der Steuern werten Anstrengungen in der Vergangenheit im-
ankommen. mer noch bei über 4 Millionen Wohnungen. Bei
(Sehr richtig! bei der SPD.) dieser Sachlage bleibt es unerfindlich, wie der neue
Herr Wohnungsbauminister am Abend
Hierbei bedürfen die Verbrauchsteuern einer be- seiner Ernennung der Presse erklären konnte: „Ich
sonderen Überprüfung werde mein Amt so führen, daß ich in vier Jahren
(Sehr gut! bei der SPD) vor das Parlament treten und ihm sagen kann, daß
unter wirtschafts- und außenhandelspolitischen so- meine Aufgabe erledigt und mein Ministerium so-
wie unter sozial- und gesundheitspolitischen Er- mit überflüssig geworden ist."
wägungen. (Bravo! rechts. — Lachen bei der SPD.)
(Beifall bei der SPD.)
Meine Damen und Herren, das ist ein großes Wort,
Die Verbrauchsteuern auf unentbehrliche Ver- aber wir fürchten, ein äußerst voreiliges.
brauchsgüter sind ganz abzuschaffen.
(Beifall bei der SPD.) (Abg. Schoettle: Dieser Mut hat nicht lange
vorgehalten!)
Aus der Problematik einer organischen Steuer-
reform ergibt sich, daß sie, wenn irgend möglich, Uns kann die Erklärung des Herrn Bundeswoh-
o r dem Gesetz nach Art. 107 verabschiedet wer- nungsbauministers nur mit Besorgnis erfüllen. Wir
den sollte. haben nämlich die Sorge, daß der Boden des Ersten
(Abg. Dr. Gülich: Sehr richtig!) Wohnungsbaugesetzes — seinerzeit einstimmig be-
schlossen — mehr und mehr verlassen wird. Das
Zum mindesten müßten aber vorher die Grundzüge heißt, es scheint die Absicht zu bestehen, den sozia-
einer organischen Steuerreform festgelegt und in len Wohnungsbau, also die gesetzlich verankerte
diesem Zusammenhang auch die Frage der Bun- Förderung des Wohnungsbaues für die breiten
desfinanzverwaltung erneut behandelt werden, die Schichten der Bevölkerung, wesentlich einzuschrän-
die Sozialdemokratie weiterhin für erforderlich ken und die Richtsatzmiete weiterhin aufzulockern,
hält. wenn nicht gar aufzuheben.
(Abg. Stücklen: Also doch kein Föderalist!) Der Anfang zu dieser Entwicklung ist mit der
Das Problem des Aufbaues eines leistungsfähi- Novelle zum Wohnungsbaugesetz gemacht worden.
gen Kapitalmarktes wird jetzt mit Recht in den Solange die Wohnungsnot noch so groß ist, kann
44 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
auf die Subventionierung des Wohnungsbaues und dieser Neuausgaben aus Beiträgen vom Lohnkonto
darf auf das sozialpolitische Regulativ der Richt- der Versicherten stammt
satzmieten nicht verzichtet werden. (Sehr richtig! bei der SPD)
(Beifall bei der SPD.) und insofern nicht als Leistung der Bundesregie-
Wir warnen hier vor Schlagworten und vor Experi- rung angesprochen werden kann.
menten. Nicht ein Abbau der Förderungsmittel für (Abg. Arndgen: Der Wirtschaft!)
den sozialen Wohnungsbau, sondern eine Verstär-
kung dieser Mittel ist nötig. Es wird auch übersehen, daß die Rentenerhöhun-
gen, gerade soweit sie durch eine Vermehrung der
(Erneuter Beifall bei der SPD.) Bundeszuschüsse erfolgten, notwendig wurden, um
In der Regierungserklärung ist die besondere die Teuerung, die die soziale Marktwirtschaft des
Förderung des Baus von Eigenheimen und fami- Herrn Erhard mit sich brachte, für die Sozialrent-
liengerechten Wohnungen angekündigt worden. ner einigermaßen auszugleichen.
Wir Sozialdemokraten haben schon vor Jahren dar- (Zustimmung bei der SPD.)
auf hingewiesen, daß wir für die Förderung der Wir wenden uns schließlich auch dagegen, daß
Kleinsiedlung und des Kleineigentums eintreten. der Herr Bundeskanzler wiederum versucht hat,
Wir haben im ersten Bundestag bei der Beratung auch die Pensionen der 131 er einschließlich der ehe-
der Wohnungsbaunovelle wiederholt beantragt, die maligen Soldaten als soziale Leistungen des Bundes
notwendigen finanziellen Voraussetzungen für hinzustellen, obwohl es sich doch um ausgespro-
einen verstärkten Eigenheimbau zu schaffen. Wir chene Arbeitgeberverpflichtungen des Staates han-
sind damit nicht durchgedrungen. delt.
(Hört! Hört! bei der SPD.) (Zustimmung bei der SPD. — Abg. Arnd
Auch künftig wird die Sozialdemokratie dafür ein- gen: So kann man es auch sagen!)
treten, daß in größtmöglichem Umfang Kleinsied- Wir fordern, daß die Vergleiche im Haushalt und
lungen und Kleineigenheime gefördert werden. In die Haushaltsübersichten selbst klar die eigent-
diese Maßnahmen beziehen wir auch die Förderung lichen Sozialleistungen von den Kriegsfolgeleistun-
des Wohnungseigentums ein. gen trennen. Das heißt, wir wünschen Haushalts-
- übersichten, die wahr sind und nicht durch Ver-
Meine Damen und Herren, der Herr Bundeskanz- schleierungen falsche Eindrücke erwecken.
ler hat seine Regierungserklärung betont mit der
Darstellung sozialpolitischer Absichten eröffnet. Er Der Herr Bundeskanzler ist uns auch eine klare
hat ein umfassendes Sozialprogramm versprochen Stellungnahme zur Kriegsopferversorgung schuldig
und damit die Notwendigkeit eines Sozialplanes, wie geblieben. Wir hätten im Interesse der Kriegsopfer
wir Sozialdemokraten ihn ausgearbeitet haben, un- gern gehört, daß die Bundesregierung endlich auch
terstrichen. Wir halten es aber für notwendig, daß die Grundrenten, die im Jahre 1950 festgesetzt wor-
das Problem einer sozialen Neuordnung auf der den sind, dem veränderten Preisgefüge anzupassen
Basis unbestechlicher, objektiver Untersuchungen gewillt ist.
geprüft wird. Wir fordern daher erneut die Bil- Wir alle teilen die Freude über unsere heimge-
dung einer öffentlichen Studienkommission, so kehrten Kriegsgefangenen. Wir alle haben den
wie sie in anderen Ländern mit großem Erfolg ge- ernsten Vorsatz, in der vor uns liegenden Zeit alles
arbeitet haben. in unserer Kraft Stehende zu tun, um die noch
(Zustimmung bei der SPD.) nicht heimgekehrten Gefangenen endlich wieder
Nur eine solche unabhängige Studienkommission mit ihren Familien zu vereinen. Aber wir sind
entspricht der Größe der Aufgabe. bitter darüber enttäuscht, daß die Regierungserklä-
rung die unverzügliche Inkraftsetzung des noch
Der Herr Bundeskanzler hat die heutigen sozia- vom letzten Bundestag beschlossenen Entschädi-
len Leistungen als unzureichend bezeichnet und gungsgesetzes für ehemalige deutsche Kriegsgefan
damit unsere früheren Behauptungen bestätigt. gene nicht enthalten hat. Wir erwarten hier noch
(Lachen in der Mitte.) ein eindeutiges positives Wort des Herrn Bundes-
kanzlers.
Leider sind seine positiven Vorschläge sehr wenig (Beifall bei der SPD.)
konkret. Es kommt aber darauf an, der Not un-
zähliger Rentner Rechnung zu tragen und das Ren- Die Zahl der arbeitslosen Spätheimkehrer ist
tenniveau endlich energisch zu heben. mit 70 000 noch immer erschreckend groß. Die Wie-
(Sehr richtig! bei der SPD.) dereingliederung dieser schwer geprüften Menschen
in das wirtschaftliche Leben, die Hilfestellung bei
Wir erinnern uns noch sehr gut der Wahlverspre- der Existenz- und auch bei der Familiengründung
chungen des Herrn Storch, die Renten müßten zwei ma weiterhin eine vordringliche Aufgabe des Ge-
Drittel des letzten Arbeitseinkommens erreichen. setzgebers und aller verantwortlichen Verwaltungs-
(Hört! Hört! bei der SPD.) stellen sein.
Aber die Bundesregierung sollte nun endlich auch Im Rahmen der sozialen Probleme beschäftigt
dem Bedürfnis nach einer Alterssicherung und einer uns vor allem die Frage der Behebung der Jugend-
sozialen Sicherung vieler Selbständiger, wie Hand- arbeitslosigkeit, die nach unserer Meinung heute
werker und Bauern, und der großen Zahl freibe- eines der dringendsten Probleme ist. Arbeitsdienst
ruflich Schaffender entsprechen. und Wehrdienst sind kein Ersatz für Berufsaus-
bildung und die damit verbundenen Lebens-
Der Herr Bundeskanzler — lassen Sie mich in chancen.
diesem Zusammenhang diese Bemerkung noch ma-
chen — hat ferner darauf hingewiesen, daß sich (Beifall bei der SPD. — Abg. Albers:
der Aufwand für soziale Zwecke seit 1949 verdop- Wer hat das denn behauptet?)
pelt habe. Dieses Spiel mit Zahlen erleben wir nun Die Jugend hat ein verbürgtes Recht auf Arbeit
seit vier Jahren. Der Herr Bundeskanzler hat ver- und Ausbildung.
gessen, zu erwähnen, daß der überwiegende Teil (Sehr richtig! in der Mitte.)
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 45
(Ollenhauer)
In der Industrie bestehen zweifellos noch erheb- nötigen Broterwerb verbrauchen und damit den
liche Ausweitungsmöglichkeiten für Lehr- und wissenschaftlichen Erfolg selbst gefährden. Schließ-
Arbeitsstellen. Sie können im Zusammenwirken lich ist auch zu bemerken, daß die Förderung der
und unter größeren Anstrengungen der Bundes- Wissenschaft rationeller betrieben werden könnte,
regierung nutzbar gemacht werden. Das ist um so wenn nicht immer neue Institute und Forschungs-
wichtiger, als in absehbarer Zeit ein empfindlicher stellen eingerichtet, sondern die bestehenden
Mangel an Facharbeitern eintreten wird. bestens ausgestattet und ausgenutzt werden wür-
Dringend notwendig sind ein Berufsausbildungs- den.
gesetz und ein Jugendarbeitsschutzgesetz, wie sie Meine Damen und Herren! Das Vertriebenen-
von der Sozialdemokratie bereits mehrfach im und Flüchtlingsproblem bedarf nach wie vor der
ersten Bundestag gefordert worden sind. Sie sind stärksten Aufmerksamkeit der Bundesregierung.
unerläßliche Voraussetzungen für die berufliche Die Heimatvertriebenen stellen immer noch einen
Ausbildung unserer jungen Generation und für hohen Prozentsatz der Arbeitslosen dar, und ihr
ihre körperliche, geistige und seelische Entwick- Anteil ist besonders groß in den Notstandsgebie-
lung. In diesem Zusammenhang darf auch die För- ten. Die Beschaffung von Dauerarbeitsplätzen muß
derung des akademischen Nachwuchses nicht ver- Sonderarbeitsmaßnahme bleiben. Die Hilfe für die
gessen werden. Eingliederung in den Arbeitsprozeß muß sich auch
Die Demokratie fordert den denkenden Bürger. auf die Flüchtlinge aus der Sowjetzone erstrecken.
Die staatsbürgerliche Erziehung der jungen Gene- Das Wohnungsbauprogramm für Vertriebene und
ration ist eine Lebensfrage der Demokratie. Sie Flüchtlinge muß durch die Koordinierung aller Mit-
verlangt einen systematischen Ausbau von Bil- tel stärker geplant und gelenkt werden, um den
dungs- und Jugendpflegeeinrichtungen und -maß- großen Notstand zu beseitigen, der dadurch zum
nahmen im Bund, in den Ländern und Gemeinden Ausdruck kommt, daß die Zahl der Notunterkünfte
und in den freien Organisationen. Der Bundes- und der Untermietwohnungen bei Vertriebenen
jugendplan ist ein Anfang; er muß ausgebaut wer- und Flüchtlingen doppelt so hoch ist wie bei den
den. Einheimischen.
(Sehr gut! bei der SPD.)
Besondere Maßnahmen sind zur Förderung der
Meine Damen und Herren, ein anderes Kapitel. Eingliederung der Mittelschichten notwendig. Für
Zur Förderung wissenschaftlicher Forschung -
und 'die Seßhaftmachung der vertriebenen und ge-
Lehre in der Bundesrepublik muß etwas Durchgrei- flüchteten Bauern ist die Zusammenfassung aller
fendes geschehen. Am ehesten werden heute noch Mittel unter der Verantwortung des Bundes un-
Mittel für naturwissenschaftliche Zweckforschung erläßlich. Besonders unterstreichen möchte ich das
freigestellt, da hier der „Erfolg" der Arbeit auch Problem der Fürsorge und der Hilfe für die hei-
für den Laien in seiner Auswirkung auf dem Weg matvertriebene und geflüchtete Jugend. Die Schaf-
über die Technik und den wirtschaftlichen Ertrag fung der Voraussetzungen für ihre Berufsausbil-
sichtbar wird. Da Zweckforschung auf die Dauer dung ist eine Lebensnotwendigkeit für eine gesunde
nicht erfolgreich sein kann, wenn nicht auch die Entwicklung dieser jungen Menschen, die vom
naturwissenschaftliche Grundsatzforschung weiter- Schicksal besonders schwer betroffen worden sind.
geführt wird, wird mithin auch naturwissenschaft-
liche Grundsatzforschung noch als sozusagen ren- In dieses Kapitel des Verhältnisses zwischen
tabel angesehen, und infolgedessen sind neben der staatlicher Gemeinschaft und dem einzelnen Bürger
öffentlichen Hand auch die interessierten Unterneh- gehört auch das Problem der Familie. Die neue
mungen hier am ersten bereit, Mittel zur Ver- Regierung hat uns mit der Schaffung eines beson-
fügung zu stellen oder eigene Forschungsstätten zu deren Ministeriums für Familienangelegenheiten
errichten. Für die Geisteswissenschaften fallen überrascht.
diese Nützlichkeitserwägungen zum größten Teil (Bravo! in der Mitte.)
fort, und es ist infolgedessen um ihre Förderung Wir haben noch keine klaren Vorstellungen dar-
noch schlechter bestellt. Wir müssen daran festhal- über, wie dieses Ministerium angesichts der Res-
ten, daß die Frage nach dem materiellen Nutzen sortverteilung fruchtbar funktionieren kann, und
sich grundsätzlich mit dem Wesen wissenschaft- wir haben Zweifel, ob das sehr wichtige Problem
licher Forschung überhaupt nicht verträgt. der Förderung eines gesunden Familienlebens
(Beifall bei der SPD.) überhaupt durch die Schaffung eines speziellen Mi-
nisteriums gelöst werden kann.
Sie bedroht und zerstört das Ethos der Wissen-
schaft. Wenn man aber nun schon von der Knapp- (Sehr wahr! bei der SPD.)
heit der zur Verfügung stehenden Mittel ausgehen Wir würden es sehr bedauern, wenn das Ministe-
muß, so ist es falsch disponiert, wenn die Geistes- rium seine Aufgabe in erster Linie darin sehen
und Sozialwissenschaften bei der Verteilung immer würde, durch eine Art von moralischer Aufrüstung
zu kurz kommen. den Familiensinn zu stärken und die Familiengrün-
Im einzelnen fehlt es an Mitteln sowohl für per- dung zu fördern.
sonelle wie für sachliche Zwecke. Für zahlreiche (Beifall bei der SPD.)
Lehrstühle ist keine Neubesetzung möglich, weil
die Wissenschaftler keine genügend ausgestatteten Die Familie muß als ein wesentliches, ja als ein
Institute vorfinden und für ihre Lebensbedürfnisse entscheidendes Element unseres Gemeinschafts-
zu geringe Einkommen erhalten. Sie gehen also lebens gefördert und geschützt werden. Die Ur-
lieber in die Wirtschaft oder ins Ausland, wenn sachen der heutigen Krisenerscheinungen sind
ihnen die Möglichkeit geboten wird. Für die wis- aber viel mehr gesellschaftlich als moralisch be-
senschaftlichen Nachwuchskräfte fehlen aber die dingt.
nötigen Diätendozenturen und Assistentenstellen. (Erneuter Beifall bei der SPD.)
Man kann nicht erwarten, daß es in einem Beruf Die Struktur der Gesellschaft und die Stellung der
zur Norm wird, daß die Anwärter sich jahrelang Frau, auch der verheirateten Frau, in der Gesell
durchhungern, ihre besten Kräfte in einem daneben schaft und in der Familie haben sich geändert. Das
46 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
erste Problem ist daher die Anerkennung der ver- Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten
änderten Stellung der Frau in der Gesellschaft haben uns bei der Stellungnahme zu dem innen-
durch Recht und Gesetz. politischen Programm der Bundesregierung leiten
(Zustimmung bei der SPD.) lassen von unserer unveränderten Grundeinstel-
lung zu den Fragen der wirtschaftlichen und so-
Wir reden heute soviel von Partnerschaft; reali- zialen Ordnung in der Bundesrepublik. Weder die
sieren wir sie zuerst in unserem persönlichsten Be- Politik der ersten Regierung noch die Regierungs-
reich in bezug auf die Stellung der Frau in der erklärung des Herrn Bundeskanzlers vom 20. Ok-
Gesellschaft und in der Ehe! tober haben uns hier befriedigen können. Die
(Beifall bei der SPD.) Wirtschaftspolitik der Bundesregierung weicht der
Forderung nach einer Neuordnung der Wirtschaft
Die notwendigen Gesetze zur Ausführung der Be- aus. Die Sozialdemokratie kann auf die Neuord-
stimmung des Grundgesetzes über die Gleich- nung der Besitzverhältnisse in den Grundindustrien
berechtigung der Frau müssen unverzüglich be- nicht verzichten.
raten und verabschiedet werden.
(Beifall bei der SPD.)
(Erneuter Beifall bei der SPD.)
Sie hält außerdem die Demokratisierung der Wirt-
Es geht dann um die Gefahr des Versuchs, Ehe schaft durch die gesetzliche Regelung des Mit-
und Familie durch eine gesetzliche Zurückentwick- bestimmungsrechts für eine unerläßliche Notwen-
lung der Formen der Eheschließung zu stärken, digkeit für die Festigung der demokratischen Ord-
wie es z. B. in dem Vorschlag unseres Kollegen, nung in der Bundesrepublik.
des Herrn Dr. Jaeger, zum Ausdruck kommt. Ich
will hier nicht mit Herrn Dr. Jaeger über seine (Zustimmung bei der SPD.)
katholische Grundauffassung in dieser Frage dis-
kutieren; ich respektiere sie. Aber wir können Ein besonderes Wort möchte auch ich der Stadt
nicht leugnen, daß hier Gefahren auftauchen, wenn Berlin sagen. Der Herr Bundeskanzler hat hier die
der Versuch gemacht wird, in dieser Weise die Ge- Erklärung abgegeben, daß Berlin sich auf die Bun-
setzgebung zurückzuentwickeln. desrepublik verlassen könne. Wir begrüßen diese
Erklärung. Aber diese Erklärung verpflichtet, und
(Lebhafter Beifall bei der SPD.) wir betrachten sie als Zustimmung zu dem Grund-
Das nächste ist die Förderung der Familiengrün- satz, daß wir hier Berlin behandeln wollen, als sei
dung. Die Forderung nach den Kinderbeihilfen ist es ein Teil der Bundesrepublik.
doch keine sozialpolitische Forderung, sie ist eine (Beifall bei der SPD.)
staatspolitische Notwendigkeit.
(Sehr richtig! bei der SPD.) Das bedeutet, daß wir die Unterstützung von Ber-
lin nicht nur im Rahmen eines Hilfsprogramms
Die Schaffung von Kindergärten z. B. ist heute sehen, sondern als einen Bestandteil der Wirtschafts-
auch eine Konsequenz einer veränderten Lebens- und Finanzpolitik des Bundes. Der entscheidende
auffassung und nicht nur eine Hilfsmaßnahme für Gesichtspunkt für diese Wirtschaftshilfe ist immer
zur Erwerbsarbeit gezwungene Mütter. Das We- noch die größtmögliche Auftragserteilung aus der
sentliche ist, daß wir durch das System der Kinder- Bundesrepublik für die Berliner Wirtschaft, beson-
beihilfen die Familiengründung und die Erziehung ders auf dem Sektor der öffentlichen Aufträge. Wir
der Kinder bewußt und fühlbar fördern und er- bedauern in diesem Zusammenhang, daß wir von
leichtern. Herrn Dr. Bucerius als dem Bundesbeauftrag-
(Sehr richtig! bei der SPD.) ten für die wirtschaftliche Förderung Berlins bis-
Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf un- her noch keine Übersicht über den Erfolg seiner
seren Gesetzentwurf, der im ersten Bundestag Maßnahmen erhalten haben.
durch die Schuld der Mehrheit in diesem Hause (Sehr wahr! bei der SPD.)
nicht verabschiedet wurde,
(Sehr richtig! bei der SPD. — Widerspruch Unsere Kenntnis der Dinge zeigt, daß hier kein
in der Mitte. — Abg. Pelster: Durch Ihre befriedigendes Resultat erzielt worden ist. Wir sol-
Schuld!) len doch daran denken, daß eine planmäßige Wirt-
schaftspolitik in bezug auf Berlin gleichzeitig eine
den wir aber jetzt wieder von neuem einbringen Entlastung finanzieller Art für den Bund darstellt.
werden.
Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht das Vor wenigen Tagen hat die Berliner Zentral-
schwierige Problem der Ü beralterung unserer Be- bank festgestellt, daß die Berliner Leistungsbilanz
völkerung angeschnitten. Wir werden Mittel und ausgeglichen wäre und Berlin keiner auswärtigen
Wege finden müssen, um auch den Alteren, die Hilfe mehr bedürfen würde, wenn in Berlin im
sich noch voll arbeitsfähig fühlen, eine sinnvolle Verhältnis zu den Arbeitslosenzahlen in der Bun-
Beschäftigung zu sichern. Aber das Wesentliche ist, desrepublik nicht mehr Menschen arbeitslos wären.
daß wir eine junge Generation so stützen und för- Deutlicher können die Berliner Anstrengungen, den
dern, daß sie die unvermeidlich größeren sozialen Wirtschaftsaufbau durch eigene Anstrengungen
Verpflichtungen, die sich aus der Erhöhung des selbst vorwärtszutreiben, nicht gekennzeichnet wer-
durchschnittlichen Lebensalters ergeben, mittragen den, und deutlicher kann nicht gezeigt werden, daß
kann, ohne auf die Gestaltung ihres eigenen Le- sich die wirtschaftliche Förderung Berlins lohnt.
bens verzichten zu müssen. Wir haben immer noch über 200 000 Arbeitslose in
Berlin. Wir haben in Berlin wesentlich niedrigere
(Beifall bei der SPD.) Löhne und Gehälter. Meine Damen und Herren,
Schon diese wenigen Bemerkungen zeigen, daß hier müssen wir die Forderung nach einer ausrei-
es viel wichtiger ist, in allen wirtschafts- und chenden Wirtschaftshilfe für Berlin zu einer der
sozialpolitischen Maßnahmen die Förderung der vordringlichsten machen. Wir wollen nicht mehr
Familie anzustreben, als ein besonderes Familien- als die Anerkennung der These, die Herr Bundes-
ministerium zu schaffen. finanzminister S c h ä f f er aufgestellt hat, daß
(Erneuter Beifall bei der SPD.) jede in Berlin angelegte Mark besser verwendet
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 47
(Ollenhauer)
ist als für irgendeinen anderen politischen oder auch ein Zusammengehen zwischen Regierung und
militärischen Zweck der Bundesrepublik. Opposition stattfinde. Auch wir Sozialdemokraten
würden es begrüßen, wenn ein solches Zusammen-
(Beifall bei der SPD.) gehen in Zukunft möglich sein würde. Voraus-
Wir hoffen, daß dieser Grundsatz nicht nur bei den setzung für jeden Erfolg eines solchen Versuchs
Verhandlungen mit den Besatzungsmächten über ist der Wille, die vorhandenen Meinungsverschie-
die Anrechnung der Zuschüsse des Bundes für Ber- denheiten sachlich auszutragen.
lin auf den deutschen Verteidigungsbeitrag gilt. Ich Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Rede vom
will hier nicht auf weitere Einzelheiten eingehen; 20. Oktober leider an zwei Stellen der sozialdemo-
ich möchte nur noch einmal unterstreichen, daß kratischen Opposition Beweggründe und Absichten
wir gerade diese verstärkte Wirtschaftshilfe für unterstellt, die sie in wichtigen außenpolitischen
Berlin als eine der vordringlichsten innenpoliti- Fragen als national unzuverlässig erscheinen las-
schen Aufgaben der Wirtschaftspolitik unserer sen können.
Bundesrepublik ansehen. (Zuruf von der SPD: Pfui!)
Dazu gehört auch das Kapitel der Betreuung der So hat der Herr Bundeskanzler behauptet, die So-
Zonengrenzgebiete. Sie gehören zu den Notstands- zialdemokratie habe in einer Reihe mit den Kom-
gebieten, von denen der Herr Bundeskanzler ge- munisten und anderen Gruppen sich den sogenann-
sprochen hat, aber sie haben ihre besonderen Pro ten Ohne-mich-Standpunkt gegenüber der Notwen-
bleme; ich will sie hier nicht im einzelnen auf- digkeit der Verteidigung zu eigen gemacht. Diese
zählen. Aber diese Gebiete, die einen erheblichen Feststellung entspricht nicht den Tatsachen.
Teil des Gebietes der Bundesrepublik ausmachen, (Beif all bei der SPD. — Abg. Mellies: Sie
sind besonders schwer durch die Kriegsfolgen und entspricht nicht der Wahrheit!)
die Teilung Deutschlands betroffen worden. Sic
sind immer noch im ganzen gesehen über den Der Herr Bundeskanzler hat dann in einem an-
Durchschnitt belastet mit den Problemen der Hei- deren Zusammenhang die These aufgestellt, die
matvertriebenen und der Flüchtlinge, und sie lei- Gegnerschaft zu den spezifischen Formen seiner
den unter den Folgen der Spaltung Deutschlands Integrationspolitik, wie sie in der Montan-Union
vor allem auf wirtschafts- und verkehrspolitischem und in der EVG zum Ausdruck kommen, bedeute
Gebiet. die Bereitschaft, auf die Freiheit zu verzichten und
Dazu kommt noch ein besonderes, im national-
- ganz Deutschland in die Hände der Sowjetunion zu
politischen Sinn bedrohliches Element: die Kon- geben.
zentrierung wichtiger deutscher Industriezweige (Pfui-Rufe bei der SPD.)
im Westen der Bundesrepublik mit der Folge eines Meine Damen und Herren, diese Behauptung ist
Sogs von der Zonengrenze weg nach dem Westen. nicht mit den Tatsachen in Übereinstimmung zu
(Sehr wahr! bei der SPD.) bringen.
Das ist ein bedenklicher wirtschaftspolitisch ego- (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
istischer Zug, dem die Bundesrepublik entgegen- Ich finde, der Herr Bundeskanzler sollte sie auch
wirken muß. nicht wiederholen, nachdem er selbst in den letz-
(Beifall bei der SPD.) ten Wochen verschiedene Varianten seiner Europa-
Die Förderung der Zonengrenzgebiete ist eine politik zur Diskussion gestellt hat.
umfassende nationalpolitische Aufgabe, und hier (Erneuter Beifall bei der SPD.)
hätte die Schaffung einer besonderen Stelle im Wir sind der Meinung — und damit möchte ich
Rahmen der Bundesregierung mehr Sinn gehabt diese Bemerkung abschließen daß derartige Ar-
als die Schaffung irgendeines anderen der neuen gumentationen unvereinbar sind mit dem Wunsch,
Ministerien. mit der Opposition in wichtigen außenpolitischen
(Beifall bei der SPD.) Fragen ins Gespräch zu kommen.
Die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kräfti- (Wiederholter Beifall bei der SPD.)
gung der Zonengrenzgebiete ist eine der wichtig-
sten konkreten und sichtbaren Leistungen, die die Was nun die Möglichkeiten cines Zusammen-
Bundesrepublik im Sinne der Wiedervereinigungs- gehens selbst angeht, so kann man sagen, daß über
politik vollbringen kann; dieses Problem auch in der Offentlichkeit sehr viel
diskutiert worden ist. Ich glaube, es ist vor allem
(Sehr wahr! bei der SPD) einmal notwendig, sich von vornherein über die
denn jedes Zeichen von wirtschaftlichem oder so- Methoden einer solchen denkbaren Zusammen-
zialem Niemandsland an der Zonengrenze wird arbeit Klarheit zu verschaffen. Da möchte ich für
von der anderen Seite als Zeichen eines mangeln- meine Fraktion folgendes sagen. Die Voraussetzung
den Willens zur Wiedervereinigung gewertet für ein solches Zusammengehen ist die Bereitschaft
werden. der Regierung, die Opposition laufend und umfas-
(Beifall bei der SPD.) send über die internationalen Vorgänge und über
ihre Pläne und Aktionen zu informieren.
Die Bundesregierung hat kurz vor den Wahlen
Teile des Notprogramms für die Zonengrenzgebiete (Sehr richtig! bei der SPD.)
durch Beschlüsse übernommen. Wir hoffen, daß es Nur in voller Kenntnis aller entscheidenden Fak-
dabei nicht bleibt. Das Zonengrenzgebiet ist wie toren ist ein sinnvolles Gespräch über den Inhalt
Berlin der Prüfstein für die Ernsthaftigkeit un- und die Schritte der Außenpolitik der Bundesregie-
seres Willens zur Wiedervereinigung. rung möglich.
Meine Damen und Herren, ich komme nun zu (Erneute Zustimmung bei der SPD.)
dem letzten Kapitel meiner Darlegung, zu den
Fragen der Außenpolitik. Der Herr Bundeskanzler Das ist bisher nicht der Fall gewesen.
hat in seiner Erklärung der Hoffnung Ausdruck Mit einer solchen Regelung würde die Bundes-
gegeben, daß in wichtigen außenpolitischen Fragen regierung auch lediglich der Übung folgen, die in
48 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
allen europäischen demokratischen Ländern, vor vorbehaltlos für die Aufhebung des Besatzungs
allem in Großbritannien und in den skandinavi- statuts, für die Auflösung des Junktims zwischen
schen Ländern, und auch in den Vereinigten Staa- General- und EVG-Vertrag und für vertragliche
ten selbstverständlich ist. Darüber hinaus bedeutet Abmachungen mit den Regierungen der Besat-
aber das Zusammengehen von Regierung und zungsmächte ein, durch die auf der einen Seite der
Opposition auf außenpolitischem Gebiet auch die Status völkerrechtlicher Unabhängigkeit der Bun-
Mitarbeit der Opposition in internationalen Insti- desrepublik gesichert und auf der anderen Seite
tutionen und Konferenzen, in denen die Bundes- den aus der Spaltung Deutschlands resultierenden
regierung mitarbeitet, wie es wiederum von an- besonderen Verhältnissen Rechnung getragen wird.
deren demokratischen Regierungen, vor allem auch
von der amerikanischen, selbstverständlich prak- Als das oberste Ziel der Bundesregierung hat
tiziert wird. der Herr Bundeskanzler die Wiedervereinigung
Deutschlands in Frieden und Freiheit bezeichnet.
Wir haben in der Vergangenheit wiederholt Ver- Nach der Auffassung der Opposition handelt es
suche für ein solches Zusammengehen gehabt. Ich sich bei diesem Ziel um die vordringlichste For-
will in diesem Augenblick nicht untersuchen, aus derung des ganzen deutschen Volkes.
welchen Gründen sie gescheitert sind. Aber ich (Beifall bei der SPD.)
möchte hier feststellen: die Zusammenarbeit muß
jedenfalls am Beginn einer außenpolitischen Aktion Nachdem der Herr Bundeskanzler in seiner Erklä
versucht werden; denn sie wird immer scheitern, rung betont hat, welche große Bedeutung einer
wenn von der Opposition nur die Anerkennung Viermächtekonferenz in dieser Hinsicht zukommt,
von vollendeten Tatsachen verlangt wird. kann ich es heute unterlassen, auf die oft langwie-
(Lebhafter Beifall bei der SPD.) rigen Auseinandersetzungen zurückzukommen, die
im ersten Deutschen Bundestag zwischen Regie-
Wir stehen dem Herrn Bundeskanzler zu der von
ihm vorgeschlagenen Aussprache zur Verfügung; rung und Opposition geführt worden sind, weil es
bezüglich der Frage nach der Zweckmäßigkeit und
aber dieser Versuch kann, glaube ich, nur erfolg- Dringlichkeit einer Viermächtekonferenz häufig
reich sein, wenn die von mir genannten Vorausset-
zungen erfüllt sind. tiefgehende Meinungsverschiedenheiten gegeben
hat.
Der Herr Bundeskanzler hat dann als die zen- Wir Sozialdemokraten erblicken in der Note der
-
tralen Probleme der Außenpolitik der Bundesrepu- drei westlichen Besatzungsmächte vom 19. Okto-
blik bezeichnet: die Herstellung ihrer eigenen Un- ber an die Sowjetregierung den ernsthaften Ver-
abhängigkeit, die Wiedervereinigung Deutschlands, such, die Fragen der Wiedervereinigung Deutsch-
den Zusammenschluß des freien Europas und die lands endlich ernsthaft am Verhandlungstisch und
Integration Deutschlands in die europäische Ge- unter Zuhilfenahme der Mittel der Diplomatie zu
meinschaft. Auch wir sind der Auffassung, daß da- prüfen und zu erörtern, statt sie weiter Gegenstand
mit die zentralen Probleme der Außenpolitik der eines fruchtlosen Notenkrieges sein zu lassen. Mit
Bundesrepublik gekennzeichnet sind. So bleibt die dieser Note ist endlich deutlich gemacht worden,
Frage nach den Methoden, mit denen diese Pro- daß die drei westlichen Besatzungsmächte nicht die
bleme gelöst werden sollen. Absicht haben, den Eintritt in Viermächteverhand-
lungen von der vorherigen Anerkennung der Ver-
Als Voraussetzung für die Herstellung der völ- handlungsziele und von der Annahme einer eng
kerrechtlichen Unabhängigkeit der Bundesrepublik begrenzten Tagesordnung abhängig zu machen. Es
hat der Herr Bundeskanzler das Inkrafttreten des scheint uns die Aufgabe der Bundesregierung zu
Generalvertrags bezeichnet. Die sozialdemokrati- sein, gerade in der gegenwärtigen sehr kritischen
sche Opposition hat im ersten Deutschen Bundes- internationalen Situation das Zustandekommen
tag dem Generalvertrag ihre Zustimmung verwei- einer Viermächtekonferenz auf dieser Basis zu
gert, weil dieser Vertrag an die Stelle des außer fördern.
Kraft tretenden Besatzungsstatuts neue Bestim-
mungen setzt, die mit der Herstellung der völker- Unter diesem Gesichtspunkt bedauern wir die
rechtlichen Unabhängigkeit der Bundesrepublik Bemerkung des Herrn Bundeskanzlers in seinem
nicht zu vereinbaren sind. letzten Presse-Interview, er sei der Ansicht, die
(Sehr richtig! bei der SPD.) Note vom 18. Oktober dürfte die letzte Note der
Neben einer Reihe auch von der Opposition nicht Westmächte an den Kreml gewesen sein, wenn die
bestrittener positiver Bestimmungen enthält dieser Sowjetregierung negativ darauf antworte.
Vertrag, besonders in den Notstandsklauseln und (Hört! Hört! bei der SPD.)
in den Vorbehaltsrechten der Besatzungsmächte, Nach dem Bericht des Pressevertreters hat der
Bestimmungen, die eine Fortsetzung der bisher im Herr Bundeskanzler außerdem noch hinzugefügt:
Besatzungsstatut einseitig gesetzten und gehand- „Es hat doch keinen Zweck, immer nachzulaufen."
habten Besatzungsrechte darstellen. Meine Damen und Herren, ich glaube, das ist eine
(Sehr wahr! bei der SPD.) gefährliche Verkennung unserer tatsächlichen
Außerdem ist das Inkrafttreten dieses Vertrags Situation.
an das Inkrafttreten des Vertrags über die EVG (Sehr wahr! bei der SPD.)
gebunden. Ich verzichte in dieser Situation darauf, Das Problem der friedlichen Wiedervereinigung
in Erinnerung zu bringen, was die Opposition war-
Deutschlands — und das ist doch wohl die einzige
nend über die Koppelung von General- und EVG- Möglichkeit, die wir im Auge haben können — ist
Vertrag gesagt hat. Wenn der Herr Bundeskanzler
jetzt die Absicht hat, auf die drei westlichen Be- nicht anders lösbar als auf dem Wege von Vier-
mächteverhandlungen.
satzungsmächte einzuwirken, damit sie der Bun-
desrepublik endlich den Status der völkerrecht- (Zustimmung bei der SPD.)
lichen Unabhängigkeit zuteil werden lassen, so Die deutsche Politik steht daher immer von neuem
kann er in diesem Punkte der Unterstützung der vor der Aufgabe, auf die Schaffung von Verhand
Opposition sicher sein. Die Opposition setzt sich lungssituationen hinzuwirken und sie mit Hilfe der
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 49
(Ollenhauer)
Westmächte so zu gestalten, daß wir schließlich Deutschlands in den Vereinten Nationen eine
doch dem Ziel der Wiedervereinigung näherkom- bessere Basis für die Lösung dieser Lebensfrage
men. Das ist eine schwierige und langwierige Auf- bilden könnte.
gabe, aber es gibt keinen anderen friedlichen Weg, (Sehr gut! bei der SPD.)
und sie bleibt ja auch bestehen, wenn tatsächlich
der EVG-Vertrag in Kraft treten sollte. Sie müßte als Teil der Vereinbarungen der vier
Mächte über Deutschland festgelegt werden, um
In die Außenpolitik ist aber seit unserer letzten ein Veto zu verhindern. Sie würde aber dem deut-
außenpolitischen Debatte im Sommer in diesem schen Volk dieselben Möglichkeiten der Sicherheit
Haus ein anderes wichtiges Element gekommen. gewähren, die jedes Mitglied der Vereinten Natio-
Wir haben nicht nur die Diskussion über die Mög- nen genießt, und sie würde auf der anderen Seite
lichkeit einer Viermächtekonferenz über Deutsch- jedem Mitglied der Vereinten Nationen entspre-
land, sondern es gibt ernsthafte Gespräche über chende Sicherungen vor einer möglichen deutschen
eine internationale Konferenz mit dem Zweck, eine Aggression bieten.
globale Lösung zur Entspannung der internationa- (Sehr richtig! bei der SPD.)
len Lage zu suchen. Auch die amerikanische Regie-
rung hält heute einen solchen Versuch für wün- Die Frage des militärischen Status Deutschlands als
schenswert und nützlich. Auf einer solchen Konfe- Mitglied der Vereinten Nationen könnte dann im
renz wird das deutsche Problem eines von vielen Lichte dieser neuen Situation untersucht werden.
sein. Wir sind der Meinung, hier ergibt sich die Meine Damen und Herren, da es unser gemein-
Aufgabe, darauf hinzuwirken, daß auch auf dieser sames Ziel ist, wie Sie sagen, die internationale
Konferenz die Lebensinteressen des deutschen Vol- Lage zu entspannen und den Frieden zu sichern,
kes zur Geltung kommen. Der Herr Bundeskanzler scheint es mir wert, diese Lösungsmöglichkeit
hat zwar auch noch in seiner Regierungserklärung ernsthaft zu untersuchen. Es gibt auch hier
die Integrierung der Bundesrepublik zum Kern- Probleme, aber wir sollten sie prüfen und die deut-
stück seiner außenpolitischen Betrachtungen ge- sche Politik nicht mit den Auseinandersetzungen
macht, aber es ist doch klar, daß die Frage des zu- darüber belasten, ob auf diese oder jene Weise,
künftigen Status Deutschlands im Verhältnis zu sozusagen totsicher, die deutsche Wiedervereini-
allen seinen Nachbarn heute mehr in den Vorder- gung und die Sicherheit für das deutsche Volk zu
grund der Diskussion gerückt ist. erreichen sind.
(Sehr gut! bei der SPD.)
Nachdem der Herr Bundeskanzler selbst die
Frage nach dem Sicherheitsbedürfnis der Sowjet- In der Zwischenzeit bleibt uns die Aufgabe, alles
union in die Debatte geworfen hat, sind wir wohl zu tun, was in unseren Kräften steht, um die Bezie-
davor geschützt, daß uns eine sachliche Unter- hungen zwischen der Bevölkerung der Sowjetzone
suchung dieses Problems den Vorwurf einbringt, und der der Bundesrepublik so eng und so normal
der Sowjetpolitik Vorschub zu leisten. als möglich zu gestalten.
(Sehr gut! bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.)
Wir möchten davor warnen, den Versuch fortzu- Wir haben eine große und dringende Verpflichtung
setzen, den EVG-Vertrag als eine Sicherheits- gegenüber den Kämpfern des 17. Juni.
garantie gegenüber einer möglichen zukünftigen
aggressiven deutschen Politik der Sowjetunion (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei
anzupreisen. Abgeordneten der Mitte.)
(Sehr richtig! bei 'der SPD.) Die Opfer der Gewaltherrschaft brauchen unser
aller tätige Hilfe. Wir müssen über den Protest
Meine Damen und Herren, der Vertrag war ge- gegen den Terror hinaus nach Wegen suchen, um
dacht und er ist uns auch hier immer wieder ange- den von Repressalien Bedrohten, den Gefangenen
priesen worden als die Form, in der die Bundes- und Deportierten die Anteilnahme und, wenn mög-
republik den bestmöglichen militärischen Beitrag lich, den Schutz der freien Menschen zugute kom-
zur Verteidigung der freien Welt leisten sollte, und
men zu lassen.
ich fürchte, wenn wir mit dieser neuen Argumen-
tation weitergehen, daß dann sehr ernsthafte In- (Erneuter Beifall bei der SPD.)
teressen des deutschen Volkes bei zukünftigen Alles, was wir tun können, um die materielle Lage
Verhandlungen in Gefahr kommen können. der Menschen in der Sowjetzone zu erleichtern und
(Beifall bei der SPD.) ihnen das Bewußtsein der unlösbaren Verbunden-
Wesentlich ist,, daß die Sowjetunion, wie man heit zu geben, sollten wir tun. Wir sind der Auf-
weiß, the Integration der Bundesrepublik oder gar fassung, daß die Bundesregierung kraft eigener
eines späteren geeinten Deutschlands im Sinne des Initiative in dieser Richtung einige wesentliche
EVG-Vertrages nicht akzeptieren wird. Die Frage Schritte tun sollte mit dem Ziel, den Verkehr von
der deutschen Politik ist daher auch: gibt es einen Personen und Gütern über die Zonengrenze zu ver-
anderen Weg, den Deutschland gemeinsam mit den mehren und freier zu gestalten.
Westmächten akzeptieren kann, um Deutschlands (Beifall bei der SPD.)
Position als eines Teils des Westens zu behaupten Die Bundesregierung sollte die Hohen Kommissare
und gleichzeitig das Sicherheitsbedürfnis der der drei Westmächte bitten, in Erwiderung auf die
Sowjetunion zu befriedigen? Es ist offensichtlich so, Erklärung des sowjetischen Hohen Kommissars
wie die Dinge sich entwickelt haben, daß dieses Ziel über den Interzonenpaß in aller Form zu erklären,
im Wege einer europäischen Lösung nicht mehr daß die Westmächte bereit sind, auf den Inter-
erreicht werden kann. zonenpaß zu verzichten, wenn die Sowjetregierung
(Abg. Dr. Becker [Hersfeld]: Lesen Sie mal das gleiche tut. Die Erledigung der dann noch not-
die Rede von Spaak vom 20. 9. 1953 aus wendigen technischen Prozeduren wäre dann Auf-
Straßburg!) gabe der deutschen Behörden. Bis zu dieser Rege-
Ich bitte daher einmal zu überlegen, ob nicht die lung sollte die Bundesregierung hier auf unserem
Mitgliedschaft eines freien und vereinigten Gebiet alles tun, um den Reiseverkehr zu erleich
-
50 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Ollenhauer)
tern. Die Vorschriften über die Einholung einer Mehrheit hat sich für die Annahme des Vertrages
besonderen Aufenthaltserlaubnis sollten aufgeho- Inzwischen haben alle Seiten Er- ausgeprochn.
ben werden. fahrungen sammeln können. Wir würden es begrü-
(Sehr richtig! bei der SPD.) ßen, wenn auf Grund dieser Erfahrungen der
zweite Bundestag und die Bundesregierung nach
Man sollte auch nach einem Weg suchen, um min- Kräften versuchten, auf die Entwicklung der Mon-
derbemittelten Bewohnern der Sowjetzone, die die tan-Union und ihrer Wirksamkeit einzuwirken,
Bundesrepublik besuchen, die Bezahlung der Rück- damit erstens die Beziehungen der Montan-Union
reise in ihre Heimat Oistmarknzueöglch. zu Nichtmitgliedstaaten so vielfältig und so leben-
(Sehr gut! bei der SPD.) dig wie möglich gestaltet werden und zweitens
die Investitionspolitik der Hohen Behörde und
Wir sind der Meinung, daß es nützlich ist, diese die konjunkturfördernden und -belebenden Maß-
und ähnliche Vorschläge ernsthaft zu prüfen und nahmen der Organe der Montan-Union unter Be-
möglichst bald zur Durchführung zu bringen. rücksichtigung des besonderen durch Kriegszer-
Auf dem Gebiet der europäischen Zusammen- störungen und Demontagen bedingten deutschen
arbeit bekennt sich die Sozialdemokratie zu einer Nachholbedarfs geführt wird. Wir haben die Hoff-
so eng wie möglichen Zusammenarbeit mit der nung, daß es bei sorgsamem Vorgehen möglich sein
denkbar größten Zahl 'europäischer Länder. Die dürfte, gewisse positive Ergebnisse in jeder der
Meinungsverschiedenheiten, die es hinsichtlich der beiden Beziehungen zu erreichen. Ich verweise hier
konkreten Schritte zu europäischer Zusammen- auf den Beschluß der Gemeinsamen Versammlung
arbeit in der Vergangenheit gegeben hat, hatten zum ersten Bericht der Hohen Behörde, in dem
ihre Ursache darin, daß die Sozialdemokratie die ausdrücklich solche Möglichkeiten und Zwischen-
Verwirklichung der europäischen Zusammenarbeit lösungen erwähnt werden. Wir würden es für nütz-
nicht belastet sehen will durch die Übertragung lich halten, die deutschen Kräfte auf solche Punkte
von Sieger- und Besatzungsmachtvorrechten auf konkreter europäischer Zusammenarbeit zu kon-
die europäische Gemeinschaft. zentrieren. Ich glaube, daß hier mehr Aussicht auf
Erfolg liegt als in den komplizierten Versuchen zur
(Beifall bei der SPD.) Schaffung einer sogenannten politischen Gemein-
Deshalb betrachtet sie es als die Aufgabe der Oppo- schaft.
sition, der Tendenz entgegenzuwirken, die in (Sehr gut! bei der SPD. — Abg. Dr. Becker
Deutschland durch Besatzungsrecht geschaffenen [Hersfeld] : Fragen Sie mal Herrn Guy
Verhältnisse als Ausgangsgrundlage für Verträge Mollet!)
über die europäische Zusammenarbeit zu nehmen.
Wir erachten es weiterhin als unsere Aufgabe, Meine Damen und Herren! Ich kann diese Über-
einer Politik entgegenzuwirken, europäische Ge- sicht über die außenpolitischen Probleme nicht ab-
meinschaften auf der Grundlage von Verträgen zu schließen, ohne noch ein Wort über das Schicksal
errichten, die der elementaren deutschen Ver- des Saargebiets zu sagen. Der Herr Bundeskanzler
pflichtung zur Wiederherstellung der staatlichen hat sehr vorsichtig der Hoffnung Ausdruck gege-
Einheit Deutschlands keine Chance zur Verwirk- ben, daß auch in der Saarfrage im Geist der euro-
lichung lassen und somit der Verhärtung des Zu- päischen Zusammenarbeit eine annehmbare Rege-
stands der Spaltung Deutschlands Vorschub leisten. lung gefunden wird. Diese Erklärung befriedigt
uns in keiner Weise.
Ebensowenig wie eine wünschenswerte um-
fassende europäische Gemeinschaft sich selbst zu (Sehr richtig! bei der SPD.)
genügen vermöchte, sondern auf weltweite Zusam- Wir möchten wissen, auf welcher Basis die Bundes-
menarbeit und Verpflichtung angewiesen wäre, regierung die Besprechungen mit der französischen
können die bisherigen Ansätze europäischer Ge- Regierung zu führen gedenkt. Wir erinnern an den
meinschaften, die nur Teile des europäischen Kon- einstimmigen Beschluß des ersten Bundestages vom
tinents umfassen, sich selbst genügen — um so Juli dieses Jahres, und wir meinen, daß nur er die
weniger, als sie ja lediglich Teilintegrationen der Grundlage von Verhandlungen auf deutscher Seite
Wirtschaft in einem begrenzten Teil Europas dar- sein kann. Wir hätten ferner gewünscht, daß die
stellen. Auf Grund der Erfahrungen, die bisher mit Bundesregierung Schritte unternommen hätte, um
der Montan-Union zu machen waren, kann nie- gegen die Ausbürgerung der beiden Mitglieder die-
mand an der Feststellung vorbei, daß solche Teil- ses Hohen Hauses, die aus dem Saargebiet stam-
integrationen die Gefahr in sich tragen, die Volks- men, durch die Behörden im Saargebiet zu pro-
wirtschaften zu desintegrieren. Welche Folgen sich testieren,
daraus für unser Land mit seiner durch die Spal- (Zustimmung bei der SPD)
tung zerrissenen Volkswirtschaft ergeben, liegt auf
um so mehr, als diese Ausbürgerungen auch auf
der Hand. Es ist klar, daß wir ganz besonders acht-
sam sein müssen, um nicht eine zusätzliche Des- die Familien unserer beiden Kollegen ausgedehnt
worden sind.
integration unserer eigenen Volkswirtschaft zu
fördern. Im Hinblick auf die Gebiete entlang der (Hört! Hört! bei der SPD.)
Zonengrenze, aber auch im Hinblick auf die indu- Derartige Maßnahmen waren bisher nur in totali-
striellen Zusammenhänge im rheinisch-westfäli- tären Ländern üblich.
schen Industriegebiet und ihre Verflechtung mit
der übrigen deutschen Wirtschaft bedarf es dabei Die Lage wird noch weiter dadurch kompliziert,
großer Aufmerksamkeit. daß der französische Außenminister Bidault vor
wenigen Tagen noch einmal erklärt hat, daß die
(Sehr richtig! bei der SPD.) Regelung der Saarfrage eine Voraussetzung für die
Die Sozialdemokratie hat seinerzeit ihre Einwände Ratifizierung des EVG-Vertrages durch das fran-
gegen die Konstruktion der Montan-Union dar- zösische Parlament ist. Wir Sozialdemokraten sind
gelegt. Sie sind durch die Ereignisse nicht wider- nach wie vor der Meinung, daß die Sanktionierung
legt worden. Wir sind damals unterlegen. Die des jetzigen Regimes an der Saar unter dem Be-
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 51
(Ollenhauer)
griff einer Europäisierung keine für Deutschland und auch Rücksicht auf die Sonntagsruhe des von
annehmbare Lösung ist. mir — ach — so geliebten Herrn Bundeskanzlers
(Beifall bei der SPD und bei einzelnen nehmen mußte.
Abgeordneten rechts.) (Erneute Zurufe.)
Wir sind außerdem der Meinung, daß die Grenz- — Nein, ich darf Ihnen sagen, meine Damen und
fragen ein unteilbares Ganzes darstellen. Ein Ver- Herren: ich freue mich, daß ich jetzt hier — fast
zicht auf die Zugehörigkeit des Saargebiets zu möchte ich sagen: Manch' Verloren ist gewonnen —
Deutschland muß die deutsche Position bei zukünf- in der politischen Arena stehe und mit Ihnen die-
tigen Friedensverhandlungen in bezug auf die sen zweiten Bundestag beginnen kann. Ich möchte
deutschen Ostgrenzen außerordentlich erschweren. meinen, es kann ein schöner Beginn werden. Wir
(Sehr wahr! bei der SPD.) können von ihm viel verlangen. Wir können die
doch immerhin beachtliche Tätigkeit des ersten
Sosehr wir die Erklärung des Herrn Bundeskanz- Bundestags in der Form und in der Sache steigern.
lers über die Nichtanerkennung der Oder-Neiße- Wir können auf die Erfahrungen des ersten Bun-
Linie als endgültige deutsche Ostgrenze begrüßen, destags, der ein Stück Tradition gelegt hat, fußen.
sosehr wünschen wir, daß dieser Standpunkt nicht Wir können auch aus unseren Fehlern lernen, —
in Frage gestellt wird durch eine opportunistische mea culpa, mea maxima culpa!
Lösung der Saarfrage.
(Lebhafter Beifall bei der SPD. — Beifall (Heiterkeit bei der SPD und in der Mitte.)
bei Abgeordneten der DP.)
Ich möchte den Beginn des zweiten Bundestags
Dabei wünscht die Sozialdemokratie noch einmal unter das Zeichen des guten Willens stellen, und
zu unterstreichen, daß sie sich für weitgehende ich bin in dieser Absicht durch die Rede unseres
wirtschaftliche Abkommen zwischen der Bundes- verehrten Herrn Kollegen Ollenhauer zutiefst
republik und Frankreich einsetzt, die den berech- bestätigt worden. Wieviel guter Wille sprach aus
tigten und von uns anerkannten wirtschaftlichen dieser Rede! Vergessen alles, was uns jemals ge-
Interessen Frankreichs an der Saar Rechnung trennt hat! Ist es nicht so, daß Lehren, die nun
tragen. hundert Jahre heilig gehalten worden sind, mit
Meine Damen und Herren, ich bin am Schluß. Wir einem Male über Bord geworfen worden sind,
stehen nach der Bildung der neuen Regierung am
Anfang der Arbeiten des zweiten Deutschen Bun- (Sehr gut! in der Mitte)
destages. Die Sozialdemokratie kann aus den Grün- daß sogar die Antithese der Marktwirtschaft und
den, die ich hier im Namen meiner Fraktion dar- der geplanten Wirtschaft abgelehnt wird? Im
gelegt habe, weder der Regierung das Vertrauen Grunde bekennt man sich also doch zu der rich-
aussprechen noch der von ihr in der Regierungs- tigen Wirtschaft, zu der freien Wirtschaft, zur Un-
erklärung vertretenen Politik ihre Zustimmung ternehmerwirtschaft! Auch sind offensichtlich die
geben. Zeiten sehr weit, in denen man auf Plakaten las:
(Zurufe rechts: Ist auch nicht nötig! Wer Schumacher wählt, wählt den Frieden, und
Haben wir auch gar nicht verlangt!) wer die anderen wählt, wählt den Krieg! oder in
Wir sind bereit, uns durch Taten überzeugen und denen man das deutsche Volk aufforderte, sich
durch Erfahrungen belehren zu lassen, daß unsere zwischen Stahlhelm und Strohhut zu entscheiden.
Einwände und Befürchtungen unbegründet sind. Ich will nicht anklagen. Ich sage, es ist ein schönes
Wir wünschen aber auch klarzustellen, daß wir Zeichen der Verständigung, das uns Herr Ollen-
den Auftrag, den uns die acht Millionen Frauen hauer heute gegeben hat. Ich möchte zum minde-
und Männer am 6. September durch ihr Bekennt- sten seine wirtschaftspolitische und seine grund-
nis zum sozialdemokratischen Programm über- sätzliche außenpolitische These doch einmal als
tragen haben, hier sachlich, entschieden und mit Arbeitshypothese zugrunde legen. Vielleicht
allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln der par- könnten es mehr sein als Arbeitshypothesen,
lamentarischen Demokratie vertreten werden. vielleicht könnte es das ehrliche Zugeständ-
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD.) nis des guten Willens des ,Gegners sein,
und vielleicht könnten wir diese Arbeits-
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der hypothesen und diese Zugeständnisse z. B. auf die
Abgeordnete Dr. Dehler. Unterstellung ausdehnen, daß alle, die in diesem
Hause wirken, aus christlicher Verantwortung
Dr. Dehler (FDP): Herr Präsident! Meine Damen handeln, daß wir alle in diesem Hause — ich habe
und Herren! Sie haben vielleicht Verständnis für persönlich Anlaß, dies zu sagen — für gegenseitige
das Gefühl, das mich beschleicht, wenn ich dieses Achtung der religiösen Bekenntnisse in der Öffent-
Podium nun zum erstenmal als völlig freier Mann, lichkeit eintreten und den konfessionellen Frie-
(Lachen bei der SPD und in der Mitte den als wertvolles Gut erachten und erstreben,
— Händeklatschen bei der FDP — (Beifall bei der FDP und der SPD)
Zuruf von der SPD: Endlich ein
„Freier Demokrat"!) daß wir alle sozial denken und das Soziale wol-
len, daß wir alle das Ziel haben-, die Not aus un-
— als wirklicher „Freier Demokrat", sehr schön! serem Volke zu bannen und denen zu helfen, die
— betrete. Es war natürlich so, daß ich — hier und sich nicht helfen können, daß wir alle die Le-
anderswo — bisher noch immerhin in der Zucht benslage unseres gesamten Volkes bessern wollen,
des Kabinetts stand daß niemand in diesem Hause restaurieren will
(Lachen und Zurufe bei der SPD und oder reaktionären oder gar autokratischen Zielen
in der Mitte — Abg. Schoettle: Wenn nachstrebt, daß es unser aller Ziel ist, den Frie-
auch nicht immer in der Furcht des den zu wahren, und daß wir alle in brennen-
Herrn! — Weiterer Zuruf: Nur sonn- dem Verlangen Deutschland, das ganze Deutsch-
tags nicht! — anhaltende Heiterkeit) land wiederherstellen wollen.
52 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. Dehler)
Wenn wir uns darüber einig wären, könnten wir einer Wirtschaft des Marktes zu einem sozialisti-
uns auf den echten politischen Kampf, nämlich auf schen Staat mit einer — bisher mußte man das
den Kampf um die richtigen Mittel zur Verwirk- annehmen — zentral gesteuerten Wirtschaft wäre
lichung der gemeinsam als richtig erkannten Ziele doch viel mehr als der Wechsel einer Regierungs-
beschränken. Wie fruchtbar könnte eine solche po- mehrheit. Das wäre ein Übergang von einem
litische Arbeit sein! Ich erkenne als das wesent- System zum andern; das wäre ein völliger Um-
liche Mittel unserer Arbeit das Gespräch, das un- bruch der gesellschaftlichen Lage. Nicht viel an-
mittelbare, vorbehaltlose Gespräch, das löst und ders wäre ein Übergang zu irgendeiner Form
das, wenn es echt ist, zum Humanen und damit eines theokratischen Staates mit einem ständischen
zum Gemeinsamen führt. Da knüpfe ich an das an, Aufbau der Politik oder der Wirtschaft. Wir Freien
was Herr Kollege Ollenhauer sagt: es gibt ja nicht Demokraten glauben unsere Mission, an die libe-
nur Monologe, es gibt ja auch nicht nur Dialoge rale Aufgabe, an die bestimmende Kraft unserer Hal-
— etwa Adenauer—Ollenhauer —, nein, es gibt tung, die vor allem von dem tiefen Zusammen-
auch den runden Tisch. Und vielleicht verhindern hang zwischen geistiger, wirtschaftlicher und poli-
Gespräche am runden Tisch die Mißverständnisse, tischer Freiheit weiß. Deswegen glauben wir, daß
will ich einmal sagen, von denen Sie, Herr Kol- wir ein Recht auf Bestand haben. Es wäre trüge-
lege Ollenhauer, vorhin so mit Bitterkeit gespro- risch, gerade nach den Erfahrungen der letzten
chen haben. Wir sind jederzeit zu jedem Gespräch Wahl zu glauben, daß das sogenannte Mehrheits-
bereit; denn wir glauben an die Kraft des Ge- oder Persönlichkeitswahlrecht wirklich eine Aus-
spräches und wir wollen dazu verhelfen, daß nie- wahl der Persönlichkeiten wäre; ja, die Erfahrun-
mand in diesem Hause im rein Negativen verharrt. gen mit der letzten Wahl — damit beschuldige ich
Zu sehr hatten wir im letzten Bundestag diesen niemand oder setze niemand herab — beweisen
Eindruck in den außenpolitischen und in den wirt- das klare Gegenteil. Darum wollen wir uns reif-
schaftspolitischen Dingen. Um so schöner die Be- lich überlegen, welches Wahlrecht den politischen
kenntnisse, die uns Herr Kollege Ollenhauer heute Willen unseres Volkes richtig wiedergibt, und wol-
gemacht hat. Wir wollen uns doch stets des eigent- len nicht vergessen, daß wir — hoffentlich sehr
lichen Wesens des Politischen bewußt sein. Politik bald — ein Wahlrecht zu schaffen haben, das für
ist nicht Zustand. Politik ist Handlung, ist Bewe- die Konstitution des gesamtdeutschen Staates gel-
gung auf ein bestimmtes Ziel, über die Nahziele ten und das dann nicht zu weit von dem Wahl-
- einigen
hinweg auf das Fernziel, über das wir uns recht, das hier gilt, entfernt sein soll.
müssen. Wesentliche Aufgabe ist es, mit Geduld
und mit Bedacht ein Gefälle des Geschehens zu (Beifall rechts und bei der SPD.)
errichten. Diese Aufgabe muß von Stunde zu Die Kabinettsbildung, — oh, es wäre viel zu
Stunde, zumindest von Tag zu Tag neu durchdacht sagen.
werden. Wir wollen gemeinsam denken. Es darf (Heiterkeit.)
sich in diesem Hause nicht wiederholen, daß wir Aber, meine Damen und Herren, wir müssen ja da-
in den Schicksalsfragen unseres Volkes uneins sind rüber reden, insbesondere auch angesichts der Kri-
oder daß gar parteitaktische Erwägungen unsere tik, die Herr Kollege Ollenhauer geübt hat. Ich
Entscheidungen über das Schicksal unseres Volkes möchte nur eines sagen: ich bin mit daran schuld
beeinflussen. Wenn das geschähe, dann wäre das — und wenn ich auch das Opfer meines eigenen
das Zeichen einer beklagenswerten Verkümmerung Willens bin —,
des politischen Sinnes unseres Volkes. (Heiterkeit)
Die Wahl vom 6. September hat, glaube ich, einen
klaren Auftrag erteilt. Das deutsche Volk will, daß der Kanzler stark ist. Regierungsbildung heißt,
daß die Politik des ersten Bundestages bzw. der daß der Kanzler sich die Leute sucht, die er zur
ersten Bundesregierung, vor allem ihre Außen- Erfüllung seiner politischen Aufgabe braucht;
und ihre Wirtschaftspolitik, fortgesetzt wird. Meine daran ist nichts zu deuteln. Meine Damen und Her-
Partei erkennt die in der Entscheidung des deut- ren, wir wollen doch wahrlich nicht mit den Er-
schen Volkes für sie liegende Verpflichtung an, wägungen des kleinen Mannes kommen, der da
und sie nimmt das Angebot des Bundeskanzlers nach dem Geld schaut.
an, die Zusammenarbeit im bewährten Geiste fort- (Beifall bei der FDP und bei
zusetzen. Sie ist überzeugt, daß sie, wie im ersten Abgeordneten der CDU.)
Bundestag, Wesentliches zur Erfüllung der Auf-
gaben, die uns gestellt sind, beitragen kann. Ich glaube, wir würden heute noch Brüning und
sein Kabinett mit Gold aufwiegen, wenn er poli-
Es wäre trügerisch, aus dem Ergebnis der Wahl tisch Erfolg gehabt hätte, wenn er den Abrutsch
den Zug oder gar den Zwang zum Zweiparteien- in das politische Abenteuer, das mit dem Hitler
system herauslesen zu wollen. Ich äußere mich dazu, tum geendet hat, verhindert hätte. Ich meine, die
weil aus den Worten des Herrn Kollegen Dr. von Dinge um eine Regierungsbildung sind doch wahr-
Brentano der Glaube daran und an ein diesem lich zu bedeutsam, als daß man an sie mit den
Glauben entsprechendes Wahlrecht herausklang. Maßstäben des kleinlichen Makelns herangehen
Ein Zweiparteiensystem und damit im Grunde könnte. Aber ich bin verpflichtet, namens meiner
ein Mehrheitswahlrecht sind nur dort praktikabel, Partei zu sagen, daß wir keinen Wunsch nach einer
wo zwei Parteien nicht polar sind, sondern das Vergrößerung des Kabinetts hatten
gleiche Staatsleitbild und die gleiche Wirtschafts-
und Gesellschaftsordnung vertreten, wenn also (Widerspruch und Unruhe in der Mitte
eine Wahl nicht jeweils die Grundlagen unseres und links)
Staates und unserer Gesellschaft, der Gemein- und daß der Eindruck, der insoweit in die Öffent-
schaft erschüttert, sondern wenn die Wahl um die lichkeit gekommen ist, durchaus falsch ist. Wir
praktischen Fragen des Tages und vornehmlich haben niemals einen Wunsch danach an den Herrn
um die Auswahl der Persönlichkeiten geht, in deren Bundeskanzler gerichtet, sondern sind auf den
Hand die politische Gewalt liegen soll. Ein Wechsel, Wunsch des Herrn Bundeskanzlers gestoßen. Aber
sagen wir einmal, von einem liberalen Staat mit die Stimmung — um Ihnen das genau zu schildern
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 53
(Dr. Dehler)
— in meiner Fraktion war derart, daß wir kurz Wir brauchen Bürger des Staates. Eins habe ich in
vor Schluß der Verhandlungen den Beschluß gefaßt der Regierungserklärung ein wenig vermißt —
haben, dem Herrn Bundeskanzler unseren sehr auch in der Rede des Herrn Kollegen Ollenhauer —:

dringenden Wunsch vorzulegen, das Kabinett klein Es wird zuwenig gesagt von den Pflichten des
zu halten, und daß wir uns ausdrücklich bereit deutschen Volkes, von den Pflichten der deutschen
erklärt haben, uns mit zwei Ministern zu begnügen. Menschen, es wird zuviel versprochen.
Das war unsere Haltung. (Sehr wahr! bei der FDP.)
(Fortgesetzte Unruhe.) Meine Damen und Herren, am Ende besteht ein
Es ist also unrichtig, was auch der Herr Kollege Staat ja nicht aus der Bürokratie und nicht aus
Ollenhauer geäußert hat, als ob wir bei der Re- dem Parlament und nicht aus der Regierung, son-
gierungsbildung irgendwelche politischen Geschäfte dern aus dem, was die deutschen Menschen diesem
Staat geben, nicht nur materiell, sondern auch
hätten machen wollen. seelisch und geistig geben.
Aber ich teile die Meinung des Herrn Kollegen
(Sehr gut! bei der FDP.)
Ollenhauer, daß es nicht sehr erquicklich ist, was
sich teilweise bei der Zugrundelegung der kon- Lag dieser Wille in den letzten Wahlen? Hat das
fessionellen Parität in der Zusammensetzung des deutsche Volk ein Gefühl für die Verpflichtung zu
Kabinetts gezeigt hat. Das rührt auch an Grund- diesem Staat? Nur wenn es dieses Gefühl hat, wird
fragen des Politischen. Es ist keine richtige Auf- unser zweiter Versuch, einen demokratischen Staat
fassung, wenn man glaubt, die Parität — und wie zu schaffen, nicht so verhängnisvoll scheitern wie
viele Kategorien der Parität, der konfessionellen, der der Weimarer Demokratie.
der soziologischen, der geographischen, gibt es? —
müßte sich in den politischen Gremien und am Ich sehe Gefahren für das Staatsgefühl, meine
Ende — Herr Ollenhauer hat durchaus recht — Damen und Herren, von mancherlei Seiten. Surro-
auch im obersten politischen Gremium nieder- gate des Staatsgefühls werden vorgeschoben. Die
schlagen. Ich möchte fast von einem Unheil des Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens
scheint mir übertrieben. Wenn am letzten Samstag
Schlagwortes der Parität sprechen. Wenn eine
Partei aus übergeordneten politischen Gesichts- und Sonntag in Regensburg bei der Tagung des
bayrischen Bauernverbandes die bisherige Organi-
punkten ans Werk geht, wenn eine Partei in Wahr- sation der Bauernjugend zerschlagen wurde mit dem
-
heit überkonfessionell ist und über den Klassen Ziele, katholische und protestantische Bauernju-
steht, wenn eine Partei nach Lösungen sucht und gendorganisationen zu schaffen, — ist das ein guter
nur nach Lösungen sucht, die allen nützen, dann ist Weg?
es die unsere.
(Sehr gut! bei der FDP.)
(Beifall bei der FDP. — Zurufe von der
Mitte und links.) Führt dieser Weg zum Staatsbewußtsein, wenn so-
gar im Ständischen das Religiöse vorangestellt
Deswegen haben wir die Vorgänge bei der Kabi- wird, ohne daß ein Erfordernis besteht?
nettsbildung mit Unbehagen verfolgt. (Abg. Höfler: Das ist die Frage!)
Man darf sich über die Bedeutung der Wahlen Auch das europäische Denken — möchte ich ein-
auch nicht täuschen, man darf ihre Wirkung nicht mal sagen — das unserer Jugend so gut eingeht,
dramatisieren. Man muß sie auch messen an der darf nicht zu einem Ersatz des Staatsdenkens wer-
Skala der Aufgaben, die wir uns stellen. den.
(Beifall bei der FDP.)
(Vizepräsident Dr. Jaeger übernimmt
den Vorsitz.) Das Gesetz, nach dem nun nicht nur im 19. Jahr-
hundert, sondern auch in diesem Jahrhundert un-
Darüber sind wir auch verschiedener Meinung .
sere Staaten angetreten sind, ist das Gesetz, daß die
Der Herr Kollege Ollenhauer meint, die Verscheu- Menschen einer Geschichte, eines Volkes, einer ge-
chung der Not sei ein vornehmliches Gesetz; in der meinsamen Sprache und Kultur zu ihrem Staate
Regierungserklärung ist die Wiedervereinigung als wollen. Auch im europäischen Verbinde werden
vordringliche Aufgabe gesehen worden. Nun, ich diese nationalen Staaten die politischen Protago-
bin ein Mann des Staates, ich sehe die wesentliche nisten sein, und es wäre falsch, wenn man unserer
Aufgabe, die wir zu erfüllen haben, darin, einen Jugend als Surrogat eines echten Staatsgefühls den
Staat zu bilden, ein Staat zu werden. Da wäre Gedanken Europa vor Augen stellen wollte.
vieles darüber zu sagen, ob diese Wahlen wirklich Ein Wort zum Föderalismus. An der Stirnwand
ein Bekenntnis zum Staate sind, ob das Staats- unseres Saales hängen nun nicht mehr die Landes-
gefühl, das allein diesen Staat tragen kann, leben- wappen. An ihre Stelle ist der Bundesadler getre-
dig genug ist. Niemand wird sich doch der Er- ten als Symbol unserer Arbeit an Deutschland.
kenntnis verschließen, daß wir nicht ruhigen Zei- Ich meine, der Bund ist das Größere. Dessen m ils
ten entgegengehen. Die gewaltige Erschütterung, sen wir uns bewußt sein. Wir müssen uns auf un-
die seit 40 Jahren durch die Welt geht, ist doch mit seren Dienst an Deutschland besinnen und wissen,
dem Jahre 1945 nicht mit einemmal zu Ende ge- daß die Länder Stufen zu diesem Altar sind. Aber
gangen. Das deutsche Volk, dieses schon in seiner ich nehme auf, was der Kollege von Brentano vor-
staatlichen Einheit zerrissene deutsche Volk, wird hin gesagt hat: Dieses Problem wird um so gerin-
schwersten Belastungen entgegengehen und wird ger, je größer die wirtschaftliche Freiheit ist. Je
ihnen nur gewachsen sein und wird sie nur be- geringer die Abhängigkeit des einzelnen vom
stehen können, wenn ein starkes bewußtes Staats- Staate ist, desto geringer ist auch die Bedeutung
gefühl diesen demokratischen Staat, für den der des Problems, ob dieser Staat als Land oder als
Herr Kollege Ollenhauer so schöne anerkennens- Bund in Erscheinung tritt.
werte Worte fand, trägt. Darauf kommt es an. Ich verfolge auch mit Sorge das Bestreben aller
(Beifall bei der FDP.) möglichen berufsständischen Verbände, sich vor den
54 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. Dehler)
Staat zu schieben und Einfluß auf den Staat zu neh- am Ende stand dann dieses Gestrüpp von Gesetzen,
men. Sie wissen, das Wirken der Lobbyisten der ver- in denen sich der Staat, das öffentliche Leben ver-
schiedensten Art drängt bis in diese Gänge. Ein strickte. Hier wurde der Weg zu Lenin und Hitler
trübes Zeichen! Ich meine, es ,darf keine außerpoli- gelegt.
tischen, es darf vor allem keine anonymen Kräfte Das Schlimmste: wenn der Gesetzgeber glaubt,
geben, die auf den Staat Einfluß zu nehmen oder er könne in der Form des Gesetzes alles beschlie-
ihn gar zu beherrschen suchen. Wir, Sie sind allein ßen. Sie erinnern sich, was in diesem Hause ge-
die Repräsentanten des deutschen Volkes. Si e ent-
scheiden und niemand sonst. schah. Das Gesetz, das wegen meines Widerspru-
ches nicht verkündet wurde, über Straffreiheit für
(Beifall bei der FDP.) 40 Journalisten und Beamte — Platowkreis — in
Natürlich spreche ich damit auch das Problem Form einesallgemeinen Straffreiheitsgesetzes ver-
der Gewerkschaften an. stößt gegen Grundsätze der Verfassung, aber auch
gegen Grundsätze des Rechtes, gegen den Grund-
(Zuruf von der SPD: „Natürlich"!) satz der Gleichheit vor dem Rechte. Es ist trotzdem
Wir erkennen die Aufgaben der Gewerkschaften beschlossen worden! Wir haben einen besseren
vorbehaltlos an. Sie können aber nur bestehen und Bundestag gewählt. Ich hoffe, daß er auch diesen
wirken, wenn sie sich entpolitisieren und legali- Sündenfall heilt.
sieren. (Heiterkeit bei der FDP.)
(Sehr gut! rechts.)
Ich erzähle ihn nur, um Ihnen zu sagen, was Recht
Wenn sie glauben, sie könnten Einfluß auf die und was Rechtsstaat ist.
Wirtschaftspolitik nehmen, dann vergessen sie, daß
die Wirtschaftspolitik ein wesentlicher Teil der Das Recht führt doch auch in die Welt und regelt
Staatspolitik ist und niemals ihrer unmittelbaren unsere Beziehungen mit den anderen Völkern. Vie-
Beeinflussung unterliegen darf. les ist hier noch nicht im Gleichgewicht. Ich denke
an die Verstöße gegen die Rechtsordnung, die in
(Beifall bei der FDP und in der Mitte.) der Behandlung des deutschen Auslandsvermögens
Ich leugne aber keinen Augenblick, daß diese Ge- liegen. Ich stelle mit Freuden fest, daß für die
fahr genau so für andere Verbände gilt Kriegsverurteilten, die im Inland einsitzen, jetzt
die Tätigkeit der Gnadenausschüsse begonnen hat.
(Sehr richtig! bei der FDP) Wir hoffen auf großzügige Erledigung. Wir müssen
-
und daß für diese Verbände diese Warnung in glei- aber auch an jene denken, die außerhalb Deutsch-
cher Weise gilt. lands noch einsitzen, die jetzt achteinhalb Jahre
Untersuchungshaft verbüßt haben. Wir müssen be-
(Sehr richtig! links und in der Mitte.) denken, was das an Seelenqual, was diese Un-
Wenn der Herr Kollege Ollenhauer vorhin festge- sicherheit bedeutet, und wir möchten meinen, daß
stellt hat, daß die Gewerkschaften nur an die Wil- hier Sühne genug geleistet ist und daß die allge
lensentschließung ihrer Mitglieder gebunden sind, meinen Grundsätze der Humanität und des Rechtes
möchte ich ihm sagen, daß sie auch an die recht- Platz greifen sollten.
liche Ordnung unseres Staates gebunden sind. (Beifall bei den Regierungsparteien und
(Beifall bei der FDP und in der Mitte.) bei einzelnen Abgeordneten der SPD.)
Nun komme ich zu einem besonderen Kummer. Dabei drängt sich einem auch das Bild des Straß-
Die Regierungserklärung hat kein Wort vom Recht, burger Oberbürgermeisters Ernst vor Augen, der
sie hat kein Wort von der Justiz enthalten. Ich ein ähnliches Los zu tragen hat.
hoffe nicht, daß das mit einer Mißstimmung gegen Unser Schicksal ist die Außenpolitik, meine Da-
mich zusammenhängt. men und Herren; sie steht im Vordergrund aller
(Heiterkeit. — Zurufe links.) Erwägungen. Die Politik der Bundesregierung, die
Politik des Bundeskanzlers, der mit vollem Recht
Ich habe ein tiefe Beziehung zum Recht. Vielleicht bis zum Abschluß der Politik, die er eingeleitet
sehe ich seine Bedeutung stärker als andere. Ich hat, das Außenministerium und damit die Entschei-
sehe die Krisis des Rechtes als eine der Ursachen dung der Dinge in seiner Hand behalten hat, wird
der Erschütterung unserer Zeit. von uns unbedingt bejaht. Ich glaube nicht, daß
die Ausführungen der Opposition Anlaß geben, hier
(Sehr richtig! links.) etwas zu ändern. Wir sind vorbehaltlos zur euro-
Fin weites Gebiet; ich kann es nicht erschöpfend päischen Kooperation bereit, weil wir nur in ihr
behandeln. Aber das Unheil für unseren Erdteil die Möglichkeit der Sicherung des Restes sehen,
b egann, als das Rechtsideal erschlaffte, als der der von Europa geblieben ist. Wir wollen dieses
Glaube der Menschen an die Unverbrüchlichkeit Zusammenwirken mit gleichen Rechten und mit
des Rechtes schwand. Man könnte sagen, daß darin gleichen Pflichten. Ich möchte nach dem, was ge-
die Tragik der deutschen Geschichte liegt. Kaum schehen ist, die Pflichten unterstreichen. Wir wer-
hatte sich dieses Rechtsstaatsideal im ersten Drittel den mit dem Herrn Bundeskanzler gehen, wenn
des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, da begannen er eine entschlossene Europapolitik treibt, die die
sehr bald wieder die Gegenkräfte lebendig zu wer- Sicherheit für uns schafft. Wir sind bereit, alles
den, gerade der Glaube sozialreformerischer Den- zu tun, um die politische europäische Gemeinschaft
ker, man könne dem Staat die Aufgabe überbür- mit Mut anzugehen und voranzutreiben. Ich möchte
den. die Ungleichheiten, die in der Welt sind — sagen: wir bitten den Herrn Bundeskanzler, hier
die Ungleichheiten der Anlagen und der Umstände seine ganze Kraft einzusetzen. Ihm ist diese Auf-
— vom Staate her auszugleichen. Da begann der gabe gestellt; ich möchte meinen, daß ihm die Ge-
Schwund des Rechtes: denn da hat man dem schichte den Lorbeer flicht, wenn er sie erfüllt.
Staate die Pflicht auferlegt, diese Ungleichheiten Dann hat er Europa und damit das Abendland
durch Eingriffe vom Staate her zu egalisieren. Da- aus einer großen Gefahr gerettet.
mit schwand die bindende Kraft des Rechtes, und (Beifall bei den Regierungsparteien.)
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 55
(Dr. Dehler)
Es muß daher jeder irgendwie mögliche Fort- Unsere Stellung zur Saar: Wir sind bereit, die
schritt auf dem Wege zur politischen, zur wirt- von uns erstrebte Europäisierung der Wirtschaft
schaftlichen, währungs- und finanzpolitischen In- vorwegzunehmen. Wir sind auch gewillt, bestimmte
tegration Europas von uns wahrgenommen wer- wirtschaftliche Interessen Frankreichs an der Saar-
den; ich meine: mit dem guten Gewissen, daß wir wirtschaft anzuerkennen, auch Vereinbarungen
den anderen damit noch mehr nützen als uns. Herr über die Beteiligung Frankreichs an Kohlengruben
Ollenhauer beklagt, daß nicht alle sich an- zu treffen. Wir bieten Frankreich ferner die Mög-
schließen. Wir stimmen seiner Klage zu. Der Um- lichkeit an, während einer Übergangszeit bis zur
stand kann uns nicht hindern, das Mögliche zu tun. europäischen Wirtschaftsintegration saarländische
Ich möchte auch meinen, man sollte nicht allzuviel Erzeugnisse ohne Transferschwierigkeiten und
Rücksicht auf die oft kurzsichtige und kleinliche ohne mengenmäßige Beschränkungen zu beziehen.
Einstellung einiger Partner in der Montan-Union Eine politische Europäisierung der Saar lehnen
und vielleicht auch in der künftigen Europäischen wir ab.
Verteidigungsgemeinschaft nehmen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Wir haben den Wunsch, daß das Verhältnis zu
Frankreich befriedet wird, daß die jahrhunderte- Wir bestreiten die Kompetenz eines saarländischen
langen Spannungen und Zwistigkeiten zwischen Parlaments, auch der saarländischen Bevölkerung,
Deutschland und Frankreich in einer echten und über den politischen Status des Saargebiets, d. h.
ehrlichen Gemeinschaft überwunden werden. Die also doch in Wirklichkeit: über den Bestand
Verwirklichung der Europäischen Verteidigungs- Deutschlands, zu entscheiden. Auch die Landtags-
gemeinschaft ist das dringende Erfordernis. Der wahlen an der Saar können nicht den Anspruch
Kontinent ist ohne die Beteiligung der Bundes- erheben, als Entscheidung über das Schicksal des
republik nicht zu verteidigen. Saargebiets zu gelten.
Der Herr Kollege Ollenhauer hat Betrachtungen (Beifall bei den Regierungsparteien und
darüber angestellt, ob man den Russen den Glau- bei der SPD.)
ben zumuten kann, daß die Europäische Verteidi- Meine Damen und Herren, es geht um mehr als
gungsgemeinschaft wirklich defensiven Charakter um die Sicherung des Deutschtums an der Saar. Es
trägt. Sie kann nach dem Willen und der Technik genügt also nicht etwa die Teilnahme der Saar-
keinen anderen Effekt erzielen. Ich glaube, von brückener Regierung an der deutschem Kultus-
dieser Stelle sollte man sehr klar und bestimmt
- ministerkonferenz, nein, es geht um die Wieder-
ausdrücken, daß sich das deutsche Volk nie und vereinigung des deutschen Gebietes. Wir wollen
nimmer in irgendeine aggressive Kriegspolitik ein- nicht vergessen, daß zu diesem Gebiet auch Trierer
lassen wird. und Pfälzer Land gehören.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Ein Wort zu Berlin. Herr Kollege Ollenhauer hat
Daß der militärische Beitrag Deutschlands in unse- gesagt, wir müßten Berlin als einen Teil der Bun-
rem und im europäischen Interesse am besten im desrepublik anerkennen. Ich gehe weiter: Daß Ber-
Rahmen einer europäischen Armee geleistet wird, lin besteht und lebt, ist für uns das Unterpfand
kann ernstlich nicht bestritten werden. Wir freuen dafür, daß Deutschland wiederersteht.
uns, daß auch jede Möglichkeit eines deutschen mi- (Bravo! bei der FDP.)
litärischen Abenteuers ausgeschlossen ist. Ich halte
die Befürchtungen Frankreichs, die jetzt wieder Deswegen, meine Damen und Herren, kann für
auftauchen und die von den Russen genährt wer- Berlin gar nicht genug getan werden.
den, für unbegründet. Daß die Europäische Vertei- (Abg. Meitmann: Wie bei der Regierungs
digungsgemeinschaft enge Fühlung mit Großbri- bildung!)
tannien wird suchen müssen, hat der Kollege Ollen- Das wirtschaftliche Ziel muß sein, daß Berlin an
hauer mit Recht unterstrichen. die Bundesrepublik so viel liefern kann, wie es aus
Aus den Äußerungen des Herrn Kollegen Ollen- der Bundesrepublik bezieht. Die vordringliche
hauer klang so ein bißchen Schadenfreude über Sorge gilt den Arbeitslosen, die in Berlin niemals
die Schwierigkeiten, in die unser Vertragswerk ge- Arbeit finden können, weil Berlin die Funktion der
raten ist. Ich weiß nicht, ob diese Schadenfreude Hauptstadt jetzt nicht mehr hat: dem Heer der
ganz berechtigt ist. Herr Ollenhauer, Sie und Ihre Büroangestellten. Ich meine, es müßte ein Weg ge-
Freunde habe unmittelbar und in der Rückwirkung funden werden, sie in der Bundesrepublik in Arbeit
Ihres Verhaltens manches dazu getan, daß diese zu bringen.
Verträge nicht unter Dach und Fach sind. Ich habe Herr Kollege Mellies hat eben auf die Regie-
es nie verstanden, daß man über das Schicksal des rungsbildung in Berlin hingewiesen.
deutschen Volkes Prozesse führt.
(Zurufe: Ollenhauer!)
(Lebhafter Beifall bei den Regierungs
parteien.) — Nein, ich glaube, Herr Mellies hat es gemacht.
Verzeihung! — Ich glaube, Sie geben den Ereig-
Vieles wäre zu sagen; aber meine Zeit ist be- nissen dort einen falschen Akzent.
grenzt. Ich komme zur Frage der Wiedervereini-
(Zuruf von der SPD: Nein, gar nicht!)
gung. Wir stellen die Wiedervereinigung und den
Grundsatz der Wahrung des deutschen Besitzstan- Auch in Berlin gibt es Demokratie und gibt es
des auf allen Seiten über alles. Wir erheben den souveräne Entscheidungen. Daß sich Parteien zu-
Anspruch auf die deutschen Ostgebiete und auf die sammenschließen und einen Führungsanspruch er-
Saar heben, verstößt wirklich nicht gegen demokratische
(Beifall rechts) Grundsätze. Es tut dem Andenken des auch von
und können uns dabei auf die Charta der UNO mir hochverehrten Herrn Oberbürgermeisters
und die dort festgelegten gültigen Grundsätze Reuter wirklich keinen Abbruch, daß auf seinem
berufen. Stuhl jetzt ein Mann anderer politischer Haltung
56 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. Dehler)
sitzt. Berlin — damit müssen sie sich abfinden — Er züchtet Jugendfunktionäre, die aus ihrer Jugend
ist nicht mehr sozialistisch, sowenig wie die Bun- einen Beruf machen wollen.
desrepublik sozialistisch ist.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Lebhafter Beifall bei den Regierungs
parteien.) Er muß insgesamt neu geordnet werden. Auch hier
ist die Mitwirkung verantwortungsbewußter Parla-
Auch hier eine schöne Gemeinschaft und Einheit. mentarier notwendig — wir haben ja Gott sei Dank
Weiter ein Wort zu dem Raum an der Zonen- viele junge Kollegen im Hause —, damit diese
grenze. Ich meine, das ausgezeichnete Programm, Dinge rasch heilsam gebessert werden.
das mein Parteifreund Henn noch am Schluß des Die Wirtschaft! Nun, da möchte ich gern in ein
ersten Bundestages als Ergebnis sorgfältigster Fest- Streitgespräch mit Herrn Kollegen Ollenhauer
stellungen hier verkündet hat, müßte schleunigst kommen.
verwirklicht werden.
(Heiterkeit und Hört! Hört! in der Mitte.)
Einige Feststellungen innerpolitischer Art. Die
Dienststelle Blank macht einem, soweit ihr span- Ich denke an Diskussionen, die ich mit dem frühe-
ren bayerischen Wirtschaftsminister Dr. Zorn im
nungsreiches Innenleben nach außen dringt, etwas
Sorge. bayerischen Landtag hatte. Heute war mir genau so
(Heiterkeit links.) zu Mute. Ich habe ihn einmal provoziert, im Land-
tag seine wirtschaftspolitischen Grundsätze darzu-
Es wäre betrüblich, wenn hier nicht wirklich eine legen, mit der Folge, daß meine Freunde und ich
stabile und solide Grundlage für den in der Zu- ihm mit frenetischem Beifall zustimmten und daß
kunft auf ihr lastenden Überbau geschaffen würde. die Sozialdemokraten mit betretenen Gesichtern
Ich meine, der Rat erfahrener, politisch denkender dabeisaßen.
Parlamentarier sollte häufig erholt werden. (Heiterkeit rechts.)
Wir haben Anlaß, meine Damen und Herren, den Ich glaube, heute könnte es so ähnlich sein. Der
Beamten des Bundes für die hingebungsvolle Ar- Herr Professor Schiller wird mit dem Herrn Kolle-
beit, ihre Leistungen während der letzten vier gen Ollenhauer restlos einig sein.
Jahre zu danken. Nur der, der drinsteckte, weiß,
wie gearbeitet wurde, mit welchem heiligem Eifer (Zurufe von der SPD.)
- — Ich bin überzeugt!
geschafft wurde, daß dieser Staat entstand.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Gülich: Auch andere! — Abg.
Dr. Schmid [Tübingen]: Ja, auch andere!)
Wir, meine Parteifreunde und ich, bekennen uns
nach wie vor zu den bewährten Grundsätzen des — Sie sind ja ein zu den Sozialdemokraten verirr-
Berufsbeamtentums. Wir verwahren uns gegen die ter Liberaler, Herr Kollege Schmid!
Bestrebungen, das Beamtenrecht mit arbeitsrecht- (Große Heiterkeit und Beifall bei den
lichen Kategorien zu versetzen. Die Verabschiedung Regierungsparteien.)
des Personalvertretungsgesetzes und die Verein-
heitlichung des Beamtenrechts des Bundes und der Ein guter Liberaler!
Länder durch ein Rahmengesetz nach dem Grund- (Abg. Dr. Schmid [Tübingen]: I c h habe
gesetz, dann die Überprüfung der Grundsätze der den Liberalismus zu Ende gedacht, Herr
Besoldungsordnung sind dem zweiten Bundestag Kollege!)
als dringende Aufgaben gestellt.
— Herr Kollege Schmid, ich glaube es gern. Aber
Mit gutem Gewissen kann gerade ich die Forde- ich denke auch an Herrn Kollegen Kreyssig! Er hat
rung des Herrn Kollegen Ollenhauer aufnehmen, schon mit etwas süßsaurer Miene, glaube ich, die
daß entsprechend dem Gebote des Grundgesetzes Festlegungen seines Kollegen Ollenhauer verfolgt.
jeder ohne Rücksicht auf Glaube und Religion und Und mit dem schönen Geständnis allein ist es nicht
politische Überzeugung Anspruch auf Tätigkeit im getan. Es ist zu wenig, wenn m an sagt, Wettbewerb
Staate hat. Nun, ich glaube, ich habe im Bundes- und Planung seien keine echten Antithesen. Zu-
justizministerium ein vorbildliches Beispiel dafür nächst, meine Damen und Herren, muß man
gegeben, wie man diese Aufgabe erfüllen kann. wissen: es gibt nur eine richtige Wirtschaft, es
Wir sind besorgt, daß die Aufstockung des Bun-
gibt nur eine Wirtschaft, und das ist unsere, 'das
ist die liberale Wirtschaft, die man auch soziale
desgrenzschutzes auf 20 000 Mann, wahrlich eine Marktwirtschaft nennen kann.
dringliche Forderung, trotz der vorbildlichen Be-
mühungen meines verehrten Herrn Kollegen Lehr (Beifall bei der FDP.)
und unter Mißachtung des klar geäußerten Willens Es gibt nur das echte Wirtschaften, die Wirtschaft,
des Bundestages aus finanziellen Gründen verzö- die sich gründet auf den Wettbewerb, auf die Lei-
gert worden ist. Ich möchte meinen, das Geld wäre stung des einzelnen, auf die Vertragsfreiheit, auf
hier besser als anderswo angewandt. ein weitgestreutes und gesichertes Eigentum, die
(Sehr gut! bei der FDP.) sich auch gründet auf den Glauben an die Möglich-
keit des wirtschaftlichen und sozialen Ausgleichs
Die Neuordnung des Rundfunks und des Fern- im freien Staat, die sich darauf gründet, daß die
sehens in der Gesetzgebungszuständigkeit des Bun- Stände nur miteinander, nicht gegeneinander wirt-
des und die Beseitigung des Besatzungsrechts im schaften können.
nordwestdeutschen Raum sind ein dringendes
Gebot. (Abg. Dr. Schmid [Tübingen] : Was sind
denn Stände? — Heiterkeit bei der SPD.)
Ein etwas bitteres Wort über den Bundesjugend-
plan. Er droht der Jugend mehr zu schaden als zu — Nun Gott, das ist jetzt ein Hilfswort für eine
nützen. Arbeitshypothese.
(Abg. Albers: Sehr richtig!) (Zurufe von der SPD.)
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 57
(Dr. Dehler)
Aber einem patentierten Marxisten dürfte ja diese nur für die Grundstoffindustrie, nicht nur für
klassenmäßige Scheidung nicht schwerfallen. Kohle und Eisen, sondern nun auch eine Auswei-
(Heiterkeit und Beifall rechts.) tung des Betriebsverfassungsgesetzes.
(Abg. Ollenhauer: Richtig!)
Ich höre es nicht gern, wenn Herr Ollenhauer
sagt, er lehne den Gegensatz zwischen Marktwirt- Er ist sich nicht bewußt, daß mit dem wirtschaft-
schaft und Planwirtschaft ab — darüber ist nicht lichen Mitbestimmungsrecht die Unternehmerinitia-
zu diskutieren —, aber dann sofort wieder unter- tive nicht vereinbar ist, daß sie ein Widerspruch
stellt, es gebe eben weite Bereiche der Wirtschaft, dagegen ist.
in denen die Marktwirtschaft nicht funktioniere. (Lachen bei der SPD. — Abg. Albers: Nein!
Hier ist jetzt der springende Punkt. Meine Damen — Abg. Dr. Schmid [Tübingen]:: Das ist ge
und Herren! Es ist ja schade, daß der Herr Kollege nau so, als wenn man sagen würde, daß
Schoettle jetzt gerade beim Mittagessen ist, sonst mit dem Mitbestimmungsrecht des Parla
würde ich ihm gern einmal vorhalten, was er so ments die Regierungsinitiative untergehen
im Laufe der Jahre über diese Reservatgebiete, die müsse!)
angeblich für die Marktwirtschaft nicht zugänglich
sein sollen, gesagt hat. — Nein, das ist ein Fehlschluß, Herr Kollege
Schmid.
(Zuruf von der SPD: Verkehr!)
(Abg. Dr. Schmid [Tübingen]: Das ist genau
Es waren früher einmal die Textilien, die Schuhe, das Gegenstück! — Gegenruf rechts: Das ist
große Teile der Konsumgüterindustrie. etwas ganz anderes!)
(Erneuter Zuruf von der SPD: Verkehr! — — Sie brauchen sich nur den Herrn Bundeskanzler
Abg. Euler: Im Frankfurter Wirtschaftsrat!) anzuschauen, um zu wissen, was politische Mit-
Na, und das ist heute bei Ihnen noch — das ist ja bestimmung ist!
ganz deutlich geworden; Herr Ollenhauer hat es ja (Anhaltende große Heiterkeit im ganzen
gesagt — das Gebiet der Energieversorgung, das Hause!)
Gebiet des Verkehrs, das Gebiet des Wohnungs-
baues. — Aber, meine Damen und Herren, jetzt habe ich
aus der Schule geplaudert! Das hätte ich nicht tun
Meine Damen und Herren! Das habe ich langsam dürfen!
erkannt: in der Politik ist noch wichtiger- als die
richtige Einsicht der Mut, (Erneute Heiterkeit. — Abg. Dr. Schmid
[Tübingen]:: Es hat sich herumgesprochen!)
(Beifall in der Mitte und rechts — Lachen
bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und
der den Herren Sozialdemokraten heute fehlt. Be- Herren! Nach dieser Ovation für den Herrn Bun-
grüßen wir es doch: sie sind auf dem rechten Weg, deskanzler bitte ich, den Redner fortfahren zu
(Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs- lassen.
parteien)
Dr. Dehler (FDP): Beim wirtschaftlichen Mit-
aber sie haben noch nicht den Mut,
bestimmungsrecht handelt es sich um eine ganz
(Abg. Dr. Schmid [Tübingen]:: Andere andere Problemstellung, Herr Kollege Schmid;
lernen die Einsicht nie!) denn da geht es darum, zu entscheiden, ob in den
die letzten Hürden zu nehmen. Gewöhnlich strau- Betrieb nun, sagen wir, ein Fließband eingeführt
cheln sie immer noch bei jeder Hürde. Schauen Sie oder ob ein anderer Betriebszweig angegliedert
einmal rückwärts, was Sie an Hürden umgeworfen werden soll. Das soll der Sachunkundige mitbe-
haben! stimmen, der Sachunkundige, der gar nicht die Er-
(Große Heiterkeit.) fahrung haben kann und der vor allem nicht durch
eines geleitet wird, durch die Verantwortung?
Deswegen haben Sie jetzt ja auch so eine schlechte Wenn der wirtschaftlich Entscheidende selbst Un-
Zeit im politischen Wettlauf. ternehmer ist, nun, dann geht es um sein Hab
(Erneute Heiterkeit in der Mitte und und Gut, und wenn er Manager ist, so geht es um
rechts. — Abg. Ollenhauer: Das sind seine Position.
unsere Sorgen!) (Abg. Dr. Menzel: Für den Arbeiter geht
Nein, meine Damen und Herren, wir müssen es um seine Arbeitsstelle!)
dann schon das Gespräch vertiefen. Also wenn Sie Das Handeln aus Verantwortung zwingt zur besten
sagen „Marktwirtschaft", wenn Sie sagen „Unter- wirtschaftlichen Leistung. Wer glaubt, man könne
nehmerinitiative" — ja, wie können Sie dann diese Mitbestimmung mit Unternehmerwirtschaft, mit
Punkte ausklammern? Warum soll auf dem Gebiet Marktwirtschaft vereinbaren, hat die Dinge nicht
des Verkehrs, durchdacht.
(Abg. Dr. Schmid [Tübingen]:: Der Eisen Ich möchte hoffen, Herr Kollege Ollenhauer, Sie
bahn zum Beispiel!) haben sich von dem Ziel der Vollbeschäftigung
der Energieversorgung, des Wohnungsbaues etwas distanziert. Denn wer Vollbeschäftigung vom
anderes gelten? Wir haben ja — Sie und ich, Herr Staate her will, der will natürlich die Leitung der
Kollege Schmid — in das Grundgesetz geschrieben, Wirtschaft zentral vom Staate her,
daß diese Bundeseisenbahn nach privatwirtschaft- (Abg. Baur [Augsburg] : Das ist Ihre
lichen Grundsätzen verwaltet werden soll! Phantasie!)
(Heiterkeit in der Mitte und rechts.) mit der zwangsläufigen Folge des Einsatzes öffent-
Dann müßte ich, meine Damen und Herren, jetzt licher Mittel, Herr Kollege Baur, des Einsatzes von
die Herren Sozialdemokraten weiter fragen: Herr Steuermitteln, um die Vollbeschäftigung durch-
Ollenhauer fordert Mitbestimmungsrecht — nicht zuführen.
58 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. Dehler)
Es ist auch sehr interessant, wenn Herr Kollege Daß soziale Härten vermieden werden müssen, ist
Ollenhauer von einer bewußten Investitionspolitik klar.
für die Grundstoffindustrie spricht. Was heißt (Abg. Albers: Aber wie?)
denn das? Wem ist denn die Richtigkeit der In- Aber auch hier ist die Politik, das politische Han-
vestitionspolitik bei der Grundstoffindustrie „be- deln eine Sache des Mutes.
wußt"? Wem denn? Doch nicht den Verantwort-
lichen, sondern Unverantwortlichen, Bürokraten, (Abg. Frau Dr. Weber [Essen] : Jetzt ist er
Verwaltungsstellen. wieder beim Mut!)
(Abg. Dr. Schmidt [Tübingen]: Syndicis!) Aktive Konjunkturpolitik! Auch hier könnte ich
auf Äußerungen des Herrn Kollegen Ollenhauer
Woher beziehen sie denn ihre Weisheit? eingehen. Auch sie gibt es nur mit marktgerechten
Mein Herr Kollege Ollenhauer, nun, wir disku- Mitteln. Sie ist notwendig. Wir wollen doch kein
tieren hoffentlich weiter, und ich freue mich durch- plumpes Laissez-aller, Laissez-passer; wenngleich
aus, daß Sie die Disskussion begonnen haben. Sie wir immer der Meinung sind, daß im Zweifel der
sind noch kein Paulus, Eingriff des Staates in die Wirtschaft mehr schadet
(Heiterkeit) als nützt. Die wesentliche Aufgabe, die man stellen
muß, ist, daß die Wirtschaft in die Lage versetzt
aber Sie sind auf dem besten Wege dazu. wird, Reserven zu bilden. Nicht der Wirtschaft we-
(Beifall bei der FDP.) gen, sondern der Arbeiter wegen, damit sie, wenn
Rückschläge, wenn Krisen kommen, durchgehalten
Ich glaube, gerade diese Aussprache kann uns mit werden können.
der Hoffnung erfüllen — nun, daß dieser Bundes-
tag gut werden kann! Ich gehe mit dem Herrn Kollegen Ollenhauer
wiederum einig, wenn er verlangt, daß eine echte
(Heiterkeit.) Wettbewerbsordnung geschaffen wird — auch eine
Ich meine gerade das Gegenteil von dem, was gute Erkenntnis des Wesens der Marktwirt-
Herr Kollege Ollenhauer gefordert hat. Wir müs- schaft! —; denn sie ist die Grundlage der Wirt-
sen die zwangswirtschaftlichen Reste, die wir noch schaft. Der Entwurf des Gesetzes gegen die Wett-
haben, abbauen, diese Reste der staatlich gelenk- bewerbsbeschränkungen ist von dem Kollegen Er-
ten Wirtschaft auf dem Gebiete des Außenhandels, hard und mir ausgearbeitet worden. Ich halte ihn
der Devisenwirtschaft, des Kapitalmarktes, der für richtig. Die Wirtschaft muß wissen, daß es
Wohnungszwangswirtschaft. Ich werde ein Wort keine Pfründen in der Wirtschaft gibt, sondern nur
im einzelnen dazu sagen: für mich sind diese Reste den Erfolg ehrlicher Leistung für den Verbraucher.
ein Scandalum nicht nur gegen die wirtschaftliche Ich bin der Meinung, das Kartellgesetz muß mög-
Vernunft, sondern vor allem gegen das Recht. lichst rasch behandelt werden. Es muß ergänzt
werden durch eine Erweiterung und Verfeinerung
Kapitalmarkt! Wir wissen doch, daß unsere Zins- des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb,
politik grundsätzlich falsch war, daß sie uns ge- durch eine Berufsordnung für den Handel und
hindert hat, den Wertpapiermarkt aufzubauen und durch ein Gesetz zur regelung der Konsum-
zu einer gesunden Kreditpolitik zu kommen. Der genossenschaften.
typische Fehlschluß, zu glauben, dadurch, daß man
einen Zwangspreis, einen Zwangszins bestimme, Staatskapitalismus! Sehr schön, Herr Ollenhauer;
könne man regulieren. Man hat gerade dadurch wir liegen uns fast in den Armen!
die Gesundung der Wirtschaft verhindert. Denn
(Heiterkeit.)
der Kredit ist doch das Blut des Wirtschaftskörpers,
und dadurch, daß man die Wirkungen des Zinses Ich bin seiner Meinung. Das heißt, im Eigentlichen
als des Anzeichens, des Barometers für den rich- nicht. Sie sind ja im Ergebnis anderer Meinung,
tigen Lauf, für das richtige Verhalten ausgeschal- Verzeihung, es stimmt also nicht. Ich halte den
tet hat, hat man der ganzen Wirtschaft geschadet. Staatskapitalismus für ein Unglück, und ich hätte
Gerade die Investitionen durch die öffentliche Hand gern ,aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers
sind ein grotesker Verstoß gegen die marktwirt- gehört, daß diese Wirtschaft der öffentlichen Hand,
schaftlichen Grundsätze. die in den letzten Jahren entstanden ist, verurteilt
wird und daß sie korrigiert werden muß. Die Be-
Wohnungsmarkt! Ja, wer glaubt wirklich noch, tätigung des öffentlichen Eigentums in der werben-
unsere Wohnungswirtschaft sei sozial! Mein Freund den Wirtschaft steht in unlösbarem Widerspruch
Preusker hat völlig recht. Es gibt doch nur eines:
dieses Ministerium beseitigen dadurch, daß man mit den Grundsätzen der freien Wirtschaft. Es ist
den Wohnungsmarkt und den Wohnungsbau ge- ein gefährlicher Weg, wenn der Staat mit Steuer-
sundet, nämlich mit marktwirtschaftlichen Gesetzen mitteln Wirtschaft treibt und gegen die Steuer-
erfüllt. Wie kann man eine Wohnungszwangswirt- zahler konkurriert.
schaft als sozial bezeichnen, wenn man den Haus- (Beifall bei der FDP und rechts.)
besitzer unter ein Ausnahmerecht stellt? Es ist
auch eine Fiktion, der Hausbesitzer sei gewisser- Unser besonders kluger Herr Kollege Dr. Dresbach
maßen ein reicher Mann. Der Hausbesitz ist zum hat das schon vor Jahren sehr interessant und sehr
größten Teil in der Hand kleiner Leute. Ihnen überzeugend in seinem Artikel „Bundesschatz-
nimmt man ihr Recht. Wem nützt denn das? — ministerium" dargelegt. Jedes Wort kann man un-
Mein Freund Preusker wird, wenn er zu Worte terstreichen. Ich möchte fast meinen, hier könnte
kommt, Klügeres sagen können als ich. Er wird man einem unserer Minister für Sonderaufgaben
sagen können, daß die Dinge natürlich systematisch eine besondere Aufgabe zuweisen.
entwickelt werden müssen. Das Ziel ist klar. Woh- (Erneuter Beifall bei der FDP.)
nungsnot wird erst beseitigt, wenn die Ware Woh- Aber der Glaube, Herr Kollege Ollenhauer, man
nung ihren gerechten Preis hat. könne durch idas Wirken der öffentlichen Hand in
(Abg. Tenhagen: Quadratmeter drei Mark!) der Wirtschaft das wirtschaftliche Leben befruchten
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 59
(Dr. Dehler)
und günstig beeinflussen, ist eine Ill usion, die Ihnen diese Leistung ist durch eine Verschuldung er
noch aus Ihrer sozialistischen Vergangenheit übrig- reicht, die mehr als 5 Milliarden DM ausmacht.
geblieben ist. Die Ziele, die wir uns hier setzen, sind klar. Die
(Lachen und Zurufe von der SPD. — landwirtschaftliche Rentabilität muß weiterhin ge-
Heiterkeit in der Mitte und rechts.) fördert werden. Die Preisschere muß durch gleiche
Bewertung der landwirtschaftlichen Arbeit und
Verkehr! — Herr Präsident, habe ich noch genü- der gewerblichen, der industriellen Arbeit ge-
gend Redezeit? schlossen werden. Das Ziel der Parität von Löhnen
und Preisen mit denen anderer Wirtschaftsgruppen
Vizepräsident Dr. Jaeger: Sie sind in Ihrer muß durch wirtschaftliche Maßnahmen — nicht
Redezeit auf Beschluß des Ältestenrats unbegrenzt. durch planwirtschaftliche Maßnahmen — erstrebt
werden. In der Landwirtschaft muß das preis-
Dr. Dehler (FDP): Wenn ich das gewußt hätte!
gebundene Denken beseitigt werden. Es läßt sich,
Welch gute Gedanken habe ich schon unter den glaube ich, erreichen, daß die landwirtschaftlichen
Tisch fallenlassen! Bedarfsgüter verbilligt werden. Meine Partei steht
zu dem, was der Herr Bundeskanzler in seiner
(Lachen bei der SPD. — Abg. Dr. Becker bekannten Zusammenkunft mit den Spitzen der
[Hersfeld]: Weil wir für die Redezeit deutschen Landwirtschaft in Rhöndorf am 17. Fe-
Zwangswirtschaft haben! — Heiterkeit.) bruar 1951 erklärt hat. Wir sind der Überzeugung,
Ich glaube, auch der Vorwurf des Herrn Kolle- daß es möglich ist, seine Versprechungen einzu-
gen Ollenhauer, wir hätten für den Verkehr nichts lösen. Wir unterstützen daher alle Maßnahmen,
getan, ist nicht berechtigt. Es ist viel getan worden, welche geeignet sind, besonders die Leistungs-
fähigkeit der klein- und mittelbäuerlichen Betriebe
(Zuruf von der SPD: Was?) zu steigern. Wir wünschen eine großzügige Agrar-
auch für die Straßen ist viel getan worden, natür- politik mit dem Ziele der Vermehrung und auch
lich angesichts der unglaublichen Beschädigung der Verbesserung der landwirtschaftlichen Er-
und angesichts der Not mancher Länder, die ihren zeugnisse.
Verpflichtungen nicht nachkommen konnten, nicht Die Flurbereinigung darf nicht erst in einem
genug. Wir sind der Meinung, daß die Probleme Menschenalter durchgeführt werden. Wir müssen
des Verkehrs sorgfältigste Beachtung verdienen; uns das Ziel setzen, sie in einem kürzeren Zeit-
-
wir lehnen aber alle Monopole und alle sozialisti- raum, in fünf bis acht Jahren Wirklichkeit werden
schen Bestrebungen auch auf dem Gebiete des zu lassen und sie mit der Sicherung gegen weitere
Verkehrs ab. Vielmehr müssen private und staat- Realteilung des Grundbesitzes zu verbinden. Wir
liche Verkehrsträger die gleichen Rechte haben. erwägen die Errichtung von Landkauffonds, aus
Organisatorisch hat der erste Bundestag durch denen besonders Kleinbauern gespeist werden kön-
seine Gesetzgebung, durch das Bundesbahngesetz, nen, die doch überwiegend aus Berufung und aus
durch das Güterkraftverkehrsgesetz, schon die Neigung Bauern sind. Diese sollte man in den
richtige Ausgangsstellung geschaffen. Es gilt nun, Stand setzen, ihre Betriebe aufzustocken und von
zu einer Ordnung der Beziehungen zwischen den den technischen Möglichkeiten unserer Zeit Ge-
Verkehrsträgern zu kommen. Diese Ordnung muß brauch zu machen.
wirtschaftlich bestimmt sein. Darum halte ich es
für notwendig, daß die Bundesregierung die Ver- Wir wollen einen besonderen Schutz gerade den
kehrsträger veranlaßt, sich zunächst einmal zu- kleinen und mittleren Betrieben — es sind ja in
sammenzusetzen und zu einer Verständigung zu Deutschland über eineinhalb Millionen — zuwen-
kommen. Das kann man von ihnen verlangen. Erst den. Dazu gehören die Obst-, die Gemüse-, die
wenn diese Versuche mißglücken, kann man den Garten- und die Weinbauern. In ihnen steckt ein
Gesetzgeber angehen. wertvoller Teil unserer Volkssubstanz. Man muß
auch einmal die Leistungen dieser Leute anerken-
Mit Recht hat Herr Kollege Ollenhauer auf die
nen, die es durch einen Arbeitseinsatz, der stärker
Bedeutung der Bundesbahn hingewiesen. Sie ist ja
nicht nur ein Sondervermögen des Bundes, sondern ist als der jeder anderen Berufsgruppe, erreichen,
die größte Auftraggeberin der deutschen Wirt- daß sie ihre Produkte zu den gleichen Preisen wie
schaft. Sie droht in die Gefahr zu kommen, Kost- Großbetriebe auf den Markt bringen und dadurch
gängerin des Bundes zu werden. Die Bundesbahn mitwirken, daß die Lebensmittelpreise für unser
muß ihr Bemühen, durch eigene Maßnahmen, wie Volk erträglich sind. Das geschieht fast durch einen
Rationalisierung, ihre Wirtschaftlichkeit herzu- Raubbau an der Arbeitskraft des Bauern und sei-
stellen, fortsetzen. Aber die Übergangsschwierig- ner Familienangehörigen, nicht zuletzt der Bauers-
keiten, in denen sie durch besondere Verhältnisse, frau.
durch die Kriegsfolgen steht, rechtfertigen den (Beifall bei der FDP und in der Mitte.)
Wunsch, daß sie in die Lage versetzt wird, ihre Wir schlagen ein Bundessiedlungsgesetz mit einer
Anlagen und Fahrzeuge in gutem Zustande zu er- positiven Agrarreform an Stelle der so unheilvoll
halten und nach den Bedürfnissen des Verkehrs ausgeschlagenen negativen sogenannten Boden-
und dem Stande der Technik zu erneuern. reform vor. Wir schlagen die Reorganisation der
Ein kurzes Wort zur Landwirtschaft. Die Land- Einfuhr- und Vorratsstellen mit dem Ziele vor,
wirtschaft hat in den letzten fünf Jahren Erstaun- ausgeglichene Preise und ausgeglichene Versor-
liches geleistet; sie hat ebenso wie die industrielle gungsverhältnisse zu erzielen. Wir übernehmen
Wirtschaft ihre Produktion mehr als verdoppelt. auch das von dem Herrn Bundeskanzler aufgestellte
Trotz des Rückschlages der beiden Weltkriege, Ziel des gemeinschaftlichen europäischen Marktes
trotz der ungünstigen Verhältnisse in der Struktur, für die Landwirtschaft und teilen nicht die Be-
trotz der klimatischen Hemmungen, trotz der fehlen- denken, die Herr Kollege Ollenhauer erhoben hat.
den Bodengüte steht die deutsche Landwirtschaft Notwendig ist nur, daß die Startbedingungen fair
mit ihrer Leistung in der fortschrittlichen euro- sind. Das ist eine 'schwierige Frage. Das Klima
päischen Landwirtschaft an vierter Stelle. Aber kann man nicht ändern; aber man kann verhin-
60 2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Dr. Dehler)
dern, daß ein Dumping in den öffentlichen Lasten, bessern, die Qualität des Facharbeitertums heben.
die auf der deutschen Landwirtschaft liegen, be- Wir müssen auch denken an die Gefahr, daß die
steht. Schlüsselkräfte des Arbeitsprozesses überaltert
Die Finanzfrage. Wir stimmen dem Herrn Bun- sind, daß ihre Leistungsfähigkeit durch die Über-
deskanzler in den Zielen der Währungssicherung anstrengung der beiden Kriege beeinträchtigt ist.
und des Haushaltsausgleichs zu. Es genügt aber Verstärkte Berufsberatung ist ein Gebot, Verbesse-
nach unserer Meinung nicht, lediglich die bisherige rung der Arbeitsbedingungen selbstverständliche
Steuer- und Finanzpolitik „fortzuführen". Wir müs- Pflicht. Es darf den unsozialen Unternehmer nicht
sen uns viel entschlossener von den konfiskatori- mehr geben, er muß der öffentlichen Diffamierung
schen Steuergesetzen des Kontrollrats weiter weg verfallen,
entwickeln. Auch Finanzen und Steuern müssen (Hört! Hört! links — Beifall bei der FDP,
von den Gesetzen der Wirtschaft, der Marktwirt- in der Mitte und bei Abgeordneten der
schaft beherrscht werden. Die Eigentumsbildung SPD)
muß für alle steuerlich erleichtert werden, und echte
Leistung muß steuerlich begünstigt werden. Der er wird auch Seltenheitswert bekommen. Ich glaube
Steuerdruck ist immer noch unwirtschaftlich hoch, an die Möglichkeit gewaltiger Leistungen, gewal-
insbesondere bei der Einkommen- und bei der tiger Steigerung der Leistungsfähigkeit unserer
Körperschaftsteuer. Die Sätze der Körperschaft- Wirtschaft auch in sozialer Hinsicht. Vielleicht mag
steuer sind bei der sogenannten kleinen Steuer- es Ihnen in meinem Munde etwas kühn klingen,
reform ja nicht geändert worden. wenn ich sage: in absehbarer Zeit kann, wenn wir
gut wirtschaften, die 40-Stunden-Woche Tatsache
Die Steuerreform sollte durchgeführt werden, sein.
auch bevor eine neue Verteilung der Steuern auf (Bravo!)
Bund und Länder durchführbar ist. — Ich hatte auf Ihren (zur SPD) frenetischen Bei-
(Abg. Dr. Gülich: Und Gemeinden!) fall gehofft.
(Große Heiterkeit.)
Wir müssen die große Steuerreform anstreben und
versuchen, ein einfaches und übersichtliches Steuer- Aber ich erkenne langsam, Wahrheiten werden
system zu schaffen. Wir müssen die Doppelbe- hier nur anerkannt, wenn sie aus dem eigenen
-
steuerung für die Kapitalerträge, die wirtschafts- Gemüte erwachsen.
feindlich ist, beseitigen und müssen überhaupt
aufhören, Steuern, die eigentumsfeindlich wirken, (Abg. Dr. Schmid [Tübingen]: Wir haben
zu erheben. Wir sind auch der Meinung, daß die doch oft geklatscht, wir waren doch
Umsatzsteuer, insbesondere im Hinblick auf die freundlich! Immer kann man doch nicht
außenpolitischen Notwendigkeiten, die sich aus klatschen!)
GATT und Montan-Union ergeben, grundlegend — Sie waren immer liebenswürdig. Ich habe mich
gewandelt werden muß. Das sind schwierige Fra- in Ihrer Huld gesonnt
gen. Wir wissen, daß ein Abbau der Steuern nur
möglich ist, wenn ein Abbau der Aufgaben des (Zurufe)
Staates und damit ein Abbau des aufwendigen
Staatsapparats möglich ist. — doch, doch, meistens —, ich habe auf eine tief
gegründete Freundschaft gepocht, wofür der Herr
(Sehr gut! rechts.) Bundeskanzler kein Verständnis hat.
Die Sozialpolitik. Ich bin mit Herrn Kollegen (Erneute Heiterkeit. — Abg. Dr. Schmid
Ollenhauer über die Bedeutung des sozialen Wir- [Tübingen]: Ultra posse nemo obligatur!)
kens durchaus einig. Hauptziel der richtigen Wirt
schaftspolitik ist die Sozialpolitik. Vor allem ist es Ich wollte noch einmal sagen: Die echte soziale
notwendig, den richtigen Menschen an den rich- Leistung liegt in der Ausweitung und Vertiefung
tigen Arbeitsplatz zu bringen und die Bedürfnisse der richtigen Wirtschaftsordnung, die zu schaffen
des einzelnen zum Vorteil der Gesamtwirtschaft wir begonnen haben. Nur aus den Überschüssen
zu befriedigen. des Volkseinkommens sind soziale Leistungen
möglich, eben nur durch die erhöhte Produktion. Sie
Es ist sehr schön, daß Herr Kollege Ollenhauer zu steigern, das ist nicht nur wirtschaftspolitische,
das Gespenst der ständig zunehmenden Arbeits- sondern auch sozialpolitische Forderung. Ich darf
losigkeit nicht mehr an die Wand zu malen auf unsere Ziele — sie sind Ihnen bekannt — ver-
brauchte. Wenn ich an die erste Stellungnahme der weisen: Kapital und Eigentum auf breiter Basis
Sozialdemokratie zur Regierungserklärung und zu verteilen, Besitz für alle zu schaffen. Das Ziel
viele folgende Erklärungen denke, — nun, das der Partnerschaft in den Betrieben, des Mit-
war ja die Fuchtel, die man über der Bundes- eigentums der Arbeiter an den Betrieben ist durch-
regierung schwang. Die Arbeitslosigkeit ist kein aus fruchtbar, es soll gefördert werden.
Schreckgespenst mehr; praktisch herrscht Voll-
beschäftigung. Echte Arbeitslosigkeit beschränkt Über die Ideen des wirtschaftlichen Mitbestim-
sich auf durchschnittlich eine halbe Million; der mungsrechts oder der sogenannten Wirtschafts-
Rest ist nicht mehr einsatzfähig oder gerade im demokratie habe ich mich schon geäußert. Ich halte
Arbeitsplatzwechsel begriffen. Wenn wir an den sie für wirtschaftswidrig. Wir sind der Meinung,
Bedarf an Menschen in den kommenden Jahren daß die nicht auf restlos korrekte Art zustande
denken, wenn wir an den deutschen Beitrag zur gekommene Regelung des Mitbestimmungsrechts
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft denken, in den Grundstoffindustrien auf dem Gebiet von
dann wissen wir, daß wir vor einem Mangel an Kohle -und Eisen den Bestimmungen des Betriebs-
Arbeitskräften, insbesondere an Fachkräften, ste- verfassungsgesetzes angepaßt werden muß. Ich
hen. Wir müssen alles tun, um hier abzuhelfen, stimme nicht mit dem überein, was Herr Kol-
Lehrlingsstellen schaffen, ihre Ausbildung ver- lege Dr. von Brentano über das überbetriebliche
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(Dr. Dehler)
Mitbestimmungsrecht, über die Frage des Bundes- und Kapitalansammlungsverträge gegen Lebens
wirtschaftsrats gesagt hat, wenn er meint, hier schicksalsschläge zu sichern versucht. Jeder, dem
könnte man alle Schichten, alle Stände, Herr die eigene Gestaltung seines Schicksals zuzumuten
Kollege Schmid, des Volkes zusammenfassen und ist, soll auch tatsächlich sein Schicksal selbst in die
zu wirtschaftspolitischen Erkenntnissen führen und Hand nehmen und nicht die Gemeinschaft in An-
hier in diesem Hause könnte sich dann die Aus- spruch nehmen. Wir werden deshalb jeder Er-
sprache erübrigen. Schon diese Vorstellung: Sie höhung der Versicherungspflichtgrenzen wider-
sollen entscheiden, und andere sollen gedacht sprechen.
haben, — schon diese Erwägung beweist die Un- Vielleicht darf ich unsere sozialen Ziele, unsere
möglichkeit. Der vorläufige Reichswirtschaftsrat konkreten sozialen Ziele, noch in Schlagworten auf-
hat versagt, und auch der Gedanke eines Bundes- führen: klare Trennung zwischen Versicherung
wirtschaftsrats wird eine Fehlleistung sein. und Fürsorge, Vielgestaltigkeit unserer Versiche-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeord rungsträger in der Sozialversicherung, Anwart-
neten der Mitte.) schaftsdeckung in der Rentenversicherung, die An-
rechnungsfreigrenzen bei Erwerbstätigkeit der
Man wird debattieren, und wer debattiert, ohne Kriegsopfer und der Sozialrentner erhöhen, Alt-
die Fähigkeit zur Entscheidung zu haben, der tut sparerentschädigung bessern, die Gläubiger von
sich leicht; denn er trägt keine Verantwortung. Anleihen aus öffentlicher Hand in gewissem Um-
Die Verantwortung der Entscheidung kann man fang entschädigen. Dazu gehört auch der Vollzug
und soll man dem Parlament nicht abnehmen. des Heimkehrerentschädigungsgesetzes, das noch
der Promulgation durch das Kabinett bedarf. In
Die soziale Lage des Mittelstandes ist uns eine gleicher Linie liegt der Schutz der alten Angestell-
große Sorge. Ich halte für charakteristisch für den ten. Ich darf vielleicht von dieser Stelle aus einen
Mittelstand eine bestimmte Lebenshaltung, die auf Appell an die Wirtschaft, besonders an die großen
Selbstverantwortung, auf Eigenständigkeit und auf Betriebe, richten, hier in der Sicherung der alten
Eigentum gerichtet ist. Dieser Mittelständler ist Angestellten eine eigene echte soziale Verpflich-
der beste Typus unseres Volkes, ist der eigentliche tung zu sehen.
Garant der Demokratie. Der Arbeiter, der seinen
Sohn in die Lehre schickt, der kleine Beamte, der (Beifall bei der FDP und in der Mitte.)
seinen Sohn auf die hohe Schule schickt, beweist Meine Damen und Herren, ich darf abschließen.
eine bessere Haltung als der Mittelständler, -dessen Wir Freien Demokraten, wir sind hochmütige
Lebensziel und -wunsch sich in einem Luxusauto Leute.
erschöpft. (Abg. Schoettle: Das glaube ich nicht ganz!)
(Sehr gut! bei der FDP.)
Wir sind selbstbewußt. Daran können die Wahl-
Die Lage der freien Berufe, die Lage der gei- ergebnisse und können die Wahlrechte — mögen
stigen Berufe ist schwierig; sie zu bessern, selbst- sie gestaltet werden, wie sie wollen — nichts än-
verständliche Pflicht. Herr Kollege Dr. von Bren- dern. Wir wissen: es gibt nur unseren , den
tano hat Zutreffendes darüber gesagt. liberalen Staat, es gibt nur unser, das liberale
Recht, es gibt nur unsere, die liberale Wirt-
Es wäre merkwürdig, wenn ich über soziale schaft, und nur in unserem, im liberalen Geiste
Fragen redete und nicht etwas zu den Renten sagte. wird sich Europa und wird sich die Welt ordnen
(Abg. Dr. Menzel: Kriegsopfer!) lassen. In dieser Haltung nehmen wir teil an der
Arbeit der Bundesregierung, die unser Vertrauen
Meine Damen und Herren, es gibt eine sehr pri- besitzt.
mitive Auffassung von der Reform der Sozialpoli- (Lebhafter Beifall bei der FDP.)
tik und damit auch von der Reform des Renten-
wesens, die ungefähr so aussieht: Man nehme dem Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
einbeinigen Leierkastenmann die Drehorgel weg
und fülle seine Mütze statt mit Almosen am näch- Abgeordnete Dr. Eckhardt.
sten Postschalter mit Silbermünzen. — Eine anti- Dr. Eckhardt (GB/ BHE): Herr Präsident! Meine
quierte, eine gefährliche Vorstellung! Die Dreh- Damen und Herren! Die politische Aufgabe be-
orgel muß durch ein Produktionsmittel, durch ein steht nicht eigentlich in einer Rückschau auf Er-
Werkzeug ersetzt werden, das dem Geschädigten folge oder auch Mißerfolge, sondern sie besteht für
nicht nur die Existenz sichert, sondern ihm auch uns darin, die Deutschen der Bundesrepublik und
das Gefühl wiedergibt, daß er ein wirkender, daß darüber hinaus das gesamte deutsche Volk auf
er ein freier, daß er ein auf eigene Verantwortung seinem Wege zum Frieden, zu der Sicherung seiner
gestellter Mensch ist. Rechte — der Sicherung der Rechte des gesamten
(Beifall bei der FDP.) Volkes nach außen und innen — und zu der Stei-
gerung der sozialen Wohlfahrt fortzuführen. Es
Was vor allem not tut, ist der Auftrag zur beruf- versteht sich, daß uns die Probleme und Belange
lichen Umschulung in viel stärkerem Maße, als das der Opfer dieses Krieges insonderheit der Heimat-
bisher geschehen ist. Die nicht zu entbehrenden vertriebenen, die Frage etwa der Möglichkeit einer
Renten sollen eine ausreichende Höhe haben. Un- technischen und materiellen Verbesserung des
nötige Rentenzahlungen — natürlich nicht die An- Lastenausgleichs und auch eine Entbürokratisie-
sprüche der staatlichen Rentenversicherung — rung aller dieser Dinge am Herzen liegen und daß
sollten wegfallen, und die dadurch eingesparten Be- uns weiter die Frage der Außenpolitik in beson-
träge sollten dem echten Rentner, dem bedürftigen derem Maße am Herzen liegt. Gerade aus diesem
Rentner als ausreichender Lebensunterhalt zukom- Grunde werden meine Freunde in der morgigen
men. Das Bedürfnis nach der Daseinssicherung — Debatte auf diese Fragen ausführlicher zu sprechen
wir wollen es nicht ironisieren —, die durch die kommen.
staatliche Sozialversicherung erstrebt wird, ist
ebenso berechtigt wie das Bedürfnis des an- Wir sehen unsere Aufgabe darin, klare Funda-
deren Personenkreises, der sich durch Versicherung mente für das Recht auf die Heimat und für das
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(Dr. Eckhardt)
Selbstbestimmungsrecht zu errichten. In der prak- Arbeitsplätze für Kriegsversehrte dringend gesorgt
tischen Politik muß es darum gehen, auf fried- wird. Das ist eine Ehrenpflicht für uns und unser
lichem Wege die Möglichkeiten zu schaffen, daß Volk.
diese Rechte auch verwirklicht, daß sie in Anspruch Bezüglich der Probleme, die sich für die künf-
genommen werden können. Eine europäische Neu- tigen Maßnahmen auf dem Gebiet der Wohnungs-
ordnung wird nur möglich sein, wenn das Unrecht
wirtschaft ergeben, möchten wir die Meinung aus-
der Vertreibung wiedergutgemacht und wenn Vor- sprechen, daß man bei aller Anerkennung der
sorge dafür getroffen wird, daß neuerliche Ver- Grundsätze der freien Wirtschaft und bei aller An-
treibungen nicht mehr stattfinden können. In der erkennung ihrer Erfolge auf diesem Gebiet doch
Einengung, in der Verdrängung nationalstaatlichen sehr vorsichtig wird vorgehen müssen. Wir glauben
Denkens bei den Bemühungen um die Neuordnung auch, daß der Herr Bundeskanzler in seiner Regie-
Europas sehen auch wir die Voraussetzung für ein rungserklärung selbst zur Vorsicht auf diesem
gesundes künftiges Zusammenleben der Völker. Wege gemahnt hat. Wir dürfen jedenfalls die
Mir selber liegt es heute ob, zu dem Komplex Grundsätze der freien Wirtschaft auf diesem Gebiet
von Fragen Stellung zu nehmen, die der Herr Bun- nicht in schematisierender Weise zur Anwendung
deskanzler in seiner Regierungserklärung als die bringen.
Einheit von Sozial- und Wirtschafts- und Finanz- Eine andere Frage, die bisher nicht berührt wor-
politik mit Recht zusammengefaßt hat. Es geht hier den ist, die aber gerade im Rahmen der gesell-
eigentlich nicht nur um fachliche Fragen, nicht nur schaftlichen Neuordnung unseres Volkes von größ-
um die Belange eines besonderen Fachgebiets, son- ter, von umfassender Bedeutung ist, ist die des
dern es geht um eine rechte und gerechte Ord- Familienlastenausgleichs. Daß danach ein soziales,
nung des gesellschaftlichen Lebens unseres Volkes. wirtschaftliches, ein ganz allgemeines Bedürfnis
Das bedeutet zunächst einmal eine stärkere Kon- besteht, scheint uns auf der Hand zu liegen, und
kretisierung und eine bessere Realisierung der wir meinen, daß die Methoden, mit deren Hilfe
Grundrechte, die in unserer Verfassung, im Bonner dieser Familienlastenausgleich durchgeführt wer-
Grundgesetz, niedergelegt sind. Auch Herr von den könnte, erst in zweiter Linie zur Debatte
Brentano hat an diese Grundrechte appelliert. Wir stehen. Vielleicht kann man, anstatt eine neue
meinen, daß im Rahmen der Sozialpolitik, die wir Apparatur aufzubauen, diesen Familienlastenaus-
zu treiben haben, das Naturrecht auf Arbeit, das gleich zugleich mit einer Vereinfachung unseres
den Angehörigen einer Schicksalsgemeinschaft wie steuerlichen Tarifwesens verbinden.
unseres deutschen Volkes zusteht, besser und voll-
kommener verwirklicht werden muß. Von allergrößter und umfassender Bedeutung,
gerade im Hinblick auf die Zahl der Betroffenen,
Ich möchte Ihnen dafür einige konkrete Beispiele ist die Ordnung der Renten, insbesondere der
geben. Die Opfer dieses Krieges, insbesondere die Grundrenten im Rahmen des uns gegebenen Preis-
Heimatvertriebenen, sind bei weitem noch nicht gefüges. Wir stellen uns vor, daß eine befriedigen-
in dem Maße eingegliedert, in dem sie dies nicht dere Anpassung der Renten aneinander, insbeson-
nur selbst wünschen, sondern in dem dies im all- dere in der Frage der Anrechnung der Renten, not-
gemeinen Interesse unseres Volkes und auch un- wendig ist und im Volk als Bedürfnis empfunden
serer Wirtschaft gelegen ist. Ich möchte Sie nur wird.
darauf hinweisen, daß sich die soziale Struktur
etwa der Heimatvertriebenen im Verhältnis zu Schließlich möchten wir gerade im Rahmen
früher wesentlich geändert hat und daß sich heute dieser sozialen und gesellschaftlichen Forderungen
unter diesen Millionen nicht mehr 27 % selbstän- auf eine Notwendigkeit hinweisen, die uns vom
dige Existenzen befinden, sondern nur noch 8 % wirtschaftlichen und sozialen; aber gleichermaßen
Das ist sehr bedenklich; denn ich sehe- — wahr- auch vom Gesichtspunkt des Rechts und der Rechts-
scheinlich mit einem großen Teil von Ihnen — in idee bedeutsam erscheint; das ist die Notwendig-
der Förderung dieser selbständigen Existenzen ge- keit einer grundlegenden und umfassenden Reform
radezu eine Grundbedingung für einen gerechten unserer Sozialgesetzgebung, durch deren Gestrüpp
sozialen Aufbau und für die notwendige Erhöhung sich kein gewöhnlicher Mensch, kaum ein Experte
unseres Sozialproduktes. Von diesen Existenzen noch durchzufinden vermag.
gehen die Impulse dazu aus, und hier liegt eine Mit einer solchen grundlegenden Vereinfachung
echte Verpflichtung für uns vor. könnten wir auch einen Beitrag zur Belebung der
Wirtschaft leisten. Eine solche kann durch Verein-
Herr Dr. Dehler hat mit Recht schon darauf fachung, durch Beseitigung toter Kosten und der-
hingewiesen, daß für die älteren Angestellten und
Arbeitnehmer gesorgt werden müsse. Ich fürchte nur, gleichen mehr erreicht werden. Wir könnten damit
zu jener Belebung der Wirtschaft beitragen, die
daß das nicht allein mit einem Appell an Organisa- in einer Erhöhung des Sozialprodukts gipfelt und
tionen, Verbände und Unternehmen geschehen von der wir allein die Verwirklichung solcher so-
kann,
zialen und gesellschaftlichen Forderungen erhoffen
(Sehr richtig! beim BHE) können. Es kommt aber nicht allein auf die Er-
sondern daß wir hier in Parlament und Regierung höhung des Sozialprodukts an sich an. Auch die
auch für diese Dinge werden sorgen müssen. Schichtung des Volkseinkommens ist für unsere
Wirtschaft wesentlich. Wir meinen, daß beide Ziele
Es scheint uns weiter wesentlich, die Frage der — eine gerechte Schichtung und eine Erhöhung des
Berufsnot der Jugend zu behandeln, insbesondere Sozialprodukts — durchaus erreicht werden kön-
den jugendlichen Arbeitslosen durch berufsbildende nen. Aber nicht durch Verstaatlichung! Auf
Maßnahmen an Arbeit und Beruf heranzuführen. keinem Gebiet wird die Verstaatlichung zu einer
Erhöhung des Volkseinkommens, zu einer Erweite-
Wir halten es weiter — um ein anderes kon- rung des Wirtschaftsvolumens und einer Verbes-
kretes Beispiel zu geben — für wichtig, daß für serung der sozialen Wohlfahrt beitragen. Wir sind
eine bessere und vollkommenere Gestaltung der vielmehr der Meinung, daß hier eine wirkliche
2. Deutscher Bundestag -- 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953 63
(Dr. Eckhardt)
Reprivatisierung des öffentlichen Erwerbsver- sagen, die erste Forderung einer solchen Reform —
mögens Wesentliches zur Belebung und Auflocke- auf eine grundlegende Vereinfachung, eine Verein-
rung tun könnte und daß eine solche Reprivatisie- fachung, die hier wie auf dem Gebiet des Lasten-
rung im Zuge der Zeit überhaupt unerläßlich ist. ausgleichs und auf anderen Gebieten auch zu einer
Entbürokratisierung führen muß.
Wir meinen weiter, daß auch die Möglichkeiten des
Kreditmarkts in besserem Maße ausgeschöpft wer- Das Steuerrecht ist heute ein ähnliches Gestrüpp
den müssen. In erster Linie müssen wohl den Be- wie das Recht der sozialen 'Gesetzgebung. Hier
trieben des Mittelstandes bessere Kreditmöglich- kommt die Rechtsidee, von der Herr Dr. Dehler so
keiten gegeben werden. Wir stimmen Dr. Dehler zu, lebendig gesprochen hat, nach unserer Meinung
der den Mittelstand besonders hoch gestellt hat. nicht mehr zur Geltung. Rudolf von Ihering, der
Dabei meinen wir mit dem Herrn Bundeskanzler, große Göttinger Jurist, hat sich vor mehr als hun-
daß wir keineswegs von dem alten Begriff des dert Jahren einmal dahin ausgesprochen, daß der
Mittelstandes auszugehen haben, sondern daß der moralische Wert der Gesetze in dem Maße herab-
heutige Mittelstand nicht nur die gewerblichen Be- sinke, wie ihre Zahl erhöht werde. Allein die Zahl
rufe umfaßt, sondern sich auf zahlreiche Berufs- der Gesetze auf diesem Gebiet ist unerträglich.
gruppen erstreckt, angefangen beim qualifizierten Eine wesentliche Vereinfachung wäre sicherlich
Arbeiter, beim Facharbeiter über den Angestellten nicht nur am Platze, sondern 'auch möglich. Wir
und Gewerbetreibenden bis hin zu den Angehörigen dienen mit einer solchen Vereinfachung nicht nur
der freien Berufe und der Wissenschaft. Dieser Mit- der Wirtschaft, wir dienen ganz allgemein dem
telstand hat, wie man vielleicht sagen kann, die Recht. Ein Gesetz muß echtes Recht enthalten und
Funktion des sozialen Ausgleichs und überdies die darf sich nicht mit einer Vielfalt von technischen
historisch feststellbare Neigung zur Stetigkeit in Regelungen begnügen. So wie nach einer uralten
der wirtschaftlichen, politischen und menschlichen Meinung — erlauben Sie mir, das einmal zu sagen
Haltung überhaupt. Gerade darin sehen wir seine — das Schöne dadurch zur Geltung kommt, daß es
besondere staatspolitische Bedeutung. Wir halten als das geistige Element durch die Materie hin-
eine ausgesprochene Förderung des Mittelstandes durchleuchtet, so muß im einzelnen Gesetz die
für notwendig und werden entsprechende Vor- Kraft der Rechtsidee zum Ausdruck kommen und
schläge auf dem Gebiet der Wirtschaft und der ihm dadurch moralische Kraft verleihen.
Steuerpolitik machen. - (Beifall beim GB/ BHE und in der Mitte.)
Weiter glauben wir, daß die Erhöhung und ge-
rechte Schichtung des Volkseinkommens auch durch Wir sind aber weiter der Überzeugung, daß selbst
Maßnahmen der Vorfinanzierung von Lastenaus- ein so umfassendes Gesetzgebungswerk wie die ge-
gleichsansprüchen einerseits, aber auch von Alt- plante Steuerreform für sich allein nicht genügt.
spareransprüchen aus der Altsparerregelung auf Sie bedarf, das wissen wir alle, der Verbindung mit
der anderen Seite erreicht werden können. Eine einer Reform des Finanzausgleichs, d. h. der Neu-
solche Vorfinanzierung wirkte wirtschaftsbelebend ordnung des Verhältnisses von Bund und Ländern.
und läge keineswegs nur im Interesse der davon Bereits hier stecken erhebliche politische Gefahren-
betroffenen Gruppen, sondern im allgemeinen momente. Aber darüber hinaus ist ja eine solche
volkswirtschaftlichen Interesse. Ü berhaupt glaube Steuerreform nur wirksam, wenn sie zugleich eine
ich sagen zu können, daß die echte Eingliederung Finanzreform und außerdem eine Verwaltungs-
der vom Kriege besonders betroffenen Betriebe, reform darstellt, eine Verwaltungsreform, die dar-
also in vorderster Linie der Heimatvertriebenen- auf 'abzielt, nicht Bürokraten und Techniker zur
Unternehmungen, eine volkswirtschaftliche Not- Durchführung von Gesetzen zu schaffen, sondern
wendigkeit ist. Dazu bedarf es nicht zuletzt einer den guten Beamten zu fördern, in jenem guten und
besseren finanziellen Untermauerung der Betriebe, traditionsreichen Sinne, den wir gerade in Deutsch-
heimatvertriebener Unternehmer, die bei weitem land alle vor Augen haben und kennen.
nicht die Kapitalausstattung haben, die sie nötig Und noch etwas mehr. Diese Reform, die wir als
hätten, um auch nur einigermaßen krisenfest be- grundlegend betrachten für die Belebung, die Neu-
stehen zu können. Das gilt nicht nur für die ordnung unserer Wirtschaft und die Erhöhung des
Heimatvertriebenen-Unternehmungen, es gilt dar- Volkseinkommens kann auch nicht an der Frage
über hinaus für alle die Betriebe und Unterneh- der Grundrechte und nicht an der Frage einer Er-
mungen, die neue Arbeitsplätze in der Wirtschaft gänzung unseres Verfassungsrechts vorübergehen.
schaffen. Diese Maßnahmen an sich genügen nicht. Wir brauchen Finanzgrundrechte, die dem Staats
Ich habe nur ein paar konkrete Hinweise geben burger das Gefühl geben, daß er sich zum Staat in
können. einem Verhältnis befindet, das den Regeln der
Wir sind uns klar, daß darüber hinaus ganz um- Moral und der Verfassung unterliegt. Denn — und
fassende Maßnahmen als Aufgaben vor diesem Par- damit lassen Sie mich diese letzten Ausführungen
lament stehen. Dazu gehört vielleicht mit in vor- zusammenfassen — der Staatsbürger wünscht sich
derster Linie die sogenannte große oder organische seinen Staat nicht als ein anonymes Gebilde, nicht
Steuerreform. Wir stellen uns vor, daß sie drei als ein Kolletiv, sondern er wünscht sich — wenn
Aufgaben zu erfüllen haben würde. Einmal müßte ich hier einen alten Ausspruch aus der Zeit des
sie durch eine Tarifsenkung, und zwar auch durch deutschen Idealismus gebrauchen darf — seinen
die Art die Tarifsenkung, auf der einen Seite zu Staat als eine moralische Anstalt, die dazu berufen
einer Belebung der Wirtschaft, zur Erhöhung des ist, den Frieden, in erster Linie den sozialen Frie-
Sozialprodukts, auf der andern Seite aber auch zu den, zu sichern und das Recht zu wahren.
einer Steigerung der Masseneinkommen und ihrer
Kaufkraft führen. Sie würde die weitere Aufgabe (Beifall bei den Regierungsparteien.)
haben, die Steuern in organischer Weise an die Be-
dürfnisse der ges amten Volkswirtschaft anzu- Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und
passen. Das ist heute bei weitem nicht der Fall. Heren! Nach den im Ältestenrat getroffenen Ver-
Damit verbindet sich die Forderung — ich möchte einbarungen darf ich Ihren Willen unterstellen, daß
2. Deutscher Bundestag — 4. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 28. Oktober 1953
(Vizepräsident Dr. Jaeger)
wir an dieser Stelle die Aussprache über die Regie- Repräsentantenhauses im deutschen Parlament
rungserklärung unterbrechen und morgen weiter- weilt. Ich möchte Sie auf die Wichtigkeit dieser An-
fahren. gelegenheit hinweisen und bitten, Ihre Dispositio-
nen entsprechend zu treffen.
Ich möchte Sie jedoch noch einen Augenblick um
Ihre Aufmerksamkeit bitten. Zu Beginn der mor- Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste
gigen Sitzung wird der Sprecher des amerika- die 5. Sitzung des Deutschen Bundestages auf mor-
nischen Repräsentantenhauses unser Gast sein und gen, Donnerstag, den 29. Oktober, 9 Uhr 30. Ich
einige Worte an uns richten. Das dürfte das erste schließe , die 4. Sitzung des Deutschen Bundestages.
Mal in der Geschichte des deutschen Parlamentaris-
mus sein, daß der Sprecher des amerikanischen (Schluß der Sitzung: 14 Uhr 57 Minuten.)

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