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Tragödie und Komödie im

18. Jahrhundert
Teil 1: das bürgerliche Trauerspiel während der Zeit der
Aufklärung und des Sturm-und-Drangs
Die Aristotelische Theorie und ihre
Auslegung/Interpretation
• Unser Ausgangspunkt: die Definierung und
Unterscheidung von Tragödie und Komödie:
• „Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und
abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten
Größe in gewählter Rede, derart, dass jede Form
solcher Rede in gesonderten Teilen erscheint und
dass gehandelt und nicht berichtet wird und dass mit
Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben
derartigen Affekten bewerkstelligt wird.“ (Aristoteles,
Poetik. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen
von Olof Gigon. Stuttgart 1969, S. 30)
• Charaktere in der Tragödie: „Was die Charaktere
betrifft, sind vier Dinge zu erstreben. Das erste und
wichtigste ist, dass sie edel seien. Ein Charakter wird
sich ergeben, wie wir sagten, wenn die Rede oder die
Handlung irgendeine Entscheidung sichtbar macht; ist
die Entscheidung edel, so wird der Charakter edel
sein. Dies findet sich bei jeder Art von Menschen:
denn eine Frau kann edel sein und auch ein Sklave.
Allerdings ist dies im einen Fall weniger bedeutend
und im anderen überhaupt vulgär.“ (Aristoteles,
Poetik, S. 44)
• An anderer Stelle meint Aristoteles über die
Handelnden, sie seien „entweder edel oder gemein;
die Charaktere halten sich nämlich nahezu immer
ausschließlich an diese beiden Kategorien; denn
jedermann unterscheidet die Charaktere nach
Tugend und Schlechtigkeit. So werden entweder
Menschen nachgeahmt, die besser sind, als es bei
uns vorkommt, oder schlechtere oder solche wie
wir selber. So tun es auch die Maler: Polygnotos hat
schönere Menschen gemalt, Pauson häßlichere,
Dionysios aber ähnliche.“ (Aristoteles, Poetik S.24)
• „Da die Tragödie Nachahmung von Menschen ist,
die besser sind als wir selbst, so muss man es halten
wie die guten Porträtmaler. Denn auch jene bilden
die individuelle menschliche Gestalt ab und machen
sie gleichzeitig ähnlich und schöner. So soll auch der
Dichter zwar jähzornige und leichtsinnige
Charaktere und andere dergleichen nachbilden,
aber sie in diesem Charakter achtenswert
darstellen, so wie Homer den Achilles sowohl als
Urbild der Rauheit wie auch als tüchtig darstellt.“
(Aristoteles, Poetik, S.45)
• Die Komödie rückt Aristoteles in die Nähe der
Karikatur und definiert sie als „Nachahmung von
Gemeinerem, aber nicht in bezug auf jede Art von
Schlechtigkeit, sondern nur des Lächerlichen, das
ein Teil des Häßlichen ist. Das Lächerliche ist
nämlich ein Fehler und eine Schande, aber eine
solche, die nicht schmerzt und nicht verletzt, so wie
etwa eine lächerliche Maske häßlich ist und
verzerrt, aber ohne Schmerz.“ (Aristoteles, Poetik,
S. 29)
• die Aristotelische Theorie entsteht, wie das ganze
griechische Theater, aus einem religiösen Impetus: Sie
übernimmt die Aufgabe, mythologische Stoffe zu erneuern
und szenisch darzustellen.
• Daher können die Charaktere nur Helden und Könige bzw.
Götter sein.
• Die daraus entstandene Ständeklausel beruht auf einer
Fehlinterpretation bzw. auf späteren
Entwicklungsmomenten und deren Ansprüche an das
Drama.
Die Ständeklausel und das Abrücken
von dieser Regel
Norm in der Poetik der antiken und klassizistischen
Tragödie (Renaissance, Barock, bis Anfang 18. Jh.):

1. Tragische Entwicklung und tragisches Schicksal sind nur


in Handlungen mit Personen höheren Standes möglich und
dürfen sich nur an sozial höher gestellten Standespersonen
ereignen.

2. Der Grad des Tragischen und seine Wirkung richtet sich nach
der Fallhöhe der Handlung.
• Johann Christoph Gottsched (1700-1766) bezieht
sich auf Aristoteles und meint, dieser beschreibe
die Tragödie als „eine Nachahmung einer Handlung,
dadurch sich eine vornehme Person harte und
unvermutete Unglücksfälle zuzieht. Der Poet will
also durch die Fabeln Wahrheiten lehren, und die
Zuschauer, durch den Anblick solcher schweren
Fälle der Großen dieser Welt, zu ihren eigenen
Trübsalen vorbereiten“. (Versuch einer Critischen
Dichtkunst, S. 606)
• John Dryden (1631-1700) spricht über die Tragödie als
„some terrible example of misfortune, which happened to
persons of the highest quality; for such an action
demonstrates to us that no condition is privileged from the
turns of fortune; this must of necessity cause terror in us,
and consequently abate our pride.“ (The Grounds of Criticism
in Tragedy, prefixed to ‚Troilus and Cressida‘ In: Of Dramatic
Poesy and other Critical Essays, vol.I, S.245)
• Umdeutung des Aristotelischen Prinzips des Glückswechsels
ins Soziale: Bedürfnis zur Enthüllung gesellschaftlicher
Probleme.
Der Glückswechsel

Aristoteles versteht die dramatische Handlung als


Verknüpfung von Begebenheiten und ordnet sie
folgenden drei Komponenten unter (nach Lessing im
38. Stück der Hamburgischen Dramaturgie von 1767):
- den Glückswechsel (Peripetie)
- die Erkennung (Anagnorisis)
- das Leiden (Pathos)
Das Rad der
Fortuna
John Lydgate (um 1420, D: 1513),
Geschichte und Zerstörung Troyas
Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und
seine Deutung der Aristotelischen Theorie

• Lessing assoziiert die Tragödie mit einem neuen Begriff, und zwar mit
dem Begriff bürgerliche Tragödie/bürgerlichesTrauerspiel, darin es um
„großmütige Tat“ und „Unglück“ geht, deren Wirkung im Mitleid
besteht.
• Mitleid bei Lessing bedeutet Rührung, Tränen und Beklemmung:
„Rührung ist, wenn ich weder die
Vollkommenheiten, noch das Unglück des
Gegenstandes deutlich denke, sondern von beiden
nur einen dunkeln Begriff habe; so rührt mich z.E.
der Anblick jedes Bettlers. Tränen erweckt er nur
dann in mir, wenn er mich mit seinen guten
Eigenschaften sowohl als mit seinen Unfällen
bekannter macht, und zwar mit beiden zugleich,
welches das wahre Kunststück ist, Tränen zu
erregen.[...]“ (Lessing an Nicolai am 29. Nov. 1756)
• Lessing definiert das Aristotelische Mitleid neu,
indem er „phobos“ mit „Furcht“ statt mit
Schrecken übersetzt und diese als „das auf uns
selbst bezogene Mitleid“versteht, denn sie
entspringt „aus unserer Ähnlichkeit mit der
leidenden Person“. (Lessing: Hamburgische
Dramaturgie. 75. Stück, S. 102)
• Lessing betont die Ähnlichkeit der
Dramenpersonen mit den Zuschauern, denn darauf
beruht für ihn die Wirkung der Tragödie.
„ Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stück
Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie
nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den
unsrigen am nächsten kommen, muss natürlicherweise am
tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen
Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit
Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon
öfters ihre Umfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht
interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein
verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen
einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter
Begriff für unsere Empfindungen.“ (Hamburgische
Dramaturgie, S.239, 14. Stück)
• Lessing schreibt nicht vor, wie der Mensch handeln
soll, sondern wie er handeln muss, damit der
Zuschauer Mitleid empfindet.
• Er verbindet die Tragödie mit politischer und
sozialer Implikation und zeigt, dass Unglück allein
kein Mitleid erregen kann.
• Die bürgerliche Tragödie der Aufklärung und vor
allem des Sturm-und-Drang illustriert diese
Umdeutung der Aristotelischen Theorie.
Einige Merkmale des bürgerlichen
Trauerspiels
• Bürgerliche Trauerspiele galten anfangs als Familienstücke.
• Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) stellt als erster deutscher
Dramatiker Beziehungen innerhalb der Familie dar:
• die Vater-Tochter-Beziehung;
• die Beziehung Tochter-Liebhaber
• Die Welt der Familie ist eine „seelische Wirklichkeit“.
• Es kommt zur Beseelung der Beziehungen, die vorher steif und
konventionell dargestellt wurden.
• Personen sind nicht Standespersonen, sondern „Familienpersonen“.
• Entdeckung der Liebe als innere Dimension der Ehe und der Beziehung
zwischen Partnern.
• Beziehung zwischen Personen ist emotional aber nicht sinnlich
bestimmt.
• Tendenz der neuen Stücke: Gesellschaftsfeindlich, gegen die äußere,
die „große Welt“ gerichtet.
• Welt der Gesellschaft: Von ihr geht jede Art der Gefährdung aus,
auch jene der Liebe.
• Tendenz zur Selbstverneinung, zum Selbstopfer,
zum Verzicht, zum Opfer der Liebe. Das führt zur
Lust am Leiden.
• Entfaltung des Gefühls, mit zwei Komponenten:
• intensives Fühlen;
• der rationale Aspekt: Reflexion über das Gefühl,
Notwendigkeit darüber zu sprechen.
• Neu: Der Eltern-Kind-Konflikt
Lessing und das Theater der
deutschen Aufklärung
Die Hamburgische Dramaturgie
22. 4. 1767 - 26. 3. 1769
• Idee eines deutschen Nationaltheaters stammt - nach 1740 -
von Johann Elias Schlegel und Christian F. Gellert. Mit beiden
unterhielt Lessing enge Kontakte. –
• Reform des Theaterwesens: Einrichtung eines bürgerlichen
Theaters mit bürgerlichen Stücken und Stoffen, gegen das
Hoftheater gerichtet.
• Ab Dezember 1766 hält sich Lessing in Hamburg auf;
• Frühjahr 1767: Gründung des Nationaltheaters in Hamburg;
• Lessing wird als Dramaturg, Berater und Kritiker der
Aufführungen berufen.
• Wöchentliche „Stücke“ wurden mehr und mehr zu
Kommentaren über das zeitgenössische Theater.
• Viele Kritiken von Aufführungen der comédie larmoyante,
Stücke französischer Autoren (Nivelle de la Chaussée,
Destouches, Marivaux und Voltaire );
• Kritik der Franzosen, vor allem Voltaires, „die vorgeben, es
besser zu machen als die Griechen.“ (10. Stück);
• Dagegen: großes Lob für W. Shakespeare (11. und 14.
Stück);
• Voltaires erfolgreichstes Stück, Merope (E: 1738, EA:1744),
wird Anlass zu langen Auseinandersetzungen Lessings mit
dem Aristoteles-Verständnis der Franzosen (36. - 50. Stück).
Einige Beispiele

• Lessing: Miss Sarah Samson


• Lessing: Emilia Galotti
• Lessing: Nathan, der Weise
• Schiller: Kabale und Liebe; Die Räuber

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