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Die Komplexität des Einfachen

Autor(en): Schallnau, Philipp

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Werk, Bauen + Wohnen

Band (Jahr): 102 (2015)

Heft 1-2: Architektur für Kinder = Architecture pour enfants = Architecture


for children

PDF erstellt am: 09.08.2023

Persistenter Link: https://doi.org/10.5169/seals-583942

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62 Erstling Die Komplexität
des Einfachen

Das erste Haus, die ersteArchitektur- Haus Kucher von Valerio Olgiati hier das Thema. Besonders markant ist
kritik - beides muss im Wettbewerb in Rottenburg am Neckar das schwer wirkende, kistenförmige Volu-
«Erstling» zusammenkommen, werk, men des Badezimmers im Obergeschoss,
bauen + wohnen und der Bund Schwei- das auf dünnen, weiss lackierten Holzsäu-
Philipp Schallnau
zer Architekten BSA schrieben ihn (Text und Bilder)
len über dem grossen Wohnzimmerfenster
2014 gemeinsam aus, um junge Talente zu schweben scheint und dieser Fassaden-
der Architekturkritik (und der Archi- seite eine surreale Note verleiht.
tektur) zu entdecken. Die Jury bestand Angesichts der mit Ölfarbe gestriche-
aus der Redaktion, verstärkt durch nen Sperrholzfassade denkt man eher an
Yves Dreier (Lausanne) und Felix Wett- die frühen Werke von Herzog & de Meu-
stein (Lugano). Wir publizieren hier die ron in Weil am Rhein oder in Bortmingen
acht besten aus 37 Einsendungen. Anfang der 1980er Jahre als an ein typi-
sches Werk von Valerio Olgiati. Der Bünd-
Der erste Text der Reihe bespricht An den Hängen des Weggentals am nördli- ner Architekt ist heute für eine kompro-
ein Werk, das vor fast 25 Jahren chen Stadtrand von Rottenburg am Neckar, misslose, oft in Beton materialisierte und
nahezu unbemerkt die Karriere eines 40 Kilometer südlich von Stuttgart, werden auf das Wesentlichste reduzierte Archi-
heute bekannten Architekten ein- Obst und Wein in kleinen Schrebergärten tektur bekannt, die weniger aus Zitaten
geläutet hat. Er liest sich angenehm, angebaut. Zahlreiche, aus Holz gezim- des Ortes als aus einer inneren Idee des
führt behutsam an das Haus Kucher merte, grün angestrichene Winzerhütten Projekts heraus entwickelt wird, eine starke
heran, ist präzise in dessen Be- stehen malerisch zwischen den Rebstöcken. Präsenz entfaltet und für ihre eigenartigen
Schreibung und in der Verortung in In unmittelbarer Nachbarschaft beginnt die Störungen bekannt ist.
einem mittlerweile hinlänglich be- Vorstadt. Dort findet sich unter gewöhnli- Solche Markenzeichen sucht man am
kannten Werk. Genau dieses «Mehr», chen Einfamilienhäusern ein spinatgrün Haus zunächst vergeblich. Betritt man den
geradezu beiläufig formuliert zu angestrichenes Holzhaus: Es ist der Erstling mit Kies bedeckten Vorplatz und betrach-
einer These, macht aus dem Text das, des heute international bekannten Bündner tet das Haus von der Seite, so findet man
was wir als Redaktion und Jurier- Architekten Valerio Olgiati (*1958), der doch etwas: Plötzlich geraten die Fassaden
ende erwartet und erhofft haben. es in den Jahren 1989-1991 für ein Lehrer- in Bewegung, wölben sich nach aussen, als
ehepaar erbaut hat. ob im Haus Uberdruck herrschen würde;
die Perspektive wirkt wie durch ein Weit-
Eigenartige Störungen winkelobjektiv verzerrt. Verantwortlich für
Nichts verrät zunächst den heute pro- diese Anomalie ist die konvexe Aussen-
minenten Autor des Werks, das auf der haut, die je nach Betrachterstandpunkt
Strassenseite durch eine Garage halb ver- dem Haus immer wieder ein anderes Aus-
deckt ist. Mit seinen vier Fensterachsen, sehen gibt und unsere Wahrnehmung he-
den wie Zinnen emporstrebenden Dach- rausfordert. Die Krümmung ist ein Resul-
gauben und den gleichmässigen Fugen der tat einer veredelten Anwendung des Sperr-
aus Sperrholz gefertigten Fassade besitzt holzes, das nicht wie sonst als Platte nur
das Haus eine klare, aber unauffällige Er- aufgeschraubt ist, sondern zusätzlich, wie
scheinung. Mit seiner grünen, etwas brü- im Schiff- und Flugzeugbau, durch die
chigen Farbe und der leicht wirkenden Wölbung gespannt wird.
Holzfassade klingt eine Verwandtschaft zu
den Winzerhütten an. Dadurch erhält das Ungeahnte Weite
Haus einen zweideutigen Ausdruck, der Das Innere überzeugt durch seine
zwischen kleinstädtischem Siedlungshaus lichte, ruhige Atmosphäre. Der Boden ist
im Stile eines Tessenow und einer über- aus klar lackierten Lärchendielen gefertigt,
grossen Gartenlaube schwankt. die Wände sind mit einem hohen, in gebro-
An der Hoffassade hingegen weicht chenem Weiss gestrichenen Täfer verklei-
ic/w//«Ä«, 1980 in Berlin geboren,
diplomierte 2011 an der ETH Zürich. Derzeit
die strenge Ordnung einer freieren Gestal- det, die Stimmung erinnert entfernt an die
lebt und arbeitet er als Architekt in Basel. tung. Proportion und Gewichtung sind Interieurs von Charles Rennie Mackintosh
63 Haus Kucher von Valerio Olgiati

Hin Haus zwischen grüner


d wbw
1/2-2015

Gartenlaube und vorstädtischem


Siedierparadies mit überdimensionierten Dachgauben.
Die gekrümmte Wand zur Strasse hin sorgt für weitere Irri-
tationen der Wahrnehmung; die spindelförmigen Stützen
auf der Gartenseite erinnern an frühe Arbeiten von Jacques
Herzog und zugleich an die weiss gekalkten Säulen von
Vater Rudolf Olgiati.
64 Erstling Die Komplexität des Einfachen

Das Haus besetzt die gleiche Fläche wie der Garten, zusam-
men bildet beides ein Quadrat. Innen, im Erdgeschoss,
verbinden Doppeltüren das Wohnzimmer mit dem Entrée und
ermöglichen so räumliche Flexibilität und eine ungeahnte
Weite. Das Obergeschoss ist bestimmt durch knappe Räume
und Wohnlichkeit.
65 Haus Kucher von Valerio Olgiati wbw
1/2-2015

und an die Sommerhäuser von Gunnar Der bekieste Hof ist teilweise in den Hang die Pflanzen zuwenden. Schaut man
Asplund. Das Täfer lässt sich an vielen eingegraben und bildet im Grundriss be- durch ein dem Hof zugewandtes Fenster
Stellen als Wandschrank öffnen. In offe- trachtet mit dem Haus fast ein Quadrat - hinaus, kann man diese Idee nachvollzie-
nen Wandnischen finden Kunstplastiken eine geometrische Form, die Olgiati bis hen: viele leuchtende Blüten und dichtes
ihren Platz. Zweckmässiges und Schönes heute beschäftigt und vermuten lässt, dass Blattwerk sind zu sehen, ein wenig wie in
sind hier im Gleichgewicht. beide als ein Ganzes aufgefasst werden. einem Urwald.
Im Erdgeschoss verbindet eine Enfi- Die Einfassungsmauer bestätigt diese -
Das Haus liegt an der Paradeisstrasse
lade das Entrée mit dem Esszimmer und These, sie zitiert mit ihrer Struktur das der Name scheint Programm zu sein: Die
dem Wohnzimmer. Der quer verlegte Täfer der Zimmer und lässt so den Hof als Kuchers wohnen in einem kleinen Para-
Dielenboden und die Achsen, die durch Erweiterung des Innenraumes lesbar wer- dies. Bürgerliche Wohnsymbole werden
die Fenster von der Strassen- zur Hoffas- den. Der Vergleich zu einem japanischen hier nicht einfach bedient und bestätigt,
sade führen, unterstreichen die zweiseitige Garten drängt sich auf: In der grossen, sondern mit Unerwartetem konfrontiert,
Ausrichtung der Innenräume. Doppel- nur mit weissem Kies bedeckten Fläche durch Mehrdeutigkeit verfremdet und so
flügeltüren schaffen Flexibilität: je nach des Hofs sind wenige Blumenbecken und in einem anderen Zusammenhang ge-
Bedarf können sie teilweise oder ganz eine Kunstplastik eingelassen. Die Leere zeigt. Mit Gewohnheit wird man sich
geöffnet werden, wodurch die einzelnen des Raums lässt einen die spannungsvolle diesem Bauwerk nur wenig nähern kön-
Räume zunehmend miteinander ver- Wechselwirkung zwischen den einzelnen, nen, will man die Qualitäten erfassen.
schmelzen, was dem Erdgeschoss eine un- «ausgestellten» Objekten wahrnehmen. Hier ist man selbst gefordert, sich die
geahnte Weite gibt. Damit wird der Hof zu einem Gartenzim- Räume im Inneren und Ausseren des
Demgegenüber überrascht das Ober- mer mit kontemplativem Charakter. Hauses mit einem frischen Blick anzueig-
geschoss durch einen schmalen Flur, der nen, die je nach Standpunkt, Licht und
durch das ganze Gebäude gesteckt ist Idealisierte Natur Tageszeit immer wieder anders wirken.
und eine starke perspektivische Wirkung Durch die Mauer ist die Umgebung Durch die handwerkliche Disziplin aller
hat. Oberlichter beleuchten ihn taghell. bis auf wenige Pflanzen, die über diese am Bau Beteiligten, die sich auch in einer
Wie der Flur, so wirken die von ihm ab- hinausragen, ausgeblendet. Dafür ist sie Masstoleranz von nur drei Millimetern
gehenden Zimmer trotz ihrer geringen aber zu hören: Das Gezwitscher der Vögel im ganzen Gebäude spiegelt, gelang es,
Grösse sehr geräumig, da die französi- und das Geräusch des Windes in den ein Haus mit ungewöhnlicher Konse-
sehen Fenster mit ihrem aussenbündigen Bäumen führen zu einer intensiven, akus- quenz zu bauen, das weniger über seine
Anschlag viel Licht hereinlassen. Es vari- tischen Wahrnehmung der Umgebung. Bedeutung verstanden, dafür mehr mit
iert von Raum zu Raum in Intensität und Der Hof ist auf der Nordseite angelegt, den Sinnen erfahren werden kann. Hier
Stimmung durch die leichte Krümmung um den Garten von Süden aus betrachten ist das Einfache komplex, das Komplexe
der Fassade. zu können, also von der Seite, der sich erscheint einfach. —

(toph Schaub

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